Das Wort des Rabbi Das Gebet im liberalen Judentum Die grösste Zahl jüdischer Betenden findet man am Samstagnachmittag im Fussballstadion in Israel. Bei jedem Tor der eigenen Mannschaft steigt eine aus tausenden Kehlen orchestrierte Stimme zum Himmel: „Jesch Elohim – Gott existiert“. Das Beten ist ein in allen Kulturen und Völkern vorkommendes Phänomen. Es entspringt aus tief in der Seele verankerten Gefühlen wie Verzweiflung, Angst, Hoffnung, Dankbarkeit und Freude. Das Beten im Zeitraum der Vielgötterei muss man jedoch als rationelle, geschäftliche Tätigkeit sehen, bezweckten Gebete und Opferdarbringungen damals ja das Manipulieren der Natur und des Schicksales, wofür die Götter nun einmal zuständig waren. Willentliches Beeinflussen ist eine rationelle Tat par excellence. Heutzutage nennt man das ‚Strategie‘. Müssen wir das Beten nun als eine Sache des Verstandes oder eher des Bauches sehen? Ein reiner, aber bemerkenswerter Zufall ist, dass das hebräische Wort ‚beten‘ Bauch bedeutet. In der modernen Zeit assoziieren wir das Beten mit Meditation und den Empfänger unserer Gebete mit einem transzendenten Gott. Das Beten nimmt in der jüdischen Tradition einen wichtigen Platz ein. In ‚Psalmen‘, eine dem Tanach zugehörende Sammlung von Gebeten, findet man persönliche, kollektive und öffentliche Gebete. Persönliche Gebete sind in der 1. Person Singular geschrieben und drücken Gefühle wie Verzweiflung, Ehrfurcht oder Dankbarkeit aus. Kollektive Gebete sind in der 1. Person Plural geschrieben und treffen oft auf die vorhistorische Geschichte Israels zu, wobei Gott gelobt und bejubelt wird. Die öffentlichen Gebete wurden bei verschieden Gelegenheiten im Tempel gesungen, zum Beispiel durch die Leviten während des Opferns, oder an bestimmten Tagen und Feiertagen. Im Tanach begegnen wir zum Beispiel Jizchak, Riwka, David und Daniel, die persönlich, spontan und gefühlsmässig beten. Wir finden aber auch überlieferte Gebete von Mosche, Channa, Schlomo, Elijahu und anderen. Das Beten fand damals ausserhalb des Tempels statt und entspross der Gemütsverfassung des Menschen. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 der weltlichen Zeitrechnung, hatten die Rabbinen sich mit einem Judentum ohne Tempelkult auseinanderzusetzen. Sie liessen ab vom Konzept des ortsbestimmten Dienen Gottes, das im Falle der Israeliten nur im Tempel in Jeruschalajim stattgefunden hat. Darüber hinaus lösten die Rabbinen den Gottesdienst ab von der priesterlichen Elite, den Kohanim, und riefen ihn zu einer volkstümlichen Angelegenheit aus. Eine wahrhaftig revolutionäre Erneuerung. Anstelle der von den Priestern im Namen des ganzen Volkes geopferten Tiere, trat nun das von allen Israeliten Gott zugewandte Gebet. Einerseits führte die Zerstörung des 2. Tempels zu einer in meinen Augen spektakulären Demokratisierung des Kultes. Andererseits aber bildete sich das bis dahin im Judentum rein vom Seelenzustand abhängige spontane Gebet zu einer dreimal täglich verpflichtenden Aufgabe. Die Transformation vom spontanen, seelenheulenden Gebet zum festgelegten und geplanten Gebet, forderte nun auch einen entsprechenden Text. Nicht die Herzensnot oder die Herzensfreude sind fortan die 1 Basis für das Beten, sondern der Auftrag, Gott zu dienen. Die Amida , das Hauptgebet, ist die Sammlung der von den Rabbinen an das Volk gegebenen Gebete. Ferner wurden uns Segenssprüche, Brachot, für die meist verschiedensten Gelegenheiten vorgeschrieben. Die talmudischen Rabbinen erkannten offenbar den Widerspruch zwischen dem spontanen und dem vorgeschriebenen Gebet. Es heisst: „Wer sein Gebet als Festgesetztes betrachtet, dessen Gebet ist kein 2 Flehen.“ Wie kann man aber ein und denselben Text dreimal pro Tag flehend und emotional beten? Die Rabbinen gaben Hinweise: „…das Gebet sollte keine Last sein…“. Und: “… man muss das Gebet flehend 3 aussprechen …“. Und „… man sollte immer etwas Neues hereingeben“. Ich bezweifle, dass jener 1 Sidur Gottesdienst im Herzen: S. 80-86 Freitagabend; 118-124 Schabbatmorgen; 10-17 Abendgebet für Wochentage; 40-48 Morgengebet für Wochentagen. 2 Babylonische Talmud B’rachot 28b 3 Ibidum, 29b Widerspruch, mit einem festgelegten Text mehrere Male pro Tag spontan, flehend und gefühlsmässig zu beten, mit diesen Anweisungen aufgehoben ist. Als ob dies nicht schon schwierig genug wäre, ist es für uns liberale Juden noch komplizierter. Wir sehen das Beten nicht genau als einen von Gott gegebenen und verpflichtenden Auftrag. Dies kann dem spontanen und gefühlsmässigen Beten zugutekommen oder bestenfalls die oben erwähnte Diskrepanz verkleinern. Auf der anderen Seite kann eine tägliche Gebetsroutine das Beten erleichtern. Das täglich verpflichtende Gebet wirkt schwellenabbauend. In unseren Kreisen findet das Beten hauptsächlich in der Synagoge - fortan Schul zu nennen - statt. Was führt Menschen, die sich nicht als m’zuwim, als von Gott Beauftragte sehen, in die Schul? Es gibt verschiedene Motive. Man bestätigt und verstärkt freundschaftliche Beziehungen, sucht die Stille, geniesst die Atmosphäre, liebt die vertrauten Melodien, entflieht der Einsamkeit, oder hat irgendeine Aufgabe im oder rund um den Gebetsdienst. Der Hauptgrund jedoch in die Schul zu kommen ist möglicherweise ‚nur‘, um seine Jiddischkeit zu spüren und zu nähren. Vielleicht auch sucht man dort die innerliche Stille. Es ist nicht einfach, in unserer lärmigen, gehetzten Gesellschaft seelische Ruhe zu finden. Die Schul ist fast wie eine andere, ja vielleicht sogar altmodische Welt. Telefone, I-pads und Tablets sind „lautlos‘ und Agenden nicht nötig. Man wird nicht als Frau Doktor, Geschäftsführerin, Techniker, Redaktorin, Historiker oder Direktor angesprochen. Diese gesellschaftlichen Positionen sind hier irrelevant. Man kann sich auf den Stuhl setzen und abschalten. Man taucht in die Kadenz der Musik und der Gebete ein, ist alleine und dennoch nicht einsam. Im Gebetsdienst kann man sich auf meditativen Wellen wiegen lassen. In Jiddisch nennt man das meditative schaukeln während des Gebetes ‚schockeln‘. Ein Ort, wo das Beten routinemässig, fast mechanisch aussieht, ist die Schul auf dem Ben Gurion Flughafen in Israel. Die Betenden kommen und gehen gehetzt. Einer von ihnen betet vor, und nach dreiviertel Stunden ist man fertig. Ohne sich voneinander zu verabschieden rennt man zum Gate oder in die Duty-Free Sektion. Man findet in dieser Flughafen-Schul übrigens keine liberalen Juden. Ein liberaler Gebetsdienst muss gewissermassen attraktiv gestaltet werden. Da das Beten dort nicht als eine von Gott gegebene Verpflichtung erfahren wird, da der liberale Schul-Gänger ‚freiwillig‘ in die Schul kommt, muss er/sie sich wohl fühlen, müssen die Sinne gereizt werden. Deshalb ist es für uns wichtig, die Gebete zu verstehen und sie mitlesen und mitsingen zu können. Deshalb ist es wichtig, das Ritual mit einer gewissen Schönheit und Würde auszuführen. Der liberale Rabbiner / Vorbeter muss nicht nur vorbeten und aus der Tora lesen können, er muss sein ‚Publikum‘ auch inspirieren. Die Grenze zwischen Inspirieren und Entertainen ist manchmal dünn, und manchmal nicht leicht für mich. Ich wünschte, das Beten entspringe einem inneren Bedürfnis, weiss jedoch, dass die Attraktivität des Gebetsdienstes eine relativ wichtige Rolle spielt für den durchschnittlichen liberalen Schul-Gänger. Diese Feststellung trifft übrigens nicht nur auf den Vorbeter zu. Auch die ‚Firma Schul‘ muss sich widerwillig mit Marktstrategien beschäftigen und Fragen beantworten, wie man die Mitglieder ‚abholt‘. Das liberale Judentum ist meiner Meinung nach eine Bedingung für das Fortbestehen des Judentums. Wir müssen uns indessen, gleich den Rabbinen im nachtemplischen Zeitalter, mit der Frage auseinandersetzen, welchen Platz der Gebetsdienst einnehmen soll, welchen zeitgemässen Bedürfnissen der Mitglieder man entgegenkommen muss und wie wir demzufolge unser Judentum zu gestalten haben. Wahrlich keine Sinekure, wohl aber eine spannende Herausforderung. Rabbiner Reuven Bar Ephraim Gebet – Segen – Meditation Einführung Ein Geschenk ist immer etwas Schönes. Das Chanukkageschenk der Gemeinde an alle Mitglieder, ein Buch mit jüdischen Gebeten in deutscher Sprache, ist für uns Anlass, Gebet, Segen, Meditation in den Mittelpunkt dieses Luchots zu stellen. Das Buch ist eine sehr gute Idee, denn viele können nicht so gut Hebräisch lesen und die „Reiferen“ haben, mit/wegen der Brille oft Mühe beim Lesen. „Frieden in Fülle komme von Himmel“ ist sehr gut zusammengestellt und durch zum Teil neue, zeitgemässe Übersetzungen sehr ansprechend und gut verständlich. Moderne Pijutim geben ihm dazu noch einen poetischen Touch. Das ist nicht verwunderlich, sind doch viele unserer Gebete, vor allem die Pijutim, religiöse Poesie, Gedichte von bekannten und unbekannten Personen. Es enthält die wichtigsten Gebete für Alltag, Schabbat und Yom Tov aus dem JLG-Siddur. Die modernen poetischen Texte eignen sich gut für informelles Gebet und Meditationen. Der Weg ist enorm schön – sagte der Knabe, Der Weg ist gewaltig – sagte der Jüngling, der Weg ist äusserst lang – sagte der Mann, Der Greis setzte sich an den Wegrand um auszuruhen. Die untergehende Sonne färbt sein weisses Haar mit Gold und Röte Das Gras zu seinen Füssen schimmert im Abendtau Ein letzter Vogel des Tages singt über ihm: - Erinnerst du dich, wie schön der Weg war, und wie lang? Lea Goldberg (Siddur der JLG) ENTSTEHUNG DES GEBETS Die Entstehung des Gebets wird, wie so vieles andere, auf Abraham zurückgeführt. Grund dafür ist sein Flehen zum Ewigen für die Einwohner von Sedom (Genesis/Bereschit 18,23-32). Der Überlieferung nach betete man bereits neben dem Opferdienst zu Zeiten der beiden Tempel. Anfangs ohne feste Form und Regeln. Schon damals soll die Pflicht bestanden haben, wenigstens einmal täglich zu beten. Nur das „Schma Israel“ musste zweimal gesagt werden. Weiter ist überliefert, dass die meisten Menschen zu den Opferzeiten im Tempel beteten. Während dem Babylonischen Exil, 6.Jh.v.d.Z., ersetzte das Gebet vorübergehend die Tieropfer. Die Psalmen gehören mit zu den ältesten Gebeten, nicht alle, und manche waren nur so etwas wie kurze Stossgebete, die die Autoritäten später erweiterten. Diese Gottesdienste orientierten sich an den Opferzeiten am Morgen und am Nachmittag. Dazu kam ein tägliches Abendgebet zu der Zeit, in der die Innereien der geopferten Tiere auf dem Altar verbrannt wurden. Nach der Rückkehr aus dem Exil waren die Gebets-Gottesdienste bereits fester Bestandteil der jüdischen Gottesverehrung. Um 485 v.d.Z. verfassten Esra und die Männer der grossen Versammlung erstmals feste Texte zu den Hauptgebeten. Die Gottesdienste blieben bei den Opferzeiten. Das Hauptgebet jeder Liturgie ist die Amida, das „Achtzehngebet“. Bereits zur Zeit des ersten Tempels oder sogar noch davor, soll sie entstanden sein. Es gibt zwei Fassungen. Zur heutigen Synagogenliturgie gehört bis heute die babylonische Version mit 19 Brachot und nicht die palästinensische, die wirklich über 18 Brachot verfügt. Die Anordnung und Thematik dieser 18 Brachot erhielt sie zur Zeit Rabban Gamliel II, von Schimon HaPakuli in Javne, 1./2.Jh. (Megilla 17b, Berachot 28b). Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, 70, gab es keine Opfer mehr, und der Gebets-Gottesdienst ersetzte bereits endgültig den Opferdienst. Gottesdienst des Herzens Auf seiner höchsten Stufe und aufrichtigsten Ebene nennt man das Gebet „Gottesdienst des Herzens“. Das Gebet kann und soll überall stattfinden, ob zu Hause oder unterwegs. Es gibt Gebete für alle Gelegenheiten und Lebenslagen, Lob, Dank, Preis und Bitte. Die Bittgebete sind meistens in der Mehrzahl verfasst, denn die Bitte für Andere soll eher erfüllt werden, als die Bitte für sich selbst. Und am Ende der Bitte wird meist sogleich, der Erfüllung vorauseilend, ein Dank für diese angehängt. Doch bevor ich mich weiter mit dem Gebet beschäftige, möchte ich noch auf die Kawana, Andacht, eingehen. KAWANA, ANDACHT Zuhause oder wo auch immer sollte man sich mit einem kurzen Moment der Stille, des Innehaltens auf das Gebet vorbereiten. Denn der/die Betende soll sich gewahr sein, dass sie/er Gott anspricht. Wenn wir zum Gottesdienst in die Synagoge gehen, sollen wir uns bereits auf dem Weg auf das Gebet, den Gottesdienst einstimmen. Wir sollen daran denken, dass das Gebet Nahrung für die Seele ist. Denn Kawana, Andacht, ist das Wichtigste. Der/die Betende sollte sich bewusst sein, dass er/sie im Gebet mit dem Ewigen spricht. „Wisse vor wem du stehst!“ steht deshalb meist in der Synagoge über dem Toraschrein. Wer betet sollte sein Herz zum Himmel richten, sagt der Talmud, Berachot 31a. Die erste Stufe der Kawana ist das Wissen und Verstehen dessen, was man betet. Die zweite Stufe ist die Befreiung des Geistes von allen äusseren und störenden Gedanken, um sich ganz und gar auf das Gebet zu konzentrieren. Darauf folgt die dritte, höchste Stufe, in der man in grosser Hingabe die Gebete sagt und über ihren Inhalt nachdenkt. Das Gebet in Gemeinschaft wird höher gewertet, als das Gebet an irgendeinem Ort allein. Deshalb ist ein Minjan, ein Quorum von 10 Männern in der Orthodoxie, von zehn oder sieben Menschen, Männern und Frauen, bei den Reformströmungen, notwendig. Unsere Weisen sagen, wenn Menschen gemeinsam beten, dann weilt Gott in ihrer Mitte. Denn in Psalm 82,1 heisst es: „Gott steht in der Mitte der Gemeinde.“ Wer krank ist und nicht zur Synagoge kommen kann, soll zur selben Zeit beten, in der der Gottesdienst stattfindet. Dann gehört er, nach Bably Berachot 6a, ebenfalls zur Gemeinde. Auch wenn der Ritus in verschiedenen Strömungen unterschiedlich ist, die Hauptgebete, wie die Amida, das Schma und der Kaddisch, sind überall in jedem Gebetbuch zu finden. Franz Rosenzweig schrieb einmal: „Die Gesamtsumme und Substanz des ganzen historischen Judentums, sein Handbuch und seine Gedenktafel, wird immer das Gebetbuch sein. Der Siddur für das tägliche Leben, der Machsor für die Feiertage. Wem diese Bände nicht mit sieben Siegeln verschlossen sind, der hat den Kurs des Judentums begriffen….“ W ie durch das Leben selbst gebildet, habe er eine jüdische Welt in sich. Im 9. Jahrhundert wurde der erste formelle Siddur mit Gebeten für das ganze Jahr von Rav Amram Gaon zusammengestellt. GEBET – SEGEN – MEDITATION Gebet, Segen und Meditation gehören zusammen, ergeben sich von einander. Denn oft beginnt oder endet ein Gebet mit einer Beracha, einem Segensspruch, kann über einzelne Gebets-, Psalmen- oder Toraverse meditiert werden. Beginnt ein Gebet mit „Baruch“, gesegnet, dann segnen wir Gott, von dem wir gesegnet werden wollen. Übersetzt wird „Baruch“ immer als „gesegnet“ oder „gelobt“ in der Bedeutung, dass wir, die Menschen, unseren Segen oder unser Lob an Gott für die im Segensspruch beschriebene Sache richten. SEGEN "Baruch" ist "der Gesegnete". Für die Anwendung auf Gott ist dieses Wort ein Attribut, das Gott als die Quelle allen Segens beschreibt. Im Sefer HaChinuch, einem Kommentar aus dem 13. Jahrhundert zu den 613 Geboten, wird versucht, den Sinn des Wortes „Baruch“ zu erklären (No.430): „Nachdem alle Ehren Weisheiten und jeder Segen in Gott allein ruhen, so kann nichts, was ein Mensch sagt oder tut, ihm oder seinen Attributen etwas hinzufügen. Es wäre Überheblichkeit zu glauben, dass sich durch unsere Gebete Gottes Segen vergrössert. <Baruch> soll daher als eine Eigenschaft Gottes verstanden werden. <Baruch Ata Adonai> bedeutet grundlegend „Du, Gott, bist die Quelle, der Ursprung allen Segens.“ Grundsätzlich unterscheiden wir, nach Rabbiner Walter Homolka, drei Arten von Segenssprüchen: 1. Segenssprüche vor dem Genuss materieller Dinge, Birchot Hana’ah, wie Essen, Trinken, neue Kleidung, preisen Gott als den Schöpfer dessen, was wir in Gebrauch nehmen wollen. Der Segensspruch über Brot preist Gott als den, der Brot aus der Erde hervorbringt, usw. Der Segensspruch über Kleidung sagt von Gott, er sei der, der die Nackten bekleide. Somit fragt die Beracha praktisch Gott um Erlaubnis, eine Sache zu verwenden, deren Ursprung – wie alles – nicht in uns liegt, sondern in Gott. 2. Segenssprüche, die wir vor einer Gebotserfüllung sagen, Birchot Hamitzwot preisen Gott als denjenigen, der uns durch seine Gebote geheiligt hat und der uns geboten hat, die Handlung zu vollziehen, zu der wir gerade ansetzen. Das Sprechen der Beracha gehört wesentlich zur Erfüllung eines Gebotes hinzu. 3. Segenssprüche, die zu bestimmten Zeiten oder Anlässen gesagt werden, Birchot Hoda’ah, über Naturerscheinungen wie einen Regenbogen, im Angesicht eines Königs oder Staatsoberhauptes, beim Hören guter oder schlechter Nachrichten, erkennen Gott als den letztendlichen Ursprung alles Guten und Schlechten im Universum an. Berachot werden also nicht nur über Gutes gesprochen, sondern auch über Schlechtes. In diesem Fall wird Gott als „gerechter Richter“ gepriesen und damit unterstrichen, dass auch Schlechtes aus gerechtem Grund geschieht, jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit. Gut 100 Berachot sprechen streng observante Menschen täglich. Manche wiederum sagen gar keine Berachot, andere nur einen Teil davon oder zu besonderen Anlässen, Geburt, Hochzeit, Trauer sowie an Schabbat und Feiertagen. Wenn jemand dann doch aus einem anderen Anlass eine Beracha sagen will, ist es meist das Schehechejanu, das man am ersten Tag eines Festes nach dem Kiddusch sagt. PIJUTIM, POESIE NICHT NUR FÜR DIE SYNAGOGENLITURGIE Zu allen Zeiten schrieben Menschen Pijutim. Aufnahme in das Gebetbuch fanden sie seit dem 7.Jh., wenn diese poetischen Gedichte für den sakralen Gebrauch verfasst wurden, um die Gottesdienste festlicher zu gestalten. Elasar HaKalir, Mosche und Meschlam Ben Kalonnymos, Schlomo Ibn Gavirol und Jehuda Halevi gehören zu den grossen Pijut-Meistern. Insgesamt sind rund 500 liturgische Dichter zwischen dem 7. und 18. Jh. aus Nordafrika, Israel, Spanien, Italien und anderen Ländern Europas namentlich bekannt. Das bekannteste, eindrücklichste und berührendste Pijut ist „Unetane Tokef“, das zu den Hohen Feiertagen gehört. Zugeschrieben wird es dem Märtyrer Rabbi Amnon von Mainz, um 940 – 1040. Mit einem kabbalistischen Pijut, dem Lecha Dodi, begrüssen wir jeden Freitag den Schabbat, verfasst von Schlomo Alkabez im 16.Jh. in Safed. Im Talmud, Schabbat 119a, wird erzählt, dass zu dieser Zeit die Safeder Kabbalisten jeweils am Freitagnachmittag auf die Felder vor der Stadt gingen, um die „Prinzessin Schabbat“, meditierend und singend zu begrüssen. „Adon Olam“, „Herr der Welt“, wahrscheinlich von Schlomo Ibn Gavirol, „Ein Ke-Elohenu“, Keiner ist wie unser Gott, und der „Anim Semirot“, sind drei sehr beliebte Hymnen der poetischen Liturgie im Gottesdienst. Auch bei häuslichen Festen sind Pijutim sehr populär. Der bekannteste Pijut, ist hier „Maos Zur“, Zuflucht, meiner Hilfe Hort, das man an jedem Chanukkaabend singt. Gleichfalls Pijutim sind die Semirot für Schabbatabend. und die Slichot im Morgengebet vor den Hohen Feiertagen. Unendlich viel religiöse Poesie, Gebete, gibt es für persönliche Gebete, Liturgien besonderer Feiern wie etwa Rosch Chodesch. Glücklich Glücklich sind die in der Unschuld ihres Herzens Glaubenden. Sie finden sich zusammen als Bruchstücke der Menschlichkeit, im Schutze schimmernder Flügel, Angesichts des gleichgültigen Verlusts aller Normen. Vielleicht sind es die letzten, die Gebete sagen in unserer Welt. Abraham Chalfi (JLG-Siddur) SCHUTZGEBETE Zum Schutzgebet gehören die Bitte um Schutz und am Ende meistens eine Beracha, Segensspruch, mit Dank/Lobpreis für die Erfüllung der Bitte. Verschiedene dieser Schutzgebete finden wir in unserem Siddur, so das Gebet für die Reise, Tefilat Haderech oder der Dank für Errettung, Birkat Hagomel. Geist und Körper gehören zusammen, jedenfalls im Mischebarach für die Kranken, wo um "Refuat Hanefesch", Heilung des Geistes/der Seele und die Heilung des Körpers, "Refuat Haguf" gebetet wird. Zuerst wird hier um die Heilung des Geistes und dann erst um die Genesung des Körpers, Refuat Haguf, gebetet. Bei den Psalmen soll Psalm 119 bei Krankheit helfen. Wer erfolgreich sein möchte betet den Psalm 112. Psalm 46 soll Frieden und Psalm 124 Rettung bringen. Natürlich werden auch Pijutim als Schutzgebete verfasst. Hier waren und sind häufig Mystiker, Kabbalisten, die Verfasser, wie u.a. Abraham Abulafia, Isaac Ben Luria, der Gründer der Lurianischen Kabala oder Moshe Cordovero. Verziert, auf Pergament oder Papier geschrieben und gerahmt, sind Schutzgebete in vielen Haushalten zu finden. Beliebt sind vor allem der Birkat HaKohanim, und der Birkat HaBeit, die das Haus und die Wohnung schützen sollen. Heute gibt es für beinahe alles Schutzgebete und Segenssprüche, auch für materielles wie Business und Erfolg. Gebet des Rabbi Nechunia Ben Hakana (2. Hälfte 1. Jh.) für Schutz, Heilung und Ausgeglichenheit Ich flehe Dich an, bei der Macht Deiner Rechten, löse die engen Fesseln unseres Körpers. Erhöre das Lied Deines Volkes. Erhöhe unsere Seelen und reinige uns. Grosser Einer, mögest Du Deine Getreuen ausfindig machen. Und sie wie Deinen Augapfel hüten. Segne sie, reinige sie, schenke ihnen ewige Gnade, durch deine barmherzige Milde. Heiliger Beschützer, führe Deine Gemeinde durch Deine Güte zur Vollkommenheit. Gesegnet sei der Ewige und die Herrlichkeit seines Reiches für immer und ewig. MEDITATIONEN Meditation im Judentum ist für manche Rabbiner ein rotes Tuch. Sie stufen sie als nicht zum Judentum passende Esoterik ein. Dabei wird die „Erfindung“ der Meditation im Judentum unserem Stammvater Isaac zugeordnet. Er ist in der Kabbala der passive Mystiker, „der abends auf die Felder ging, um zu meditieren.“ Überliefert ist jüdische Meditation seit dem Entstehen der Hechalotmystik, Himmels- oder Thronhallenmystik. Sie basiert auf dem Prophetenbuch Ezechiel, Kapitel 1. Um diese Himmelshallen vielleicht zu erreichen steckten die Mystiker ihren Kopf zwischen die Beine, eine Meditationshilfe, die man bis über das Mittelalter hinaus praktizierte. Schon damals und noch heute bilden kurze Texte, Verse aus einem Gebet, Psalm oder der Tora die Vorlage für Meditationen. Beliebt ist der Segensspruch „Neschama“ aus dem Morgengebet, nicht nur für die stille Meditation alleine, sondern auch gemeinsam mit anderen: Abraham Abulafia verband Meditation mit Bewegung. Verse aus dem Sefer Jetzira bilden MeditationsGrundlagen. Ebenfalls meditiert wird zu den Buchstaben des Aleph-Bet und ihren Zahlenwerten, zu den Buchstaben des Tetragramms und zu den 72 mystischen Gottesnamen. Vielfach sind die Meditationen Gebete, Pijutim, als Vorbereitung auf den Tag, um sich vor dem Gebet und auch vor Schabbatbeginn von weltlichen Gedanken zu befreien. Mein Gott! Die Seele, die Du mir gegeben hast, ist rein. Du schufst sie, Du bildetest sie, Du hast sie mir eingehaucht, Du hütest sie in meinem Innern, und Du wirst sie mir einmal nehmen, zum ewigen Leben… Eine Meditation von Mosche Cordoveros Schüler Abraham, die sehr poetisch ist: In himmlischer Schönheit verborgener Gott, unbegreiflicher Verstand, Erhabenster aller Erhabenen, mit der höchsten Krone Gekrönter, Wir alle unterwerfen uns Deiner Herrlichkeit. Seit Beginn der Zeit Besteht Dein Gesetz. Die Macht Deiner verborgenen Weisheit kam aus dem Nichts, und doch aus Allem. Der erste Schritt zur Weisheit ist Ehrfurcht vor Gott. Aus den Flüssen der Erkenntnis schöpfen wir Glauben. Ihr Wasser rinnt tief in die Seelen der Menschen hinab, und errichtet dort die Fünf Tore der Eingebung. Gott erschafft die Gläubigen. Gebet, Segen und Meditation gehören zusammen, fügen sich ineinander und sind für die Menschen Instrumente, sich dem Göttlichen anzunähern, zu Ausgleich, Ruhe und Harmonie in uns und mit unserem Umfeld, der ganzen Welt zu finden. Tanja Kröni Quellen: Mischnajot, Die sechs Ordnungen der Mischna, Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Viktor Goldschmidt Verlag, Basel Der Babylonische Talmud, neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Jüdischer Verlag Frankfurt am Main „Jüdisches Gebet heute“, Rabbiner Chajim Halevy Donin, Morascha Verlag, Basel „Jüdisches Leben heute“, Rabbiner Chajim Halevy Donin, Morascha Verlag, Basel „Der jüdische Gottesdienst“, Leo Trepp, Kohlhammer Verlag „Die Welt der Gebete“, Rabbiner Dr. Elie Munk, Viktor Goldschmidt Verlag, Basel Siddur „Schma Kolenu“, übersetzt von Rav Joseph Scheuer, Morascha Verlag, Basel „Gottesdienst des Herzens“, Siddur der religiös-liberalen Gemeinde Or Chadasch „Meditation und Kabbala“, Aryeh Kaplan, Verlag Rita Ruther,10247 Berlin, „Kabbala Inspirationen“, Rabbiner Jeremy Rosen, Patmos Verlag „Gottesdienst des Herzens, Eine Auswahl aus dem Gebetsschatz des Judentums, Jakob J. Petuchowski, Herder, Freiburg, Basel, Wien http://www.whomolka.de/PDFs/bracha.pdf www.hagalicoml www.talmud.de Nachruf: Lutz Zwillenberg s.l. Am 25. Dezember 2011 ist in Bern im Alter von 86 Jahren Lutz Oscar Zwillenberg gestorben. Lutz Zwillenberg war mit der Jüdischen Gemeinde Bern, die er in den Jahren 1991 bis 1994 präsidierte, nachdem er 1976 bereits zum Vorsitzenden der Berner Synagogenkom-mission gewählt worden war, über Jahrzehnte ebenso verbunden wie mit der „Vereinigung für religiös-liberales Judentum“ und mit unserer Gemeinde Or Chadasch. (Foto: Tachles) Obwohl Lutz Zwillenberg seine Jugendjahre in Berlin verbrachte, waren seinem „Dialekt“ stets die Jahre, die er nach 1938 mit seiner Familie in den Niederlanden verbrachte, anzuhören, wo Zwillenberg nach dem Krieg das Studium der Biologie aufnahm, das ihn Ende der 50er Jahre in die Schweiz, nach Bern führte. Aus seiner Profession als Naturwissenschaftler leitete sich sein kritisch hinterfragendes Verhältnis zur Religion im Allgemeinen (wozu er auch publizierte) und zum Judentum im Besonderen ab. Lutz Zwillenberg war ein unermüdlicher Streiter für das religiös-liberale Judentum in der Schweiz. Sein Einsatz für die „Vereinigung für religiös-liberales Judentum“ bleibt ebenso unvergessen, wie seine jahrelange Tätigkeit als Redaktor der Zeitschrift „Tradition und Erneuerung“. Das hohe Niveau dieser Publikation war neben Rabbiner Lothar Rothschild s.l. und Ernst Ludwig Ehrlich s.l. über Jahre hinaus vor allem Lutz Zwillenberg zu verdanken, der 1974 nach dem Tod von Rabbiner Rothschild die Redaktion übernommen hatte und über ein Jahrzehnt weiterführte. Dass, nach den Gründungen der beiden liberalen Gemeinden in Genf und Zürich auf Dauer weder die „Vereinigung“ noch, neben den inzwischen erscheinenden gemeindeeigenen Publikationen, „Tradition und Erneuerung“ trotz Zwillenbergs Bemühungen aufrechtzuerhalten waren, wird ihn wohl betrübt haben. Für die Gemeinde Or Chadasch wird sein grosser Einsatz und seine Übersetzungstätigkeit für unser Gebetbuch „Awoda Schebalew“ eine bleibende Erinnerung an sein Wirken für das liberale Judentum bleiben. Besonders verbunden fühlte sich Lutz Zwillenberg mit Rabbiner Israel Ben Yosef s.l., in welchem er nicht „nur“ den Rabbiner sondern den Wissenschaftler schätzte. Die Zusammenarbeit und der intellektuelle Austausch zwischen den beiden in den Wirkungsjahren von Rabbiner Ben Yosef in der Gemeinde Or Chadasch haben in zahlreichen Beiträgen in den Ausgaben der Zeitschrift „Tradition und Erneuerung“ ihren Niederschlag gefunden. Dabei war Lutz Zwillenberg stets kritisch und stand und blieb auch gegenüber dem als Gemeinde institutionalisierten, „etablierten“ liberalen Judentum ein wenig skeptisch. Darüber hinaus unterstützte Lutz Zwillenberg - neben seiner erfolgreichen beruflichen naturwissenschaftlichen Tätigkeit über Jahre seine Frau Celia in Ihren Aufgaben im Rahmen der Kulturarbeit für die jüdische Gemeinde Bern - als gewiegter Berater und „Ejzesgeber“. Der Austausch mit Lutz Zwillenberg war wohl oft „kontrovers“ aber immer voller Ideen und Anregungen. md Rabbinerordination in Bamberg Alles war perfekt organisiert und (für die Fernsehdirektübertragung) einstudiert. Trotz des für „republikanische“ Bürger etwas nicht eigentlich "pompösen", dennoch aber auch nicht wirklich "einfachen" Händels Wassermusik mit Orgel und drei Trompeten wie Fanfaren zu Beginn und Ende - war vor allem die eigentliche Ordination der vier Rabbiner und einer Rabbinerin durch Rabbiner Walter Jacob eindrücklich und seine, Jacobs anschliessende frei vorgetragene Ansprache bewegend. Die Grussworte vom (noch) neuen Zentralratsvorsitzenden Dieter Graumann überraschend "unorthodox", waren ebenfalls frei vorgetragen (beneidenswert!), auch der bayerische Staatsminister und der Präsident des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern Josef Schuster hielten Ansprachen auf hohem Niveau, wobei v.a. Schuster mit einem interessanten historischen Exkurs über die Schwierigkeiten der Juden in Bayern lange vor (und einmal nicht im Zusammenhang mit) der Shoa im 19. Jahrhundert aufwartete. Einer der neu ordinierten, Paul Moses Strasko aus Montana, USA wird Rabbiner der Communauté Israélite Libéral de Genève als Nachfolger von Rabbiner Garai, der mit vielen anderen offiziellen Gästen der Ordination folgte. Viel Lob erhielt das Abraham Geiger Kolleg, welches mit Stolz auf die (nach Berlin und München) bereits vierte Rabbinerordination (seit der Gründung des Kollegs vor 12 Jahren) blicken konnte. Zweifellos noch keine "Normalität", aber eben doch auch noch immer dem "schlechten Gewissen der Nachwelt" (Hans Sahl) der ganzen Nation "geschuldet", sonst kämen zu einem solchen Anlass, dessen „ausserjüdische“ Bedeutung doch beschränkt bleiben dürfte, nicht so viele (und "hohe") offizielle politische und "kirchliche"/religiöse Würdenträger. Auch Mitglieder unserer Gemeinde haben mit ihrer Unterstützung zur Ausbildung des Rabbinernachwuchses verdienstvollerweise beigetragen, was dankbar vermerkt wurde. Daneben sei nicht „unterlassen“ auch eine interessante und eindrückliche Leistung der Absolventen des Kantorenseminars am Abraham Geiger Kolleg zu erwähnen. md