Sunderbrink

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Sunderbrink
9 783506 781505
LWL-INSTITUT FÜR WESTFÄLISCHE REGIONALGESCHICHTE
LANDSCHAFTSVERBAND WESTFALEN-LIPPE
MÜNSTER
FORSCHUNGEN ZUR REGIONALGESCHICHTE
Band 75
Herausgegeben von Bernd Walter
Bärbel Sunderbrink
Revolutionäre Neuordnung auf Zeit
Gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen:
Das Beispiel Minden-Ravensberg 1807–1813
FERDINAND SCHÖNINGH
Paderborn • München • Wien • Zürich
Redaktion:
Marcus Weidner
Thomas Küster
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Abbildung auf dem Umschlag:
Zollschild des Königreichs Westphalen (Historisches Museum Hannover)
Umschlaggestaltung:
INNOVA GmbH, 33178 Borchen
© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist
ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
Printed in Germany. Herstellung: Druckerei Kettler, Bönen
E-Book ISBN 978-3---
ISBN der Printausgabe 978-3-506-78150-5
Inhaltsverzeichnis
Dank.............................................................................................................................. 7
1. Einleitung
1.1 1.2 Gegenstand und Ziel der Untersuchung..................................................... 9
Vorgehensweise, Forschungsstand und Quellenlage................................ 20
2. Herrschaft im Übergang
2.1 Besatzungserfahrungen unter französischem Militärgouvernement........ 26
Vom preußischen Nebenland zum westphälischen Departement............. 45
2.2 2.3 Westphälischer Staatsgründungsakt in Paris:
Dynastische Inszenierung und Verfassungsoktroi.................................... 58
3. Organisation des Staates in der Provinz
3.1 Einführung des französischen Verwaltungsmodells................................. 67
3.1.1 Loyalitätswechsel und das Ende des Besatzungsregimes........................ 67
3.1.2 Verwaltungsaufbau zwischen Reformanspruch und
lokaler Rücksichtnahme ............................................................................ 70
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 Die öffentlichen Bediensteten als Agenten des neuen Staates................. 77
Staatsdiener zwischen Existenzsicherung und Reformbereitschaft......... 78
Die regionale Verwaltungselite als Träger der modernen Staatsidee ...... 85
Karrieren, Aufgaben und Haltungen der Ortsbeamten........................... 101
4. Aspekte gelebter Verfassungskultur
4.1 Formen öffentlicher Herrschaftsvermittlung.......................................... 118
4.1.1 Materielle Symbolpolitik: Vom Kampf wider
die Allgegenwärtigkeit preußischer Relikte........................................... 118
4.1.2 Loyalitätsstiftende Ereignisse: Huldigung, Herrschereinzug
und Ehrenfest . ....................................................................................... 126
4.2 4.2.1 4.2.2 Politische Partizipation auf allen Ebenen............................................... 153
Die Rekrutierung des politischen Personals........................................... 153
Die Räte in Aktivität und Wahrnehmung............................................... 164
5
4.3
Ambivalenzen eines ambitionierten Reformprogramms........................ 172
4.3.1Beschränkte Befreiung: Agrarische Abhängigkeitsverhältnisse
auf dem Prüfstand................................................................................... 172
4.3.2Erfahrungen einer neuen Gewerbeordnung: Konjunktureller
Aufschwung und das Ende altständischer Korporationen . ................... 186
4.3.3Judenemanzipation zwischen Verfassungsanspruch und
gesellschaftlicher Realität....................................................................... 204
4.3.4
Gemeinwohlorientierung als Triebkraft der öffentlichen
Sozialfürsorge......................................................................................... 236
Konfliktfelder unter dem Druck von außen............................................ 260
4.4
4.4.1
Presse zwischen Zensur und bürgerlichem Informationsbedürfnis........ 260
4.4.2
Militär und zivile Gesellschaft............................................................... 270
4.4.3Subsistenzproteste und äußere Bedrohung:
Das Jahr 1809 als Nagelprobe des jungen Staates................................. 298
5. Das Scheitern des Königreichs Westphalen
5.1 Die französisch-westphälische Grenzziehung von 1811
und das Ende einer fragilen Akzeptanz.................................................. 319
5.2 Der Verfall einer fremd gewordenen Herrschaft
und die Rückkehr der Preußen............................................................... 332
6. Ergebnisse............................................................................................................. 347
7. Quellen und Literatur
Quellen................................................................................................... 355
7.1 7.2 Literatur.................................................................................................. 359
8. Anhang ................................................................................................................ 386
Register
6
................................................................................................................ 399
Dank
Historische Wissenschaft ist eine Leidenschaft. Damit sie zu erfolgreichen Ergebnissen führen kann, bedarf es gedanklicher Freiheit und ausreichender Zeit. Dass mir
diese Ressourcen in den vergangenen Jahren zur Verfügung standen, habe ich vielen
Förderern zu verdanken. Sie haben dazu beigetragen, dass mit dieser Veröffentlichung
ein für mich wichtiger Lebensabschnitt ein überaus positives Ende gefunden hat.
An erster Stelle möchte ich das Historische Institut der FernUniversität in Hagen
nennen. Nach einem dort nebenberuflich erworbenen Magisterabschluss wurde mir die
Möglichkeit eröffnet, als Mitglied des Promotionskollegs „Gesellschaftliche Interessen und politische Willensbildung. Verfassungskulturen im historischen Kontext“ eine
mir bis dahin wenig vertraute, aber um so faszinierendere Zeitepoche zu untersuchen.
Inhaltliche und konzeptionelle Diskussionen aller am Promotionskolleg beteiligten
Lehrgebiete sowie eine gemeinsam mit anderen Kollegiaten organisierte Fachtagung
haben einer zu engen Fokussierung auf die eigenen Fragestellungen entgegengewirkt
und zu einer Erweiterung der Perspektive geführt, die auch die Vormoderne und die
Außereuropäische Geschichte mit einschloss. Das als „virtuelles Promotionskolleg“
angelegte Pilotprojekt der FernUniversität hat zu einer besonderen Form des netzbasierten Dialogs geführt, der für den kollegialen Austausch besonders förderlich war.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat mich als Kooperationspartner des Hagener Graduiertenkollegs durch ein mehrjähriges Stipendium großzügig unterstützt. Dieses Begabtenfördungswerk nimmt sich berufserfahrener Menschen an, die nicht den direkten
Weg von der Schule über das Studium zur Promotion gehen. Die Einbindung in diese
Stiftung hat mir stets die Gewissheit gegeben, dass es ein richtiger Schritt war, das
langjährige Arbeitsleben zu unterbrechen, um meine Foschungsinteressen konsequent
verfolgen zu können. Dass dieser Schritt gelingen konnte, habe ich in besondere Weise meinem Betreuer an der FernUniversität in Hagen, Apl. Prof. Dr. Wolfgang Kruse
zu verdanken, der mir – bei aller förderlichen Freiheit und allem Vertrauen in meine
wissenschaftlichen Fähigkeiten – wichtige Impulse zur Anlage der Arbeit und mehr
noch zur gedanklichen Durchdringung des Erforschten gegeben hat. Mein Dank gilt
ebenso meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Peter Brandt, der mit großem Interesse das
Entstehen der Arbeit begleitet hat.
Ich freue mich, dass das Resultat meiner Forschungen sogleich eine positive öffentliche Wahrnehmung gefunden hat und sowohl mit dem Geschichtspreis des Mindener
Geschichtsvereins als auch mit dem Ignaz-Theodor-Liborius-Meyer-Preis des Vereins
für Geschichte und Altertumskunde Westfalen ausgezeichnet worden ist. Herzlich
danke ich Prof. Dr. Helmut Berding für sein Gutachten und seine ausnehmend zustimmende Bewertung. Zu Dank bin ich auch dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte für die Aufnahme der Dissertation in seine Schriftenreihe verpflichtet.
Für den Druck wurde die 2012 von der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschften
der FernUniversität in Hagen angenommene Fassung insbesondere durch Verweise
auf neueste Veröffentlichungen ergänzt.
7
Meine Forschungen fußen in hohem Maß auf der Auswertung bislang kaum beachteter Quellenbestände. Ohne die Nutzung vieler Archiveinrichtungen, insbesondere dem
Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, dem Niedersächsischen Landesarchiv in Osnabrück und dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen,
in Münster sowie weiteren überregionalen, lokalen und kirchlichen Archiven hätte
diese Arbeit nicht entstehen können. Gute archivische Erschließungen haben mir den
gezielten Zugriff auf die Quellen sehr erleichtert.
Zahlreiche Weggefährten und Freunde haben mich in vielfältiger Weise unterstützt. Nicht nur der kollegiale Austausch, Hinweise auf entlegene Veröffentlichungen
und Privatüberlieferungen, die Unterstützung bei der Übersetzung komplexer französischer Textpassagen, das kritische Lesen und Kommentieren waren dabei wichtig,
sondern auch praktische Hilfestellungen etwa bei der Bewältigung computertechnischer
Probleme oder der Gestaltung einer Posterpräsentation für den Deutschen Historikertag.
Nennen möchte ich schließlich jene, die ganz wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben, ohne dass sie inhaltlich damit befasst gewesen wären: meinen
Mann Rüdiger Uffmann und meine Tochter Emma, die mit ihrer Lebendigkeit, aber
auch mit ihrer Geduld und Zuversicht stets für ein positives Arbeitsumfeld gesorgt
haben. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank!
Bielefeld, Juni 2014
8
Bärbel Sunderbrink
1. Einleitung
1.1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung
„Mit 1806 fängt eine Reihe von Jahren an, die durch ihre an Wunder gränzende[n]
Begebenheiten Jahrhunderte aufwiegen, den Menschen vor jedem Mißbrauche
seiner Kräfte und Anlagen warnen, uns Frevler und Bösewichter zeigen, welche
­Familien, ganzen Ländern und Reichen gefährlich werden.“1
Die so eingeleitete Rückschau eines Amtmanns aus Minden-Ravensberg ­informierte
nicht nur über die bis in die Provinz hinein spürbaren politischen Umstürze des vergangenen Jahrzehnts. Sie offenbarte auch die mentale Lage der Zeitgenossen, die
sich überaus bewusst darüber waren, einen epochalen Einschnitt der europäischen
Geschichte erlebt zu haben. Doch als Aufbruch in eine moderne, zukunftsweisende
Welt wollten sie die Jahre seit der französischen Okkupation 1806 und die damit verbundenen Herrschaftswechsel nicht deuten. Vielmehr legt die Bilanz des Amtmanns
nahe, dass die Menschen eine Zeit gesteigerter Krisen- und Katastrophenerfahrung
hinter sich ließen, in der Napoleon rücksichtslos die Herrschaft an sich gezogen hatte. Dabei hatte das Königreich Westphalen, das seine Existenz den napoleonischen
Hegemonialbestrebungen überhaupt erst verdankte, vielversprechende Ziele verfolgt:
Die Bewohner sollten nicht länger willfährige Untertanen eines absolut regierenden
Königs sein, sondern den Status gleichberechtigter freier Staatsbürger genießen, denen eine Verfassung liberale Rechte garantierte. Erstmals erhielten die revolutionären
Prinzipien von Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Einzelnen, Religionsfreiheit
und Abbau ererbter ständischer Privilegien in Deutschland Verfassungsrang. Manche
mochten in der Rückschau die Dynamik der Neuordnung als „Wunder“ gedeutet haben.2 Im Nachhinein aber blieben den Menschen nicht die positiven Effekte der tiefgreifenden Staats- und Gesellschaftsreform in Erinnerung, sondern vor allem die ungeheure destruktive Macht der napoleonischen Hegemonialpolitik. Diese Politik hatte
die Menschen mit übersteigerten Zumutungen konfrontiert, und durch sie war dem
Königreich Westphalen bereits nach wenigen Jahren ein Ende gesetzt. Die Menschen
blieben – wie es der Amtmann andeutete – von den Zeitläuften erschüttert und auf der
Suche nach neuen Sicherheiten irritiert zurück.3
S
tadtA Bi, Hgb 20, S. 9, Chronik des Amtes Schildesche, 1806. Der Bericht ist 1818 von Amtmann J.F.A.
Lampe aus der Rückschau verfasst worden.
2
Zur Erfahrung von Zeit in Bezug auf den napoleonischen Revolutionsexport vgl. Ernst Wolfgang Becker,
Zeit der Revolution – Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen
1789-1848/49, Göttingen 1999, S. 89-107, bes. S. 105.
3
Aus bayerischer Perspektive vgl. Werner K. Blessing, Umbruchkrise und „Verstörung“. Die „Napoleonische“ Erschütterung und ihre sozial-psychologische Bedeutung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), H. 1, S. 75-106.
1
9
Vor dem Hintergrund des unrühmlichen Endes mag verständlich sein, dass die Würdigung der revolutionären Neuordnung von Staat und Gesellschaft in der kollektiven Erinnerung vollständig hinter die negativen Erfahrungen der westphälisch-französischen
Ära zurücktrat. Eine positive oder zumindest neutrale Betrachtung der Vergangenheit
war auch deshalb ausgeschlossen, weil die mit den Befreiungskriegen einsetzende überhöhte nationalistische Wendung eine solche Beurteilung verbot.
Mit der Französischen Revolution hatte eine Epoche begonnen, die Europa nachhaltig veränderte. In den Jahren zwischen 1789 und 1815 zerfielen alte Reiche und neue
Staatsformen wurden erprobt. Die Revolution führte nicht nur in Frankreich zum Bruch
mit der traditionellen politisch-sozialen Ordnung des Ancien Régime. Ihre besondere
Bedeutung liegt darin, dass durch die militärische Machtexpansion revolutionäre Errungenschaften über die Grenzen Frankreichs hinaus Verbreitung fanden.
Vom Expansionsdrang des revolutionären und später kaiserlichen Frankreich blieb
Deutschland nicht unberührt. Diese „Revolution von außen“ fand ihre institutionellen Ausprägungen im Rheinbund und im Einzelnen in den Filialstaaten Großherzogtum Berg, Großherzogtum Frankfurt und Königreich Westphalen.4 Napoleon verband
sein Ziel, leistungsfähige Staaten mittlerer Größe zu schaffen, die ein Gegengewicht
zu Preußen und Österreich bildeten und damit das französische Empire nach Osten hin
absichern sollten, mit einer bislang unbekannten Reformdynamik. Wie überall, wo Napoleon seine Macht entfalten konnte, stieß er politisch-soziale Reformen „von oben“ an,
die weit über frühere Ansätze des aufgeklärten Absolutismus hinausgingen. Doch stets
blieb die Reformpolitik dem Primat der Hegemonialpolitik untergeordnet.
Unter den Filialstaaten nahm das Königreich Westphalen als ein mit einer Verfassung ausgestatteter Modellstaat eine Sonderstellung ein. Dem 1807 in Folge des Tilsiter Friedens geschaffenen Königreich Westphalen mit seiner auf Egalität ausgerichteten freiheitlichen Gesellschaftsordnung war die Rolle zugeschrieben, auf die übrigen
Rheinbundstaaten auszustrahlen und die Überlegenheit der französischen Reform- und
Verfassungspolitik zu demonstrieren.5 Dabei hatte das von Napoleons jüngstem Bruder
Jérôme (1784-1860) von Kassel aus regierte Königreich schwierige Ausgangsbedingungen zu bewältigen: Das Königreich entbehrte nicht nur einer dynastischen, sondern auch
jeglicher territorialer Tradition. Es war aus zahlreichen unterschiedlichen Territorien zusammengefügt, ohne dass einer der Vorgängerstaaten oder gar ein nach historischem
Verständnis dem historischen Raum Westfalen zuzurechnendes Gebiet eine exponierte
P
eter Brandt, Einleitung, in: ders. (Hg.), An der Schwelle zur Moderne. Deutschland um 1800, Bonn
1999, S. 5-22, hier S. 9-13.
5
Vgl. zusammenfassend: Helmut Berding, Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modell- und
Satellitenstaat (1807-1813), in: Gerd Dethlefs/Armin Owzar/Gisela Weiß (Hg.), Modell und Wirklichkeit.
Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806-1813,
Paderborn u.a. 2008, S. 15-29; ders., Imperiale Herrschaft, politische Reform und gesellschaftlicher Wandel, in: Museumslandschaft Hessen Kassel (Hg.), König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat
Königreich Westphalen, München 2008, S. 107-112; Bettina Severin-Barboutie, Gesellschaft im Umbruch. Wirtschafts- und Sozialreformen im Königreich Westphalen, in: Andreas Hedwig/Klaus Malettke/
Karl Murk (Hg.), Napoleon und das Königreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik,
Marburg 2008, S. 141-165.
4
10
Stellung in dem neuen Königreich erhalten hätte. Im Wesentlichen gehörten zu dem
neuen Staatsgebilde das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, die linkselbischen Gebiete Preußens sowie der südliche Teil des Kurfürstentums
Hannover.6 Eine Staatsidentität, die sich aus der Vergangenheit ableiten ließe, war bei
einem solchen Zuschnitt nicht möglich. Es mussten also andere Strategien gefunden
werden, um einerseits die Stabilität des neuen Staates zu gewährleisten und andererseits
die ihm zugeschriebene Funktion eines Modellstaates zu erfüllen.
Die Verfassung bildete die Grundlage für einen nach französischem Vorbild rational
durchorganisierten und zentralistisch ausgerichteten Staatsaufbau sowie für eine umfassend angelegte Reformpolitik. Es war das ambitionierte Ziel, durch die verfassungsmäßig abgesicherte Modernisierungspolitik die Bevölkerung zu gewinnen, die Menschen
nach der militärischen Eroberung nun auf „moralischem“ Weg zu erreichen.7 Damit verbunden war die Vision, nach französischem Vorbild einen Staat nach den Prinzipien von
Vernunft und Effizienz aufzubauen und die Gesellschaft von einer ständisch-agrarischen
in eine bürgerlich-egalitäre zu verwandeln.8 Reformpolitik, wie in der Verfassung angelegt, war einer der wichtigsten Grundpfeiler des neuen Staates und sollte für den übrigen
Rheinbund ein Modell in Bezug auf die Formulierung liberaler Verwaltungsgrundsätze,
politische Partizipation sowie die Umsetzung weitreichender Erneuerungen in Justiz
und Gesellschaft sein. Ziel war es, durch eine „moderne“ Politik das verkrustete Herrschaftsgebaren der absolutistischen Vergangenheit aufzubrechen.9
Trotz der beispiellosen Reformanstrengungen fielen Anspruch und Wirklichkeit eklatant auseinander. Die kurze Zeit, die für eine tatsächliche Entfaltung der modernen
Ansätze zur Verfügung stand, blieb über weite Phasen von der napoleonischen Machtpolitik dominiert, so dass das Königreich Westphalen seinen Status als französischer
„Satellitenstaat“ trotz eines anderen Selbstverständnisses nur ansatzweise überwinden
konnte. Mit dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft in Deutschland endete
1813 auch die Existenz des Königreichs Westphalen, das sogleich wieder in seine Einzelterritorien zerfiel.
Z
um Gründungszeitpunkt umfasste das Königreich Westphalen das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, das Fürstbistum Hildesheim, die Städte Halle und Goslar, die Grafschaft Mansfeld, das Eichsfeld mit Treffurt, Mühlhausen und Nordhausen, die Grafschaft Rietberg, die westlich gelegenen Teile
Preußens, konkret Teile der Altmark, Magdeburg, die Grafschaften Halberstadt, Hohenstein, StolbergWernigerode, Minden-Ravensberg, die Landgrafschaft Hessen-Kassel mit Rinteln und Schaumburg, die
Fürstabtei Corvey, Göttingen-Grubenhagen, die Fürstbistümer Osnabrück und Paderborn. 1810 kam der
größere noch verbliebene Teil Kurhannovers hinzu, Anfang 1811 wurden die nördlichen Teile wieder
abgetrennt und dem Kaiserreich Frankreich zugeschlagen.
7
Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, 5. Aufl., München 2008, S. 83.
8
Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 18071813, Göttingen 1973, S. 20.
9
Konstitution für das Königreich Westphalen, Fontainebleau, 15. November 1807, in: Bulletin des Lois et
des Décrets du Royaume de Westphalie. Gesetz-Bulletin des Königreichs Westphalen, Kassel 1808, Teil
1, Nr. 1, S. 2-31; ediert in: Klaus Rob (Bearb.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807-1813,
München 1992, S. 41-57; Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen
Wandel, Teil 1: Um 1800, Bonn 2004 (CD-ROM), Dok.-Nr. 9.2.1.2.1 (frz.)/9.2.1.2.2 (dt.).
6
11
Fragestellung
Die Diskrepanz des Staates zwischen Modernität und Fremdbestimmung hat das wissen­
schaftliche Interesse in besonderer Weise und in jeder Forschergeneration herausgefordert.10 Während die deutsche Historiographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Wert
der westphälischen Verfassung aufgrund ihrer liberalen Prinzipien noch hervorhob, rückten seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht nur nationalkonservative Historiker den Topos der „Fremdherrschaft“ in den Vordergrund.11 Diese Sichtweise wurde erst mit der Wende zur modernen Gesellschaftsgeschichte seit den 1970er Jahren abgelöst. Nun erfolgte ein
Perspektivenwechsel, der der Fokussierung auf die negativen Seiten des Regimes den Blick
auf Modernisierungsprozesse entgegenstellte. Dass der als Modell konzipierte Staat mit
seiner wegweisenden Reformpolitik eine Wegmarke zur modernen Staatlichkeit darstellte,
gilt seither als unbestritten. Besonders im Vergleich zur preußischen Verfassungswirklichkeit des 19. Jahrhunderts ragen die Modernität des westphälischen Konstitutionalismus,12
die mit dem Code Civil garantierte Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Vorbildcharakter auf
anderen Reformfeldern weit über die Existenz des Königreichs Westphalen heraus.
Infolge des Aufschwungs der Politischen Kultur- bzw. Neuen ­Politikgeschichte
hat sich das Interesse der Geschichtswissenschaft auf Dimensionen politischer Kultur verlagert, die im Kern Macht- und Herrschaftsbeziehungen auf ihre diskursiven und symbolisch-rituellen Gehalte hin untersucht.13 Mit dem kulturalistischen
­Paradigmenwechsel hat die Thematisierung des „Kulturellen“ auch die Wendezeit
um 1800 erreicht.
I n den älteren Darstellungen werden die Reformprojekte nur aus Regierungsperspektive behandelt.
Während für den zweiten Modellstaat, das Großherzogtum Berg, jüngst eine umfassende Studie unter
kulturalistischer Perspektive vorgelegt wurde (Bettina Severin-Barboutie, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung, Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813),
München 2008), entstammen die Gesamtdarstellungen zum Königreich Westphalen allesamt dem 19.
Jahrhundert: Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft
im Herzen Deutschlands. 1807-1813, nach den Quellen dargestellt, vollendet und herausgegeben von
Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888; Arthur Kleinschmidt, Geschichte des Königreichs Westfalen, Gotha
1893 (Neudruck: Kassel 1970); Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover
unter französisch-westfälischer Herrschaft, 2 Bde., Hannover-Leipzig 1893-1895; Heinrich Kochendörffer, Territorialentwicklung und Behördenverfassung von Westfalen 1802-1813, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 86 (1929), S. 97-218.
11
Dazu im Überblick Armin Owzar, Das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Berg. Quellen –
Forschungen – Deutungen, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 404-414; ders., Vom Topos der
Fremdherrschaft zum Modernisierungsparadigma – Zur Einführung, in: Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell
und Wirklichkeit, S. 1-13.
12
So etwa Ewald Grothe, Die Verfassung des Königreichs Westphalen von 1807, in: ders./Hartwig Brandt
(Hg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 31-51.
13
Vgl. etwa Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), H. 4, S. 574-606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer
Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt
a.M. u.a. 2005; Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, M
­ ünchen 2006.
10
12
Eine jüngere Forschungsrichtung hat sich gesellschaftlichen Basisprozessen zugewendet und damit die Bevölkerung stärker in den Blick genommen. Ihre Erfahrungswelt und ihre Bewusstseinslagen, denen zuvor kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden war, finden damit eine stärkere Berücksichtigung. Für das Königreich Westphalen
liegen solche vertieften Untersuchungen aus mikrohistorischer Perspektive, die der
Durchsetzung und Wahrnehmung der „Herrschaft vor Ort“ gewidmet sind, bislang
nicht vor.14 Die Frage, ob und auf welche Weise sich der Staat in der Bevölkerung
Anerkennung verschaffte, wurde lange vernachlässigt. Dabei bieten die Ausbildung
und der Wandel von Loyalitäten einen zentralen Schlüssel für die Stabilität des neuen Staates. Die Chance, durch die Einbeziehung lebensweltlicher Perspektiven die
Bewusstseinslagen15 der Bevölkerung in Bezug auf die herrschenden politischen Verhältnisse zu entschlüsseln und subjektive Faktoren wie Interessen, Erfahrungen und
Einstellungen zu deuten, ist bislang nicht genutzt.16 Dabei erlaubt gerade die Einbeziehung des Erfahrungsparadigmas, Erkenntnisse über das Ringen zwischen Modernität
und Beharrung, um die Akzeptanz einer von oben und außen oktroyierten Neuordnung zu gewinnen.17 So kann es gelingen, politischen Loyalitäten und Identitäten ein 14
15
16
17
ieser Befund gilt sowohl für die französischen Filialstaaten insgesamt als auch speziell für das KönigD
reich Westphalen (Jörg Echternkamp, „Wo jeder Franzmann heißet Feind …“? Nationale Propaganda
und sozialer Protest im napoleonischen Deutschland, in: Veit Veltzke (Hg.), Napoleon. Trikolore und
Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln u.a. 2007, S. 411-428, hier S. 418f.); auf den Forschungsbedarf zur politischen Identität und einen Forschungszugriff auf lokaler Mikroebene verweist Owzar, Vom
Topos der Fremdherrschaft, S. 6; ders., Eine Nation auf Widerruf – Zum politischen Bewusstseinswandel im Königreich Westphalen, in: Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher
– fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a.M.
u.a. 2006, S. 43-72. Eine Perspektive auf die Herrschaftsunterworfenen fordert für die napoleonische
Zeit insgesamt Ute Planert, Einleitung: Krieg und Umbruch um 1800, in: dies. (Hg.), Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit, Paderborn u.a.
2009, S. 11-23, hier S. 15f. Eine „Aufwertung des Lokalen“ in Bezug auf die Wissens- und Erinnungsgeschichte des Königreichs Westphalen regt schließlich Bettina Severin-Barboutie, Rezension zu: Anika
Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn 2012, in: H-Soz-Kult, 5.4.2013 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-017;
Aufruf 10.4.2014).
Zum Begriff der Bewusstseinslage: Bernd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchung zur Bewußtseinslage in Preußen, Göttingen 1987, S. 21; in Erweiterung auf langwierige Prozesse
der Veränderung von Mentalitäten: Heide Wunder, Kulturgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Historische
Anthropologie, in: Richard van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a.M. 1990,
S. 65-86, hier S. 72-80.
Zum Konzept der „Alltagsgeschichte“: Peter Borscheid, Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor
zur Vergangenheit?, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. III: Soziales Verhalten und soziale
Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 78-100; Hans-Ulrich Wehler, Alltagsgeschichte:
Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: ders., Aus der Geschichte lernen? Essays,
München 1988, S. 218-240; Hans Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie
im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 94-109.
Zum Konzept der „Erfahrungsgeschichte“ und ihrer Nutzbarmachung in der Forschung zur „Übergangsgesellschaft“ vgl. Ute Planert, Einleitung, Krieg und Umbruch um 1800, in: dies., Krieg und Umbruch,
13
zelner Herrschaftsunterworfener nachzuspüren und auf diese Weise die Entwicklung
von „Untertanen“ zu „Staatsbürgern“ aufzuzeigen. Eine „Alltagsgeschichte“18 ist aufgrund ihrer Subjektbezogenheit jedoch als einziger forschungsstrategischer Zugriff
nicht ausreichend, um eine „kollektive Wirklichkeitsdeutung“ zu erfassen.19 Um überindividuelle Strukturen der von außen an die historischen Subjekte herangetragenen
Staatsbürgergesellschaft zu erfassen, also die individuellen und die gesellschaftlichen
Determinanten miteinander zu verbinden, ist eine mentalitätsgeschichtliche Erweiterung geboten. Diese ermöglicht es, Handlungsperspektiven der Akteure in strukturgeschichtliche Betrachtungsweisen einfließen zu lassen und dadurch Bestimmungsfaktoren, die über die erfassten Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen der
einzelnen Subjekte hinausweisen, in einen größeren Rahmen einzuordnen.
In Deutschland ließ der französische Revolutionsexport erstmals die „Grundprinzipien der modernen Welt“20 erfahrbar werden. Doch die durch die Ideen der Französischen
Revolution geprägte und durch die Machtexpansion Napoleons stimulierte Dynamik
zur Veränderung einer unzeitgemäß gewordenen altständischen Ordnung konnte nur
greifen, wenn sie von potenziellen Trägern des Staates unterstützt wurde und eine weitgehende Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung oder doch zumindest in den wichtigen
gesellschaftlichen Gruppierungen fand. Anders ausgedrückt, nur die Ausbildung einer
westphälischen Staatsbürgeridentität konnte eine stabile Ordnung garantieren.
Der konkrete Vollzug des Herrschaftswechsels und die gesellschaftlichen Auswirkungen auf der Ebene der Herrschaftsunterworfenen sind bislang wenig erforscht. Über
die eng damit verknüpften Bedingungen für die Ausbildung eines Legitimitätsglaubens
in der ökonomisch, politisch und konfessionell heterogenen und sich auf unterschiedliche regionale Traditionen beziehenden Bevölkerung des Königreichs Westphalen ist
kaum etwas bekannt.21 Das gilt gleichermaßen für die Funktions­eliten des Staates unterhalb der schmalen Führungsschicht in Kassel wie für die von den Privilegienverlusten
18
19
20
21
14
S. 11-23, hier S. 16f.; Christof Dipper, Kommentar zur Sektion II, in: Planert, Krieg und Umbruch, S.
155-164, hier S. 161-164.
Planert hat auf die Problematik der Verwendung des Begriffs „Alltagsgeschichte“ für Kriegs- und Krisenzeiten hingewiesen, da sich solche Perioden gerade durch das Nichtalltägliche auszeichnen. Es soll
aber an dem Begriff festgehalten werden, weil gerade die Krisenerfahrungen für die historischen Subjekte zum temporären Alltag wurden; vgl. Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841, Paderborn u.a. 2007, S. 64.
Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 555-598,
hier S. 589.
Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 11.
Die Feststellung von Fehrenbach aus dem Jahr 1976, dass „die beginnende Kommerzialisierung des
Grundbesitzes, die Gewerbepolitik, die sozialökonomische Lage der verschiedenen Bevölkerungsschichten unter den veränderten Bedingungen der napoleonischen Herrschaft, die Funktion des Adels in
der lokalen und zentralen Verwaltung, die Wirksamkeit der an Stelle der Stände geschaffenen Notabelnversammlungen, die wirtschaftlichen Folgen der Kontinentalsperre […] im Detail erst wenig untersucht“
sind, besitzt für das Königreich Westphalen noch immer Gültigkeit; Elisabeth Fehrenbach, Deutschland
und die Französische Revolution, in: dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hg. von HansWerner Hahn und Jürgen Müller, München 1997, S. 29-48, hier S. 47.
betroffenen altständischen Eliten Kirche und Adel. Es trifft außerdem ebenso für die
Nutznießer der Reformpolitik zu wie für die Menschen, die aufgrund der neuen Zumutungen des Staates eine Verweigerungshaltung einnahmen.
Um dem spezifischen Charakter des Reform- und Filialstaates22 näher zu kommen,
soll am konkreten Beispiel einer ehemals preußischen Provinz der Zeitraum zwischen
der französischen Okkupation 1806 und dem Zusammenbruch des Königreichs Westphalen 1813 untersucht werden. Dabei wird der kulturalistische Ansatz mit dem Blick
auf moderne Verfassungsstaatlichkeit vertieft.23 Ein solcher theoretischer Zugriff knüpft
an die Forschungstendenzen an, die über die allgemeine kulturalistische Wende Einzug
in die Politische Geschichte und Verfassungsgeschichte gehalten haben.24 Im Mittelpunkt
dieser Arbeit steht daher die Frage nach der gelebten Ordnung, also den praktischen
Ausprägungen und den Wahrnehmungen25 des ersten deutschen Verfassungsstaates im
modernen Sinne, dem kurzlebigen französischen Filialstaat Königreich Westphalen.
Die durch Mentalitäten, Einstellungen und Praktiken zwischen Herrschenden und
Beherrschten vermittelte politische Ordnung soll als „gelebte Verfassungskultur“ entschlüsselt werden.26 Das Konzept der „Verfassungskultur“, als System der kulturellen
Prägung politischer Gemeinwesen auf den Ebenen seiner Institutionen sowie politischen
Öffentlichkeiten, impliziert dabei einen steten Wandel der politischen Ordnung, die
anders als ein normatives Regelwerk angesichts sich verändernder Machtverhältnisse
seitens der Gesellschaft immer wieder neu gedeutet, vermittelt und angeeignet werden
muss. Gerade in Bezug auf die von außen angestoßene Neuordnung erweist sich die Frage nach dem Kulturellen als besonders erkenntnisfördernd, da hier die Integrationskraft
des politischen Gemeinwesens und ihrer Institutionen bzw. die mit der Implementierung
verbundenen Krisenmomente untersucht werden.27
22
23
24
25
26
27
er hier verwendete Begriff des „Filialstaates“ soll gegenüber den gängigen, aber negativ konnotierten
D
Bezeichnungen „Satelliten-“ oder „Vasallenstaat“ eine unvoreingenommene, offene Interpretation des
Verhältnisses von Empire und Königreich Westphalen ermöglichen.
Grundlegend zur kulturellen Dimension von Verfassungsstaatlichkeit aus geschichtswissenschaftlicher
Perspektive Wolfgang Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen
europäischer politischer Kulturen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 114-131.
Sie folgt damit der zuerst von Häberle in die Diskussion gebrachten Forderung, Verfassungswissenschaft
nicht allein mit Fragen nach der normativen Ordnung, sondern auch mit kulturwissenschaftlichem Erkenntnisinteresse anzugehen; vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982
(2., erw. Aufl. 1998).
Zum Konzept der Verfassungskultur auf der Grundlage eines erweiterten Verfassungsbegriffs vgl. Arthur
Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: ders./Peter Brandt/
Reinhard Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 9-14, der besonders auf das zwischen Herrschenden und
Beherrschten stattfindende mentale, symbolische und diskursive Aushandeln von Herrschaftslegitimität,
Gewaltenteilung und Repräsentation verweist.
Arthur Schlegelmilch, Verfassungskultur, in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch unter redaktioneller Mitwirkung von Werner Daum (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte
im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn
2006, S. 88-94, hier S. 88.
Werner Daum/Kathrin S. Hartmann/Simon Palaoro/Bärbel Sunderbrink, Verfassungskulturen in der Geschichte. Perspektiven und Ergebnisse der Forschung, in: dies. (Hg.), Kommunikation und Konflikt­
15
Mit diesem Ansatz kann das Königreich Westphalen unter neuartigen Perspektiven
betrachtet werden. Es geht nicht – wie vielfach geschehen – darum, das Königreich
Westphalen von seinen Intentionen her zu untersuchen und seine Funktion als Modell
für den Rheinbund insgesamt darzustellen,28 sondern vielmehr darum, die Realitäten
und Entwicklungsmöglichkeiten des Reformstaates mit Perspektive auf die Herrschaftsunterworfenen auszuloten. Aus einem kulturalistischen Blickwinkel – angereichert um die konzeptionellen Grundlagen der Verfassungskultur – kann es gelingen,
den Strategien zur Durchsetzung der staatlichen Macht „von oben“ die soziale und
kulturelle Praxis ihrer Rezeption und Wahrnehmung „von unten“ entgegenzusetzen.
Dabei werden unter der Perspektive einer „Revolution von außen“ die seitens des
Empire stimulierten Neuordnungen dahingehend entschlüsselt, inwieweit sie von der
einheimischen Bevölkerung begrüßt, getragen und mitgestaltet bzw. abgelehnt und
untergraben wurden.
Eine Perspektive, die das revolutionäre Element der französisch-westphälischen
Zeit in besonderer Weise berücksichtigt, lässt es damit zu, in Ergänzung zur Modellstaatspolitik „von oben“ das in der einheimischen Gesellschaft selbst liegende Potenzial einer Beteiligung an Reformen und das Ringen um akzeptable Lösungen „von
unten“ aufzudecken. Der Blickwinkel bietet die Möglichkeit, die überkommenen sozialen Strukturen und Strömungen, die im neuen Staat wirkungsmächtig blieben, dahingehend zu befragen, ob sie zur Beförderung der „Revolution von außen“ beitrugen
oder diese zu verhindern suchten.
Den vielfach untersuchten Regierungsaktivitäten im Königreich Westphalen aus der
Perspektive „von oben“ wird in dieser Arbeit am Beispiel einer ausgewählten Region
aus mikroanalytischer Perspektive eine Sicht „von unten“ entgegengestellt und nach
der Ausprägung der „Herrschaft vor Ort“ gefragt. Die kurze, aber veränderungsreiche
westphälische Zeit wird dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus betrachtet.
Das staatliche Handeln einschließlich der Störungen des Modernisierungsprozesses
durch die Hegemonialpolitik Napoleons bildet dabei die Folie, auf der nach Chancen
und Beteiligung der Bevölkerung sowie ihrer Identifikation als westphälische Staatsbürger – letztlich nach ihrer Identität gefragt wird. Eine an der Lebenswirklichkeit
der Menschen orientierte Perspektive soll kollektive Vorstellungen und Einstellungen
sichtbar machen und die Frage beantworten, welche Haltung unterschiedliche ­soziale
Gruppen in Bezug auf den Staat, den Herrscher, die Verfassung und die Reform­
anstrengungen einnahmen. Wie sich die „gelebte Verfassungskultur“ darstellte, ob
oder wie weit die „moralische Eroberung“ die Menschen tatsächlich erreicht hat und
ob sich der Staat eine Legitimationsbasis verschaffen konnte, sind mithin die übergreifenden Leitfragen, die anhand des regionalen Beispiels geprüft werden.
austragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin
2010, S. 9-21, hier S. 9.
28
Genannt sei besonders Bettina Severin, Modellstaatspolitik im rheinbündischen Deutschland. Berg,
Westfalen und Frankfurt im Vergleich, in: Francia 24 (1997), S. 181-203.
16
Da das Königreich Westphalen ganz von der französischen Politik und daher von
den Erfolgen der napoleonischen Machtexpansion abhängig war, führte der militärische Umschwung 1813 konsequenterweise zur Auflösung des „Verfassungsstaats auf
Zeit“. Dennoch scheint es gerechtfertigt, unabhängig davon, ob die Reformen über
den Zusammenbruch des Staates wirkungsmächtig blieben, nach der Qualität der gesellschaftlichen und staatlichen Neuordnung zu fragen. Damit soll der Überlegung
Rechnung getragen werden, dass nicht nur die erfolgreichen, sich schließlich durchsetzenden Entwicklungen eine Würdigung verdienen, sondern dass gerade auch abgebrochene Modernisierungen als Innovationserfahrungen einer Gesellschaft auf dem
Weg in die Moderne einen Eigenwert besitzen.29
Untersuchungsraum
Bei dem Untersuchungsraum, der ehemals preußischen Provinz Minden-Ravensberg,
die im Königreich Westphalen in die Distrikte Minden und Bielefeld aufgelöst wurde, handelte es sich um eines der wenigen tatsächlich altwestfälischen Gebiete, die
in das Königreich Westphalen integriert wurden.30 Die Region zwischen Weser und
Teutoburger Wald nahm innerhalb des Königreichs Westphalen als eines der wenigen
ehemals preußischen Territorien des Staates eine Sonderstellung ein. Sie verlor ihren
Provinzcharakter und wurde mit anderen Gebieten zum Weserdepartement zusammengeschlossen. Die preußische Vergangenheit beschwor einerseits Ressentiments
der neuen Herrscher herauf, andererseits blieb die Tradition eines aufgeklärten Absolutismus, die sich besonders in einer ausgeprägten Reformbürokratie gezeigt hatte,
wirkungsmächtig, was die Region von anderen des Landes unterschied.
Das Weserdepartement mit den Distrikten Minden und Bielefeld lag an der Peripherie des neuen Staates, was die Region zu einem besonderen Testfall für die Herrschaftsdurchsetzung machte. Als weltweit agierendes Zentrum des Leinengewerbes
besaß sie eine herausgehobene wirtschaftliche Position innerhalb des neuen Staates.
Wenn auch hier eine agrarische Wirtschaftsweise vorherrschend war, bildete das Untersuchungsgebiet einen der wenigen Kristallisationspunkte eines gewerblichen Besitzbürgertums in dem zum größten Teil ländlich strukturierten Königreich.
Ä
hnliche Überlegungen bei Armin Owzar, Nur ein Satellitenstaat? Das Königreich Westphalen in der
zeitgenössischen Selbstdarstellung, in: Rüdiger Schmidt/Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die Konstruktion
von Tradition. Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft (1799-1815), Münster 2010,
S. 291-310, hier S. 293f.
30
Monika Lahrkamp, Die französische Zeit, in: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 2: Das
19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur, Düsseldorf 1983, S. 1-43, hier S. 23. Hier auch der beste
Überblick zum politischen Geschehen im historischen Raum Westfalen der Jahre 1800 bis 1813.
29
17
18
Abb. 1: Das Königreich Westphalen hat während seiner kurzen Existenz mehrfach seinen Zuschnitt verändert.
Seine größte Ausdehnung hatte es 1810, als es im Norden bis nach Hamburg reichte. Anfang 1811 annektierte Napoleon Norddeutschland, ohne die Interessen seines Bruders zu beachten. Das Königreich Westphalen verlor etwa
ein Drittel seines Umfangs. Mit der Völkerschlacht bei Leipzig fand der französische Filialstaat 1813 sein Ende
(aus: Museumslandschaft Hessen, Kassel (Hg.), König Lustik!?, S. 533; Karten: Ralf Mahr).
19
1.2 Vorgehensweise, Forschungsstand und Quellenlage
Um die Deutung der kurzen Phase des Bestehens des Königreichs Westphalen zu erleichtern, wird eine zeitliche Einordnung vorgenommen, die die Vorgeschichte und die
Nachwirkungen einbezieht. Zunächst wird der Wechsel von der preußischen Provinz
über das französische Besatzungsgouvernement bis zur Schaffung des westphälischen
Weserdepartements beschrieben. Die Darstellung der vorwestphälischen Ausgangslage in Verwaltung und Gesellschaft macht die besonderen Grundbedingungen für
den Herrschaftswechsel im bisherigen preußischen Nebenland Minden-Ravensberg
deutlich. Der westphälischen Regierung musste daran gelegen sein, die Bevölkerung
insgesamt, besonders aber gesellschaftlich relevante Gruppen für den neuen Staat zu
gewinnen, die als Vermittler der revolutionären Staatsidee auftreten sollten. Der erste
Versuch dazu erfolgte durch die Beteiligung ausgewählter Deputierter am Staatsgründungsakt in Paris.
Anhand des Neubaus des Staates in einer vom Herrschaftszentrum entfernt liegenden Provinz wird dargestellt, welche Möglichkeiten und Grenzen der administrativen
Durchdringung gegeben waren. In diesem Zusammenhang verdienen die öffentlichen
Bediensteten als die potenziellen Vermittler der neuen Ordnung eine besondere Aufmerksamkeit. Hier wird nach Rekrutierungsmustern, Vernetzungen, Einstellungen
und Selbstverständnis der Verwaltungsbeamten auf der regionalen Ebene der Präfekten und Unterpräfekten sowie der lokalen Ebene der Maires und Adjunkten gefragt.31
Nicht nur eine funktionierende Verwaltung, sondern auch eine weitgehende Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber dem Staat war Grundbedingung, um eine reibungslose Herrschaft zu ermöglichen. Die westphälische Obrigkeit setzte daher verschiedene,
zum Teil widersprüchliche Strategien ein, die der Stabilisierung der Macht dienen
sollten. Die Ausgestaltung und Wirkung dieser symbolischen, reformgeleiteten wie
repressiven Praktiken in der Region werden daher im Folgenden in den Blick genommen: Es wird nach der Legitimation durch Repräsentation, und dabei besonders
nach der in Zeiten von Herrschaftswechseln augenfälligen symbolischen Vermittlung
der neuen Ordnung gefragt. Ein wichtiges Instrument der Durchsetzung der neuen
Ordnung in der Region bildete die Presse, deren Abhängigkeiten aufgezeigt werden
sollen.
Revolutionär neu war die politische Partizipation auf allen staatlichen Ebenen, die
einer schmalen Schicht von Notabeln ein Mitspracherecht ermöglichte. Dabei ist zunächst zu klären, welche Faktoren zur politischen Teilhabe führten, wie die Akteure
dieser Gremien sozial differenziert waren und welches politische Gewicht sie entfalten konnten.
Anschließend werden exemplarisch Aspekte des ambitionierten Reformprogramms, das zur Egalisierung der Gesellschaft beitragen sollte, untersucht. Konkret
A
uf das Forschungsdesiderat in Bezug auf die untere Verwaltungsebene verweist etwa Peter Burg, „Geflissentlich beim Feinde Dienst gesucht“ – Die Karrieren großherzoglich-bergischer und königlich-westphälischer Beamter deutscher Herkunft, in: Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit, S. 143-163,
hier S. 144.
31
20
geht es dabei um die Liberalisierung agrarischer Abhängigkeitsverhältnisse, die Einführung einer neuen Wirtschaftsordnung, die Umsetzung der Gleichstellung der Juden
und das über die Verfassung hinausweisende zivilisatorische Fortschrittsprojekt der
Modernisierung des Armen- und Medizinalwesens. Diese Reformfelder wurden als
gesellschaftlich besonders relevant ausgewählt, da sie einerseits tief in die Existenzgrundlage der Menschen eingriffen, andererseits zentrale Problemfelder der modernen Gesellschaft darstellten. Dabei ist jeweils zu untersuchen, ob die von außen und
oben an die Gesellschaft herangetragenen revolutionären Ideen durch ein vorhandenes
Reformpotenzial an Dynamik gewinnen konnten oder durch die Mobilisierung von
Beharrungskräften gehemmt wurden.
Stärker institutionenabhängige Reformfelder wie die Etablierung einer neuen Justizstruktur aufgrund der Einführung des Code Civil sowie die Säkularisierungsmaßnahmen, die in dem durchweg protestantischen Minden-Ravensberg weitaus geringere Reaktionen hervorriefen als in den katholischen Landesteilen, bleiben weitgehend
unberücksichtigt.
Sich auf den neuen Staat einzulassen, bedeutete für die Staatsbürger, garantierte
Rechte zu erhalten. Es bedeutete aber auch, Pflichten wie die Ableistung des Militärdienstes, die Beteiligung an öffentlichen Diensten sowie die Zahlung von Steuern
wahrzunehmen. Diese Verpflichtungen entpuppten sich aufgrund ihrer breiten gesellschaftlichen Relevanz als ausgesprochene Konfliktfelder, die sogar blutige Auseinandersetzungen heraufbeschworen. Eine besondere Situation ergab sich, als im Jahr
1809 äußere Bedrohungen und innere Spannungen aufeinandertrafen und es somit zur
Nagelprobe für das junge Königreich kam. Zu fragen ist auch hier, wer mit welchen
Argumenten Verweigerungshaltungen einnahm und ob sie einer generellen Ablehnungen der westphälischen Herrschaft oder der Abwehr existenzgefährdender Anforderungen geschuldet waren.
Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen des Reform- und des französischen
Filialstaates durchzieht die gesamte Existenz des Königreichs Westphalen. Da beides
gleichermaßen die politische Identität der Bevölkerung bestimmte, sollen die Wendepunkte in der Zustimmung zum Staat ausgelotet werden, wobei für die untersuchte
Region die Grenzziehung zwischen dem Königreich Westphalen und dem Kaiserreich
Frankreich zu Beginn des Jahres 1811 einschließlich deren wirtschaftlichen Folgen
maßgeblich ist. Wie sich der zunehmend restriktive Herrschaftscharakter auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung auswirkte, wurde spätestens beim Einzug der russischen und preußischen Truppen im Herbst 1813 deutlich. Die Rückführung der von
Napoleon erbeuteten Quadriga 1814 aus Paris, deren Zug nach Berlin in der untersuchten Region die Möglichkeit der Artikulation gewandelter Loyalitäten gab, bildet
das bemerkenswerte symbolische Finale der napoleonischen Herrschaft in MindenRavensberg.
21
Forschungsstand
Das Diktum der „Fremdherrschaft“, das die Illegitimität des als „undeutsch“ geltenden
Staates verbal fasste, blieb in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bis zur Wende zu
einer modernen Sozialgeschichte bestimmend.32 Diese Perspektive gab vor allem der Frage
nach der Souveränität des Königreichs ein übermäßiges Gewicht. Mit der Revision der
Rheinbundforschung rückte verstärkt die Reformpolitik in den Blick. Während die ältere,
borussophil-national orientierte Geschichtsschreibung die Überlegenheit der preußischen
Reformpolitik in den Vordergrund gestellt hatte, schrieben die insbesondere von Helmut
Berding und Elisabeth Fehrenbach durchgeführten und angestoßenen Untersuchungen den
Modernisierungsanstrengungen der Rheinbundstaaten einen ebenbürtigen Wert zu.33
Weitere Forschungen haben auf diesen Arbeiten aufgebaut und sie für die Rheinbundforschung insgesamt sowie die Erforschung der „Modellstaaten“ Berg, Westphalen und Frankfurt nutzbar gemacht.34 In Bezug auf das Königreich Westphalen wurden Studien zu einzelnen Themen vor allem der Rechts-, Verwaltungs-35
und Verfassungsgeschichte36, sowie der Kommunikations- und der Erinnerungskultur37 veröffentlicht. In wegweisenden, zeitlich weiter gefassten Forschungen
nimmt die Zeit des Königreichs Westphalen wiederholt einen wichtigen Platz ein.38
Schließlich beleuchten ­deskriptive Beiträge vor allem die Person und das Umfeld des
westphälischen Regenten.39
32
33
34
35
36
37
38
39
22
ur Rezeption in Forschung und Wahrnehmung vgl. Armin Owzar, Fremde Herrschaft – fremdes Recht?
Z
Deutungen der napoleonischen Verfassungspolitik in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 51 (2001), S. 75-105.
Wegweisend: Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik; Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974.
Zur Forschungsdiskussion noch immer Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, S. 213234; Rüdiger Ham/Mario Kandil, Die napoleonischen Modellstaaten, in: Brandt/Kirsch/Schlegelmilch,
Handbuch, S. 684-713.
Einen regionalgeschichtlichen Ansatz verfolgt die unveröffentlichte Dissertation von Nicola-Peter Todorov, Le département de l’Elbe du royaume de Westphalie de 1807 à 1813/14, Paris 2003. Aus juristischer
Perspektive Christian zur Nedden, Die Strafrechtspflege im Königreich Westphalen (1807-1813), dargestellt anhand der Praxis westphälischer Gerichte, Frankfurt a.M. u.a. 2003; Katrin Wrobel, Von Tribunalen, Friedensrichtern und Maires. Gerichtsverfassung, Rechtsprechung und Verwaltungsorganisation des
Königreichs Westphalen unter besonderer Berücksichtigung Osnabrücks, Göttingen 2004.
Herbert Obenaus, Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia 9 (1981), S. 299-329;
Jochen Lengemann, Parlamente in Hessen 1808-1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des
Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt, Frankfurt a.M.
1991; Stefan Brakensiek, Die Reichsstände im Königreich Westphalen, in: Westfälische Forschungen
53 (2003), S. 215-240.
Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen
und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813, München 2013; Anika Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn u.a. 2012.
Z.B. Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten
in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999; Susanne Grindel, Armenpolitik und Staatlichkeit. Das öffentliche Armenwesen im Kurfürstentum Hessen (1803-1866), Darmstadt/Marburg 2000.
Helmut Burmeister (Hg.), König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine
Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung, Hofgeismar 2006.
Den aktuellen Forschungsstand fassen umfangreiche Begleitbände zu ambitionierten
Ausstellungen40 sowie neuere Sammelbände zusammen.41 Darin sind neben zahlreichen Erträgen der Rheinbundforschung speziell zum Großherzogtum Berg und – in
geringerem Maße – zum Königreich Westphalen Desiderate der Forschung benannt,
die vor allem die Frage nach der Bewusstseinslage der Bevölkerung berühren. Wenn
darin auch einerseits das Fehlen von Grundlagenforschungen auf der Ebene der „Herrschaft vor Ort“ bemängelt wird, fällt gleichzeitig auf, dass die wenigen älteren empirischen Forschungserträge immer wieder verarbeitet werden.42
Studien zum Herrschaftscharakter des Königreichs Westphalen, die die konkreten
Auswirkungen der Reformen auf die Bevölkerung ausleuchten, sind bislang Ausnahmen.43 In einen weiteren Zusammenhang der „Franzosenzeit“ eingefügt, stellen sie
eher die Frage der Integrationsanstrengungen ins Kaiserreich Frankreich in den Mittelpunkt als die spezifische Herrschaftsausprägung innerhalb des Königreichs.44
Dass die Untersuchungsregion bislang in der Forschung trotz ihrer besonderen Situation als altpreußische Provinz keinen Niederschlag gefunden hat, mag der Randlage
des Gebietes geschuldet sein. Während die jüngsten Studien ihren Fokus vor allem auf
das hessische Territorium gelegt haben, blendet eine preußisch zentrierte Forschung
die Zeit weitgehend aus. Während Preußens „Weg in den Westen“ als Impulsgeber der
Modernisierung gefeiert wird,45 erfährt die Zeit des Königreichs Westphalen weiterhin
die Deutung eines Besatzungsregimes, das einen vermeintlich organisch verlaufenden Reformweg unterbrach.46 Solche Interpretationen zeigen, dass die borussophilen
Sichtweisen noch immer nicht überwunden sind.
40
41
42
43
44
45
46
useumslandschaft Hessen Kassel, König Lustik; Veltzke, Napoleon; mit Blick auf den EpochenwechM
sel zur Moderne auch Weiß, Gisela/Gerd Dethlefs (Hg.), Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians.
Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster/Bönen 2002.
Den aktuellen Forschungsstand am besten widerspiegelnd Dethlefs/Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit; außerdem mit wichtigen Beiträgen, vielfach aus hessischer Perspektive: Hedwig/Malettke/Murk,
Napoleon und das Königreich Westphalen; ebenso: Jens Flemming/Dietfrid Krause-Vilmar unter Mit­
arbeit von Monika Schwalenstöcker (Hg.), Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich Westphalen als
napoleonischer Modellstaat, korr. Aufl., Kassel 2009.
Dass dies zu Fehlschlüssen führen kann, trifft etwa auf die Interpretationen von Widerstandsaktionen in
Zusammenhang mit Major Schill zu; vgl. Kap. 4.2.3.
Aufgrund ihres empirischen Gehalts wird daher immer wieder zurückgegriffen auf Dorothea Puhle,
Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Königreich Westphalen und die Restitution 1806-1815,
Braunschweig 1989.
Helmut Stubbe da Luz, „Franzosenzeit“ in Norddeutschland (1803-1814). Napoleons Hanseatische Departements, Bremen 2003; Klaus Isensee, Die Region Stade in westfälisch-französischer Zeit 1810-1813.
Studien zum napoleonischen Herrschaftssystem unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Stade und
des Fleckens Haresfeld, Stade 2003; Stephan Freiherr von Welck, Franzosenzeit im Hannoverschen
Wendland (1803-1813). Eine mikro-historische Studie zum Alltagsleben auf dem Lande zwischen Besatzungslasten und Sozialreformen, Hannover 2008.
Nur beiläufige Erwähnung als französischer Satellitenstaat ohne Verweise auf Modernisierungsimpulse
findet das Königreich Westphalen in der umfangreichen Arbeit von Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008, S. 32-36.
So etwa bei Gerhard Renda, Preußische Spuren in Minden-Ravensberg, in: Stephan Sensen u.a. (Hg.),
Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609-2009, Essen 2009, S. 195215, hier S. 209-211.
23
Für die Untersuchungsregion liegen somit nur eine im nationalkonservativen Duktus
der späten Weimarer Republik verfasste Dissertation und einige Aufsätze mit revanchistischem Grundton vor.47 Mit ihrem gedanklichen Bogen von Tilsit zum Versailler Frieden zeigen die Arbeiten die Prägekraft der politischen Zeitumstände für die
Historiographie deutlich auf. Regionalgeschichtliche Arbeiten jüngeren Datums sind
überschaubar. Außer wenigen Aufsätzen zu kirchengeschichtlichen Problemen, zur
Judenemanzipation, zur Armenpflege und zur Festkultur48 räumt nur eine auf das Untersuchungsgebiet bezogene instruktive Beamtenbiographie der französisch-westphälischen Ära einen breiten Raum ein.49
Quellenlage
Die vorliegende Studie fußt auf einer breiten, zum großen Teil bislang nicht ausgewerteten Quellenbasis. Dazu musste eine komplexe Überlieferungsgeschichte entschlüsselt werden. Die Vielschichtigkeit der Quellenlage ist der Tatsache geschuldet, dass
durch die mehrfachen Herrschaftswechsel und territorialen Verschiebungen innerhalb
der Jahre 1806 bis 1815 die Bestände der französisch-westphälischen Zeit auf mehrere
Länder aufgeteilt wurden.50 Für das französische Militärgouvernement 1806/07 zeigen
besonders Quellen der Landstände im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung
47
48
49
50
24
ans Schmidt, Minden-Ravensberg unter französisch-westfälischer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1933;
H
Katharina Krickau, Minden-Ravensberg unter französischer Fremdherrschaft, in: Eduard Schoneweg
(Hg.), Minden-Ravensberg. Ein Heimatbuch, 2. Aufl., Bielefeld/Leipzig 1929, S. 98-106; ausführlich,
aber deshalb nicht erträglicher sind die Artikelserien von Käthe Krickau, Minden unter Franzosenherrschaft, in: Mindener Heimatblätter 1 (1923), Nr. 2-3; dies., Schicksale unserer Heimat in der Franzosenzeit des vorigen Jahrhunderts, in: ebd., Nr. 6-9; 2, 1924, Nr. 1, sowie von Wolfgang Lindemann,
1806-1813. Die Franzosenzeit und das Mindener Land, in: Mindener Heimatblätter 15 (1937), Nr. 1-12;
16 (1938), Nr. 1-4, 6-8 u. 10. Einen hohen Quellenwert besitzen die Erinnerungen des Stadtkommandanten und Stadtmajors Daniel Koch, Authentische Sammlung merkwürdiger Begebenheiten während der
französischen Fremdherrschaft angehend 1806, in: Mindener Heimatblätter 2 (1924), Nr. 10; 3 (1925),
Nr. 1-4, 6-21 u. 23-24. Sie wurden allerdings erst 1841 niedergeschrieben, was Ungenauigkeiten in der
zeitlichen Abfolge der Darstellung erklärt.
Jörg van Norden, Zwischen legaler und traditionaler Herrschaft. Die evangelische Kirche im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen 1806-1813, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 99 (2004), S. 329-364; Monika Minninger, Gleichberechtigte Bürger? Zur behördlichen Umsetzung
der neuen Judengesetzgebung in den westlichen Distrikten des Königreichs Westphalen, in: Dethlefs/
Owzar/Weiß, Modell und Wirklichkeit, S. 337-358; Bärbel Sunderbrink, „Ruhe – Ordnung und frohe
Stimmung“. Feste in Minden während der westphälisch-französischen Zeit (1806-1813), in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 78 (2006), S. 7-41; dies., Neue Wege gegen die Armut. Verordnete Modernität und kirchliche Beharrungskraft im Königreich Westphalen, in: Claudia Brack/Johannes
Burkhardt/Wolfgang Günther/Jens Murken (Hg.), Kirchenarchiv mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey,
Bielefeld 2007, S. 69-80.
Uli Kahmann, Die Geschichte des J.F.A. Lampe. Ein Beamtenleben im Dorf Schildesche um 1800,
Bielefeld 1995.
Zur archivischen Überlieferungslage siehe Andreas Hedwig, Vorwort. Das Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte (1807-1813) – Ein Modellstaat in der Außen- und Innenwirkung, in: Hedwig/­
Malettke/Murk, Napoleon und das Königreich Westphalen, S. 9-17, hier S. 13-16.
Westfalen (ehem. Staatsarchiv Münster), die Konfliktlagen der Übergangszeit auf. Für
das Königreich Westphalen liegt der Kernbestand der Regierungsüberlieferung im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin-Dahlem).51 Diese Überlieferung bildet
die Kommunikation zwischen den Ministerien und den Präfekten als überörtliche Verwaltungsbehörden ab. Von zentraler Bedeutung für das Untersuchungsgebiet sind die Behördenakten der Präfekten des Weserdepartements im Niedersächsischen Landesarchiv/Staatsarchiv Osnabrück und die der Unterpräfekten im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen
(Münster). Die dortigen Bestände bieten einen umfassenden Einblick in die Kommunikation zwischen den Maires auf der Ebene der einzelnen Ortschaften, den Unterpräfekten als
unterste regionale Verwaltungsebene und den Präfekten als regionale Mittel- und Entscheidungsinstanzen. Auf diesen Beständen beruht der wesentliche Teil der Untersuchung. Den
Schwerpunkt bildet dabei die Zeit des Aufbaus und der Konsolidierung des Staates von
1807 bis 1811, da hier das Reformwerk implementiert wurde und die wesentlichen Prozesse der Herrschaftsstabilisierung und -destabilisierung stattfanden. Während ein Großteil der
Regierungsüberlieferung und des amtlichen Schriftwechsels bis auf die Ebene der Präfekten in französischer Sprache verfasst wurde, schrieben die mittleren und unteren Verwaltungsebenen in deutscher Sprache, solange es sich nicht um juristische Belange handelte.52
Da das Untersuchungsgebiet 1811 geteilt wurde und der nördliche Teil an Frankreich
fiel, wechselte der Sitz des zuständigen Präfekten von Osnabrück nach Kassel. Daher sind
im Staatsarchiv Marburg weitere, wenn auch nur höchst lückenhafte Überlieferungen zu
finden. Ergänzend wurden Quellen aus Kommunalarchiven und aus dem Landeskirchlichen Archiv der evangelischen Kirche von Westfalen (Bielefeld) ausgewertet sowie auf
einzelne Akten des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen-Lippe
(Detmold), für die Zeit nach 1813 zurückgegriffen.
Bei der Mehrheit der ausgewerteten Quellen handelt es sich um Behördenschriftgut,
wobei versucht wurde, durch eine Schwerpunktsetzung auf die mittlere Verwaltungsebene
der Unterpräfekten und des Präfekten einen möglichst breiten Fokus auf die Lebenswirklichkeit der Zeitgenossen zu werfen. Angesichts der Überlieferungslage konnte Schriftgut
von Privatpersonen und aus Wirtschaftsunternehmen kaum berücksichtigt werden.
51
52
u Überlieferung und Bestandsaufbau vgl. Ingeborg Schnelling-Reinicke, Westfälischer Adel im KöZ
nigreich Westphalen. Quellen zur Erforschung des westfälischen Adels im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die westphälische Titelkommission und der Orden der westphälischen Krone, in:
zeitenblicke 9, Nr. 1 [10.06.2010], http://www.zeitenblicke.de/2010/1/schnelling-reinicke/index_html,
Abschnitt 7f. (Aufruf: 10.4.2014).
Mit königlichem Beschluss vom 21.3.1808 war den Präfekten als Schnittstelle zwischen den lokalen
Behörden und den Ministerien die Verwendung der französischen Sprache verbindlich vorgeschrieben
worden, vgl. Paye, Kommunikation, S. 62, 66.
25
2. Herrschaft im Übergang
2.1 Besatzungserfahrungen unter französischem Militärgouvernement
„Ein panische[r] Schrecken ergrif[f] Deutschland und ganz Europa“,1 schrieb der
Gemeindepfarrer Gieseler im Jahr 1806 in die Kirchenchronik des kleinen Ortes Werther am Fuß des Teutoburger Waldes und erfasste damit von seiner Warte
als Geistlicher einer Provinzgemeinde treffend die Stimmungslage eines ganzen
Kontinents. Das Jahr 1806 stellt in der historischen Rückschau eine tiefe Zäsur in
der deutschen Geschichte dar.2 Die Vertreter von sechzehn süd- und südwestdeutschen Staaten unterzeichneten am 12. Juli 1806 die Rheinbundakte und erklärten
zugleich ihren Austritt aus dem Reichsverband. Kaiser Franz II. sah sich gezwungen, die Kaiserkrone niederzulegen. Damit hatte am 6. August 1806 das Heilige
Römische Reich Deutscher Nation nach fast tausendjähriger Geschichte aufgehört
zu ­existieren.
Während Frankreich seine Machtstellung in Deutschland durch den von ihm
abhängigen Rheinbund zu sichern suchte, hatte Preußen unter französischem
Schutz das mit dem britischen Königshaus verbundene Kurfürstentum Hannover
besetzt und arbeitete an Plänen einer norddeutschen Konföderation. Gegenüber
Frankreich achtete es streng auf seine seit dem Frieden von Basel (1795) geltende
Neutralität, bis Gerüchte laut wurden, nach denen Napoleon mit London Bündnisverhandlungen führe und dafür die Rückgabe des preußischen Pfandes Hannover
angeboten habe. Diese Provokation verleitete den zwischen Ängstlichkeit, Diplomatie und Selbstüberschätzung schwankenden Friedrich Wilhelm III. (1770-1840)
zum Feldzug gegen Frankreich, ohne sich zuvor die militärische Unterstützung
Russlands zu sichern. Die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober
1806 endete folglich mit einer katastrophalen Niederlage Preußens, die nicht nur
die traditionelle monarchische Ordnung in Frage stellte,3 sondern auch viele Menschen in ihren Lebensgewissheiten tief erschütterte.
Wenige Tage nach der Schlacht wurden die preußischen Westprovinzen von der
­französisch-holländischen Nordarmee eingenommen, die unter dem Befehl des
soeben in den Niederlanden eingesetzten Königs Louis Bonaparte (1778-1846),
eines jüngeren Bruders Napoleons, standen. Am 19. Oktober begannen die Truppen von Wesel aus ihren Einmarsch in Nordwestdeutschland. Ohne auf Widerstand zu stoßen, wurde binnen weniger Wochen das gesamte Gebiet bis zur Elbe
in Besitz genommen: zunächst das preußische Ostfriesland, dann nacheinander
Hessen-Kassel, das preußische Westfalen, das Kurfürstentum Hannover, Oldenburg und schließlich die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck. Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel war in Folge von Jena und Auerstedt von Osten
L
kA EKvW, 4,81, Nr. 498, Kirchenchronik Werther, S. 35.
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur
Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, 2. Aufl., München 1989, S. 368.
3
Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947, München 2008, S. 333.
1
2
26
aus erobert worden. Am 21. November 1806 verkündete Napoleon als Finale seiner gegen England gerichteten Maßnahmen die Kontinentalsperre. Die Verwaltung der in acht Generalgouvernements und Gouvernements unterteilten besetzten
Gebiete ging an französische Gouverneure über.4
Eine fast gewaltfreie Machtübernahme
Am 9. November 1806 erreichten die ersten holländischen Truppen in einer Stärke
von 400 Soldaten die Stadt Minden, am 11. November Bielefeld und Herford. Am 14.
November war ganz Minden-Ravensberg okkupiert. Kampfhandlungen hatte es während der Machtübernahme in der Region nicht gegeben: Der Großteil der preußischen
Truppenverbände war aufgrund des drohenden Kriegsausbruchs bereits Mitte August
in Marsch gesetzt worden und daher nicht mehr in der Gegend.5 Die verbliebenen
Mindener und Ravensberger Verbände wurden in den Festungen Nienburg und Hameln konzentriert, wo sie am 20. und 26. November kampflos kapitulierten.6
Die holländischen Truppen, die die Region einnahmen, gingen mit der Zivilbevölkerung erstaunlich umsichtig um. Wurden sie in den katholischen und bis vor wenigen
Jahren souveränen geistlichen Territorien Münster und Paderborn sogar als Befreier
vom „preußischen Joch“ bejubelt, so war das in dem seit Generationen zu Preußen
gehörenden Minden-Ravensberg nicht der Fall. Dennoch kam es auch hier von Seiten
der Besatzungstruppen zu keinen antipreußisch motivierten Übergriffen. Dem holländischen König Louis eilte der Ruf voraus, dem Land nicht feindselig gegenüberzustehen und es mit Schonung zu behandeln. Krieg sollte nicht gegen die Bevölkerung,
sondern gegen den „Tyrannen“ geführt werden.7
Beim Einzug der Holländer waren beide Seiten darauf bedacht, Provokationen zu
vermeiden. In Minden wurden die Truppen mit einem öffentlichen Gelage empfangen.
Bielefeld und Herford, an der Militärstraße zwischen Wesel und dem noch belagerten
Hameln liegend, mussten in den folgenden Tagen die Durchzüge der Verbände des
Belagerungscorps meistern. In rascher Folge wechselten bei den Bürgern die einquartierten Menschen und Pferde. Massive Übergriffe seitens der französischen Soldaten
S
tubbe da Luz, Franzosenzeit, S. 87-92. Es wurden die (General-)Gouvernements Hannover, Ostfriesland, Oldenburg, Münster, Minden, Braunschweig, Kassel und die Hansestädte eingerichtet.
5
Das Herforder Grenadierbataillon war nach Münster ausmarschiert. Das 10. Infanterie-Regiment aus
­Bielefeld war nach Thüringen abkommandiert, wo es entscheidend zu dem für Preußen negativen Ausgang der Schlacht bei Jena beigetragen hat; W. Nobbe, Standortchronik Bielefeld, Bd. 1 (bis 1933), (unveröff. Manuskript), o.O, o.J. [Bielefeld nach 1939], S. 134.
6
Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 3, bemängelt in seiner nationalistisch gefärbten Darstellung, dass die
Festungen Nienburg und Hameln „unrühmlich und ohne zwingenden Grund“ preisgegeben worden seien.
Diese Bewertung entspricht der nach der Kapitulation auf Generalmajor Karl Ludwig von LeCoq hereinbrechenden Kritik von Seiten der preußischen „Falken“, die die isolierte Lage der Festungen nicht als
hinreichenden Grund für die Aufgabe akzeptieren wollten.
7
Monika Lahrkamp, Münster in napoleonischer Zeit 1800-1815. Administration, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer Herrschaft, Münster 1976, S. 62.
4
27
blieben eine Ausnahme.8 Die preußischen Behörden hatten die Zivilbevölkerung bereits im Vorfeld für den Fall des Einmarsches „fremder Kriegsvölker“ zur Bewahrung
der Ruhe ermahnt. Ihre Überlegungen betrafen nicht etwa eine mögliche Abwehr der
gegnerischen Truppen – diese wäre Aufgabe des Militärs gewesen –, sondern ihre
Sorge bezog sich auf Begleitumstände wie Exzesse und Plünderungen, die es abzuwenden galt, um den Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten.9 Gewalttätigkeiten
gingen nicht zwangsläufig von den regulären Verbänden aus, sondern auch von deren
ungebetenen Begleitern.10 Die Vorkommnisse scheinen auf die Einstellung der Bevölkerung jedoch einen geringeren Einfluss gehabt zu haben als der offensichtlich nahezu
friedlich verlaufende Machtwechsel. Hinweise, dass die Bevölkerung darauf drängte,
das Gebiet entschlossener militärisch gegen die französisch-niederländischen Truppen
zu verteidigen, finden sich jedenfalls nicht.
Aufbau des französischen Militärgouvernements
Ein Paderborn, den hessischen Teil der Grafschaft Schaumburg, Ravensberg und
Minden umfassendes Gebiet wurde nach der Okkupation in einem Gouvernement zusammengefasst.11 Die Leitung dieses „Zweiten Gouvernements der eroberten Länder“
übernahm Jacques-Nicolas Gobert, ein erfahrener General kolonialfranzösischer Herkunft, der in der Revolutionsarmee Karriere gemacht hatte.12 Er bezog seinen Dienstsitz in der Domdechanei in dem zum Hauptort des Zweiten Militärgouvernements
bestimmten Minden. Abgesehen von dem Gouverneur Gobert, dessen deutschen Adjutanten Major Thomas, dem Intendanten Sicard13 und dem Kommandanten Nicolas
Fournier, musste die französische Besatzungsmacht ohne eigenes Personal auskommen. Nur einige Gendarmen und gut hundert Mann französische Grenadiere standen
M
isshandlungen erlitten in Bielefeld nachweislich die Witwe Tiemann und ihre Tochter, für die die Stadt
die Heilungskosten in Höhe von 20 Rtl. übernahm; Volker Parr, Chronik der Garnison Bielefeld (unveröff. Manuskript), Bielefeld 1981, S. 116.
9
Grabe/Moors, Neue Herren, Nr. 142, Rundschreiben der Kriegs- und Domänenkammer Münster an alle
nachgeordneten Behörden, 19.10.1806, S. 254.
10
Wie in der Ortschaft Brackwede, wo marodierende Truppen das Dorf „in einen nicht geringen Schrecken“
versetzten; Gemeindechronik Brackwede, zit. nach: Karl Beckmann/Rolf Künnemeyer, 1151-2001.
Brackwede. Stationen einer 850-jährigen Geschichte, Bielefeld 2001, S. 119.
11
Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 3. Das „Erste Gouvernement der eroberten Länder“ wurde aus den „altpreußischen“ Gebieten Tecklenburg, Lingen und Mark sowie den „neupreußischen“ Gebieten Münster
und Osnabrück gebildet.
12
Zum wechselvollen Karriereweg Goberts (geb. 1760 auf der Insel Guadeloupe, gest. 1808 bei Baylen
in Spanien) siehe Helmut Stubbe da Luz, General Gobert, Napoleons „Zweites Gouvernement der eroberten Länder“ und die Anfänge des Königreichs Westphalen, in: Westfälische Forschungen 56 (2006),
S. 379-402; dort auch weitere biographische Nachweise. Nach seiner Tätigkeit in Minden ist Gobert in
Spanien eingesetzt gewesen und während eines Scharmützels umgekommen. Sein Name findet sich in der
„Spanienabteilung“ des Pariser Arc de Triomphe. Auf dem Friedhof Père Lachaise ist ihm ein auffälliges
Denkmal gesetzt, das ihn tödlich getroffen vom Pferd stürzend darstellt.
13
Zur Biographie Sicards (1773-1813) vgl. ebd., S. 389.
8
28
ihnen zur Seite.14 In Verwaltungsangelegenheiten stützte sich das Militärregime ganz
auf das vorhandene Personal. Die Verwaltungsgeschäfte für das gesamte Gouvernement wurden in oberster Instanz der Mindener Kriegs- und Domänenkammer übertragen, auch in den untergeordneten Behörden blieben die preußischen Beamten auf
ihren Posten und führten ihre Aufgaben ohne erkennbare Anzeichen von Widersetzlichkeit weiter aus.
Die Okkupation wurde von unterschiedlichen herrschaftssichernden Maßnahmen
begleitet. Zunächst verkündete Gouverneur Gobert am 14. November 1806 mittels
einer zweisprachig gedruckten Bekanntmachung die Machtübernahme und erklärte
selbstbewusst, dass die eroberten „Länder nie in den Besitz der preußischen Fürsten
zurücktreten werden. […] Ihr Schicksal wird künftig nur von dem besten, dem gerechtesten und mächtigsten Souverain der Erde abhangen“.15 Mit dieser Bekanntmachung
verfügte Gobert einerseits die Beschlagnahmung der öffentlichen Kassenbestände und
Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, andererseits sollte aber
auch das Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden. Auf das Charisma Napoleons
und die moralische Rechtmäßigkeit des Revolutionsexportes zielend, hieß es in der
Publikation:
„Völker, vertraut der Güte und der Grosmuth des unüberwindlichen Napoleons!
Mir hat er befohlen, Euer Glück zu machen, und ich werde seinen Willen erfüllen.
Eure Unterwerfung und Euer Zutrauen müssen den Hindernissen zuvorkommen,
die sich Eurem Wohlseyn entgegensetzen. Ihr müßt stolz darauf sein, das Schicksal
der Franzosen zu theilen […].“16
General Gobert stellte Napoleon ausdrücklich als dem Volk zugeneigten Glücksbringer
dar und wollte damit der Vorstellung eines machtstrebenden Usurpators entgegenwirken.
Die in hoher Auflage gedruckte Bekanntmachung fand eine Verbreitung bis auf die Ebene
der einzelnen Dörfer, wo es den Pfarrern oblag, sie einer Bevölkerung zu verkünden, die
in der Mehrzahl noch niemals den Wechsel ihrer Herrschaft erlebt hatte.17
Einen weiteren Akt der symbolischen Machtübernahme stellten die Reisen Goberts innerhalb des Sprengels seines Gouvernements dar. Gemeinsam mit dem übrigen französischen Führungspersonal sowie den Vertretern der preußischen Verwaltung, dem Präsidenten der Kriegs- und Domänenkammer von Hövel und dem Kriegsrat Wendel, fuhr der nur
rudimentär die deutsche Sprache beherrschende Gouverneur das ihm unterstehende Gebiet
ab, um einerseits die Besitzergreifung persönlich bekannt zu machen und sich andererseits
einen Überblick über die gewonnenen Provinzen zu verschaffen. Die Begleitung durch die
Kammerbeamten bekräftigte für alle sichtbar einen Machtwechsel, in der die bestehende
Verwaltungsordnung als stabilisierendes Element zunächst erhalten bleiben sollte.
14
15
16
17
och, Sammlung 3, 1925, Nr. 1.
K
Grabe/Moors, Neue Herren, Quelle Nr. 144, Öffentliche Bekanntmachung des Gouvernements Minden,
14.11.1806, zweisprachiger Druck, S. 257f.
Ebd.
Die Bekanntmachung findet sich etwa in der Schildescher Amtschronik; StadtA Bi, Hgb 20, S. 11.
29
Die Ankunft des Gouverneurs in den einzelnen Ortschaften enthielt Attribute eines
Herrschereinzugs: Am 18. November wurden Gobert und seine Begleiter in Herford
und Bielefeld mit Glockengeläut empfangen und von der Stadtelite, bestehend aus
Magistrat, Bürgerschaftskollegium und Geistlichkeit, begrüßt und anschließend zu einem gemeinsamen Mahl geladen.18 Da jedoch der Kriegszustand mit Preußen anhielt
und eine Klärung, in welcher Weise die eroberten Gebiete in der Folgezeit zu regieren
seien, noch nicht erfolgt war, fehlten Merkmale einer besonderen Unterwerfung und
Treuebezeugung, wie sie später beim Einzug des westphälischen Königs sichtbar werden sollten.
Die sogleich getroffene Anordnung zur Abnahme der an öffentlichen Gebäuden angebrachten preußischen Adler untermauerte die militärische Machtübernahme auf dem
Feld der visuellen Kommunikation. Die Staatssymbolik des besiegten Gegners sollte
umgehend aus dem Blickfeld der Bevölkerung getilgt werden – ein Vorhaben, das am
Beharrungsvermögen der Eingesessenen zunächst zum Scheitern verurteilt war.
Die bald in rascher Folge anberaumten öffentlichen Festveranstaltungen vermittelten die Machtübernahme auf symbolische Weise und sollten die Bevölkerung gezielt
in positive Emotionen versetzen. Zwei Tage nach der Einnahme der Region durch die
feindlichen Truppen fand am 16. November 1806 im Dom zu Minden zur religiösen
Fundierung der Besetzung ein zentraler Dankgottesdienst statt, an dem neben dem
Gouverneur auch Behördenvertreter, Vertreter des Adels, der Geistlichkeit und der
Bürgerschaft teilnehmen mussten.19 An den feierlichen Einzug in die Kirche schloss
sich der Lobgesang Te Deum an. Das seit dem Mittelalter bekannte öffentliche Gebet
wurde nun im Namen des französischen Kaisers abgestattet und diente dabei vor allem
seiner Repräsentation.20
Der Dankgottesdienst stellte den Auftakt zu einer Reihe von Festen dar, die anlässlich militärischer Ereignisse und zu Ehren der Familie Bonaparte gefeiert wurden und
insbesondere die zur Teilnahme verpflichtete Verwaltungs- und Honoratiorenschicht
auf die neue Situation einschwören sollten. Bereits am 7. Dezember 1806 wurde in Erinnerung an den Krönungstag Napoleons 1804 und an die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz ein Jahr zuvor ein Fest anberaumt, das mit Glockengeläut, Kanonenschüssen,
feierlichem Einzug in die Kirche, Te Deum und Illuminationen am Abend21 erstmals
den gesamten Rahmen solcher Anlässe absteckte.
Der Enthusiasmus, mit dem solche Festgelegenheiten innerhalb der Bevölkerung
erwartet und mitgestaltet wurden, zeigt sich in der Planung einer „Fête“ zu Ehren des
Gouverneurs Gobert, die von den Honoratioren der Region Anfang 1807 in Minden
18
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30
J ulius Normann, Herforder Chronik. Sagen und Geschichtsbilder aus der Vergangenheit von Stift und
Stadt, Herford 1910, S. 487-521, hier S. 489f.; Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 4.
Koch, Sammlung 3, 1925, Nr. 1.
Napoleon ließ das Te Deum, das in der Revolution seine Bedeutung verloren hatte, als Staatsmusik
wieder aufleben und gab zu seiner Krönung eine neue Komposition in Auftrag. Abgeleitet von der napoleonischen Verfahrensweise setzte auch sein Bruder Jérôme die Verwendung des Hymnus bei allen
festlichen Gelegenheiten ein. Zur Entwicklung des Gesangs siehe Sabine Zǎk, Das Te Deum als Huldigungsgesang, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 102 (1982), S. 1-32.
Koch, Sammlung 3, 1925, Nr. 1.
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