360 ThGl101 (2011) 360-377 Maria Neubrand MC Paulus als jüdischer Theologe Neuere Perspektiven auf Paulus Kurzinhalt - Summary: Im Verständnis des Paulus und seiner Theologie kam es in den letzten Jahrzehnten, angestoßen von verschiedenen Seiten, zu einer Neuorientierung. Die so genannte "Neue Paulusperspektive" führte zu einer Neubewertung der traditionelllutherischen Rechtfertigungslehre sowie zu einer neuen Sicht des Judentums. Auch vor dem Hintergrund der "Neuen Israeltheologie" der Kirche(n) ist die weitere Paulusforschung herausgefordert, zu neuen, nicht-antijüdischen Auslegungen der paulinischen Briefe zu kommen. In the last decades the traditional understanding of Paul and his theology was challenged in different ways and changed towards a new paradigm. The so called "New Perspective on Paul" led to a revision of the traditional Lutheran doctrine of justification and to a new adequate view of Judaism. This and the "New Theology of Israel" of the Church(es) is a challenge for theologians to re-interprete Paul and his letters in a new non anti-Jewish way. Während meines Studiums der Katholischen Theologie blieben mir Paulus und seine Theologie weitgehend "verschlossen". Anders bei als evangelischen Christen und Kommilitonen spielten Paulus und die lutherische "Rechtfertigungslehre" auch in meiner christlich-katholischen Sozialisation keine Rolle. Zwar kannte ich einige paulinische "Schlagwörter", aber insgesamt hatte Paulus für mich keine größere Bedeutung. Dies änderte sich erst, als ich mich an das Thema meiner Doktorarbeit machte, die sich mit Abraham im Römerbrief (Röm 4) beschäftigte. 1 Im Zusammenhang meiner Studien kam ich Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts in eine erste Berührung nicht nur mit der lutherisch-reformatorischen Auslegungstradition der paulinischen Texte, sondern auch mit einerneuen Richtung innerhalb der reformatorischen Theologie, die schon bald unter dem Stichwort "New Perspective on Paul" für einige Aufregung (vor allem in der reformatorischen Tradition) sorgte. Weitere "neue Perspektiven" folgten im Laufe der Jahre, so dass sich für mich daraus und aufgrund meiner eigenen Studien und theologischen Üherlegungen selbst eine "neue Paulusperspektive" entwickelte. Sie gestattet eine neue Sicht auf Paulus und seine Theologie. Diese soll hier in aller Kürze dargestellt werden. Zur Vorgehensweise: Dieser Aufsatz will verschiedene forschungsgeschichtliche, exegetische Beiträge vorstellen, die eine neue Sicht auf Paulus ermöglichen und dazu geführt haben, dass der "jüdische Paulus", der in der christlichen Wirkungsgeschichteals "jüdischer Saulus" verschwunden war, wieder entdeckt wurde. 1 NEUBRAND, MARIA: Abraham- Vater von Juden und Nichtjuden. Eine exegetische Studie zu Röm 4 (FzB 85), Würzburg 1997. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 361 Insgesamt ist für die Paulusforschung der letzten dreißig Jahre festzustellen, dass es hinsichtlich des Verständnisses des Paulus und seiner Theologie zu einem Umdenken in den christlichen Kirchen gekommen ist. Dies betrifft vor allem die Tatsache, dass Paulus als jüdischer Theologe gewürdigt wird und es heute fast eine Selbstverständlichkeit ist, Paulus nicht im Gegensatz, sondern im Kontext seines jüdischen Glaubens und seiner jüdischen Religion zu sehen und zu verstehen. 2 Nicht zuletzt haben dazu auch die Überlegungen und Einsichten beigetragen, die aus der so genannten "Neuen Israeltheologie" der Kirche(n) folgen. Diese bildet den hermeneutischen Rahmen für neutestamentliche Exegese - insofern sie sich als theologische Disziplin versteht und eingebunden weiß in das Gesamt der kirchlichen Tradition. Insofern stellt sich auch für die Paulusforschung die Herausforderung, eine Paulusinterpretation zu betreiben, die nicht im Widerspruch zur neuen Israeltheologie der Kirche(n) steht. Diese soll als erstes kurz nachgezeichnet werden. 1. Die "Neue Israeltheologie" der Kirchen 1.1 Von der Verwerfung Israels zur Anerkennung Im September 2000 veröffentlichten in den USA vier jüdische Theologen - Tikva Frymer-Kensky, David Novak, Peter Ochs und Michael Signer- das Dokument "Dabru emet" ("Redet Wahrheit") 3 . Mit dieser Erklärung nehmen sie als Juden positiv Stellung zum christlich-jüdischen Dialog und zu den nach 1945 festzustellenden "christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums" 4 • Dieser weltweit, vor allem auch in Deutschland vielfach beachtete programmatische Text 5 2 3 4 5 Vgl. aus der umfangreichen Literatur dazu aus jüngerer Zeit nur: FREY, JöRG: Das Judentum des Paulus. In: Wischmeyer, Oda (Hg.): Paulus. Leben- Umwelt- Werk- Briefe (UTB 2767), Stuttgart 2006, 5-4 3; BAUMERT, NoRBERT: Paulus- Alte und Neue Perspektiven. In: ZKTh 130 (2008) 168-194; TrwALD, MARKUS: Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation (Herders Biblische Studien 52), Freiburg i.Br. 2008; WENGST, KLAus: "Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!" Israel und die Völker als Thema des Paulus- ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 69-100; FRANKEMÖLLE, HuBERT: Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube. Grundlagenwissen für den jüdisch-christlichen Dialog, Stuttgart 2009, 211-227; NEUBRAND, MARIA: Paulus -bekannt und umstritten zugleich. Eine Glaubensbiografie. In: Schmidt, Konrad (Hg.): Paulus- ein unbequemer Apostel. Fragen und Impulse, Faderborn 2009, 9-28. Deutsche Übersetzung der Stellungnahme in: KAMPLING, RArNER!WEINRICH, MICHAEL (Hg.): Dabru emet - redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003, 9-12. Ebd. 9. V gl. HEmz, lliNSPETER: Das geht unsan-um Himmels willen! Eine christliche Antwort auf "Dabru emet". In: BiLi 76 (2003) 64-68; BOHLEN, REINHOLD: "Dabru emet": Ein Meilenstein auf dem Weg des christlich-jüdischen Dialogs. In: TThZ 112 (2004) 34-46; DIRSCHERL, ERWIN/TRUTWIN, WERNER (Hg.): Redet Wahrheit- Dabru Emet. Jüdisch-christliches Gespräch über Gott, Messias und Dekalog (Forum Christen und Juden 4), Münster 2004; FRANKEMÖLLE, HuBERT (Hg.): Juden und Christen im Gespräch über "Dabru emet- Redet Wahrheit", Faderborn 2005; KOHLSCHEIN, FRANZ: Wo steht der christlich-jüdische Dialog? Die Stellungnahme "Dabru Emet'' und die Position von Kardinal Jean-Marie Lustiger. In: StiZ 130 (2005) 401-410. 362 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe wurde von mehr als 170 jüdischen Professoren und Rabbinern, Männern und Frauen aus allen Hauptrichtungen des Judentums mitunterzeichnet, fast 300 Juden und Jüdinnen hatten sich bis November 2002 angeschlossen 6 . In acht Thesen formuliert das Dokument, worin sich aus jüdischer Sicht seit 1945 ein grundlegender Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen hat, vor allen Dingen in der theologischen Verhältnisbestimmung von "Israel" und "Kirche". Insofern ist diese Erklärung eine jüdische Reaktion auf die zahlreichen christlichen, kirchenoffiziellen Dokumente und Stellungnahmen der letzten sechs Jahrzehnte 7 , die aus theologischen Gründen fordern, "den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen." 8 Die jüdischen Autoren und die Mitunterzeichner von "Dabru emet" anerkennen damit, dass es in der Beziehung zum Judentum in den meisten christlichen Kirchen zu einem "ökumenischen Konsens" gekommen ist - ohne dass dieser expliziter Inhalt ökumenischer Bemühungen war. Dieser "ökumenische Konsens" 9 besteht in der Einsicht der christlichen Kirchen, dass Gott seinen Bund mit seinem ersterwählten Volk Israel nie gekündigt hat und dass die Kirche nicht an die Stelle Israels getreten ist. Für viele Christen und Christinnen mag diese Erkenntnis heute fast selbstverständlich klingen, und das ist sehr gut so. Dennoch: Sie ist Ausdruck einerneuen Israeltheologie. Sie erfordert in nahezu allen theologischen Disziplinen ein grundlegendes Umdenken- ein Prozess, der keineswegs abgeschlossen ist. Erfordert dies doch in weiten Teilen der theologischen Traktate auch ein Abschiednehmen von lang vertrauten und eingeübten Denkmustern. In Bezug auf die paulinische Theologie fordert die neue Israeltheologie dazu heraus, Paulus als jüdischen Theologen ernst zu nehmen und die Kirche aus Juden und Nichtjuden nicht an die Stelle des ersterwählten Volkes Israel zu setzen. In Bezug auf Paulus sind die Exegeten herausgefordert, Korrekturen in der Auslegung der paulinischen Texte dort vorzunehmen, wo sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte antijüdische Denkmuster breit gemacht haben. 1.2 Der nicht gekündigte Bund Gottes mit Israel In der römisch-katholischen Kirche hat erst die Shoah wirklich zu einer Abkehr von der herkömmlichen Israeltheologie geführt und nach 1945 den Weg bereitet, in ein erneuertes Verhältnis mit "Israel" einzutreten. In diesem Prozess der Erneuerung 6 7 8 9 Vgl. BüHLEN: Dabru emet (s. Anm. 5), 34-37. Die Dokumente aus dem Zeitraum von 1945-1985 sind gesammelt in: RENDTORFF, RoLF!HENRIX, HANs HERMANN (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. I: Dokumente von 1945-1985 (Kirchen I), Faderborn 2 1989; HENRIX, HANS HERMANN!KRAus, WoLFGANG (Hg.): Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von 1986-2000 (Kirchen II), Faderborn 2001. KAMPLING!WEINRICH: Dabru emet (s. Anm. 3), 9. "Ökumenisch" hier bezogen auf römisch-katholische und reformatorische Positionen. Bei den Ostkirchen stehen neue Positionsbestimmungen im Verhältnis zum Judentum noch weitgehend aus. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 363 der Beziehungen zumJudenturn spielte PapstJohannes XXIII. eine wichtige Rolle: So hat er 1959 im traditionellen Karfreitagsgebet die Bitte für die "treulosen Juden" ("perfidis Iudaeis") gestrichen. Darüber hinaus drängte er von Anfang an darauf, auf dem von ihm 1962 einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzil die Beziehungen der katholischen Kirche zu "den Juden" zu behandeln. Zunächst im Kontext der Ökumene angesiedelt, wurde die Schlusserklärung über das Verhältnis von "Juden und Christen" am 28. Oktober 1965 in die "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristliehen Religionen" ("Nostra aetate") als Artikel Nr. 4 aufgenommen. 10 Im einleitenden Satz gedenkt die Kirche "des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist" und verwendet für die enge Beziehung von "Juden" und "Christen" das Wort "vinculum", das auch für den Ehebund und dessen Unauflöslichkeit verwendet wird. Sodann bekennt das Konzil, "daß sie [die Kirche, M.N.] durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind [vgl. Röm 11,17-24]." Und für die neue Israeltheologie entscheidend dann die Aussage: "Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern. Damm sollen alle dafür Sorge tragen, daß niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht in Einklang steht." In diesem Sinne beklagt die Konzilserklärung alle angeblich religiös motivierten Verfolgungen und alle "Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemanden gegen die Juden gerichtet haben." 11 Der Text weist den Vorwurf einer Kollektivschuld von Juden für den Kreuzestod Jesu ebenso zurück wie alle Formen von Antijudaismus und Antisemitismus. Nach der jahrhundertelangen theologischen Abwertung des ersterwählten Volkes Israel 12 und der jahrhundertelang vertretenen antijüdischen Substitutionstheorie, wonach der "Neue Bund" den "Alten Bund" ersetzt und die Kirche an die Stelle 10 11 12 Lateinischer und deutscher Text in: LThK XIII e1967) 488-495. Diese Klage wird wieder aufgenommen im Dokument der "Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden" vom 16. März 1998: "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa"; der Text findet sich in: I-iENRIX!KRAus: Kirchen II (s. Anm.7),110-119. Dieses Dokument macht mit Recht deutlich, dass der von den Nationalsozialisten vertretene Antisemitismus des vergangeneu Jahrhunderts "neuheidnisch" war und seine Wurzeln außerhalb des Christentums liegen; dennoch wird mit Recht auch festgestellt: "Aber man muß sich fragen, ob die Verfolgung der Juden durch die Nazisaufgrund der antijüdischen Vorurteile, die in den Köpfen und Herzen einiger Christen bestanden, nichtleichter gemacht wurde" (ebd. 115). V gl. die Dokumentation bei ScHRECKENBERG, HEINZ: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. Bd.1-3, EHS T XXIII/172, 335, 497, Frankfurt arn Main 3 1995, 1988, 1994; NEUBRAND, MARrA: Brauchen Christinnen und Christen das Alte Testament? In: ThG 45 (2002) 97-106; JuNG, MARTIN H.: Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehungen, Darmstadt 2008. 364 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe Israels getreten ist, stellt "Nostra aetate" Nr. 4 nicht nur klar, dass "die Juden" nicht "von Gott verworfen oder verflucht" sind, sondern macht im Anschluss an Röm 11,28f deutlich, dass Juden, auch wenn sie das Evangelium vonJesus Christus nicht annehmen, "nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt [sind] um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich." "Nostra aetate" Nr. 4 darf als Wendepunkt in der katholischen Israeltheologie gelten. Die seither erschienenen kirchenoffiziellen Dokumente- sowohl auf katholischer wie auf protestantischer Seite -, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis von "Juden" und "Christen" beschäftigen, sind durchweg getragen von dem Bemühen, die eigene christliche Theologie und das eigene Kirchenverständnis nicht auf Kosten des Judentums und des ersterwählten Volkes Israels zu betreiben bzw. zu begründen. Für diese Dokumente gilt, was die EKD-Studie "Christen und Juden III" 13 vom Jahr 2000 folgendermaßen ausdrückt: "Eine Auffassung, nach der der Bund Gottes mit Israel gekündigt und die Juden verworfen seien, wird nirgends mehr vertreten." 14 Bereits 1980 sprach Papst Johannes Paul II. in seiner häufig zitierten Rede vor Vertretern der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland 15 vom jüdischen Volk als dem "Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes" 16 • Auch das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom Mai 2001 "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel" 17 lehnt die Substitutionstheorie, wie sie jahrhundertelang in der (nich~üdischen) Kirche vertreten wurde, als unbiblisch ab; das Dokument stellt unmissverständlich fest: "Das Neue Testament behauptet nie, Israel sei verworfen worden" 18 • Die Päpstliche Bibelkommission vertritt konsequent die neue Israeltheologie und betont die bleibende Erwählung Israels, wie sie in den neutestamentlichen Schriften grundgelegt ist: "Das Neue Testament übernimmt als unwiderrufliche Wirklichkeit die Erwählung Israels als Bundesvolk: Es bewahrt uneingeschränkt seine Vorzüge (Röm 9,4) und seine 13 14 15 16 17 18 Studie der EKD zur Erneuerung des Verhältnisses von Judentum und Christentum, "Christen und Juden" III, Gütersloh 2000; der Text findet sich in: HENRrx/KRAus: Kirchen II (s. Anm. 7), 862-932. Ebd. 869. Die Studie greift damit einen Satz aus der EKD-Studie "Christen und Juden II" von 1991 auf und bekräftigt ihn. Zu ähnlichen Aussagen der reformatorischen Kirchen vgl. LEUENBERGER KIRCHEN GEMEINSCHAFT: Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhälmis von Christen und Juden. Hg. von Helmut Schwier (Leuenberger Texte 6), Frankfurt am Main 2 2001. Text der Ansprache in: RENDTORFF/HENRIX: Kirchen I (s. Anm. 7), 74-77. Ebd. 75. Erschienen unter dem Titel "Le peuple Juif et !es Saintes Ecritures dans Ia Bible Chretienne"; die deutsche Übersetzung: PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION: Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel. 24. Mai 2001, wurde vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben. In: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152, Bonn o. J. [2002]; vgl. dazu DoHMEN, CHRISTOPH (Hg.): In Gottes Volk eingebunden. Jüdisch-christliche Blickpunkte zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission "Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel", Stuttgart 2003. PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION: Das jüdische Volk (s. Anm. 17), 69. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 365 Vorrangstellung in der Geschichte bezüglich des Angebots von Gottes Heil (Apg 13,23) und Wort (13,46). Doch hat Gott Israel einen ,neuen Bund' angeboten Uer 31,31); dieser gründet sich auf das BlutJesu. Die Kirche setzt sich zusammen aus Israeliten, die diesen neuen Bund angenommen haben, und anderen Gläubigen, die sich ihnen angeschlossen haben. Als Volk des neuen Bundes ist sich die Kirche bewusst, nur aufgrundihrer Zugehörigkeit zu Jesus Christus, dem Messias Israels, und dank ihrer Bande mit den Aposteln, die alle Israeliten waren, zu existieren. Fern davon, sich an die Stelle Israels zu setzen, bleibt sie mit ihm solidarisch." 19 Es lässt sich also beim gegenwärtigen Stand des jüdisch-christlichen Dialogs tatsächlich ein "ökumenischer Konsens" unter den christlichen Kirchen hinsichtlich der Israel-Theologie feststellen: Die Kirchen lehnen theologisch begründet jede Form von Antijudaismus ab und halten an der bleibenden Erwählung des ganzen ersterwählten Volkes Israel fest, unabhängig davon, ob es Teil der Christusanhängerschaft ist oder nicht. Die offiziellen Dokumente lehnen jede Substitutionstheorie ab, nach der der "Neue Bund" den "Alten Bund" ersetzt habe oder die Kirche an die Stelle Israels getreten sei. Sie revidieren damit eine jahrhundertelange Auslegungstradition samt ihrer katastrophalen Wirkungsgeschichte. Die Kirchen stellen heraus, dass das Christentum bleibend und theologisch im Judentum verwurzelt ist 20 , sie anerkennen dankbar, dass die nichtjüdische Christusanhängerschaft durch den Juden und Messias/Christos Jesus mit den geistlichen Gütern Israels verbunden ist und dem ersterwählten Volk Israel deshalb Dank schuldet (vgl. Röm 15,27). In der Tat hat der heute erreichte "ökumenische Konsens" zu einem neuen Verhältnis von "Juden" und "Christen" geführt, wie das auch die erwähnte jüdische Stellungnahme "Dabru emet" ausdrücklich feststellt. Für das Verständnis des Paulus und seiner Theologie bedeutet die positive Würdigung der jüdischen Religion, der bleibenden Erwählung des ersterwählten Volkes und die Absage an jede Substitutionstheorie, Paulus in seinem eigenen Selbstverständnis ernst zu nehmen und die paulinischen Briefe unter den Vorgaben auszulegen, die er selbst nennt: Dass der Bund Gottes mit Israel nie aufgekündigt wurde und dass die Kirche nicht an die Stelle Israels getreten ist. Aufgabe der Bibelwissenschaften ist es, die paulinischen Texte in diesem Sinne kontextuell auszulegen. 19 20 Ebd. 120f. V gl. die Aussage von Papst Johannes Paul II in seiner Rede 1986 in der Großen Synagoge in Rom: "Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches', sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren' unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion." Zitiert nach: RENDTORFF/HENRIX: Kirchen I (s. Anm. 7), 109. 366 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe Wichtige Impulse zu einer solchen "kontextuellen" Paulusauslegung gingen von der so genannten "Neuen Paulusperspektive" aus. Sie sei im Folgenden in ihren Grundzügen kurz vorgestellt und kritisch gewürdigt. 2. Die "Neue Paulusperspektive" Der Begriff "New Perspective on Paul" findet sich erstmals 1983 in einem Artikel des britischen Neutestamentlers James D.G. Dunn. 21 Unter dem Namen "Neue Paulusperspektive" hat er auch Eingang in die deutschsprachige Paulusforschung gefunden und steht für das Bemühen, Paulus als jüdischen Theologen zu verstehen und im Kontext der von ihm vorangetriebenen Evangeliumsverkündigung unter den Völkern ernst zu nehmen. 22 Die Wortbildung "Neue Paulusperspektive" deutet bereits an, dass es dabei in der Frage nach dem Verständnis des Paulus bzw. seiner Theologie um eine neue Sicht geht, die sich in der Auslegung der paulinischen Briefe, vor allem des Galater- und Römerbriefes, vom klassischen (lutherischen oder protestantischen) Verständnis der so genannten Rechtfertigungslehre unterscheidet und unter verschiedenen Rücksichten neue Wege beschreitet. Die Diskussion darüber wird seit etwa 30 Jahren geführt und dauert bis in die Gegenwart an. 23 Diese inzwischen schon nicht mehr "neue" Forschungsrichtung verstand sich zunächst als Anfrage an die lutherische Paulusinterpretation bzw. deren Rezeptionsgeschichte, hat aber für das gegenwärtige Verständnis des Paulus und seiner Theologie insgesamt wichtige Impulse gesetzt. Diese betreffen im Wesentlichen eine gegenüber der traditionelllutherischen Sicht veränderte Bewertung des (Früh-)Judentums sowie eine Neubewertung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Gesamt der paulinischen Theologie. Gleich vorweg muss hier gesagt werden, dass unter dem Begriff 21 22 23 Wieder abgedruckt in: DuNN, JAMES D .G.: The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005, 89-11 0; eine deutsche Übersetzung des Aufsatzes findet sich unter dem Titel "Die neue Paulus-Perspektive. Paulus und das Gesetz". In: Kirche und Israel11 (1996) 3-18. Zum Überblick vgl. STRECKER, CHRISTIAN: Paulus aus einer "neuen Perspektive". Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung. In: Kirche und Israel11 (1996) 3-18; WüLTER, MicHAEL: Eine neue Paulusperspektive. In: Zeitschrift für Neues Testament 14 (2004) 2-9; HAACKER, KLAUS: Verdienste und Grenzen der "neuen Perspektive" der Paulus-Auslegung. In: Bachmann, Michael (Hg.): Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005, 1-15; FREY: Judentum (s. Anm. 2), 35-42; ScHREIBER, STEFAN: Paulus und die Tradition. Zur Hermeneutik der "Rechtfertigung" in neuer Perspektive. In: ThRv 105 (2009) 92-102. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand vgl. die verschiedenen Beiträge in: BACHMANN: Neue PanJusperspektive (s. Anm. 22); GERBER, CHRISTINE: Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion. In: VF 55 (2010) 45-60 sowie die umfangreichen Darstellungen bei: WESTERHOLM, STEPHEN: Perspectives Old and New on Paul. The "Lutheran" Paul and His Critics, Grand Rapids/Michigan 2004; BENDIK, IvANA: Paulus in neuer Sicht? Eine kritische Einführung in die "New Perspective on Paul" (Judentum und Christentum 18), Stuttgart 2010; MAscHMEIER, ]ENSCHRISTIAN: Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven (BWANT 189), Stuttgart 2010. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 367 "Neue Paulusperspektive" keine einheitliche Forschungsposition subsumiert wird; gemeinsam ist in den verschiedenen Beiträgen zu dieser neuen Paulusperspektive jedoch eine Kritik an der herkömmlichen (lutherischen bzw. neureformatorischen) Sicht, dass sich Paulus gegen einen "jüdischen Legalismus" wende und die "Rechtfertigungslehre" im Sinne eines individualistischen Heilsverständnisses zu verstehen sei. Die Forschungsrichtung der "Neuen Paulusperspektive" in ihren verschiedenen Beiträgen hingegen betont, dass Paulus im Kontext des antiken Judentums und der von ihm vorangetriebenen Evangeliumsverkündigung unter den Völkern/ Nichtjuden verstanden werden muss. 2.1 Die Lutherische Paulusinterpretation In groben Zügen lassen sich die Eckpunkte der lutherischen Sicht der paulinischen "Rechtfertigungslehre" folgendermaßen umschreiben (man möge mir das Plakative und die damit verbundene Verkürzung reformatorischer Theologie in diesem Zusammenhang nachsehen): Martin Luther knüpfte in seiner Römerbriefauslegung an Augustmus an, der die rechtfertigende Gnade Gottes in den Mittelpunkt seiner Theologie stellte. In seiner Suche nach Rechtfertigung unter der Frage: "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" stieß Luther auf Röm 1,17 als Schlüsselvers, den er folgendermaßen übersetzte: "Denn darin [im EvangeliumJ wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben, wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Glauben leben'." Unter "Gerechtigkeit Gottes" verstand Luther also nicht Gottes eigene Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Und nach Luther kann man sich diese Gerechtigkeit nicht durch eigene Leistung und Verdienste ("Werke des Gesetzes") bzw. durch eigene Anstrengung erwerben. Diese Gerechtigkeit wird vielmehr von Gott allein aus Gnade zugesprochen und zwar allein dem Glaubenden, der keine Werke vorzuweisen hat und im Glauben "ohne Zutun des Gesetzes" (Röm 3,21) die Sündenvergebung durch den SühnetodJesu Christi erhält (Röm 3,21-31). In seiner Ablehnung der so genannten "Werkgerechtigkeit" spricht Luther vor dem historischen Hintergrund seiner Zeit 24, vor allem der damaligen Praxis der Kirche mit ihrer übertriebenen Buß- und Ablasspraxis. Analog zur kirchlichen Praxis seiner Zeit versteht Luther nun aber auch die jüdische Religion. Nach Luthers Meinung wendet sich Paulus mit der Ablehnung von angeblich "heilsrelevanten" "Werken des Gesetzes" grundsätzlich gegen die jüdische Religion, die er als "Leistungsreligion" betrachtet, in der man sich- analog zur kirchlichen Praxis des Spätmittelalters- mit entsprechenden religiösen "Werken" das Heil verdienen könne. Was nach Paulus zähle, sei allein der Glaube ("sola fide"), in dem man gerecht gesprochen werde, wie dies am Beispiel Abrahams (in Röm 4) abzulesen 24 Vgl. STOLLE, VoLKER: Luther und Paulus. Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 10), Leipzig 2002. 368 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe sei. Nach Christus sei dieser Glaube ausschließlich als "Glaube an Jesus Christus" (genitivus objectivus) zu verstehen. Luther übersetzt dementsprechend die für die (lutherische) Rechtfertigungslehre zentrale paulinische Aussage in Röm 3,28 folgendermaßen: "So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben." Das "allein" ist eine Interpolation Luthers, die am griechischen Text keinerlei Anhaltspunkt hat. Bei Luther kommt es dementsprechend zum Gegensatz von Gesetz/Tara und Evangelium, von Werken des sündigen Menschen und allein rechtfertigendem Glauben, von jüdischem Legalismus und (christlicher) Gnade, von Güdischer) Gesetzlichkeit und Glauben an Jesus Christus. 25 Diese Position Luthers und die ihr innewohnende antijüdische Ausrichtung 26 hat die protestantische Paulusexegese über Jahrhunderte hinweg geprägt und hatte Einfluss auch auf katholische Paulusauslegungen. Gegen diese lutherisch geprägte Sicht der paulinischen Rechtfertigungslehre tritt die "Neue Paulusperspektive" an- interessanterweise zunächst vertreten von Exegeten, die selbst der protestantischen Tradition zugehörig sind. Die Neue Paulusperspektive kritisiert vor allem den anthropologisch-individualistischen Ansatz der herkömmlichen Paulusexegese sowie das negative Bild des Judentums als "Werkreligion". Maßgeblich zu einer "Neuen Paulusperspektive" beigetragen bzw. zu einer neuen Sicht des Paulus und seiner Theologie herausgefordert haben vor allem drei Exegeten, deren Positionen im Folgenden kurz vorgestellt und kommentiert werden sollen. 27 2.2 Neue Perspektiven 2.2.1 Paulus und seine Mission unter den Völkern Das Anliegen des Paulus wurzelt in seiner Erkenntnis, dass Jesus der von Gott in der Auferweckung beglaubigte Christus ist, und in der damit verbundenen Sendung zur Evangeliumsverkündigung unter den Völkern (vgl. Gal1,15f). Bereits 1963 hat der als Vordenker der "Neuen Paulusperspektive" zu bezeichnende schwedische Exeget und spätere lutherische BischofKrister Stendahl (1921-2008) deshalb gefordert, die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhang mit der von Paulus vorangetriebenen Mission unter den Völkern und im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden zu sehen. 28 Stendahl hat seine Position vor allem anhand des Römerbriefes herausgearbeitet. 29 Er weist mit Recht darauf hin, dass das Problem des Paulus nicht das Problem des spätmittelalterlichen Luther war, 25 26 27 28 29 Luther versteht wie auch die Eiuheitsübersetzung und andere die Genitivverbindung nlcrct<; XPtcr1:0U grundsätzlich als genitivus objectivus, als "Glauben an Christus". Vgl. dazu WENGST: Freut euch (s. Anm.2), 13f., 25-36. Vgl. dazu NEUBRAND: Abraham (s. Anrn.1), 56-73. SrENDAHL, KRrSTER: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West. In: HTR 56 (1963) 199-215; deutsche Übersetzung in: Kirche und Israelll (1996) 19-33. V gl. STENDAHL, KRrsTER: Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christenturn (KT 36), München 1978; DERS.: Der Apostel Paulus und das "Introspektive" Gewissen des Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 369 der verzweifelt danach gefragt hat, wie er individuell einen gnädigen Gott bekommt. Ganz im Gegenteil: Paulus hat sich mit solchen Gewissenszweifeln nicht hemmgeschlagen, er habe ein "robustes Gewissen". Das Anliegen des Paulus war nicht sein eigenes "Heil", sondern die Verkündigung des Evangeliums auch unter den Völkern/Nich~uden. Stendahl ist der Meinung, dass Paulus sein Konzept von der Rechtfertigung aus Glauben als eine "Apologie" für die "Heidenmission" entwickelt habe 30 : "Im Römerbrief ist das Prinzip der Rechtfertigung aus Glauben ein Missionsprinzip- ein Prinzip, um zu verstehen, wie es für Menschen aus den Völkern möglich ist, Teil von Gottes Programm [ ... ] zu werden" 31 . Paulus argumentiert nach Stendahl also nicht gegen das Judentum, sondern für seine eigene Mission unter den Völkern. "Dieses Konzept bezieht sich auf seine Argumentation im Kontext seiner Sendung an die Völker, und zwar bezüglich der Frage des Status seiner (nich~üdischen) Konvertiten vor Gott und als Mitglieder des Volkes Gottes. Genau darum geht es bei der Rechfertigung [sie!] aus Glauben: um seinen Dienst und um seine Sendung." 32 Die paulinische Darlegung der "Rechtfertigung aus Glauben" sei genuin jüdisch und habe Paulus als unumstrittene Argumentationsbasis gedient. Das Neue und Umstrittene bei Paulus liegt demnach nicht, wie Luther meint, in der These von der "Rechtfertigung aus Glauben", sondern in der darin verankerten Mission unter den Völkern, zu der Paulus durch seine Christusbegegnung und seine Berufung zum Völkerapostel gekommen ist. 33 Stendahl hat mit Recht die reformatorische Engführung der Rechtfertigungslehre auf den individuellen Heilserwerb kritisiert und auf die Bedeutung der Frage nach dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden im Gesamt der paulinischen Theologie hingewiesen. Die "Rechtfertigung aus Glauben" allerdings nur in ihrem apologetischen Charakter zur Absichemng des Status nich~üdischer Christusanhänger zu sehen, greift zu kurz. 2.2.2 Das Judentum als Bundesnomismus Die Neue Paulusperspektive kritisiert am herkömmlichen Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre mit Recht die damit verbundenen antijudaistischen Züge. Diese betreffen vor allem die traditionelle christliche Einschätzung des (Früh-)Judentums als so genannte Leistungs- oder Werkreligion bzw. als Lega- 30 31 32 33 Westens. In: Kirche und Israel11 (1996) 19-33; DERS.: Das Vermächtnis des Paulus. Eine neue Sicht auf den Römerbrief, Zürich 2001. Bereits William Wrede (1859-1906) hat für die paulinische Rechtfertigungslehre den kontextuellen, apologetischen Charakter betont; nach WREDE, WILLIAM: Paulus, Halle 1904; abgedruckt in: RENGSTORF, KARL HEINRICH: Das Paulusbild inderneueren deutschen Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 1-97, habe Paulus aber die Rechtfertigungslehre als Angriff auf das jüdische Gesetz, als eine "Kampfeslehre" (ebd. 67) in der Auseinandersetzung mit dem Judentum bzw. dem Judenchristentum entwickelt. STENDAHL: Vermächtnis (s. Anm. 29), 36. Ebd. 38. Vgl. DERS.: Jude (s. Anm. 29), 140-143; DERS.: Vermächtnis (s. Anm. 29), 17-28, 67-85. 370 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe lismus: dass man nur alle möglichen "Werke des Gesetzes" tun müsse, um gerettet zu werden. Gegen dieses Zerrbild vom Judentum hat Ed P. Sanders in seiner Monografie "Paulus und das palästinische Judentum" 34 anhand von Quellen aus dem 2. Jh. vor Chr. bis zum 2. Jh. nach Chr. gezeigt, dass sich das (Früh-)Judentum - wie das Christentum - als Gnadenreligion versteht. Vor allem die tannaitischen Quellen zeigen, dass die Religionsstruktur des Judentums als "Bundesnomismus" ("covenantal nomism ") zu verstehen sei, der Folgendes umfasst: "1) Gott hat Israel erwählt und 2) das Gesetz gegeben. Das Gesetz beinhaltet zweierlei: 3) Gottes Verheißung, an der Erwählung festzuhalten und, 4) die Forderung, gehorsam zu sein. 5) Gott belohnt Gehorsam und bestraft Übertretungen. 6) Das Gesetz sieht Sühnemittel vor und die Sühnung führt 7) zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Bundesverhältnisses. 8) All jene, die durch Gehorsam, Sühnung und Gottes Barmherzigkeit innerhalb des Bundes gehalten werden, gehören zur Gruppe derer, die gerettet werden." 35 Das (Früh-)Judentum basiert demnach auf der Überzeugung, dass Gott das Volk Israel unverdientermaßen- "aus Gnade" erwählt, mit ihm einen Bund geschlossen und mit der Tora/dem Gesetz Verheißungen für die Zukunft gegeben hat. Am Anfang und am Ende im Glauben der jüdischen Religion steht nach den von Sanders ausgewerteten frühjüdischen Quellen also die Gnade Gottes. Das Gesetz und die Erfüllung der einzelnen Gebote dienen nicht dazu, in diesen Bund und in das Heil hineinzukommen ("getting in" -das geschieht allein durch Gott), sondern das Gesetz mit seinen Anweisungen dient allein dazu, in diesem Bund zu bleiben bzw. Israel im Bund Gottes zu halten ("staying in"). Auch im Judentum geht es nicht um "Gesetzlichkeit" oder "Verdienste", mit denen man sich das Heil durch eigene "Werke" erarbeiten könnte. Es geht im Tun des Gesetzes und seiner Aktualisierungen darum, im Bund mit Gott und damit im Raum der Lebensverheißung zu bleiben. Dementsprechend ist die Gesetzesbefolgung kein "Weg zum Heil" und dient das Tun der Gesetze nicht einem "Heilserwerb". Das (Früh-)Judentum kann nach den Analysen von Sanders dementsprechend nicht als legalistische Leistungsreligion verstanden werden, sondern es ist wie das Christentum als "Gnadenreligion" zu bewerten. In der Exegese der paulinischen Briefe im zweiten Teil seiner Untersuchung 36 kommt Sanders allerdings zum Schluss, dass Paulus aufgrund seines "partizipationistisch-eschatologischen Denkens" und seiner christozentrischen, "exklusiven" Soteriologie 37 das Judentum grundsätzlich 34 SANDERS, Eo P.: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1985; auf Englisch bereits 1977 in London erschienen unter dem Titel "Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion". 35 Ebd. 400. 36 Ebd. 407-518; vgl. dazu auch DERS.: Paulus. Eine Einführung (Reclam Universal-Bibliothek 9365), Stuttgart 1995. 37 Vgl. DERS.: Paulus und das palästinische Judentum (s. Anm. 34), 409-449. Sanders teilt hier die konsequent apokalyptisch-eschatologische Sicht von ScHWEITZER, ALBERT: Die Mystik des Apostels Paulus (UTB 1091), Tübingen 1981 (Nachdruck von 1930), wonach die Erlösung zusammenfällt mit dem "Sein-in-Christus". Weil Paulus eine "Erlösungslehre der Mystik des Sein in Christo" vertrete (ebd. 220), lehne er "Werke des Gesetzes" ab. Ma'!hl Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 371 ablehne, ja ablehnen müsse. Nicht, weil dieses eine "Werkgerechtigkeit" vertrete, sondern: "Was Paulus am Judentum für falsch hält, ist[ ... ], dass es kein Christentum ist." 38 Im Blick auf die "Religionsstruktur" des Judentums hat das Werk von Sanders Wichtiges geleistet. Es hat das in der Forschung bis dahin vorherrschende Zerrbild des Judentums als legalistische Religion einer Werkgerechtigkeit, die das Gesetz als Weg zum Heilserwerb und "Werke des Gesetzes" als heilsrelevante Verdienste verstehe, nachhaltig verändert und revidiert. Auch wenn man stärker als Sanders innerhalb der verschiedenen Richtungen des (Früh-)Judentums differenzieren muss, so bleibt es im Blick auf das (Früh-)Judentum sein Verdienst, anhand frühjüdischer Quellen jüdisches Selbstverständnis für die Zeit des Paulus zu Wort gebracht zu haben. Seine Untersuchung bzw. das Verständnis des Judentums als "Bundesnomismus" wurde in der "Neuen Paulusperspektive" vor allem in ihrem Anliegen, antijüdische Klischees in der traditionellen Rechtfertigungslehre zu überwinden, aufgegriffen, aber auch modifiziert. 2.2.3 "Werke des Gesetzes" An die Sicht des Judentums als "Bundesnomismus" knüpft eine weitere Neubewertung der paulinischen Theologie an. Sie betrifft die traditionelle Entgegensetzung von Glauben und Werken (des Gesetzes) und bestimmt dementsprechend das paulinische Syntagma" Werke des Gesetzes" in einerneuen Weise. Traditionell ging man davon aus, dass Paulus die "christliche" Glaubensgerechtigkeit ("Rechtfertigung aus Glauben") einer so genannten "jüdischen" Werkgerechtigkeit ("Rechtfertigung aus Werken") gegenüber stelle. Für diese Sicht werden mit Luther und dessen Übersetzung vor allem Stellen wie Gal2,16 (wir wissen, "dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus") oder Röm 3,28 ("so halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke allein [Interpolation von Luther] aus Glauben und nicht aus Gesetzeswerken") herangezogen. Wenn das Judentum jedoch keine Gesetzes- oder Leistungsreligion ist, dann richtet sich Paulus mit solchen Aussagen auch nicht gegen eine angeblich jüdische These einer "Rechtfertigung aus Werken" oder gegen eine Güdische) "Werkgerechtigkeit". Wogegen aber grenzen sich dann solche Aussagen ab? Oder anders: Was ist bei Paulus mit "Werken des Gesetzes" (l::pret. v6[Lou) gemeint? Unter dieser Frage hat als wichtiger Vertreter der "Neuen Paulusperspektive" James D.G. Dunn, emeritierter Professor in Durham, das traditionelle lutherische Verständnis der Rechtfertigungslehre herausgefordert. Von ihm hat der hier darzustellende Neuansatz in der Paulusforschung auch den Namen bekommen. Dunn übernimmt von Sanders die Sicht des Judentums als "covenantal nomism", versteht 38 SANDERS: Paulus und das palästinische Judentum (s. Anm. 34), 513; im Original unterstrichen. 372 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe darunter aber, angezeigt durch das paulinische Syntagma "Werke des Gesetzes", eine ganz bestimmte "ethnozentrische" Form des Judentums. 39 Auch nach Dunn wendet sich Paulus mit seiner Aussage, dass ein Mensch gerecht gemacht werde nicht aus "Werken des Gesetzes", sondern "aus Glauben" (vgl. Gal2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28), nicht gegen einen angeblichen jüdischen Legalismus. Sondern im Kontext der Völkermission kritisiere Paulus mit diesem Ausdruck eine bestimmte Funktion des jüdischen Gesetzes. Nach Dunn referiert die paulinische Wortverbindung "Werke des Gesetzes" auf bestimmte Identitätszeichen ("identity marker") des Judentums: vor allem auf Beschneidung, Speisegebote, Reinheitsvorschriften und Sabbat, die für Israel neben der identitätsstiftenden vor allem auch von den Völkern abgrenzende Funktion ("boundary marker") haben. Solche "Werke des Gesetzes", gegen die sich Paulus wende, sind nach Dunn spätestens seit der Zeit der Makkabäer Kennzeichen eines "ethnozentrischen" Judentums; sie haben also eine soziale und soziologische Funktion in dem Sinne, dass sie "nach innen" identitätsstärkend, "nach außen" gegenüber den Völkern aber ausschließend wirken. Was Paulus ablehne, sei eben diese "Abgrenzung" von Nichtjuden, sei ein nach dem Kommen Christi falsch verstandener jüdischer, ethnozentrischer "Bundesnomismus". Denn nichtjüdische Christusanhänger sollen, wie vor allem im so genannten "antiochenischen Zwischenfall" (Gal 2,11-21) deutlich werde, diese "jüdischen" Werke des Gesetzes nicht übernehmen, vielmehr solle der Bund Gottes mit Israel für sie geöffnet werden. Einziges "Identitätsmerkmal" sei deshalb nach dem Christusereignis der rechtfertigende Glaube. Weil es Paulus um die Universalität des Heils und die Integration von Nichtjuden in das Gottesvolk Israel gehe, müssten also nach dem Kommen Christi alle "ethnisch-nationalen" Grenzen des Judentums überwunden werden. Dunn stützt sich für seine Argumentation hinsichtlich der "Werke des Gesetzes" vor allem auf paulinische Argumentationen im Galaterbrief. 40 Mit Recht hat Dunn auf die religionssoziologische Dimension sowohl der Tara als auch der "Werke des Gesetzes" hingewiesen, die gegen die herkömmliche lutherische Sicht nicht identisch sind mit "religiösen" oder guten Werken im Allgemeinen. 39 40 Vgl. DuNN, ]AMES D.G.: Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, London 1990; DERS.: What was the Issue between Paul and "Those of the Circumcision"? In: Bengel, Martini Hecke!, Ulrich (Hg.): Paulus und das antike Judentum. Tübingen-Durham-Symposium im Gedenken an den 50. Todestag Adolf Schlatters (19. Mai 1938) (WUNT 58), Tübingen 1991, 295-317; DERS.: The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005; DERS.: The Dialogue Progresses. In: Bachmann: Neue Paulusperspektive (s. Anm. 22), 389-430. Die Diskussion um das Verständnis des paulinischen Syntagmas "Werke des Gesetzes" ist noch nicht zu Ende. Zur seither geführten Diskussion und weiteren Literaturnachweisen vgl. BACHMANN, MicHAEL: Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck" ,Werke' des Gesetzes". In: Ders.: Neue Paulusperspektive (s. Anm. 22), 69-134; nach Bachmann referiert die paulinische Wortverbindung analog zur Formulierung in einem halachischen Brief aus Qumran (4QMMT C 27) nicht auf menschliche Taten oder Handlungen allgemein, sondern auf zu erfüllende "Regelungen des Gesetzes". Nach anderen wie z.B. HAACKER: Verdienste (s. Anm. 22), 13, referiere Paulus mit "Werke des Gesetzes" (nur) auf kultische Handlungen. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 373 Nach Dunn fordere Paulus allerdings mit der Entgegensetzung von Glaube und Werken des Gesetzes eine "Entgrenzung" der jüdischen Identität bzw. des Bundes Gottes mit Israel. Hier kann ich Dunn nicht folgen. Denn Paulus lässt nirgendwo erkennen, dass er erstens eine Öffnung des Bundesvolkes Israel für Nichtjuden anstrebt - genau das Gegenteil ist nach dem Galaterbrief der Fall: Jesusgläubige Nichtjuden sollen gerade nicht durch Beschneidung in das Bundesvolk Israel integriert werden! Das war die Grundsatzentscheidung der so genannten Jerusalemer Versammlung, auf die sich Paulus in Gal2,1-10 beruft. 41 Zweitens hält Paulus unverändert an den besonderen Erwählungszeichen Israels (vgl. Röm 9,4f), auch der Beschneidung (Röm 3,1 f), fest. Nur eben: Für Nich~uden in der Christusanhängerschaft soll sie nicht gefordert werden, denn die Gerechtmachung von Juden und Nichtjuden in Christus geschieht durch das neue Handeln Gottes in Christus, das Versöhnung mit Gott bedeutet für alle Glaubenden, seien sie nun Juden oder Nichtjuden (vgl. Röm 3,21-26). Und drittens ist gegen die These von Dunn, dass Paulus einen jüdischen "Partikularismus" kritisiere und ihn durch einen die Nichtjuden einschließenden "Universalismus" zu überwinden suche 42 , einzuwenden, dass damit implizit wieder antijudaistische Züge in die paulinische Theologie eingetragen werden. Der "Universalismus" des Paulus und seiner Verkündigung bedeutet keine Aufhebung der besonderen Erwählung Israels 43 , aber auch keine Integration von Nichtjuden in das ersterwählte Volk Israel. Das In-Christus-Sein von Nichtjuden bedeutet für sie einen neuen religionssoziologischen Status, sie werden aber nicht "Israel". 44 3. Zusammenfassende Schlussgedanken Bei allen Diskussionen im Detail, die sowohl durch die "Neue Israeltheologie" der Kirche(n) und als auch durch die Anregungen der "Neuen Paulusperspektive", insbesondere hinsichtlich der Geltung und Funktion des Gesetzes und des Stellenwerts der so genannten Rechtfertigungslehre im Gesamt der paulinischen Theolo- 41 42 43 44 Zur lukanischen Darstellung dieser Entscheidung der jüdischen Jesusanhängerschaft in Jerusalem in Apg 15,1-21 vgl. NEUBRAND, MARrA: Israel, die Völker und die Kirche. Eine exegetische Studie zu Apg 15 (SBB 55), Stuttgart 2006. Eine These, die sich ähnlich schon in der alten "Tübinger Schule" im 19.Jh. mit ihrer Entgegensetzung von "Judenchristentum" und Heidenchristentum" findet. V gl. dazu WENGST, KLAUS: Wie wäre von "universaler HeilsbedeutungJesu" nach dem Römerbrief des Paulus zu reden? In: Frankemölle, Hubert!Wohlmuth, Josef (Hg.): Das Heil der Anderen. Problemfeld "Judenrnission" (QD 238), Freiburgi.B. 2010,311-327. Vgl. dazu die Auslegung des so genannten Ölbaum-Gleichnisses in Röm 11,17-24 bei NEUBRAND, MARIA!SEIDEL, JoHANNES: "Eingepfropft in den edlen Ölbaum" (Röm 11,24): Der Ölbaum ist nicht Israel. In: BN 105 (2000) 61-76. 374 Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe gie, angestoßen wurden 45 , sind für die Paulusforschung 46 als wichtige Einsichten festzuhalten: 3.1 Paulus ist kontextuell zu lesen Die paulinischen Briefe und ihre theologischen Aussagen sind in ihrem Kontext und Adressatenbezug zu lesen: Alle Briefe des Paulus richten sich an eine nichtjüdische Leserschaft und setzen die bleibende Unterscheidung von Israel und den Völkern voraus. Das bedeutet, dass auch die theologischen Aussagen von der Rechtfertigung aufgrund von Glauben, besser: "Trauen", in den religionssoziologischen Kontext von Israel und den Völkern hineingestellt sind. Dies wird z. B. anhand von Röm 3,28-31 deutlich: Die Rechtfertigungsaussage in Röm 3,28 (A.ort~6p,c:6()( rrxp OtX()(toUCJ6()(t 1CL01:Et &vepwnov xwpt~ sprwv v6p,ou - "Denn wir urteilen, dass ein Mensch [durch Gott] gerecht wird aufgrundvon Trauen, und zwar getrennt/ außerhalb von Werken [des] Gesetzes") steht nicht isoliert da, sondern ist eingebettet in die für Paulus wesentliche (religions-)soziologische Perspektive 47 , so dass er in Röm 3,29-31 fortfährt: "Oder ist er der Gott von Juden allein? Nicht auch von Nichtjuden? Ja, auch von Nichtjuden, da doch einer Gott ist, der gerecht machen wird die Beschneidung aus Trauen und die Unbeschnittenheit durch das Trauen. Heben wir nun das Gesetz auf durch das Trauen? Niemalst Sondern das Gesetz richten wir auf." Der Vorwurf an die "Neue Paulusperspektive", dass sie die soziologische Perspektive zu stark betone und die theologischen Aussagen zu wenig beachte, trifft nicht. Denn Paulus trennt beides nicht, sondern findet deren Zusammenhang in seiner Bibel vor, insofern Erwählung immer eine soziologische Komponente hat. In der Auslegung der paulinischen Briefe ist entscheidend, an der auch für Paulus grundlegenden und bleibenden (biblischen!) Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern festzuhalten. Diese wird auch durch das 45 46 47 Vgl. z.B. die grundsätzlichen Einwände gegen die "Neue Paulusperspektive" bei STUHLMACHER, PETER: Zum Thema Rechtfertigung. In: Ders.: Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze (WUNT 146), Tübingen 2002, 23-65; LoHSE, EuuARD: Christus, des Gesetzes Ende? Die Theologie des Apostels Paulus in kritischer Perspektive. In: ZNW 99 (2008) 18-32. Im deutschsprachigen Raum haben wie ich u. a. folgende Exegeten Ergebnisse und Anliegen der "Neuen Paulusperspektive" positiv aufgenommen und weitergeführt: HAACKER, KLAus: Der Brief des Paulus an die Römer (ThHNT 6), Leipzig 1999; DERS.: Versöhnungmit Israel. Exegetische Beiträge (Veröffentlichungen der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Neue Folge 5), Neukirchen-Vluyn 2002; DERS.: Verdienste (s. Anm. 22); FRANKEMÖLLE, HuBERT: Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien (SBA.NT 37), Stuttgart 2005; DERS.: Was meint "universale Heilsbedeutung Jesu Christi" im Römerbrief? Ein Zwischenruf zur Hermeneutik. In: Hauser, Linus/Prostmeier, Ferdinand/Georg-Zöller, Christa (Hg.): Jesus als Bote des Heils. Heilsverkündigung und Heilserfahrung in frühchristlicher Zeit (FS Detlev Dormeyer) (SBB 60), Stuttgart 2008, 237-259; THEOBALD, MICHAEL: Paulus und Polykarp an die Philipper. Schlaglichter auf die frühe Rezeption des Basissatzes von der Rechtfertigung. In: BACHMANN: Paulusperspektive (s. Anm. 22), 349-388; WENGST: Freut euch (s. Anm. 2); DERS.: HeilsbedeutungJesu (s. Anm. 43), 311-327. Vgl. dazu WENGST: Freut euch (s. Anm. 2), 201-204 sowie ebd. 100: "Das Paulus mit seiner Berufung vorgegebene Thema ist nicht: ,Gnade gegen Leistung', sondern: ,das Volk und die Völker'." Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 375 Christusgeschehen nicht aufgehoben oder nivelliert. Aber Paulus ist seit seiner Berufung48 entschieden daran gelegen, auch 49 eine Jesusanhängerschaft aus den Völkern zu gewinnen und die nich~üdischen Jesusgläubigen als eine neue Erwählung aus den Völkern zu erweisen. Sofern sie wie Abraham in Unbeschnittenheit glaubt (Röm 4,9-12), tritt sie gleichberechtigt an die Seite (nicht: an die Stelle!) Israels und kann deshalb wie und analog zu Israel als "Nachkommenschaft Abrahams" gewertet werden. 5 Keineswegs aber hält Paulus die Erwählung Israels als ersterwähltes Volk, zu dem er sich (und die Apostel und andere jüdische Jesusgläubige) auch als Christusanhänger rechnet, für beendet, sei es nun jesusgläubig oder nicht: "So frage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin" (Röm 11,1). ° 3.2 Aus Trauen zum Trauen Gegen eine lange lutherisch geprägte Auslegungstradition ist vor allem im Anschluss an Ed P. Sanders die lange vorherrschende antijüdische Stoßrichtung der (protestantischen) Rechtfertigungslehre einer Revision unterzogen worden und es wird versucht, dem antiken Judentum ebenso wie dem jüdischen Paulus gerecht zu werden. Auch in diesem Sinn sind die paulinischen Briefe "kontextuell" zu lesen, nämlich als jüdische Aussagen im vielfältigen Judentum seiner Zeit. 51 So besteht heute in der Paulusforschung im Allgemeinen darin Konsens, dass das Judentum zur Zeit Jesu und des Paulus keinesfalls als eine "Verdienstreligion" angesehen werden kann, in der man sich durch eigene (fromme) Werke das Heil erwerben müsse oder könne. Dementsprechend ist auch eine unreflektierte Rede vom angeblich jüdischen "Heilsweg des Gesetzes" aufzugeben, denn auch der jüdische Weg zum Heil ist der Weg des Glaubens, wie Paulus mit seiner Heiligen Schrift an Abraham aufzeigt (Röm 4). Natürlich hält auch Paulus an der Bedeutung des menschlichen Handeins fest, ebenso an der Vorstellung des Gerichtes nach den "Werken" (vgl. Röm 2,1229). Die Impulse der "Neuen Paulusperspektive" haben aber dazu beigetragen, erneut über das Verständnis des Syntagmas "Werke des Gesetzes" nachzudenken und es nicht im Sinne einer legalistisch verstandenen jüdischen "Werkgerechtigkeit" zu verstehen. Darüber hinaus ist zu sehen, dass "Trauen" und "Werke" für Paulus keine Gegensätze auf gleicher Ebene sind, sondern zwei unterschiedliche Maßstäbe formulieren. Ins Zentrum seiner Argumentation für eine neue Erwählung aus den Völkern stellt Paulus das "Trauen". Und zwar zunächst einmal das Trauen Gottes und seines Christus (genitivus subjectivus) selbst! In seinem Trauen kommt Gott als 48 49 50 51 Die Rede von der "Bekehrung" des Paulus ist missverständlich oder falsch, denn Paulus hat sich ja nicht zu Gott "bekehrt", dem er ja bereits vor seiner Berufung durch Jesus Christus mit Eifer gedient hat; vgl. Phil3,3-6. Vgl. dazu BAUMERT: Perspektiven (s. Anm. 2), 169f. Zur Bedeutung des "auch" in der paulinischen Argumentation von Röm 4 vgl. NEUBRAND: Abraham (s. Anm.l), 149-290; WENGST: HeilsbedeutungJesu (s. Anm.43), 311-327. Zum exegetischen Nachweis anhand von Röm 4 vgl. meine Studie: Abraham (s. Anm.l). Vgl. dazu den Beitrag von Huben Frankemölle in diesem Heft. 376 Maria Neubrand MC Paulus als jüdischer Theologe sündenvergebender und versöhnender Gott den Menschen in Jesus Christus neu entgegen- dem Juden zuerst, aber auch dem Nichtjuden (mxvct c(i} ma'"CEUOV'"Ct, 'Iouood()) '"CE 7tpwcov x.cxt "EAAT]Vt). So kommt es aus dem Trauen Gottes und seines Christus zum Trauen der Menschen (~x 11:lacEW<; d<; 7tlactV), wie es in der Themenangabe des Römerbriefes (Röm 1,16f) heißt. 52 3.3 Bleibende Herausforderung an die Paulusforschung Die neue Israeltheologie der Kirche(n) stellt eine bleibende Herausforderung an die Exegese der paulinischen Schriften dar. Zwar sind grundsätzlich die theologischen Einsichten klar, aber in der Einzelauslegung der paulinischen Briefe ist dies noch keineswegs eingeholt. Hier begegnet man in der Auslegung einzelner Texte nach wie vor Substitutionstendenzen oder antijudaistischen Aussagen. Dies sei kurz an zwei jüngeren exegetischen Aussagen zum Galater- und Römerbrief demonstriert: In seinem Aufsatz zu Gal 4 und Röm 9-11 schreibt der Bonner Exeget Michael Wolter, dass nach Auffassung des Paulus in Gal 4,21-31 der überwiegende Teil Israels, nämlich der nicht-jesusgläubige, "aus dem Heilsraum der Liebe Gottes herausgestoßen" ist. 53 Und im Hinblick auf das so genannte Ölbaumgleichnis des Paulus in Röm 9,17-24 führt Eduard Lohse aus: Der Ölbaum sei auf Israel zu deuten, aus ihm würden Güdische) Zweige ausgebrochen, damit (nichtjüdische) Zweige in den Ölbaum eingepflanzt werden können: "Dieses Bild will sagen, daß die Israeliten durch ihren Unglauben sich selbst aus der Zugehörigkeit zum Gottesvolk gelöst haben. Dadurch ist Platz geworden, um dem Ölbaum neue Zweige einzupflanzen" 54 . Einige Zeilen später widerspricht sich Lohse selbst, wenn er sagt, dass jesusgläubige Nichtjuden zwar nicht in das Volk Israel eingepfropft werden, aber diejenigen Juden, die Jesus nicht als Messias bekennen und als Zweige ausgebrochen werden, nicht mehr zum Gottesvolk gehören, denn: "Der Glaube [an ChristusJ allein ist entscheidend für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk" 55 . Wer unter den hermeneutischen Vorgaben der neuen Israeltheologie die paulinischen Aussagen zu verstehen sucht, muss sich fragen, ob die alten Auslegungsmus52 53 54 55 Zum Verständnis und zur Übersetzungvon rclcrw; mit "Trauen" im Sinne von gegenseitigem Vertrauen und verlässlicher Beziehung, das sowohl von Gott als auch von Christus (rclcr1:v; 8eou bzw. X.Ptcr'to\i als genitivus subjectivus) als auch vom Trauen der Menschen auf Gott und Christus (rclcr1:t<; 8eou bzw. )(ptcr'toU als genitivus objectivus) ausgesagt werden kann, vgl. die aufgrundzahlreicher philologischer Untersuchungen Neuübersetzungen bei BAUMERT: Paulus (s. Anm. 2), 175; DERS.: Der Weg des Trauens. Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper (Paulus neu gelesen), Würzburg 2009, 52-57 und jeweils zur Stelle; ScHUMACHER, THOMAS: Der Begriff IIIL:TIL: im paulinischen Sprachgebrauch. Beobachtungen zum Verhältnis von christlicher und profangriechischer Semantik. In: Schnelle, Udo (Hg.): The Letter to the Romans (BEThL 226), Leuven 2009, 487-501. WoLTER, MICHAEL: Das Israelproblemnach Gal4,21-31 und Röm 9-11. In: ZThK 107 (2010) 1-30, 22. LoHSE, EDUARD: Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 15 2003, 1. Auflage dieser Auslegung, 314. Ebd. 315. Maria Neubrand MC, Paulus als jüdischer Theologe 377 ter noch gelten und dann nach neuen Verständnismöglichkeiten suchen. 56 Es gilt, zu einer konsistenten Auslegung der paulinischen Theologie zu kommen und Paulus gerecht zu werden, der auch nach seiner Erkenntnis Jesu als Christos nicht an der bleibenden Erwählung Israels als ersterwähltes Volk gerüttelt hat. Was dies in der Auslegung der Paulusbriefe im Einzelnen bedeutet, muss jeweils neu durchbuchstabiert werden. Hier liegen bleibende Herausforderungen an die Paulusforschung heute. Dr. Maria Neubrand MC ist Professorin für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Paderbom 56 V gl. dazu die Überlegungen und neuen Vorschläge zum Ölbaumgleichnis bei NEUBRAND/SEIDEL: Ölbaum (s. Anm. 44), 61-76. Positiv aufgenommen bei WENGST: Freut euch (s. Anm. 2), 363-368.