音樂論壇 제27집 2012년 4월, 167-186쪽 ⓒ 2012 한양대학교 음악연구소 한양대학교 Aesthetische und Kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt Peter Ackermann (University of Frankfurt 교수) Franz Liszts erste kritische Stellungnahmen zur kirchenmusikalischen Praxis seiner Zeit1 sind getragen von seinem breiten, sozial begruendeten Engagement fuer politische und kuenstlische Reformen; hinter dem programmatischen Impetus dieser fruehen Jahre sind die spezifisch aesthetischen, kompositionstechnischen und liturgischen Dimensionen des Themas noch kaum zu spueren. Doch bei der Frage, was Kirchenmusik eigentlich sei, richtet sich Liszts Gedanke bereits, trotz des un- eingeschraenkt utopischen Gestus des Kontextes, spontan auf die Musik der Vergangenheit: der Begriff der Kirchenmusik erfuellt sich hier fuer Liszt mit den geistlichen Werken der mit Palestrina beginnenden und bis Mozart und Haydn reichenden Zeitspanne.2 Dieser Verflechtung kirchenmusikalischer Reformintentionen mit der aesthetischen Besinnung auf eine bereits vergangene Musiksprache und deren Auswirkungen auf die kompositorische Struktur, vor allem von Liszts geistlichem Spaetwerk, soll im folgenden nachgegangen werden. Die Verwandtschaft mit dem Caecilianismus, die der Plan einer 1 Vgl. F. Liszt, Ueber zukuenftige Kirchenmusik. Ein Fragment(1834); in: F. Liszt, Gesammelte Schriften, hrsg. v. L. Ramann, Bd.I-VI, Hildesheim 1978 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1880-1883); hier Bd.II, S.55-57. –Ders., Zur Stellung der Kuenstler. Sechs Artikel (1835); in: Gesammelte Schriften, Bd.II, S.3-54; hier S.48-50. 2 Ebd., S.48f. 167 Peter Ackermann 168 Neugestaltung der katholischen Kirchenmusik aus dem Geiste der Musik der Zeit Palestrinas nahelegt, ist dabei mehr als etwas bloss aeusserlich Zufaelliges. Ernst Guenter Heinemann hat sich mit diesem Komplex umfassend und kritisch auseinandergesetzt.3 Und es ist gerade das - an der Oberflaeche zumindest - so ungetruebte Erscheinungsbild der Beziehung Liszts zu den Vertretern der kirchenmusikalischen Restauration, das, bedenkt man die starke Gegensaetzlichkeit der Charaktere und kuenstlerischen Vorstellungen, den Betrachter latente, nur nach aussen hin zurueckgehaltene Spannungen vermuten laesst. Jedenfalls sind Liszts Initiativen zur Foerderung der Regensburger Bestrebungen, verbunden mit seinem Wunsch, zum Reformprojekt selbst beizutragen,4 sowie die uneingeschraenkte Bewunderung fuer die Leistungen des Caecilienvereins nicht nur in dem Briefwechsel mit Franz Xaver Witt,5 sondern gerade auch in Briefen an Dritte hervorgehoben.6 Im Mittelpunkt der persoenlichen Kontakte zur Restaurationsbewegung steht Franz Xaver Witt, den Liszt sehr schaetzte und den er fuer das leitende kirchenmusikalische Amt an der 1875 gegruendeten Budapester Musikakademie zu gewinnen suchte.7 Unter den Exponenten des Caecilianismus war Witt wohl vergleichsweise weniger dogmatisch ausgerichtet, zumindest 3 E. G. Heinemann, Franz Liszts Auseinandersetzung mit der geistlichen Musik. Zum Konflikt von Kunst und Engagement (Musikwissenschaftliche Schriften 12), München-Salzburg 1978, S.65-80. 4 Zur Erfolglosigkeit dieser Absichten vgl. J. Heinrichs, Franz Liszts kirchenmusikalischer Reformplan; in: Musica sacra 76 (1956), S.44-49. 5 Zusammengestellt findet man eine Reihe von Briefen bei A. Scharnagl, Franz Liszt - Franz Witt; in: Musica sacra 106 (1986), S.444-447. - Vierzehn Original-Briefe Liszts an Witt; in: Musica sacra 46 (1913), S.289-295. 6 Z. B. in Briefen an die Fuerstin; vgl. Franz Liszt, Briefe. Gesammelt und herausgegeben von La Mara, Bd.I-VIII, Leipzig 1893-1904; hier u.a.Bd.V, Nr.19 (vom 24. Juli.1860); Bd.VI, Nr.282 (v. 13. August 1871); Bd.VII, Nr.159 (v. 11. Oktober 1876). 7 Die Ernsthaftigkeit dieser Absicht, mit Witt die caecilianischen Reformbestrebungen in Ungarn zu aktivieren, geht aus den intensiven Bemuehungen Liszts hervor; vgl. u.a. folgende Dokumente: Vierzehn Originak-Briefe, a.a.O. (Briefe v. 14. Febr. 1872 und v. 1. Mai 1873); F. Liszt, Briefe, a,a, O. Bd.II, Nr.143 (1874?), Bd.VIII, Nr.260 (v. 22. Maerz 1875) und Nr.265 (v. April 1875); Vierzehn Original-Briefe, a.a.O. (Briefe v. 7. Maerz 1877). - Laut P. Wolfrum (Franz Liszts musikalische Werke, hrsg.v. der Franz Liszt-Stiftung, Leipzig (1907-1936), V, Bd.VII, S.V.) hatte Witt zugesagt, musste aber schliesslich aus gesundheitlichen Gruenden ablehnen. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 169 ausserhalb der kirchenmusikalischen gegenueber zeitgenoessischen Werken.8 Sphere durchaus aufgeschlossen Bemer- kenswert ist, dass das Eroeffnungsheft der gerade neugegruendeten Musica sacra(1868) mit einem Aufsatz von Witt ueber die erste der Zwei Episoden aus Lenaus Faust(1860) beginnt. Witts Ausfuehrungen ueber den sinfonischen Satz (Der naechtliche Zug) konzentrieren sich schliesslich auf die Behandlung des von Liszt in die Satzstruktur eingearbeiteten Hymnus Pange lingua: “Wenn ich nun diese Anwendung des ‘Pange lingua’ hier erwaehne, so geschieht es nicht, als wollte ich selbe als etwas besonders Wichiges, oder als eine ausserordentliche Harmonisirung desselben hinstellen. Sie bietet sehr Schoenes, aber Nichts ausserordentliches. Ich gehoere weder zu jeden, die sich ueber ein solches ‘Hineingetragen der Kirche in's Concert' aergern und es heftig tadeln, noch zu jenen, die es wuenschen und ueberaus preisen. Ich meine, man solle einem Kuenstler, er es so ernst und gewissenhaft nimmt, wie Liszt, selbst wenn man nicht mit ihm einverstanden waere, eine gewisse Freiheit gestatten und goennen. Ich erwaehne die Sache nur, weil mir Liszt dadurch weigstens anzudeuten scheint, wie sehr er den Choral (wenn auch vielleicht bloss in einzelnen Theilen) hochschaetzte, der Anwendung fuer werth halte, wie lebhaft er ueberzeugt sei, dass der Choral eine Fundgrube von Melodien ist, die fuer kirchliche Zwecke (denn nur bei religioesen Momenten gebraucht Liszt Motive aus dem cantus firmus) ganz besonders geeigenschaftet sind und benuetzt zu werden verdienen. Er verachtet und verschmaeht also den cantus greg. durchaus nicht, ebenso wenig, als die groessten Componisten und Kuenstler unserer Tage.” “Mein ‘caeterum censeo‘ ist, ohne Einfuehrung des cantus greg. und ohne tuechtiges Verstaendniss des Palestrinastyls ist eine Reform der Kirchenmusik unmoeglich. Wer aber diese beiden in sich aufgenommen hat, der schaffe und componire mit allen Mitteln und Fortschritten der Neuzeit, so weit sie ihm fuer die Kirche passen und so weit sie erlaubt sind, und er wird von der Kirche freudig aufgenommen werden.”9 8 Zu Witts Interesse am Wagnerschen Musikdrama siehe weiter unten. 9 Franz Witt, Eine Bearbeitung des Chorals “Pange lingua” von Liszt, in Musica Sacra 1 (1868) S.1-3; hier S.3. Im folgenden Jahrgang der Zeitschrift veroeffentlicht Witt eine kleine Liszt-Monographie (Franz Witt, Abbe Dr. Franz von Liszt; in: Musica sacra 2 (1869), S.65-68 u.73-77), deren biographischer Teil allerdings La Maras Musikalischen Studienkoepfen, Leipzig 1868, entnommen ist. Ein mehr analytischer Abschnitt stammt offensichtlich aus Johann Christian Lobes Consonanzen und Dissonanzen, Leipzig 1869; die Abgrenzung und Witts Eigenbeitrag Publikation werden nicht recht deutlich. Hier erscheint uebrigens auch bereits die vielzitierte angebliche Aeusserung Pius IX. ueber Liszt als Peter Ackermann 170 Solche Momente der Toleranz musikalisch Neuem gegenueber sind aber auch in Witts Stellung zum kirchenmusikalischen Spaetwerk Liszts spuerbar,10 Kompositionen, die gerade in der radikalen Zuruecknahme der Mittel eine neue - vom restaurativen Kompositionsieal weit entfernte - Komplexitaet erreichen. Und wenn Witt im Blick auf seine eigenen Kompositionen der Ansicht war, dass sie sich enger an den Choral anschloessen als an den Palestrina-Stil,11 so deutet das zusammen mit den letzten Saetzen des Zitats darauf hin, dass die naive Uebernahme eines Modells polyphoner Verfahrensweisen einer vergangenen musikgeschichtlichen Epoche und das Verdraengen aktueller kompositorischer Anforderungen ihm zumindest fragwuerdig erschien. So schloss, im Bewusstsein Liszts, der Caecilianismus grundsaetzlich die Moeglichkeit nicht aus, kompositionsgeschichtlich vergangene Strukturen als Material zurueckzugewinnen und in eine fortgeschrittene Musiksprache hineinzunehmen, ohne dabei in bloss historisirende Nachahmung zu verfallen. Aus zahlreichen Mitteilungen in Liszts Korrespondenz ist zu schliessen, dass Liszt mit der Kirchenmusik des spaeten 16. und des 17. Jahrhunderts umfassend vertraut war, dass er ueber gute Repertoirekenntnisse verfuegte,12 als Dirigent solche Werke auffuehrte13 und sich intensiv mit ihnen auseinandersetzte. Bereits 1839 berichtete er Hector Berlioz aus Italien von seiner Beschaeftigung mit der Musik aus dem Umkreis der Cappella Sistin a.14 In einem Brief an Baron Augusz (27.Jan.1855) schreibt Liszt: “Ehe ich “seinen Palestrina”. 10 Vgl. Witts enthusiastische Bemerkungen zu Liszts O salutaris hostia (komponiert um 1870) Witt, Einstweilen! (Vorlaeufiger Bericht ueber die7. General Versammlung des Caecilienvereins, Biberach 1877) in Musica sacra 10 (1877), S.114-115. 11 J.Hatzfeld, “Richard Wagner und die katholische Kirchenmusik“; in Musica sacra 46(1913) S.125-134, 154-165, 179-184; hier S.180. 12 Vgl. hierzu E. G. Heinemann, a.a.O., S.67. 13 Z. B. am 19.03.1874 in der Matthiaskirche in Buda nehen seinem eigenen Ave maris stella (Raabe Nr.641) Palestrinas Messe Iste confessor und von Viadana Maria succurre; vgl. D. Legany(Hrsg.), Franz Liszt. Unbekannte Presse und Briefe aus Wien 1822-1886 (Wiener Musikwissenschaftliche Beitraege 13) Wien 1984, Brief Nr. 175, Anmerkung 3. 14 Franz Liszt, Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd.II, 253. - Vgl. auch L. Ramann, Franz Liszt. Als Kuenstler und Mensch, Bd.I, 2/I, 2/II, Leipzig, 1880-1894; hier Bd.I, S.524ff. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 171 noch ihre Bekanntschaft machte, hatte ich in Rom schon recht tiefgruendige Studien der Meister des 16. Jahrhunderts gemacht, vor allem bei Palestrina und Orlandus Lassus.”15 Von seinen “anciennes et nouvelles etudes de Palestrina, Lassus jusqu'a Bach et Beethoven” spricht er auch im folgenden Jahr in einem Brief an Agnes Street-Klindworth aus Wien.16 Auch zeigte er Interesse fuer die wissenschaftliche Literatur.17 Das gilt auch fuer Choralfragen. Liszts Kenntnis liturgischer Quellen und Literatur - vor allem zum gregorianischen Choral -, wie sie bei Raabe18 dokumentiert ist, umfasst die ganze Spannbreite von der Regensburger, auf der Editio Medicaea gruendenden Choralpraxis, ueber die verschiedenen franzoesischen Reformansaetze (vor allem des befreundeten Joseph d'Ortigue) bis hin zu den Forschungen in Solesmes. Entscheidend fuer Liszts Engagement gegenueber alter Musik ist jedoch, bei allem wissenschaftlichen Interesse, deren aesthetische Aktualitaet, verbunden mit ausgesprochen musikalisch-praktischen Aspekten. In einem Brief an Peter Cornelius aeussert sich Liszt zu dessen geistlichen Werken und fordert: “Vous n'avez qu'a vous bien assili;er Palestrina et Bach..”.19 An anderer Stelle bezeichnet er Palestrina und Lasso, mit Blick auf die gegenwaertigen Musiker, “die sich dem Studium der geistlichen Compositionen ergeben”, als “zwei Kirchenvaeter, - gleichsam Ambrosius und Augustinus.”20 Auch in anderen Zusammenhaengen wird deutlich, dass Liszt in Palestrina 15 Zitiert nach J. Hatzfeld, Franz Liszt und die Kirchenmusik. Ein Gedenk blatt zu seinem 100. Geburtstage (22.Oktober); in: Cäcilienvereinsorgan 46(1911), S.196-198, 227-232, 247-253; hier S.231. 16 Franz Liszt, Briefe, a.a.O., Bd.III, Nr. 47. 17 So weist er 1861 in einem Brief aus Berlin(22.9.) an die Fuerstin in Rom auf die Forschungsarbeiten des Kritikers und spaeteren Mitarbeiter Brendels, Eduard Schelle, hin, dessen Schrift Die paepstliche Saengerschule in Rom, genannt die sixinische Kapelle dann 1872 in Wien erschien. Ueber seine Lektuere der Palestrina-Studie von Wilhelm Baeumker (Freiburg I.B. 1878) aeussert sich Liszt ausfuehrlich gegenueber der Fuerstin (vgl. Liszt, Briefe, Bd.VII, Nr. 294). 2 18 Vgl. P. Raabe, Franz Liszt, Tutzing /1968; hier Bd.II, Anmerkung 86 und Bd.I, S.200f. - Die Bedeutung des gregorianischen Chorals bei Liszt - unter Beruecksichtigung von Quellenfragen - behandelt ausfuehrlich H. Sambeth, Die Gregorianischen Melodien in den Werken Franz Liszt's und ihre Bedeutung fuer die Entwicklung seiner Religiositaet und Kunstanschauung, Phil. Diss. Muenster/ Westfalen 1923(mschr.). 19 F. Liszt, Briefe, a.a.O., Bd.I, Nr. 85 (Brief v. 4. Sept. 1852). 20 Vierzehn Original-Briefe a.a.O. S.280 (Brief v. 10. Febr. 1869). 172 Peter Ackermann und Lasso den Anfang einer Epoche der Kirchenmusik sieht, deren aesthetische Forderungen in der Gegenwart noch einzuloesen waeren. Diese Forderungen richten sich an den Komponisten, der die Relevanz struktureller Momente des Alten im zeitgenoessischen Komponieren zu bedenken hat, zugleich aber auch an den Interpreten, der Musik der Palestrina-Zeit auffuehrt. Ganz im Gegensatz zur romantischen Auffassung einer in der Gegenwart wiedererweckten grossartigen und erhabenen, dem Hoerer aber ebenso entrueckten, von einer Aura umgebenen Vergangenheit der Kirchenmusik, sieht Liszt in der Auffuehrungspraxis der alten Vokalpolyphonie die Aufgabe, die Werke dem musikalischen Bewusstsein der Zeit durch interpretatorische Eingriffe verstaendlich zu machen. Seine Einstellung zur Editionspraxis alter musik, insbesondere zu Richard Wagners Bearbeitung des achtstimmigen Stabat Mater von Palestrina, fuer Liszt eine paradigmatische Leistung, belegen dies. Wagner bearbeitete das doppelchoerige Werk fuer eine Auffuehrung, die am 8. Maerz 1848 in Dresden stattfand, ausserdem stadd je eine Sinfonie von Mendelssohn (a-Moll) und Beethoven (c-Moll) auf dem Programm. Gedruckt erschien die Bearbeitung 1879 bei Christian Friedrich Kahnt in Leipzig.21 Bemerkenswert ist uebrigens an Wagners Verhaeltnis zur katholischen Kirchenmusik eine gewisse biographische Parallele zu Liszt. So tritt Wagner in seinem Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters fuer das Koenigreich Sachsen (1848)22 fuer eine reine, hoechstens von der Orgel begleitete Vokalmusik in der katholischen Hofkirche ein; hierfuer sollen sowohl Werke Palestrinas und seiner Nachfolger auffuehrungspraktisch eingerichtet, als auch ein Repertoire von neuen Kompositionen im “reinen Vokalsatz” geschaffen werden. Schon aus Wagners erster Pariser Zeit berichtet der Maler Friedrich Pecht im Rueckblick: “Die fruhesten Italiener, wie Palestrina, Pergolese u.A. kannte er ebenso genau wie die aelteren Deutschen(...).”23 In seiner Bayreuther Bibliothek besass Wagner u.a. die von 21 Vgl. M. Geck, Richard Wagner und die aeltere Musik; in: Die Ausbreitung des Historismus ueber die Musik. Aufsaetze und Diskussionen, hrsg. v. W. Wiora (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 14), Regensburg1969, S.123-146; hier S.126 u.131. 22 R. Wagner, Gesammelte Schriften, hrsg. v. J. Kapp, Bd.XII, Leipzig o.J., S.103-146; der Abschnitt ueber die katholische Kirchenmusik in Dresden: S.125-129. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 173 Carl Proske herausgegebenen Sammlungen Musica Divina und Selectus Novus Missarum; einen Band mit Messen und Litaneien von Palestrina und anderen zeitgenoessischen Komponisten; 6 Hefte Motetten von Palestrina, herausgegeben von Franz Witt24. Beruehungen mit dem Caecilianismus gab es gleichfalls. Wagner war mit Witt persoenlich bekannt und unterstuetzte offensichtlich die Regensburger Bewegung, denn in seiner Streitschrift (Das kgl. bayerische Cultusministerium, die bayerische Abgeordneten-Kammer und der Caecilienverein, Regensberg 1886) fuehrt Witt an, dass seine kirchenmusikalischen Bestrebungen unter anderem auch von Wagner und v. Buelow Zustimmung erfahren haetten.25 Ungekehrt soll Witt, nach eigenem Zeugnis, ein begeisterter Wagener-Verehrer gewesen sein.26 Witt war auch an der Wagnerschen Stabat Mater-Ausgabe beteiligt,. Er hatte das Manuskript vor der Drucklegung mit einer Kopie der Palestrina-Motette aus dem Besitz Proskes - Haberl zusaetzlich mit einer Abschrift Baninis - verglichen, und beide hatten etliche Korrektureren vorgenommen. die Ausgabe wurde unter Nummer 437 in den Caecilienvereins-Katalog aufgenommen, die begutachtenden Referenten waren Haberl, witt und Koenen.27 Wagners Bearbeitung, die den auffuehrungspraktischen Vorstellungen der Caecillianer demnach nicht widersprach, versieht einerseits den Notentext Palestrinas mit Tempovorschriften, Phrasierungszeichen und dynamischer Artikulation (durch Regelung der Lautstarkegrate sowie durch diffiziel, auf Farbnuancierungen zielende Chorgruppierungen), andererseits kommt es zu Eingriffen strukturller Art, wenn Wagner, die Wechselchoerigkeit partiell 23 F. Pecht, Aus Richard Wagners Pariser Zeit; in: Allgemeine Zeitung, Muenchen, 22.3.1883. Zitiert nach M. Geck, a.a.O., S. 134. 24 Vgl. die Aufstellung bei M. Geck, a.a.O., S. 132f. 25 Vgl. hierzu A. Walter, Dr. Franz Witt. Gründer und erster General präses des Caecilienvereines. Ein Lebensbild, Regensburg1889, S.206. 26 Mitgeteilt bei J. Hatzfeld, a.a.O., S. 180. – Ein aktives Interesse an der Oper geht auch aus Witts Brief vom 8. Juni 1869 an Liszt hervor: “Ich wollte Sie naehmen sich auch der Oper an, die leider ganz unchristlich vielfach wird.” Vgl. La Mara(Hrsg.), Briefe hervorragender Zeitgenossen an Franz Liszt, Bd.I-III, Leipzig1895 und 1904; hier Bd.III, Nr.65, S.94. 27 Vgl. J. Hatzfeld, a.a.O., S. 130ff. Bereits zu Beginn des Jahres 1873 erhielt Witt eine Abschrift des Wagnerschen Manuskripts durch Liszt übersandt (vgl. Liszt, Briefe, a.a.O., Bd.II, Nr.123). Peter Ackermann 174 suspendierend, den gerade pausierenden Chor an manchen stellen fuer Verdoppelungen von Stimmen des anderen Chors zu Verfuegung haelt, mit der Absicht, insbesondere Mittelstimmen hervorzuheben und damit polyphone Struktur deutlich zu machen: als Hilfe zum Verstaendnis des den zeitgenoessischen Rezipienten ungewohnten kontraunpktischen Geflechts.28 Diese Eigenschaften der Bearbeitung Wagners sind es, die Liszt unablaessig hervorhebt und als beispielhaft fuer Editionen von Musik des 16. und 17. Jahrhunderts proklamiert und damit der fuer die Auffuehrung eingerichteten Ausgabe unmissverstaendlich Vorrang vor der wissenschaftlichen Edition zuspricht. Dahinter steht keineswegs Ignoranz gegenueber wissenschaftlichen Anspruechen - die philologische Exaktheit des aus den Quellen gewonnen Notentextes ist fuer Liszt Bedingung -, sondern vielmehr die Befuerchtung, die gerade wiedergewonnen Werke koennten, jenseits einer laengst verlorenen Auffuehrungstradition, von vornherein ihren Kunstcharakter einbuessen: durch unreflektierte interpretatorische Eingriffe oder durch aesthetisches Desinteresse. Deshalb muesse man bei den alten Komponisten wie Wagner bei Palestrinas Stabat Mater verfahren, schreibt Liszt 1878 an Don Guerrino Amelli in Mailand, “si l'on ne veut pas livrer leurs admirables oeuvres soit aux travestissements des gate-metiers de profession, soit au paisible sommeil des rauons des bibliotheques”.29 Die sicherlich zwiespaeltige Haltung Liszts zur noch jungen Disziplin der musikalischen Textkritik30 aber scheint letztlich aus einem Kunstbegriff 28 Vgl. die ausführliche Beschreibung des Wagnerschen Bearbeitungsverfahrens bei W. Kleefeld, Richard Wagner als Bearbeiter fremder Werke; in: Die Musik4 (1904/05), 10, S.231-249; 11, S.326-337; der Abschnitt ueber die Stabat Mater-Bearbeitung S.231-237. –Die der Ausgabe bei gegebene metrisch angepasste deutsche Uebersetzung stammt uebrigens nicht von Wagner, sondern laut J. Hatzfeld, a.a.O., von C. Riedel. –Zum Einfluß der Auseinandersetzung Wagners mit Palestrina auf den Parsifal vgl. die Darstellung bei E. Seidel, Ueber die Wirkung der Musik Palestrinas auf das Werk Liszts und Wagners; in: Franz Liszt und Richard Wagner. Musikalische und geistesgeschichtliche Grundlagen der neu deutschen Schule. Referate des 3. Europäischen Liszt-Symposions Eisenstadt 1983, hrsg. v. S. Gut(Liszt-Studien 3), München 1986, S.162-176. 29 F. Liszt, Briefe, a.a.O., Bd. VIII, Nr.332. – Vgl. auch das diesem Thema gewidmete, im Juli 1878 auch in der Neuen Zeitschrift fuer Musik erschienene Schreiben an den Redakteur der Zeitschrift, C. F. Kahnt, der im folgenden Jahr die Stabat Mater-Ausgab ein seinem Verlag herausbrachte(F. Liszt, Briefe, a.a.O., Bd.VIII, Nr.317). 30 Vgl. den Ueberblick über die Geschichte der musikalischen Textkritik im 19. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 175 hervorzugehen, der musikalische Forschung und aesthetische Praesenz des Kunstwerks, Reflexion und kuenstlerische Praxis als integrale Einheit vesteht. Lina Ramann hat in ihren Tagebuchaufzeichnungen ein Gespraech mit Liszt ueberliefert, das waehrend des Ordnens von Musikalien im September 1885 stattfand (mit den Ausgaben von Breitkopf & Haertel duerften vor allem die bis dahin erschienenen Baende der PalestrinaGesamtausgabe gemeint sein): “‘Nehmen Sie, was Sie wollen', sagte er nochmals - ‘nur nicht den Palestrina von Wagner: das ist ein Schatz, ein Vorbild fuer neue Ausgaben altkirchlicher Musik’ - ein Ausspruch, den er mehrmals wiederholte. ‘Was sollen die neuen Ausgaben, wie Breitkopf und Haertel sie gegenwaertig veranstalten? - sie sind nicht zu gebrauchen. Wagner hat gezeigt, wie man es machen muss! Warum lernt man nicht? - glaubt man es besser zu verstehen als das Genie?’ ‘Leider’, fuehrte ich das Gespraech fort, ‘dass das gute Beispiel oft verkannt wird. Halten Sie aber nicht auch dafuer, dass, nachdem die roemische Archive erst seit so wenigen Jahren geoeffnet sind und ihre musikalischen Funde Gemeingut werden duerfen, zuerst Gesamtausgaben sein muessen, welche der Zeit des Komponisten entsprechen, ehe Ausgaben mit Vortragsbezeichnungen nach Wagner am Platze sind? Der Exegese muss der Urtext doch vorausgehen.’ ‘Das trifft zu - allein: was nuetzen uns diese Ausgaben, die kein Chordirektor gebrauchen kann ohne eine Menge von Vorstudien, fuer die er nicht immer die Zeit und nicht immer das Zeug hat? Nun liegen sie da, ein todtes Kapital und dem Kuenstler und der Praxis nichts nuetze. Und die Forschung? - hat auch so gut wie nichts davon: sie ist fertig mit Palestrina, sie kann nur noch Staub aufwirbeln - - praktisch muss alles sein!'”31 Das doppelchoerige Stabat Mater Palestrinas, das in Liszts Auseinandersetzung mit der interpretatorischen Praxis eine solch zentrale Stellung eingenommen hatte, wirkte bekanntlich auch auf das kompositorische Werk zurueck. Aus den ersten drei Akkorden der Palestrina-Komposition Jahrhunder bei G. Feder, Musikphilologie. Eine Einfuehrung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987, S.158-161. 31 L. Ramann, Lisztiana. Erinnerungen an Franz Liszt in Tagebuchblaettern, Briefen und Dokumenten aus den Jahren1873-1886/87, hrsg. v. A. Seidl, Textrevision von F. Schnapp, Mainz 1983, S.298f. – Vgl. auch den Brief Liszts an Lina Ramann vom 27. Sept. 1885, ebd., S.305-306. Peter Ackermann 176 Sta - bat Ma - ter do - - lo - ro - - sa hat Liszt im grossen “Stabat Mater dolorosa” des Oratoriums Christus die Coda, auf die Worte “Paradisi gloria”, gebildet.32 In einer Analyse dieser Stelle hat Elmar Seidel33 gezeigt, dass hier nicht nur eine Akkordfolge zitiert wird, die dem 19. Jahrhundert als Ausdruck von Weltentrueckheit galt und daher fuer den Schluss einer Stabat Mater-Vertonung von besonderer Symbolkraft war. Seidel hat zugleich nachgewiesen, dass das Zitiat, aus seiem urspruenglichen Strukturzusammenhang herausgeloest, in den Satz motivisch integriert und daraus eine zweigliedrige reale Sequenz geformt wird, deren Symmetrie aber von einer aus der Wech- selchoerigkeit (Chor-Soloquartett) sich ergebenden Taktanordnung ueberlagert wird, die eine komplizierte Asymmetrie bewirkt: somit ist das Zitierte mehr als Symbol, naemlich Element der satztechnischen Konstruktion. Bemerkenswert ist darueber hinaus der harmonische Prozess, den Liszt aus den drei Akkorden gewinnt. Das folgende Beispiel reduziert die gesamte Coda bis zum Schlussakkord auf ihre harmonisches Substrat und skizziert die Verlaufsformen der Aussenstimmen des Gesamtsatzes (im Original liegt der Satz eine Oktave hoeher). 1 D D DD 2 3 4 5 6 7 8 10 DD T D S sP S sP sn v D D D D 9 11 12 T Die Akkorde 1-3 bilden das Palestrina-Zitat, 4-6 das zweite Glied der 32 S. 368-370 (T. 911-942) in der von Gábor Darvas herausgegebenen Partitur (Edition Musica, Budapest 1972 / Edition Eulenburg, Zürich). Palestrnas achtstimmige (zweichörige) Motette steht in Vol. 33 der Opere complete (hrsg. v. Lino Bianchi, Rom 1981) bzw. in Bd. VI der Alten Gesamtausgabe (hrsg. v. Franz Espagne, Leipzig o.J.). 33 Vgl. E. Seidel, a.a.O., S. 163f. und 166f. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 177 Sequenz. Dabei (T.917/918) ist eine die dem Verknuepfung spaeten 16. der beiden Jahrhundert Sequenzglieder durchaus vertraute chromatische Akkordverbindung, wie sie etwa bei Lasso verkommt: der verdoppelte Akkordgrundton wird in einer der obereb Stimmen alteriert und im Bass unterterzt (siehe Notenbeispiel 2, Akkorde 3 und 4). Entscheidend ist jedoch die hierdurch gewonnene harmonische Progression. Und es erweist sich als keineswegs zufaellig, dass mit dem zweiten Sequenzglied die Sekundfortschreitung des Basses unterbrochen wird, indem Liszt dieses auf dem D-Dur-Dreiklang einsetzen laesst. Wie die Pfeile in Sequenzglieder Notenbeispiel zu einer 2 zeigen, kompliziert, vereinen aber sich regelmaessig die beiden verzahnten Quintfall-Kette: die Tonika steht im Zentrum des Abschnitts, am Beginn der um vier Quinten darueberliegende A-Dur-Dreiklag. (Die etwas ungewoehnliche Annahme einer verfachen Dominante meint hier lediglich den Ausgangspunkt eines harmonischen Gefaelles.) Die quinttiefere Aufloesung bringt jedoch erst Akkord 4, der Anfang des zweiten Sequenzgliedes, der wiederum sein dominantisches Ziel im Rueckbezug auf Akkord 2 hat usw. Die Tonika ist somit umgeben von vier Dominantakkorden, die sich in jeweils wechselnder Aufloesungsrichtung aufeinander beziehen. Der zeitfaktor in der harmonischen Progression unterliegt einer Irritation, oder, wie es im Parsifal heisst, “zum Raum wird hier die Zeit.” Da die Tonika jedoch Mittelpunkt, nicht aber Ziel des dominantischen Prozesses ist, wird ees im Anschluss an das zweite Sequenzglied notwendig, den tonalen Anschluss ohne Stoerung der klanglichen Raumwirkung einzuleiten. Vermittler ist hierbei der letzte Akkord (6) der Sequenz. Dieses letzte Glied in der verschachtelten Dominantflaeche ist der Dreiklang der Subdominante. An ihn schliessen sich untereinander wiederum funktional verwandte Akkorde an: die Parallele der Mollsubdominante (7 u. 9), dazwischen nochmals die Subdominante (8) und schliesslich (10) die Mollsubdominante mit kleiner Sext, der neapolitanische Sextakkord. Es ist hiermit eine in sich ruhende Subdominantflaeche erreicht, die aus der harmonischen Komplexitaet des Verangegangenen zwar entstanden ist, zugleich aber einen Kontrast bildet. Auch die von Anfang an betont Peter Ackermann 178 gegenlaeufige Tendenz der Aussenstimmen ist zum Stillstand gekommen und wird erst mit den Schlussakkorden fortgefuehrt. Der auf den neapolitanischen Sextakkord folgende abschliessende Kadenzschritt ueber den verminderten Septakkord der Dominante ist die letzte Konsequenz aus dem Gesamtverlauf. Der verminderte Septakkord der Dominante (hier: e g b des) - Diether de la Motte hat es in seiner Harmonielehre ueberzeugend dargelegt34 - bildet in seinem Bau einen Zusammenschluss von dominantischen (e g b) und (moll-)subdominantischen (b des g) Elementen. Im Doppelcharakter dieses Akkords isnd somit die beiden tonalen Phasen der Coda (Akkorde 1-6 u. 6-10) vereint. Davon ist im vorliegenden Fall auch die tonale Funktion Spannungcharakter Dominantseptime des wird B Akkords durch betroffen: sein Quartfall im den (= Subdominantgrundton) zum dominantischer Bass F von der der Tonika subdominantisch relativert, authentische und plagale Kadenz verschmelzen zu einer Einheit. In Liszts kompositorischer Verarbeitung einer charakteristischen, fuer seine Zeit zugleich symbolbeladenen akkordischen Wendung Palestrinas verwandelt sich das Zitat in kompositorisches Material, das Traeger eines komplexen strukturellen Zusammenhangs wird. Der sich oeffnende klangliche Raum verhift nicht nur der letzten Textzeile zu ihrem Ausdruck; der gesamte Prozess, der auf die Verschmelzung der dominantischen und der subdominantischen Flaeche ausgerichtet ist und dabei die Tonika als Mittel- und Zielpunkt fixiert, ist das Modell eier Coda, die als ausgedehnte Kadenz im Sinne einer tonartlichen Synthese zu verstehen ist. Bereits ein Jahrzehnt vor der Entstehung des Stabat Mater scheint Liszt, in einer vergleichbaren kompositorischen Situation, aehnliche Konsequenzen aus dem Beginn der Palestrina-Motette gezogen zu haben, was ein weiteres Licht auf die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung dieser isolierten Akkordfolge35 fuer die Vorstellung vom Palestrina-Stil im 19. Jahrhundert wirft. Lina Ramann schreibt im zweiten Band ihrer Liszt-Biographie: “Palestrina, auf den bekanntlich der 3 Keim der Ganztonskala historisch 34 D. de la Motte, Harmonielehre, Leipzig /1981, S.95ff. 35 Auch in Wagners Parsifal findet sie sich abgewandelt wieder; vgl. hierzu die Arbeit von E. Seidel, a.a.O., S.165f. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 179 zurueckgefuehrt wird, brauchte nur drei nebeneinanderliegende Stufen zu Dur-Dreiklaengen.”36 Diese Anmerkung macht Ramann Zusammenhang mit dem Schlusssatz der Dante-Sinfonie. Liszt selbst vermerkt zu dem Schlusschor seiner sinphonie 1859 in einem Brief an den grossherzoglichen Musikdirektor Julius Schaeffer in Schwerin: “Am Schlusse meiner Dante-Sinfonie habe ich es versucht, die liturgischen Intonationen des Magnificat zu bringen. Vielleicht interessiert Sie auch dabei die Dreiklangs-Scala in grossen Toenen, welche (meines Wissens wenigstens) in ihrem ganzen Umfang bis jetzt nicht gebraeuchlich war.”37 Darunter notiert Liszt Dur-Dreiklaenge ueber der fallenden Ganztonskala des Basses, bei steigenden Oberstimmen. Das harmonische Modell ist dem oben beschriebenen verwandt, wenngleich sich anstelle der komplexen tonalen Struktur, die die Sequenzglieder bewirken, hier eine sehr schlichte skalische Konzeption, eine Vorstufe quasi, ergibt.38 Dadurch, dass Liszt aus dem von Palestrina uebernommenen Klangmodell neue harmonische und formale Strukturen gewinnt, wird er der Musik Palestrinas gerechter, als wenn er sich mit dem blossen Zitat eines symbolbeladenen Partikels zufrieden gegeben haette. Und er naehert sich gleichzeitig dem, was Ernst Bloch als die bei Palestrina Praxis gewordene Intention auf eine musica coelestis genannt hat: “Palestrina sucht einen Nachhall dessen, was die heilige Caecilie hoert, von der die Legende sagt, dass sie bereits auf der Erde die Engelchoere venommen haette. Solche auditio beatifica entspricht dem Thomas- und Dante-Ideal einer visio beatifica Dei; sie entspricht noch genauer dem Augustin-Ideal der Musik als eines praeludium vitae aeternae. Der Palestrina-Stil machte so als einziger praktisch kenntlich, was im Musikideal des ganzen Mittelalters Theorie geblieben war, gelehrte, wenn auch fromme Theorie des Paradieses. Palestrinas Kunst ist wirklich aufgetragen aufs Wunschbild Engelgesang, seine Musik 36 L. Ramann, a.a.O., Bd.II, S. 328, Anmerkung 1. 37 F. Liszt, Briefe, Bd.VIII, Nr.120. 38 Eine Aehnliche Folge von ganztoenig absteigenden Dur-Dreiklaengen findet sich bereits in der Dante-Sonate von 1849 (“Aprés une lecture de Dante. Fantasia quasi Sonata”, Nr.7 des 2. Bandes der Années de pélerinage). Vgl. hierzu E. Haraszti, Pierre-Louis Dietsch und seine Opfer. (Arcadelt, Bellini, Liszt, Verdi, Wagner und Weber); in: Die Musikforschung 8 (1955), S.52. Peter Ackermann 180 wurde faktisch gehoert als Echo himmlischer Klaenge.”39 die Entnahme und Verarbeitung kompositorischen Materials aus dem Werk Palestrinas durch Liszt intendiert, solchem Musikideal zu dienen. Nirgends lasst sich bei Liszt das blosse, rohe Zitat oder die naive, ungebrochene Imitation des Palestrina-Stils finden. In der CaecilienAntiphon Cantantibus organis40, komponiert fuer die Palestrina-Feier der Societa musicale romana 1880, laesst sich ein Anklang an Palestrinas gleichnamige fuenfstimmige Motette41 nur auf einer aeusserst sublimen Ebene erkennen: es ist die vorwiegend in Quart- und Quintraeumen pendelnde melodische Motivik, in der beide Werke sich verwandt zeigen und sich eine moeglicherweise bewusste Reminiszenz Liszts an das aeltere stueck vermuten laesst. Eine aehnliche Verwandtschaft im melodisch-motivischen Gestus besteht zwischen dem Tu es Petrus im zweiten Teil des Christus-Oratoriums42 und der siebenstimmigen Motetten Tu es Petrus (aus dem ersten Buch fuenf-, sechs- und siebenstimmiger Motetten, 1569) von Palestrina43. Der Abschnitt im Christus (“Tu es Petrus et super hanc petram aedificabo Ecclesiam meam”) ist gepraegt von emphatischen Spruengen aufwarts (keine Sexte, Quinte, Quarte) des einstimmigen Maennerchors. Der melodische Charakter der PalestrinaMotette ist, ganz entgegen dem gewohnten Bild vom Palestrina-Stil, ebenso durch eine Haeufung von Aufwaertsspruengen bestimmt: durch Quarten, Quinten und sogar die bei Palestrina aeusserst seltene grosse Sexte. Auch ausserhalb der geistlichen Musik vermag eine solche Materialtransposition zumindest eine Aura des Religioesen zu stiften. Dem 39 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd.I-III, Frankfurt am Main 1974; hier Bd.II, S.974-977 (Zitat S.975). 40 F. Liszt, Cantantibus organis. Antiphone zum Feste der hl. Caecilie fuer eine Altstimme und Chor mit Begleitung des Orchesters; in: Franz Liszts musikalische Werke, grsg. Von der Franz Liszt-Stiftung, Leipzig 1907-1936, V, Bd.V. 41 Die Motette erschien im 3. Buch der fuenf-, sechs- und achtstimmigen Motetten Palestrinas (1575) und ist u.a. neu herausgegeben von Raffaele Casimiri in Vol. 8 der Opere complete (Rom 1940). 42 8. Satz, “Die Gruendung der Kirche”(Ausgabe s. Anmerkung 32). 43 In Vol. 5 der Opere complete (hrsg. v. R. Casimiri, Rom1939). Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 181 achten Stueck des zwischen 1846 und 1852 entstandenen Klavierzyklus' Harmonies poetiques et religieuses wird ein ganzer Satztypus der alten Mehrstimmigkeit zugrundegelegt. Es ist ueberschreiben “Miserere d'apres Palestrina”44 und verwendet einen Falsobordone-satz selbst ist allerdings was am Charakter der Komposition Liszts natuerlich nichts aendert - unter den von Palestrina ueberlieferten Falsibordoni nicht nachzuweisen, hat auch keine Aehnlichkeit mit Gregorio Allgri. Zur Herkunft der Vorlage vermerken Imre Sulyok und Imre Mezoe in der Neuen Liszt-Ausgabe: “Miserere d'apres Palestrina fusst auf einer kalligraphischen Kopie des Skizzenbuches von 1845. Der Titel der Fassung fuer vierstimmigen Chor ist 'Miserere von Palaestrina (Wie es in der Sixtinischen Capelle gesungen)'. Palestrina hat aber mit dieser offenbar schreibfehler enthaltenden Kopie nichts zu tun. Die Schreibfehler sind uebrigens auch in die Klavieruebertragung uebernommen worden. Den Text des Misereres hat Liszt ebenfalls aus dieser Kopie mit allen Textfehlern uebernommen.”45 Zu den beschriebenen Verfahrenweisen der Uebernahme und Verarbeitung von Strukturmaterial aus Werken Palestrinas tritt das stilistische Moment. Auch der Palestrina-Stil gelangt bei Liszt auf der Ebene des Materials in den Kompositionsprozess. So sehr Liszt dazu neigt - zumal am Beginn geistlicher Werke (man vergleiche z.B. die Anfaenge der Missa Choralis sowie des Christus) und in Verbindung mit Choralthemen -, mit durchimitierten Partien den Eindruck eines satzes zu erweckten, der sich streg an die Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts haelt, ebenso schnell, sei es abrupt oder unmerklich, verwandelt sich die Erscheinung des alten Stils in moderne Expressivitaet. Musterbeispiel einer immer wieder intendierten, aber nie durchgehaltenen strengen Polyphonie im “stilus praenestinus” ist die Missa Choralis: Stil ist hier, wie oben die klanglichen, melodischen oder satztechnischen Komplexe, kompositorisches Material.46 Im Kyrie der Missa Choralis47 bereits zeigt es sich, wie sehr 44 F. Liszt, Neue Ausgabe saemtlicher Werke, Kassel u. Budapest 1970ff., Serie I, Bd.IX. 45 Ebd., Vorwort, S.XIII. 46 Aehnliches mochte cielleicht Haberl empfunden haben, als er 1890 – nach Liszts sowie Witts Tod – seine Empfehlung der Messe fuer den Cäcilienvereins- Peter Ackermann 182 stil eine Materialkomponente der kompositorischen Arbeit ist und keine Nachahmung einer vergangenen Kompositionstechnik. Einerseits wird der polyphone Fluss nach der ersten durchimitierten Passage schon fuer mehrere Takte unterbrochen, indem sich kurze, praegnante Motive aus den Linien abspalten, andererseits missachtet die Einsatzfolge der Stimmen die tonalen Gesetze des 16. Jahrhunderts. Das Thema - ihm liegt offensichtlich die 3. Antiphon der Laudes von Karfreitag (Ait latro ad latronem) zugrunde48 - steht im ersten Modus. Alt und Bass tragen es in seiner authentischen Gestalt vor, waehrend Sopran und Tenor es in der Oberquinte bringen. Das stellt die Disposition der Stimmen im ersten Modus auf den Kopf: Alt und Bass bewegen sich im authentischen Tonraum von sopran bzw. Tenor, waehrend diese Stimmen den oktavversetzten plagalen Alt- bzw. Bass-Ambitus repraesentieren. Es zeigt sich ausserdem, dass Liszts Verstaendnis der Modiprimaer auf einer vertikal akkordischen Auffassung beruht und das eigentliche Prinzip einer melodisch konzipierten Tonalitaet samt dessen Konsequenzen fuer den polyphonen Satz unbeachtet laesst, Bezeichnend ist eine Anekdote, die Lina Ramann erzaehlt: “Ein kleiner charakteristischer Vorfall aus meinen Begegnissen mit dem Meister mag diese Tatsache illustrieren. Bei einem seiner Besuche, die er mir in Nuernberg abstattete, waren wir kirchenmusikalisch beschaeftigt. Hierbei zeigte ich auf eine Stelle einer seiner kirchlichen Partituren mit der Bemerkung: ‘Dorisch - meine Lieblingstonart.’ ‘Ah - rief er erfreut, auch meine.’ ging zum Fluegel und improvisierte in dieser Tonart einen Satz von wunderbarem Klang. Bald aber wandelte er dorisch in unser D dur um und bemerkte dabei: ‘Ich muss immer hinein, aber ich halte es nicht allzulange aus.’--”49 Katalog aus dem Jahr 1871 widerrief. Vgl. F. X. Haberl, Ueber Liszt’s “Missachoralis” und prinzipielle Fragen; in: Musica sacra23 (1890), S.98-101. 47 Taschenpartitur in der Edition Eulenburg, No. 1076. 48 Vgl. W. Widmann, Die Missa choralis von Franz Liszt; in: Neue Zeitschrift fuer Musik57 (1890), S.157-159, 169-171, 177-179, 189-191; hier S.158. 49 L. Ramann, a.a.O., S. 372, Anmerkung 1. – Zur Modalitaet bei Liszt vgl. auch S. Gut, die historische Position der Modalitaet bei Franz Liszt; in: Liszt-Studien1 (Kongress-Bericht Eisenstadt 1975), hrsg. v. W. Suppan, Graz1977, S.97-103, und L. Bárdos, Modale Harmonien in den Werken von Franz Liszt; in: Franz Liszt. Beitraege von ungarischen Autoren, hrsg. v. K. Hamburger, Budapest 1978, S.133-167; insbesondere den Abschnitt Franz Liszt und Palestrina. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 183 Die Anekdote steht im Zusammenhang einer Passage ueber Liszts Kirchenmusik, in der Lina Ramann betont, dass die Integration von Choral und Palestrina-Stil in die fortgeschrittene Kompositionstechnik aus einer spezifisch modernen, keineswegs archaisierenden Haltung heraus erfolgte.50 Im Christus vor allem sieht mittels dieser Synthese eine Begrenzung des subjektiven Ausdrucks erreicht, die zugleich die Darstellung des Absoluten, des goettlich-objektiven Moments ermoegliche.51 Aehnlich dem Kyrie der Missa Choralis beginnt die Orchestereinleitung des Oratoriums Christus52 in durchimitierter Polyphonie eines in- strumentalen stile antico. Thema des Satzes ist der Introitus des vierten Adventsonntages Rorate coeli desuper in der vatikanischen Fassung des Graduale Romanum. Liszt verwendet die vier Abschnitte der Antiphon als thematische Grundlage fuer ebenfalls vier, in ihrem Charakter sich deutlich voneinander abhebende Formteile (polyphoner Beginn, auf Streichertremoli ruhende Klangflaechen und dazwischen ein rhythmisch praegnanter, akkordischer Blaeser-Doppelsatz; T.1-48, 48-66, 66-93, 93-114). Diese bilden den ersten grossen Formkomplex, an den sich ein zweiter, ein breit angelegtes Pastorale, anschliesst,. Zeigt sich in der thematisch differenzierten Behandlung der Choralmelodik des ersten Komplexes, dass der quasi vokalpolyphone Beginn sowie die gregorianische Basis jeweils entwicklungsfaehiges kompositorisches Material darstellen, so ist die zweite Satzhaelfte, das Pastorale, ein Musterfall entwickelnder Variation: sie entfaltet sich aus einer im pastoralen Gestus rhythmisches Variante des charakteristischen, auf der Repercussio des 1. Modus beruhenden Beginns des Rorate. Dass Vokalpolyphonie und Gregorianik Material und nicht Stil sind, 50 Die Vorstellung einer Synthese dieser drei recht heterogenen historischen Schichten im kirchenmusikalischen Werk Liszts findet sich auch in anderen Beiträgen der aelteren Literatur; man vgl. z.B. W. Widmann, a.a.O., S. 157; R. Louis, Anton Bruckner, München 1905, S.172f; H. Sambeth, a.a.O. 51 Vgl. L. Ramann, Franz Liszt’s Oratorium Christus. Eine Studie als Beitrag zurzeitund musikgeschichtlichen Stellung desselben, Leipzig o.J., 3. Ausgabe. Mit diesem Beitrag, der nicht frei ist von sachlichen Fehlern, setzt sich kritisch auseinander: H. Franke, Liszt’s Oratorium “Christus” und die alten Meister; in: Musikalisches Wochenblatt 17(1886), S.385-386, 398-399, 411-412. 52 Zur Partiturausgabe s. Anmerkung 32. Peter Ackermann 184 beweist auch der Anfang des folgenden Satzes, die Verkuendigung des Engels. Der sehr zurueckhaltende, auf den Antiphonen Angelus ad Pastores ait und Facta est cum Angelo (Ad Laudes et per Horas in Nativitate Domini; Antiphonale Romanum) beruhende Abschnitt geht mit dem “Gloria in excelsis Deo” des Frauenchors allmaehlich in eine klangliche Steigerungsphase ueber, die ploetzlich in ein Tenor-Solo muendet(T.75), das als eine im schwelgerischen Orchesterklang eingebettete Opernkantilene dem unbegleiteten Choralvortrag des gegenuebersteht. Sopran-Solos Das am Satzbeginn Ausdrucksmoment setzt geradezu der diametral Integration von Gregorianik und Polyphonie die Grenze. “Wenn die alten italienischen und niederlaendischen Meister - ein Palestrina, ein Lassus -, wenn der deutsche Bach oder andere beruehmte Kontrapunktisten acht, sechzehn und mehr verschiede Stimmen in einer Fuge oder in Stuecken anderer Art zusammenfuegten und zusammengehen liessen, so folgten sie hierbei dem Princip der architektonischen Struktur des Grenzen und forderten von der Einzelstimme weder nuancierte Charakteristik noch die Faehigkeit einen bestimmten Ausdruck, den gewollten und keinen andern, zu geben. Sie sahen, besonders gegenueber dem Kirchenstil, vier mehr darauf, dem Ganzen eine mit dem allgemeinen Inhalt des Textes uebereinstimmende Haltung zu sichern, als die Worte durch an sich ausdrucksvolle Melodien zu dramatisieren.”53 Im Spaetwerk, wo der Ausdruck ein aeusserstes Mass erreicht, misslingt die Synthese vollends. Der Reduktionsprozess der spaeten Kompositionen54, mit seiner Tendenz zur vereinzelten, unbegleiteten melodischen Linie und zum Zerfall von Formkomplexen, fuehrt zur Freilegung geterogener Materialschichten - zumal historischer Materialien wie in der Via crucis (1878/79) - und macht, in einem radikaleren Sinne als es die obigen Aeusserungen aus den 1850er Jahren forderten, die isolierten, haeufig zusammenhanglos scheinenden Satzpartikel zu Ausdruckstraegern. Wenn, wie in der Via crucis55, Gregorianik, alter Stil, Kirchentonarten, Dur-Moll- 53 F. Liszt, Dornroeschen. Genast’s Gedicht und Raff’s Musik gleichen Namens. 1856; in: Ders., Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd.V, S.131-181; hier S.169. 54 Vgl. D. Redepenning, Meditative Musik: Bemerkungen zu einigen spaeten geistlichen Kompositionen Franz Liszts; in: Geistliche Musik. Studien zu ihrer Geschichte und Funktion im 18. und 19. Jahrhundert (Hamburger Jahrbuch fuer Musikwissenschaft 8), Laaber 1985, S.185-201. Aesthetische und kompositionstechnische Aspekte der Palestrina-Rezeption bei Franz Liszt 185 Tanalitaet, Chromatik, tonalitaetsfreie Flaechen, Werkzitate und Athematik als blossgelegte integrierenden Materialkomponenten Verschmelzung blockhaft ohne jeden einander Versuch einer gegenueberstehen, scheint Ausdruck zugleich von jeglicher Subjektivitaet, laesst Liszt im Geste seines franziskanischen Ideals56 die Dinge selber reden. 55 Vgl. P. Ackermann, Alte und neue Musik im spaetwerk Franz Liszts; in: Alte Musik als aesthetische Gegenwart. Bach, Haendel, Schuetz. Bericht ueber den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Stuttgart 1985, hrsg. v. D. Berke und D. Hanemann, Bd.II, Kassel 1987, S.251-255. 56 Vgl. Fr. W. Riedel, Franz Liszts Verhaeltnis zur Kirche und zur Kirchenmusik seiner Zeit; in: Singende Kirche 34 (1987), S.13-16. Peter Ackermann 186 Abstract: Aesthetic and Compositional Aspects of Palestrina Reception of Franz Liszt Peter Ackermann Franz Liszt's first critical opinions on the practice of church music of his time, supported by its broad, socially established political and artificial commitment for reforms. In the popular programmatic music of the times, the aesthetic, compositional, and liturgical dimensions of themes are unfelt. But when asked what church music is, Liszt's idea already targeted, despite the utopian gesture context, spontaneously on the Music in the past. The concept of church music from Liszt means from the church works of Palestrina to Mozart's and Haydn's age. It is the purpose of this study that how Liszt phased the past church music in his own composition structure.