WDR 3 Kulturfeature Wandel durch Tradition? Wie der Islam der Moderne begegnet Atmo, Koranlesung, Moschee 1) O-ton Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Ben aslinda gönlümden tüm dünyaya haykirmak istiyorum ... 1) Übersetzer, O-ton, Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Ich möchte es eigentlich aus ganzem Herzen in die Welt hinausschreien Gott hat den Menschen frei erschaffen, jeder Mensch hat die Fähigkeit seinen eigenen Weg zu gehen, deshalb braucht niemand einen anderen Menschen, um Gott zu finden. Daher bitte ich die Religionsvertreter inständig darum, sie sollen Ihre Hände vom Gewissen und vom Glauben der Menschen nehmen! 2) O-ton Prof. Thomas Bauer: Heute ist das Feld ja völlig durcheinander durch so eine Bezeichnung wie Islamisten, das wird ja alles durcheinander gebracht. Also Terroristen der Boko Haram werden in den Nachrichten als Islamisten bezeichnet und die Muslimbrüder werden als Islamisten bezeichnet, beide Gruppen haben definitiv gar nichts miteinander zu tun und Muslime werden allgemein als Islamisten wahrgenommen, das führt ja auch schon dazu, dass man den Islam eigentlich nur noch durch die ideologische Brille wahrnehmen will. 3) Prof. Armina Omerika: Es gibt grob gesagt, häufig zwei Reaktionen darauf von den Muslimen, die eine sagt, es hat nichts mit dem Islam zu tun, auf der anderen Seite die Position von Islamkritikern die sagen, das ist alles im Islam begründet, weil das und das steht im Koran. Beide Positionen sind meines Erachtens falsch, weil sie keine Erklärungsansätze liefern. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 4) O-ton Prof. Mehmed Said Hatipoglu: Islam, bana göre, benim anladigim Islam sudur: Dogruluktur, iyiliktir, güzelliktir, hayirli is... 4) Übersetzer Prof. Mehmed Said Hatipoglu: Der Islam wie ich ihn verstehe ist Aufrichtigkeit, Mildtätigkeit, Schönheit und gute Taten zu vollbringen. Zum Beispiel steht in einem Vers des Kuran die Aufforderung: Wer von Euch eine gute Tat vollbringt, egal ob Frau oder Mann, der wird das Wohlgefallen des Schöpfers empfangen. Der Mensch ist auf der Welt, um Gutes zu vollbringen und das Gegenteil zu vermeiden. Musik – Rockmusik von Muhsin Tüzer 5) O-ton Prof. Armina Omerika: Auf der anderen Seite ist es so, dass gerade die islamische Theologie, dass der Islam verstrickt ist oder islamische Deutungen verstrickt sind in so vielen Konflikten muss sie sich natürlich der Frage stellen, was passiert da gerade mit der eigenen Tradition mit der eigenen Religion? Warum ist es möglich, dass so viele Leute auf die Art und Weise zu diesen Deutungen kommen? Dieser Frage müssen sich die Theologen ua. auch stellen. Es kann nicht eine Frage sein, die ihre Arbeit hauptsächlich dominiert, die Theologie hat nicht nur den einen Zweck dem Extremismus Einhalt zu gebieten, aber man kann vor dieser Frage auch nicht weg rennen. Musik – Rockmusik von Ahmet Muhsin Tüzer, 2/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Ansage Wandel durch Tradition? Wie der Islam der Moderne begegnet Ein Feature von Aysegül Acevit Musik, Gesang Übersetzer: Es dauert nicht mehr lang – neue Dinge stehen an – Wenn die Zeit der Veränderung kommt, nehmen die Schmerzen ein Ende - Was denkst Du, wer Du bist? Hälst Du dich für den Mittelpunkt der Erde? Sprecherin: Der Rocksänger Ahmet Muhsin Tüzer provoziert. Er hat mit seiner Band Firock viele Konzerte gegeben und ist in der Türkei ein bekannter Mann. Von manchen Leuten wird er aber auch beschimpft, denn er ist hauptberuflich Imam, ein islamischer Vorbeter und Rockmusik sei unislamisch. Imam Tüzer sieht das anders. 6) O-ton Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Dünyanin artik yeni bir anlayisa ihtiyaci var … dogru diye dayatirsaniz… 6) Übersetzer Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Die Welt braucht ein neues Verständnis, denke ich. Es ist Zeit, daß das Individuum sich entfalten kann, daß die Menschen in der Gesellschaft ihre eigenen Wege gehen können und die göttliche Wahrheit auf ihre eigene Art erfahren können. Deshalb sage ich, die Religionsvertreter sollen die Menschen in Ruhe lassen. Wenn jemand etwas will, dann wird er es suchen und finden, wenn er in die Moschee gehen will, braucht niemand zu sagen, geh in die 3/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Moschee, dann wird er es selbst tun. Jedem Menschen hat Gott die Fähigkeit gegeben, ihn zu erkennen, wenn du sagst, nur meine Glaubensweise ist richtig, dann bist du respektlos gegenüber Gott. Sprecherin: Der „rockende Imam“ wird der 46 Jährige auch genannt. Er lebt im sonnigen Süden der Türkei, nahe Antalya. Er hat schulterlanges, braunes Haar, trägt Jeans und Lederjacke und fährt Motorrad. Nachdem er die Schule für Imame und Prediger absolvierte, studierte er Arabisch und Literatur in Istanbul. Was ihn nervt, sind „diese engstirnigen Leute“, die meinen zu wissen, was sich für einen Imam gehöre. Er tue schließlich nichts Schlechtes. Gott möge diesen Leuten vergeben. Sein Glaube ist unerschütterlich. 7) O-ton Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Benim babam imamdi zaten, emekli imam, dedem imam, din alimi …. 7) Übersetzer Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Mein Vater war schon Imam, auch mein Großvater war Imam, ein Religionsgelehrter und Koranlehrer. Seit meiner Geburt bin ich mit dem religiösen Wissen aufgewachsen, dass mir die beiden vermittelt haben und ich habe als kleiner Junge schon gelernt den Koran zu lesen und religiöse Lieder zu singen. Also das ist normal für mich. Atmo, Motorrad Sprecherin: Mit Helm und in voller Montur fährt er täglich zur Arbeit. Das Motorrad stellt er vor der Moschee ab, hängt die Lederjacke an die Garderobe und zieht seine Arbeitskleidung über, einen weißen Mantel, eine Kopfbedeckung. Dann schreitet er in die vorderste Reihe der wartenden Männer im Hauptraum der 4/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Moschee und leitet das Gebet. Fünf Mal am Tag. Atmo: Gebet in der Moschee 8) O-ton Imam Tüzer: Imamlik benim icin, Allah’in bana nasip etmis oldugu cok önemli bir deger, önemli bir görev. 8) Übersetzer Imam Tüzer: Imam zu sein ist für mich eine sehr wertvolle Aufgabe, die mir Allah ermöglicht hat. Vor allem seit dem ich Rockmusik mache, ist mir klar geworden, wie wichtig das Amt des Imams ist. Ein Imam wird in der Gesellschaft oft als unsozial wahrgenommen, als ein langweiliger Mensch, der nur den Koran lehrt und das bedrückt mich. Ich möchte das Tabu brechen und zeigen, dass ein Imam auch im künstlerischen musikalischen etwas Wertvolles schaffen kann. Das Gebet zu leiten gehört zu den wichtigsten Aufgaben eines Imams, aber ist es damit getan? Sprecherin: Etwa 1,5 Milliarden Muslime gibt es weltweit, in über 56 Staaten. Sie unterscheiden sich kulturell, politisch und wirtschaftlich, ob in Asien, Afrika oder Europa. Auch die Stellung der Religion ist verschieden. Mal ist der Islam Staatsreligion einer säkularen Republik, mal einer Militärdiktatur, mal Minderheitenreligion. Dabei leben Muslime ihren Alltag zwischen Arbeit und Familie, Armut oder Wohlstand. Religion hat für sie mal mehr, mal weniger Gewicht. Doch was haben sie gemeinsam, woran glauben Muslime? Außer an die fünf Grundpfeiler des Islam - das Glaubensbekenntnis, das Gebet fünf Mal am Tag, das Fasten, die Almosenabgabe und die Pilgerfahrt nach Mekka. Und wer entscheidet im Zweifelsfall, was richtig oder falsch ist? Wie setzen sich neue Ansichten durch? Im sunnitischen Islam, der größten Strömung, bieten die 5/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. vier Rechtsschulen Orientierung, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit ihrer jeweiligen Lesart der islamischen Quellen etabliert haben. Auch die Schiiten orientieren sich an eigenen Rechtsschulen. Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur hat sich besonders mit dem Iran beschäftigt. 9) O-ton Prof. Katajun Amirpur: In Iran trifft man vermutlich heute, auf die Bevölkerung, die wahrscheinlich am meisten Abstand gewonnen hat von der Religion, weil sie einfach sagen, dass kann doch nicht sein, dass Gott sich dafür interessiert, ob meine Haarlocke daraus guckt, ob ich Musik höre, ob ich mit meinem Freund durch die Straße gehe oder nicht. Wenn Islam so restriktiv ist, dann habe ich lieber keinen Islam. Und das war etwas, dass tiefreligiöse Menschen, wie Shabisteri und Sourush sehr stark mitgenommen hat und die sind dann hingegangen und gesagt, Leute das ist nicht so, der Islam will euch nicht ständig nur bevormunden oder diktatorisch eingreifen in euer privates Leben, das ist nicht das, was den Islam ausmacht, sondern es geht um die Spiritualität und nicht, dass er missbraucht wird zu Machtzwecken von irgendwelchen Klerikern, die sich letztlich nur bereichern wollen. 10) O-ton Prof. Thomas Bauer: Der Islam besteht aus einer unendlichen Vielzahl von Strömungen und Richtungen Sprecher: Professor Thomas Bauer, Islamwissenschaftler, Universität Münster 10) O-ton weiter: und da es im Islam ja keine Kirche gibt können Veränderungen nur von der Basis her entstehen. Es gibt Islamgelehrte, es gibt Professoren, es gibt Theologen, die etwas verändern und das was sie verändern wollen, müssen sie dann auch durchsetzen. Also wenn der Papst was sagt, dann ändert sich was, 6/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. wenn ein Professor für islamisches Recht irgendwas sagt, ist noch lange nicht gesagt, ob das was ändert. Also es müssen Leute mit Autorität sein, die etwas ändern. Atmo Einbandmaschine 11) O-ton Prof. Said Hatipoglu: Baska yerlerde kitaplari kesmek icap ediyor, kestirip geliyorum, kendim dikip ciltliyorum … 11) Übersetzer Prof. Said Hatipoglu: Man muss die Buchseiten erst wo anders schneiden lassen, das mache ich und dann nähe ich sie von Hand zusammen und binde sie in den Einband - den färbe ich auch. Diesen Einband habe ich zum Beispiel auch gemacht. Schauen sie Ibn Rushd steht hier, Averoes und Averoismus auf Arabisch, das war ein islamischer Philosoph aus dem 12. Jahrhundert. Das hab ich als Loseblattsammlung gekauft und gebunden. Bücher müssen stabil sein. Ich hab es nicht so mit moderner Technik, ich mag keine Computer, ich muss das Buch selbst lesen, deshalb kaufe ich immer noch neue Bücher. Sprecherin: Professor Mehmed Said Hatipoglu ist 84 Jahre alt. Auf seiner alten Maschine bindet er die meisten seiner Bücher selbst. Sie steht in einer Ecke seiner Bibliothek, neben einem alten Schreibtisch aus Walnussholz. Täglich arbeitet er hier im Herzen der Hauptstadt Ankara in der Türkei. Im Nebenraum der Bibliothek liegen antike, türkische Teppiche, stehen gemütliche alte Sessel und ein runder Holztisch. Auch hier an den Wänden, dunkle Holzregale vom Fußboden bis zur Decke, prallvoll gefüllt mit gebundenen Büchern. In seinem Archiv im Untergeschoß sieht es auch so aus. Fast zehntausend Werke müsste er haben, sagt er, alle zu seinem Forschungsgebiet, zum Islam. 7/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 11) O-ton Said Hatipoglu: Ben 1953-1954’te ilahiyata Ankara ilahiyat fakültesinde basladigim zaman önümde … 11) Übersetzer Prof. Said Hatipoglu: Als ich 1953-54 an der theologischen Fakultät von Ankara zu studieren begann, gab es ein großes Problem. Wir mussten Fremdsprachen, Arabisch und andere Disziplinen lernen aber es gab keine Lehrkräfte, die uns unterrichten konnten. Einer meiner Professoren war Annemarie Schimmel aus Deutschland, eine Dame, die ich sehr schätze. Möge Allah ihrer Seele gnädig sein. Professor Muhammed Tajib Okic aus Bosnien hat die Fakultät aufgebaut. Denn nach der Zerschlagung des großen Osmanischen Reiches und der Gründung der türkischen Republik 1923 hatten wir nicht genug Wissenschaftler. Das Osmanische Reich hatte ein anderes System. Wir waren seine ersten Assistenten und sind dann die ersten Professoren geworden. Auch wenn nur noch 3 oder 5 von uns da sind. Sprecherin: Said Hatipoglu war Professor der Islamwissenschaft an der Universität von Ankara. Er ist eine Autorität in der Türkei und wird selbst von hochkonservativen Muslimen geschätzt. An der theologischen Fakultät der Universität Ankara, die er mit aufgebaut hat, fand sich in den 90er Jahren ein Kreis von Professoren und Studenten zusammen, der später als „Schule von Ankara“ berühmt wurde und für eine vernunftbetonte Sicht des Islam eintrat. Die Fakultät war nach dem Ende des Osmanischen Reiches die erste der Türkei, an der der Islam wissenschaftlich erforscht und gelehrt wurde. Viele ihrer Absolventen haben Karriere gemacht, in der Wissenschaft, im Amt für Religionswesen Diyanet oder an Universitäten im Ausland. Musik Freddy Mercury - Bismillah 8/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 13). O-ton Imam Tüzer: Ben orta okul ve lise yillarimda, imam hatipte okurken, Freddy Mercury’yi cok severdim 13). Übersetzer O-ton Imam Tüzer: Als ich so in der zehnten, elften Klasse der Schule für Imame und Prediger war, da mochte ich Freddy Mercury sehr gerne. Denn in einem Stück da singt er gegen Ende des Liedes auf Arabisch „Bismillah“, das heißt „im Namen Allahs“, das hat mich sehr beeindruckt. Gleichzeitig hat er natürlich eine sehr außergewöhnliche Stimme und ein besonderes Talent, was mich begeistert hat. Ich habe auch Songs von Metallica oder Pink Floyd gehört, also ich war der Rockmusik nicht abgeneigt. Musik von Muhsin Tüzer Spreche: Ich kann mich selbst nicht finden, weder im Himmel noch auf der Erde. Bin ich Stein oder Lehm? Weder als Eigenschaft noch als Name. Was soll ich mit einem Garten ohne Blumen. Ich bin in den liebenden Herzen, ich sehe alles ist von Dir. Meine Tränen habe ich mir mit deinem Licht abgewischt. Sprecherin: Ahmet Tüzer schreibt seine Lieder selbst. Er macht zwar Rockmusik, aber er singt von der Liebe zu Gott. Er beschäftigt sich mit dem Tasavvuf, dem sogenannten Sufitum, also der islamischen Mystik. Musik oder Gesänge mit religiösen Texten werden Ilahis oder arabisch Nasheed genannt. Die Musik 9/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. entspringt dabei meistens der Kultur des jeweiligen Landes. Streng konservative Muslime sind der Meinung, dass Musik im Islam per se verboten sei. Dass religiöse Texte mit moderner Rock- und Popmusik verbunden werden ist relativ neu. Entstanden in den letzten zwanzig Jahre etwa. Imam Tüzer findet das gut. Sprecherin: Die Frage wie Jahrhundertealte Glaubensinhalte mit modernen Entwicklungen umgehen sollen, stellt sich immer wieder neu. 14) O-ton Prof. Katajun Amirpur: Die Offenbarung des Koran ist abgeschlossen gewesen mit dem Tod des Propheten Muhammad im Jahre 632 und von diesem Zeitpunkt an wurde die Offenbarung interpretiert. selbst zu Zeiten des Propheten sind die Leute gekommen und haben gefragt, was ist denn gemeint mit der Sure xy und dann hat der Prophet eine Interpretation gegeben und manchmal hat er diese Interpretation auch angepasst an die Umstände und hat gesagt, hier haben wir das so zu verstehen, aber unter anderen Umständen, an einem anderen Ort haben wir es so zu verstehen und das gleiche haben dann die Generationen nach ihm gemacht. Sprecherin: Daher unterscheiden die meisten Islamwissenschaftler auch zwischen den universal sinnstiftenden ethischen Lehren des Koran und den situationsbezogenen Offenbarungen, die für eine irdische Gemeinde im 7. Jahrhundert geschrieben sind. 10/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 4. Musik 15) O-ton Prof. Thomas Bauer: Es ist jedenfalls seit dem 19. Jh. eine viel stärkere Ideologisierung zu verzeichnen und das heißt natürlich auch, dass man will, dass die Sachen eindeutig sind. Wenn sie den Korankommentar eines saudischen oder wie sie sich nennen, salafistischen Islamgelehrten lesen, dann weiß der ganz genau, was jeder Koranvers bedeutet und der hat natürlich nur eine einzige Bedeutung. Das ist übrigens bei so manchem Reformtheologen auch nicht anders, die glauben natürlich auch, dass jeder Koranvers eine Bedeutung hat, nur glauben sie eine andere Bedeutung, als die anderen. Ein klassischer Gelehrter ist froh, in jedem Koranvers möglichst viele Bedeutungen, die er auch haben könnte zu entdecken und da wird fleißig gesammelt, was alles gesagt wird, was ein Koranvers bedeuten könnte und manchmal hat einer auch eine eigene Idee, er glaubt aber nicht, dass das jetzt seine einzig richtige Bedeutung ist 16) O-ton Prof. Katajun Amirpur: Wenn sie sich alte exegetische Werke angucken, dann haben sie die immer in der gleichen Form vorliegen. Da steht zuerst, nehmen sie eine Seite, in der Mitte der Seite eine Sure, eine Sure xy wird zitiert und dann schreibt der erste Kommentator, seine Meinung in einem Kreis um diese Sure herum und der zweite Kommentator kommt dann und schreibt seine Meinung zu diesem Vers, die wiederum eine andere Auslegung eine andere Interpretation ist, auch einem Kreis ähnlich um diese Sure herum und am Ende haben sie dann 25 verschiedene Interpretationen und die ganze Seite sieht aus wie ein Jahresring, wenn sie einen Baumstamm durchschneiden und ganz am Ende schreibt dann der letzte Kommentator hin: und letztlich weiß es doch nur Gott, Allahu alem. 11/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 17) O-ton Prof. Thomas Bauer: Das sehen sie auch im islamischen Recht, während früher man viele Rechtsmeinungen nebeneinander stehen lässt - und natürlich dann das Problem hat, wie man das mit der Anforderung nach Rechtssicherheit unter einen Hut bringt, aber irgendwie hat man das ja geschafft - sind Leute, die heute nach der Scharia rufen, die wissen sehr genau, was sie damit meinen und was es bedeutet und so sicher war man sich vor 500 Jahren keineswegs. Und ich meine auch in klassischer Zeit war das Recht immer schon ein Kompromiss zwischen den Rechtstraditionen, zwischen dem reinen islamischem Recht, wie es die islamischen Rechtsgelehrten vertraten, zwischen staatlichem Recht und Gewohnheitsrecht. Also in reiner Form ist das nie angewandt worden, das hat nur nie jemand gestört, außer ein paar ganz Fromme, aber das war immer eine Minderheit 18) O-ton Prof. Sait Hatipoglu: Böyle bir sartlarin degismesi suretiyle hükmün degismesinin misalleri peygamber efendimizin zamaninda … 18) Übersetzer Prof. Sait Hatipoglu: Dass sich das religiöse Urteil ändert, wenn sich die Umstände ändern, das gab es schon zu Zeiten des Propheten. In einigen Suren des Kuran haben sich die Urteile der Suren geändert. Z.B. wenn Ihr den Propheten sehen wollt, dann gebt eine Spende für die Armen, heißt es zunächst, dann wird dieses Urteil wieder aufgehoben, mit der Begründung, weil Gott weiß, dass ihr das nicht leisten könnt. Das nennen wir nasih-manush, dass Gott das Recht hat, seine Urteile zu ändern. Kann so etwas auch nach dem Tod des Propheten passieren? Das können nur die Gelehrten entscheiden und deren Aufgabe ist es, die Beispiele dafür ausfindig zu machen. Ich habe das in meinen Büchern getan, aber wir haben zu wenig Wissenschaftler, die das tun. 12/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Atmo große Moschee 19) O-ton Gülsefa Uygur: Su anda Süleymaniye camisinin ana mekanindayiz, erkeklerin ibadet ettigi mekandayiz 19) Übersetzerin Gülsefa Uygur: Hier sind wir in der Süleymaniye Moschee, im Hauptraum, wo die Männer beten und auf der linken Seite sehen sie den Bereich der Frauen. Sie sehen er ist mit ganz frischen Teppichen ausgelegt und die Abtrennung ist niedrig, so dass die Frauen freie Sicht auf den gesamten Innenraum der Moschee haben. Sprecherin: Gülsefa Uygur steht in einer der größten und ältesten Moscheen Istanbuls, erbaut ab 1550 im Auftrag von Sultan Süleyman, genannt dem Prächtigen. Ein Meisterwerk der Architektur. Sie zeigt einer Gruppe Frauen, den für sie erneuerten Bereich der Moschee. Wie in fast allen Moscheen befindet sich der Frauentrakt im Hauptsaal hinten, so dass die Frauen beim Gebet nicht von den Blicken der Männer gestört werden, so die Idee. Daher wurde dieser Bereich auch von einem etwa zwei Meter hohen, kunstvoll aus filigranen, gitterartigen Ornamenten geschnitzten Holz optisch getrennt. So konnten die Frauen den Hauptraum der Moschee beim Gebet aber auch nur eingeschränkt sehen. Das war Jahrhundertelang Bestandteil des islamischen Sakralbaus. Seit einigen Jahren ändert sich das. In den Moscheen der Türkei werden die Trennwände der Frauenbereiche auf Kniehöhe gesenkt. Ein Projekt ihrer Vorgängerin, das sie weiter führt. Gülsefa Uygur ist Stellvertreterin des Mufti von Istanbul und auch für die Interessen der Frauen zuständig. 13/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 20) O-ton Gülsefa Uygur: Hem ibadet ederken görülebiliyor iste vaazidir cuma hutbesidir hanimlar da görevlileri… 20) Übersetzerin Gülsefa Uygur: So können sie auch beim Gebet im Sitzen auf dem Teppich z.B. den Prediger beim Freitagsgebet sehen. Oder den Hauptraum der Moschee als Ganzes. Bei allen Moscheeverschönerungen werden auch die Teppiche und Vorhänge in diesen Räumen erneuert. Unsere Absicht ist, dass die Frauen sich der Moschee mehr zugehörig fühlen. Atmo Moschee 21). O-ton Prof. Thomas Bauer: Im osmanischen Reich geschehen immer noch intellektuell spannende Sachen im 17.-18. Jh., wenngleich im 18 Jh. die spannenderen Sachen schon eher in Europa passieren. Aber tragisch war die Situation damals immer noch nicht. Sie war halt nur nicht auf Innnovation ausgerichtet. Wirklich schwierig wurde es dann im 19. Jh., als die Kolonisierung begann, sich Kolonialmächte auch Teile der islamischen Regionen unter den Nagel rissen, vor allem als zunehmend eine einheimische Elite sich sehr stark auf den Westen fixierte mit nationalistischen Ansätzen und damit auch die alte Elite gut ausbooten konnte und damit zu dieser Spaltung in traditionelle und prowestliche oder nationale Elite führte und heute immer noch da ist und wenn sie jetzt nach Ägypten sehen sie jetzt genau diese Spaltung, die die politischen Lager teilt, die im Laufe des 19. Jh. entstanden ist. 14/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 22). O-ton Prof. Katajun Amirpur: Um die Kolonialmächte abzuschütteln, hat man zurückgegriffen auf den Islam, hat man gesagt, das ist eben die potentielle Kraft, die wir haben, mit der wir uns auflehnen können. Aber auch im Iran hat man als Gegenpol zum Imperialismus den Islam stark gemacht oder als Gegenpol zum Kommunismus, in den 70er Jahren und dann sind einige Intellektuelle hingegangen und haben gesagt, wir müssen unsere eigene Ideologie finden, unseren eigenen -ismus begründen und das war dann der Islamismus. 23). O-ton Prof. Thomas Bauer: Die einen sagten, wir beharren strickt auf unseren Traditionen und wenn es Probleme gibt, dann nur deshalb, weil die Leute nicht mehr so fromm sind, wie sich das eigentlich gehört. Die andere Meinung war die, aber wir sehen doch, Europa ist uns wirtschaftlich und machtpolitisch überlegen, deshalb müssen wir nur so europäisch wie möglich werden und möglichst viele europäische Konzepte übernehmen. Und das tragische an der Sache ist, das z.T. bis heute, diese beiden Strömungen genauso weiter existieren. D.h. es gibt Radikalreformer, die alles über Bord werfen, nur um endlich auch das zu haben, was die Europäer haben und es gibt einen Traditionalismus, der auch das nicht mehr hat, was der traditionelle Islam hatte, eben die Fähigkeit, konstruktiv mit den heiligen Texten umzugehen und auch zu neuen Auslegungen zu kommen, ohne die Verbindung mit der Vergangenheit durchzuschneiden. Atmo bosnische Moschee 24) O-ton Mustafa Burnic: Anders nicht, anders nicht. Wir beten genauso 5 mal am Tag, wir halten uns an viele Dinge, wie auch die Araber oder Türken, aber wir haben natürlich eine Geschichte, die Hunderte von Jahren zurück geht, in der viele Christen, Juden, 15/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Orthodoxe zusammengelebt haben, auch nach dem Krieg wird das fortgesetzt, die Menschen leben trotzdem zusammen. Und natürlich muss da eine große Toleranz herrschen, sonst würde man das Ganze nicht so hinbekommen. Sprecherin: Mustafa Burnic ist Mitglied der bosnischen Gemeinde in Köln. Sie haben eine schöne, kleine Moschee in einem Hinterhof, treffen sich regelmäßig zum Gebet oder zu religiösen Feierlichkeiten. Er ist ein gläubiger Mann und arbeitet ehrenamtlich im Vorstand des Moscheevereins. Schon seine Eltern kamen in den 60er Jahren nach Deutschland. Die bosnischen Muslime haben das Image, modern zu sein, auch wenn sie selbst das oft gar nicht so empfinden, wie Mensur Bahcevac und Mustafa Burnic. 25) O-ton Mustafa Burnic: Ich sehe das gar nicht als modern an, ich sehe das als das an, wie der Islam ausgelebt werden muss: tolerant, anderen gegenüber, anderen Religionen gegenüber, ob das modern ist oder nicht modern? Was hat das mit modern zu tun, wenn ich andere Leute genauso akzeptiere ob er Muslim ist oder nicht? Das hat mit modern nichts zu tun. Das war vor 1000 Jahren genauso modern wie jetzt auch. 26) O-ton Mensur Bahcevac: In meinem Freundeskreis in Deutschland gibt es Menschen, die gehen wöchentlich in die Kirche und auch nur einmal im Jahr oder auch nie und genauso gibt‘s in meiner Familie oder bei uns in Bosnien Menschen, die sehr fromm sind und konservativ und täglich ihre Gebete verrichten und sich an alle fünf Regeln des Islam halten und es gibt auch einige, die einmal im Jahr, gar nicht oder nur wenn sie beerdigt werden, Muslime sind. Ist leider so aber ist Realität. Lekum dinikum veliyedin. Jedem das seine. Ich urteile darüber nicht. 16/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Jeder entscheidet sich für seinen Weg und muss sich entscheiden und rechtfertigt sich später vor dem Herrscher der Welt. Atmo aufziehen 27) O-ton Prof. Armina Omerika: Jedes muslimische Land hat eigene Entwicklungen durchgemacht und es sind immer verschiedene Faktoren gewesen, die da eine Rolle gespielt haben. Sprecher: Armina Omerika, Junior-Professorin für islamische Ideengeschichte, GoetheUniversität Frankfurt am Main: 28) O-ton Prof. Armina Omerika: Die Türkei hatte sich ja nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches als eine eigenständige Republik etabliert das hat auch bestimmte Entwicklungsprozesse ermöglicht. Viele andere osmanischen Länder sind ja zum Opfer gefallen, diesem Verteilungskampf einer Nationalstaatenbildung, die unter Beteiligung der Kolonialmächte erfolgt ist, Modernisierungsprozesse haben sie da auch gehabt, so ist es nicht, nur die Frage ist, wie tiefgreifend waren die? Man kann da jetzt auch keine pauschale Aussage treffen, der Teil der islamischen Welt hat sich so entwickelt, der Teil hat sich so entwickelt - sondern man muss jedes Mal auf den einzelnen Kontext schauen und gucken, bis wann gab es welche Entwicklungen? Wenn sie sich Länder wie Afghanistan anschauen, die waren bis in die 60er-70er Jahre hinein ein säkularer Staat und das was wir da beobachten, sind teilweise Ergebnisse der letzten 30 Jahre. 17/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 29) O-ton Mustafa Burnic: Es ist ja klar, dass viele Länder ihre Traditionen, ihre Bräuche mit in den Glauben einmischen, dass dadurch eine Vielfalt entsteht. Natürlich akzeptieren wir das alle, dass es da kleine Unterschiede gibt, ist in Ordnung. Aber ich glaube, was für uns Muslime wichtig ist, ist den Weg, den unser Prophet auch übermitteln wollte, den Weg der Mitte zu gehen. Nicht in irgendeine radikale Richtung abzudriften. Gut zu seinen Mitmenschen, gut zu seinen Nachbarn und ich glaube, dann sind wir auf dem richtigen Weg. 30) O-ton Prof. Omerika: Ein ganz wichtiger Punkt, wo diese Transformation angesetzt hat war, Ende des 19. Jahrhunderts, also nach dem Berliner Kongress 1878 ist Bosnien Herzegowina praktisch aus dem Osmanischen Reich herausgelöst worden und Österreich-Ungarn, der damaligen Donaumonarchie zugeordnet worden und das hat einige Prozesse ausgelöst, vor allem einige Modernisierungsprozesse Industrialisierung des Landes, Aufbau von Infrastruktur und vor allem eine große Bildungsreform. Diese Prozesse hatten teilweise schon früher angefangen, im Osmanischen Reich. Es gab Mitte des 19. Jh. eine große Reformbewegung Tanzimat. Man muss aber sagen, dass diese Prozesse viel später in Bosnien ankamen, als in den zentralen Gegenden des Osmanischen Reiches, also der heutigen Türkei. Musik, instrumental Sprecherin: Auch muslimische Denker in verschiedenen Ländern trugen später dazu bei, die neuen Entwicklungen zu festigen. Einer von ihnen war der pakistanische Philosoph Fazlur Rahman. 1919 im britisch besetzten Indien geboren, studierte 18/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. er zunächst in seiner Heimat, dann unter anderem in Oxford, bevor er 1961 nach Pakistan zurückkehrte. Dort leitete er ein staatliches IslamForschungszentrum. Der Koran kann nur verstanden werden, wenn er im Kontext seiner Zeit betrachtet wird, sagte Rahman. 31). O-ton Katajun Amirpur: Fazlur Rahman hat die rationalistische Strömung wieder stark gemacht. Und er hat auch ganz stark gemacht, dass Texte interpretiert werden müssen und man sich über diese Interpretationsmechanismen bewusst werden muss und dass dann aber eine Art doppelter Bewegung zwischen dem Menschen und dem Koran und vom Koran aus zurück zum Menschen gibt. Insofern war er sehr prägend z.B. für die Ankara-Schule. 32) O-ton Prof. Said Hatipoglu: Bizim ilahiyat fakülesine bir ziyarette bulunmuslardi seneler öncesinde, orada seminerler 32) Übersetzer Prof. Said Hatipoglu : Er besuchte vor vielen Jahren Mal unsere Fakultät und hat dort ein Seminar gegeben. Einmal habe ich ihn etwas gefragt, nur um von ihm persönlich eine Antwort zu bekommen. Ich habe gesagt, verehrter Lehrer, zur Zeit unseres Propheten hat man den Frauen nur den halben Erbanteil gegeben, denn sie hatten ja keine Unterhaltspflichten, das mussten die Männer erledigen. Aber wenn sich die Umstände ändern und die Frauen im sozialen Leben aktiver werden, müsste dieses Erbrecht dann nicht geändert werden, was denken Sie? Und der Seelige sagte: „Ja so sehe ich das auch. Man müsste den Frauen heute sogar einen höheren Erbanteil, als den Männern geben, das wäre im Sinne des Koran“. 19/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Atmo, Büro Sprecherin: Gülsefa Uygur, die Stellvertreterin des Mufti von Istanbul, wird heute von einem Imam besucht, der versetzt werden möchte und um ihre Genehmigung bittet. Muftis gibt es seit der Frühzeit des Islam. Sie sind die höchste, religiöse Autorität einer Region und zu ihre n Aufgaben gehört z.B. das Erstellen von Fatwas, Rechtsgutachten. Schon im Osmanischen Reich gab es dieses Amt. Gülsefa Uygur und ihre Vorgängerin sind in der Neuzeit die ersten Frauen weltweit in dieser Position. In der 15 Millionen-Metropole Istanbul unterstehen ihr die Imame und Prediger, die Angestellte des Diyanet sind, des Amtes für Religionsangelegenheiten. Viele von ihnen haben auch in Ankara studiert. Die Diyanet ist als oberste Religionsbehörde für die Organisation der religiösen Angelegenheiten zuständig, vom schulischen Religionsunterricht über die Pilgerfahrten bis zur Verwaltung der Moscheen. Auch die 46 jährige Gülsefa Uygur hat Theologie studiert. Sie ist religiös gekleidet und seit 1996 beim Diyanet angestellt, wo sie Karriere gemacht hat. 33) Übersetzerin O-ton Gülsefa Uygur: Türkiye genelinde kadinlara yönelik programlar yapmasi icin öncelikle.., daha sonra bizim calistigimiz alanda ,.. 33) Übersetzerin Gülsefa Uygur: Wir machen Türkeiweit Programme von Frauen für Frauen, aber nicht nur das. Vor allem in unserem speziellen Bereich der Familienarbeit haben wir Beratungsstellen für Behinderte und benachteiligte Menschen oder Seniorenheime, also nicht nur für Frauen. Aber wenn man schon einen weiblichen Vize-Mufti hat, dann soll sie auch als Leitfigur in der Frauengemeinschaft fungieren, z.B. um Koranlehrerinnen oder Predigerinnen 20/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. zu betreuen. Aber in Istanbul bin ich auch von Mensch zu Mensch für die Angelegenheiten der Männer zuständig, sei es beim Thema Behinderung oder der Betreuung von Drogenabhängigen oder Jugendlichen, da betreuen wir nicht nur Frauen, sondern auch die Männer. 34) O-ton Gülsefa Uygur: Söyle bir sansim var benim, bi kere diyanet isleri baskanligimizda beraber görev yaptigimiz bütün birimlerde erkek personelimiz bize bu konuda destek oluyorlar… 34) Übersetzerin Gülsefa Uygur: Ich habe den Vorteil, dass meine männlichen Kollegen im Amt mich unterstützen, denn sie müssen sich ja auch um die Belange der Frauen kümmern und so helfen wir uns gegenseitig. Ich habe noch nie irgendeine Respektlosigkeit erlebt oder das jemand gesagt hätte, was hat diese Frau hier zu tun, also ich erfahre vollste Unterstützung. Also wir haben da einen Vorteil im Vergleich zu anderen muslimischen Ländern, denke ich, aber die Zeit wird es zeigen. Musik, instrumental Sprecherin: Die vielen regionalen Ausprägungen des Islam, die Rechtsschulen, Volkstraditionen oder mystischen Strömungen werden im Westen nicht selten auf ein paar herausstechende Aspekte reduziert. Dass die allermeisten Muslime extremistische Auswüchse im Namen ihrer Religion verurteilen, bleibt dabei oft unerwähnt. Im Laufe der Jahrhunderte haben muslimische Gesellschaften Strategien entwickelt, mit ihrer Vielfalt umzugehen, sagt Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Münster. 21/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 35) O-ton Thomas Bauer: Ambiguitätstoleranz ist ein Begriff aus der Psychologie und bezeichnet die Fähigkeit Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit, Unentschiedenheit auszuhalten. Gegenteil, Ambiguitätsintoleranz heißt, ich will alles eindeutig haben, es muss alles geordnet sein, ich muss genau wissen, welche Werte gelten, ich kann nicht akzeptieren, dass man sagt, es könnte das richtig sein, aber vielleicht ist auch beides richtig und Ambiguitätstoleranz ist ein Merkmal, das Gesellschaften charakterisiert. Natürlich gibt’s immer Ausnahmen. Es gibt auch in toleranten Gesellschaften, den einen oder anderen, der es nicht ist. Sprecherin: Thomas Bauer hat mit dem Konzept der Ambiguität eine neue Sichtweise auf den islamischen Kulturkreis entwickelt. Bis ins 19. Jahrhundert waren muslimische Länder in hohem Maße tolerant für Ambiguität, während man es in Europa weniger war, sagt er. Durch den Kolonialismus und die Übernahme westlicher Denkweisen hätten immer mehr Muslime ihre Toleranz für Ambiguität verloren, die auch Ihre Gelehrten oder Dichter Jahrhundertelang gepflegt hatten. 36) O-ton Prof. Thomas Bauer: Es ist ja eine Tendenz der Moderne, eher Ambiguität nicht haben zu wollen, das hat viele Faktoren, hängt mit der Ideologisierung im 20 Jh. zusammen, mit Kriegen, mit der Technisierung zusammen. Technik ist nicht ambiguitätstolerant, wenn ich ein Flugzeug steige, dann möchte ich nicht, dass es irgendwelche Mehrdeutigkeiten gibt, das soll das machen, was es tun soll. Bürokratisierung ist ein sehr starker Faktor, der zu mehr Eindeutigkeit führt und deshalb hat man auch die Wahrnehmung verlernt von Ambiguität 22/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Sprecherin: Doch verlorengegangen ist die Toleranz nicht. Vor allem im Volksglauben vieler muslimischer Länder und in der Mystik besteht sie noch fort. Das liegt auch an den alten Philosophen und Mystikern, die ihre Spuren hinterlassen haben, wie z.B. Mevlana Dschelaleddin Rumi aus der Türkei, der 1273 verstarb. Er stammte aus dem Norden Afghanistans, war halb türkischer Herkunft, schrieb auf Persisch und ließ sich in Anatolien nieder. Sein Mausoleum in Konya, in der Zentraltürkei ist ein Wallfahrtsort für Menschen aus aller Welt. Die tanzenden Derwische, Mevlana Rumi und seine Lyrik sind zum Sinnbild der Toleranz im Islam geworden und fast jedes Kind in der Türkei kennt sie. Musik Sprecher: Der Rat hat sich versammelt, die Harfe ist gestimmt, die Instrumente spielen und klagen. Doch dieser Rat ist nicht der Rat derer, die Traubenwein trinken. Dieser Rat ist der Rat der Seelen, und unser Weinschenk ist der Weinschenk des Jenseits; 37) O-ton Thomas Bauer: Wenn jetzt ein Religionsgelehrter des 12. 13. 15. Jh., Weingedichte dichtet, wenn er Liebesgedichte dichtet, sogar noch homoerotische dichtet, dann hat man das entweder als Heuchelei abgetan oder gesagt, das hat er ja nicht so gemeint, aber man hat ihm nie zugetraut, dass er beides aus vollem Herzen ist, ein gläubiger frommer Religionsgelehrter und ein leidenschaftlicher Dichter von Wein- und Liebesgedichten, aber das kann kein Versehen sein, das sind auch keine Einzelfälle, das war einfach in der Gesellschaft verankert, dass es beides gibt. Es gibt ein Ideal der Frömmigkeit, der Hingabe an Gott, und es gibt aber 23/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. gleichzeitig ein Ideal der Rafinnemance, der Eleganz, des Dichtens über schöne Dinge, des sich Verliebens in hübsche Menschen und das existierte gleichzeitig. 38) O-ton Mehmet Ungan: Wenn man an Islam denkt, hat meine eine ganz allgemeine Meinung, kunstfeindlich, kulturfeindlich und eng und gegen Musik, selbst Muslime, die das so annehmen. Aber durch Sufismus erfahren wir, dass Islam mehrere Aspekte hat. Sprecherin: Mehmet Ungan ist Soziologe, Musiker und Dozent an der Musikakademie in Mannheim. Er stammt aus der Türkei und ist alevitischer Muslim. 39) O-ton Mehmet Ungan Es gibt kaum hochrangige Musiker, der nicht Zugang zu dem Propheten hat wir wissen von Mevlevi-Derwische, dass sie gern tanzen. Wenn man Architektur anschaut, Moscheen was für eine Schönheitsbekenntnis das ist, sichtbare in Schönschrift, Kalligrafie, in Architektur, singen, im Tanzen, Heiltänze, allein wenn ich an anatolische Türken denke, die ihre Tänze von Zentralasien mitgenommen haben, mit Islam haben sie nicht verloren, eher Bereicherung dazu, in jedem Dorf ist ein eigener Heiltanz, das ist einmalig und die sind Muslime. Auch in Philosophie, Literatur, man kann unzählige Namen nennen. Sprecherin: Die schönen Künste, das Handwerk, Literatur und Dichtung und die Toleranz wurden besonders von den islamischen Mystikern gepflegt und gelehrt. Im 24/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. mittelalterlichen Spanien ebenso, wie im Osmanischen Balkan und Anatolien, dem fernen Samarkand oder Bagdad, Indien oder anderswo. In den Augen mancher schrifttreuen Frömmler galt ihr bohemer Lebensstil jedoch als Häresie. Die Orientalistin Annemarie Schimmel galt bis zu ihrem Tod 2003 die Koryphäe auf dem Gebiet der islamischen Mystik und sie ist es bis heute. 39) O-Ton Prof. Annemarie Schimmel Wenn wir von Sufismus sprechen, dann müssen wir ganz klar die Abgrenzung machen, dass das die islamische Form der Mystik ist. Der Sufismus hat sich im Laufe der Jahrhunderte etwas gewandelt. Es entwickeln sich Bruderschaften, die mystischen Orden, es entwickeln sich Sufi Zentren und vor allem entwickelt sich die Tendenz, dass nun nicht mehr nur Menschen, die sich ganz absolut dem Meister anschließen zum Sufismus kommen, sondern es entsteht eine Art Laienbewegung, wenn man das so nennen kann. Sprecherin: Jeder Muslim, der nach dem Sinn des Lebens sucht oder nach dem Ewigen in der vergänglichen Welt, kann sich dem Tasavvuf, dem Sufismus zuwenden und lernen, die göttliche Harmonie und Schönheit in sich selbst zu entdecken, aber auch in der Welt. Da Gott eins und alles ist, wie das muslimische Glaubensbekenntnis sagt, ist alles auch eine Manifestation des Göttlichen. Eine ganzheitliche Sicht der Welt. 40) O-Ton Prof. Annemarie Schimmel: Dadurch, dass vom 13. Jh. An so viele Laien sich den Orden anschlossen als Tertiaren sozusagen, gab es auch Gruppen, die bestimmte seelische Bedürfnisse hatten und man kann sagen, dass es diese Orden waren, die für die Erfüllung der seelischen Bedürfnisse gesorgt haben, z.B. die Mevleviyya in der Türkei war ein Orden, der immer Künstler und Gelehrte angezogen hat. Die 25/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Halvetiyya war ein Orden, zu dem meistens die obere Mittelklasse gehörte, in Nordafrika gibt‘s Orden, die zum größten Teil aus früheren, schwarzen Sklaven bestand. Und das ist die große Aufgabe der Orden gewesen, das jeder Orden bestimmte Interessen angesprochen hat und dann hat man sich dem Meister angeschlossen Sprecherin: Da es kein Mönchstum im Islam gibt, also keine Entsagung von der Welt, leben die spirituell orientierten Muslime mit allen anderen zusammen und sind äußerlich nicht erkennbar. Ihre Einflüsse sind in den Volkskulturen der islamischen Länder verankert und bestehen in unterschiedlichen regionalen Ausprägungen fort. Musik Sprecher: Du, dessen Lust die Welt verkehrt, Deß' Zucker mir versüßt das Leben, Mein Schoß ist voll von Edelsteinen, Um sie zu streu'n vor deine Füße. Die Seelen der Verliebten wälzen Wie Ströme sich zu deinem Meere. 41) O-ton Prof. Thomas Bauer: Mystik ist natürlich ein großes Reich der Ambiguität, weil für einen Mystiker bedeutet alles ja nicht nur das, was es bedeutet, sondern immer auch etwas darüber hinaus, weist ja auf etwas transzendentales hin und ist deshalb in einer 26/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Welt der Eindeutigkeiten hat da einen schweren Stand. Dann fiel mir die Freude auf, in Literatur Mehrdeutigkeit bewusst zu gestalten, also Gedichte voller Mehrdeutigkeit zu schreiben, die man oft schwer versteht, früher hat man sich darüber gefreut, in der Moderne sind sie plötzlich ein Ärgernis. Das gilt für die Meinungsverschiedenheiten im Recht, das gilt für die vielen verschiedenen Meinungen in Korankommentaren, dann stellt man fest, das bewusste Suchen nach Mehrdeutigkeit charakterisiert viele islamische Gesellschaften, vor allem die ich näher untersucht habe von Ägypten, Syrien bist Irak, von 1000 bis zu der Zeit in der es anfängt. Das heißt nicht, dass es nicht Fanatiker gab, aber die hat man im Wesentlichen unter Kontrolle gehalten. Atmo 42) O-ton Ömer Tüzer, Vater von Imam Ahmet Tüzer: Tepki gösterdim. Cünkü cok tepki alacagi kanaatindeydim ve aldi yani, iyi diyen de oldu kötü de … 42) Übersetzer, Vater von Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Ich war anfangs dagegen, dass mein Sohn Rockmusik macht, denn ich wusste, dass er viel Kritik bekommen wird. Es gab Leute, die es gut fanden, aber auch viel Protest, weil er der rockende Imam sei, sowas gibt‘s doch gar nicht, hieß es. Bei den Ersten ist es immer so, dass es Widerstand gibt. Wir sind eine angesehene Familie und es ist nicht leicht, diese Kritik hinzunehmen, aber er hat weiter gemacht und wenn er damit Rockmusikfans ansprechen kann und ihnen etwas Gutes geben kann, warum nicht? So ist es mit allem. 43) O-ton Ömer Tüzer, Vater von Ahmet Tüzer: Insanlik tarihte cesitli evreler gecirdi, mesela tas devri maden devri, bakir devri … 27/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Sprecher: Ömer Tüzer, pensionierter Imam und Vater von Muhsin Tüzer 43) Übersetzer Ömer Tüzer: Die Menschheit hat ja viele verschiedene Epochen durchlaufen, von der Steinzeit bis heute, dem Zeitalter der Technologie. Und auch auf sozialer Ebene durchlaufen wir die verschiedenen Stadien. Zum Beispiel in den 60er Jahren war sogar das Radio bei manchen Leuten verpönt. Streng religiöse Leute meinten, das sei sündhaft und dürfte nicht ins Haus. In den Jahren hatte ich mir auch ein Radio gekauft und die Antenne war damals noch draußen. Da mein Vater Imam war, konnte ich es aber ein Jahr lang nicht benutzen, damit die Leute nicht sagen, der Sohn des Imam hat ein Radio. Aber als dann alle anfingen, sich eines zu kaufen, war es kein Thema mehr. Atmo bosnische Moschee 44) O-ton Mustafa Burnic: Der Islam ändert sich ständig. Auch das Verständnis über den Islam. Mein Sohn wird in 15 Jahren über andere Dinge sprechen mit seinem Imam, als wenn ich jetzt mit ihm spreche. Vor zwanzig Jahren habe ich darüber gesprochen, ob ich mir die Haare färben darf, vor 50 Jahren hat kein Mensch darüber nachgedacht über sowas, das sind alles Dinge, die kommen mit der Zeit. Unser Glaube geht immer mit der Zeit. Wir reiten nicht mit dem Kamel durch die Stadt. Wir haben Autos, wir haben Fahrräder, Motorräder das sind auch diese kleinen Entwicklungen, die man tagtäglich miterlebt, die den Glauben betrifft wie ich weiß, dass wir vor 3-4 Monaten einen großen Vortrag hier hatten über Sterbehilfe. Da hat vor 10 Jahren keiner drüber nachgedacht. Und das sind Dinge, die entwickeln sich im Glauben. Die Menschen haben andere Fragen. Also beschäftigt sich der Imam mit solchen Dingen und damit entwickelt sich der Glaube immer weiter, immer weiter. 28/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Sprecherin: Wie der Islam ausgelegt werden sollte, darüber entscheiden die Gelehrten, doch die Islamwissenschaftlerin Armina Omerika meint, dass vor allem strukturelle, soziale Faktoren, wie Armut oder Bildung entscheidend dafür sind, welches Verhältnis Muslime zu ihrer Religion haben. 45) O-ton Prof. Armina Omerika: Es wird auch in manchen arabischen Ländern, wie Tunesien oder Marokko an den Universitäten werden auch neue Zugänge zur islamischen Tradition entwickelt, das haben sie in der Türkei auch, in Bosnien auch. Was man aber sagen muss, dass das elitäre Diskurse sind, die nicht unbedingt die große Masse der Gläubigen erreichen, weil in den meisten muslimischen Ländern das Bildungsniveau in der Bevölkerung insgesamt eins ist, das sehr viel zu wünschen übrig lässt. In der arabischen Welt werden sehr wenige Bücher gedruckt oder verkauft, d.h. sie haben da ein ganz anderes Leseverhalten, erst recht von Forschungsliteratur und das meine ich mit einer strukturellen Bedingung und das hat nichts mit der Reform des Islams zu tun, sondern diese Bedingungen müssen geschaffen werden 46) O-ton Dr. Nejdet Subasi: Türkiye’nin de kendine özgü bir tarihsel dekoru var, kendi sosyolojik gercekligi var, …. 46) Übersetzer Dr. Nejdet Subasi: Die Türkei hat auch ein eigenes historisches Dekor, eigene soziologische Realitäten. Daher denke ich, dass es nötig ist, dass der Islam ohne festgenagelt zu werden auf bestimmte Formen, neu gelesen werden kann, so wie wenn wir innerhalb der Familie mit unserem Vater oder Cousin sprechen würden und das 29/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. ist, wie ich glaube „Ihya“, eine Art Erneuerung. So in der Form: Ich will über dich reden, aber ich will nicht mit dir brechen, ich will dich kritisieren, aber ich will dich nicht zur Tür hinauswerfen. Die Reformvertreter sagen uns das, sie sagen wirf dies aus dem Balkon und jenes aus der Tür. Dann entsteht eine ausgemistete Religion, die jeder für seine Zwecke missbrauchen kann. Zumindest wird das in der Türkei so verstanden. Sprecherin: Aber nicht nur dort. Die meisten gläubigen Muslime weltweit dürften es so empfinden, wie Nejdet Subasi vom Amt für Religionsangelegenheit Diyanet es beschreibt. Als Soziologe hat er muslimische Gesellschaften erforscht und darüber geschrieben. Wenn gefordert wird, die Religion zu reformieren oder zu erneuern, reagieren die meisten gläubigen Muslime ablehnend. Sie sehen die Ursachen der Probleme in den sozialen Umständen oder politischen Machtverhältnissen, weniger in der Religion selbst, wie Kritiker meinen. 47) O-ton Dr. Nejdet Subasi: Bu algilar, yani dinin ister ihyaci ister reformcu pratiklerle cözülmesi … 47) Übersetzer Dr. Nejdet Subasi: Unabhängig davon ob man es nun mit Erneuerung oder mit Reformen in der Religion macht, es wirkt sich unweigerlich auf das alltägliche Leben aus. So reden und diskutieren wir heute über religiöse Themen, über die wir es vor zwanzig Jahren nicht getan haben. Zum Beispiel die Anpassung an die modernen Lebensumstände, der Status der Frauen, neue Familienmodelle. Über diese Dinge sprechen wir heute miteinander, auch in der Nachbarschaft. Zum Beispiel haben die theologischen Fakultäten in der Türkei seit zwanzig Jahren einen enormen Zulauf von Studentinnen bekommen. Wo werden diese 30/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Frauen tätig sein? Wird sich in einer Männerwelt die Theologie dadurch neu gestalten? 48) O-ton Prof. Said Hatipoglu: Nasil düzeltecegiz bu isi? Bu isin düzeltilebilmesi, yeni genc müslüman neslin … 48) Übersetzer: Wie können wir die Situation verbessern? Ich denke dadurch, dass eine neue Generation von Muslimen die traditionelle Kultur des Islam mit kritischem Blick untersucht. Wenn unsere Professoren durch Hunderte von theologischen Fakultäten in diese Richtung wirken könnten, wir uns auf diese Arbeit konzentrieren, dann werden wir hoffentlich keine 50 bis 60 Jahre brauchen und die Sache wird sich erledigen. Ansonsten wird es sehr schwierig sein, die Muslime, die in bestimmten Traditionen festgefahren sind, auf ein Niveau zu heben, das vom Islam und dem Koran gewollt ist. 49) O-ton Armina Omerika: Viele Muslime wissen nicht, dass ihre Religion das Produkt von intensiven Debatten und Diskursen ist, wo sich aus dem Zusammentreffen verschiedener Meinungen etwas Neues etabliert hat. Der Islam hätte es als Religion nicht geschafft über so große geografische, kulturelle Räume und Zeiten zu überstehen wenn die islamische Religion nicht flexibel ist und die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit auch in ihren Blick genommen hätte und darauf reagiert hätte. 49) O-ton Prof. Katajun Amirpour: Erneuerung klingt bisschen so, als sei in der Vergangenheit alles falsch gewesen und jetzt muss man hingehen und das Rad neu erfinden. Das ist aber nicht so. Eigentlich müssen wir eher von einigen Tendenzen, die wir in der Neuzeit beobachten können, also dieses starre Festhalten an einer 31/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Interpretation, das müssen wir eintauschen, gegen das, was wir einen Schritt davor hatten, nämlich das nebeneinander bestehen lassen. Also zum Teil ist jemand, der den traditionellen Islam lebt, vermutlich toleranter und weltoffener, als jemand der als Reformer gilt. 50) Übersetzer, Prof. O-ton Said Hatipoglu: Bizim islam dünyasinin basina gelen hadise, daha önce hiristiyan dünyasi da basina geldi... 50) Übersetzer Said Hatipoglu: Was uns in der islamischen Welt passiert, hat früher auch die christliche Welt durchlebt. Menschen, die im Namen des Christentums gehandelt haben, haben Europa nicht immer vorwärts gebracht, sondern zurück geworfen. Damals blühten im Islam die Wissenschaften und die Christen mussten sich erst von der Vorherrschaft der religiösen Eiferer befreien, die gegen die Wissenschaft waren. Die Europäer sind sich wohl auch bewusst, dass sie seinerzeit viel von den Muslimen gelernt haben. Das bedeutet, wenn sie in einer Religion in den Fanatismus abgleiten und behaupten, dass nur sie die Wahrheit kennen, dann tun sie der Religion das größte Unrecht an, denke ich. 51) O-ton Thomas Bauer. Wir leben ja jetzt auch wieder in der Zeit, die in großen Bewegungen ist, aber in der unmittelbaren Gegenwart ist Europa ja mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie viele islamische Länder. Viele sagen ja auch, dass das eine Ursache ist für zunehmende Islamophobie, und es gibt eben viele Leute, die mit sich nicht im Reinen sind und deshalb auch nicht ambiguitätstolerant sind. Das ist ein sehr heterogenes Phänomen. 32/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Atmo 52) O-ton Imam Ahmet Muhsin Tüzer: Bu Allah’in bana vermis oldugu bir görev, bir misyon. Hakikat erbabi … 52) Übersetzer Ahmet Muhsin Tüzer: Imam zu sein ist eine Aufgabe, die Gott mir gegeben hat, eine Mission. Wer für seine Wahrheit kämpft, zahlt auch immer einen Preis dafür, aber Gott kann einen beschützen. Und ich denke, dass ich noch viel zu tun und noch einen langen Weg vor mir habe. Musik Absage 33/33 © Westdeutscher Rundfunk Köln 2017 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.