2.3 Heterophorie und Asthenopie [120] [121] [122] [123] 2.3 Heterophorie und Asthenopie Die Folge ist, dass sich die Vergenzstellung bei vielen Menschen ein wenig ändert. Die resultierende Abweichung von der Idealstellung (Orthostellung) wird als verborgenes Schielen, latentes Schielen oder Heterophorie bezeichnet. Bei den meisten Menschen ist die Heterophorie klein. Dies liegt daran, dass die Vergenzstellung beim natürlichen Sehen dauernd geeicht wird. Nach einer Unterbrechung des Fusionsregelkreises „erinnert“ sich das Gehirn noch eine Zeitlang an die Innervation, die es an die Augenmuskeln während des natürlichen Sehens ausgesandt hat. 2 Auch diesen Eichvorgang kann man in einem Selbstversuch studieren. Man trägt ein Prisma für etwa 5 Minuten (das Prisma sollte nicht zu stark sein, so dass man noch fusionieren kann und nicht doppelt sieht). Misst man die Heterophorie vor und nach dem Tragen des Prismas, wird man feststellen, dass sie sich der durch das Prisma aufgezwungenen Augenstellung weitgehend angepasst hat. Bei einigen Menschen funktioniert diese Eichung nicht gut. Die Folge ist, dass die Heterophorie große Werte annehmen kann. Manche Menschen strengt es an, ihre Heterophorie, ob klein oder groß, durch Fusion zu überwinden. In diesen Fällen ist eine Behandlung angezeigt. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. [119] photoreceptor disorders. Am J Hum Genet 2001; 69(4): 722 – 737 Zeitz C, van Genderen M, Neidhardt J, Luhmann UF, Hoeben F, Forster U et al. Mutations in GRM6 Cause Autosomal Recessive Congenital Stationary Night Blindness with a Distinctive Scotopic 15-Hz Flicker Electroretinogram. Invest Ophthalmol Vis Sci 2005; 46(11): 4328 – 4335 Zeitz C, Kloeckener-Gruissem B, Forster U, Kohl S, Magyar I, Wissinger B et al. Mutations in CABP4, the gene encoding the Ca2+-binding protein 4, cause autosomal recessive night blindness. Am J Hum Genet 2006; 79(4): 657 – 667 Zeitz C, Labs S, Lorenz B, Forster U, Ueksti J, Kroes HY et al. Genotyping microarray for CSNB-associated genes. Invest Ophthalmol Vis Sci 2009; 50 (12): 5919 – 5926 Zernant J, Kulm M, Dharmaraj S, den Hollander AI, Perrault I, Preising MN et al. Genotyping microarray (disease chip) for leber congenital amaurosis: detection of modifier alleles. Invest Ophthalmol Vis Sci 2005; 46(9): 3052 – 3059 Zrenner E, Nowicki J. Medikamentös induzierte Funktionsstörungen der Zapfenfunktion und Zapfeninteraktion. Fortschr Ophthalmol 1985; 82(6): 589 – 594 2.3.1 Typischer Befund W. Rüssmann, G. Kommerell Ist es nicht erstaunlich, dass die meisten Menschen ihre Augen gemeinsam benutzen können und nicht schielen? Man bedenke: die Augen müssen genau auf die richtige Entfernung konvergieren, auch bei Rechts-, Links-, Aufund Abblick. Dass das Gehirn diese Aufgabe bewältigen kann, verdankt es dem Fusionsregelkreis. Wenn die Augen von der zur Sehentfernung passenden Vergenzstellung abweichen, „merkt“ das Gehirn die Disparität, denn die Bilder beider Augen liegen nicht mehr auf korrespondierenden Netzhautstellen. Daraufhin sendet das Gehirn so lange Korrekturbefehle an die Augenmuskeln, bis die Vergenzstellung zur Sehentfernung passt. In diesem Fusionsregelkreis fungiert die Disparität als Fehlersignal, das Gehirn als Regler, und die Augenmuskeln sind die Stellglieder. In einem Selbstversuch kann man sich vom Funktionieren des Fusionsregelkreises überzeugen, indem man durch ein Prisma (am besten Basis außen) schaut. Die zunächst wahrgenommenen Doppelbilder werden durch eine Korrekturbewegung der Augen prompt zusammengeführt. Wird ein Auge verdeckt, ist es nicht mehr nötig, die Augen der Entfernung entsprechend genau auszurichten. Der Fusionsregelkreis funktioniert dann nicht mehr, da ihm das Fehlersignal der Disparität vorenthalten wird. Die untersuchte Person hat beidseits eine Fernsehschärfe von 1,25 und eine Exophorie (latentes Außenschielen, häufigste Heterophorieform). Sie fixiert mit geradem Kopf bei Blick geradeaus ein kleines Fixierobjekt (Sehzeichen entsprechend der Sehschärfe 0,8) in 5 m Entfernung (▶ Abb. 2.24 a). Zunächst prüft man das linke Auge auf manifestes Schielen mit dem einseitigen Abdecktest: Das rechte Auge wird abgedeckt, das linke wird beobachtet. Das linke Auge bewegt sich nicht. Es liegt kein manifestes Schielen des linken Auges vor (▶ Abb. 2.24 b). Nun folgt der Aufdecktest rechts: Beide Augen werden beobachtet. Das rechte Auge wird freigegeben. Es macht eine langsame Bewegung von rechts nach links (Fusionsbewegung), weil es hinter der Abdeckscheibe nach außen (rechts) abgewichen war. Das linke Auge bleibt unbewegt (▶ Abb. 2.24 b, c). Dann untersucht man das rechte Auge auf manifestes Schielen. Das linke Auge wird abgedeckt, das rechte wird beobachtet. Das rechte Auge bewegt sich nicht. Es liegt kein manifestes Schielen des rechten Auges vor (▶ Abb. 2.24 d). Es folgt der Aufdecktest links: Beide Augen werden beobachtet. Das linke Auge wird freigege- 191 Störungen des Binokularsehens b c Der Winkel zwischen den Fixierlinien beider Augen wird als Vergenzstellung bezeichnet, der Winkel zwischen den Vertikalmeridianen als Zyklovergenzstellung. Wenn sich die Fixierlinien beider Augen im angeblickten Objektpunkt schneiden und ihre Vertikalmeridiane zueinander parallel sind, dann liegt Orthostellung (Orthovergenz) vor. Besteht eine Differenz zwischen der Orthostellung und der bei Öffnung des fusionalen Regelkreises gefundenen Vergenzstellung, so spricht man von Heterophorie. Seit Ogle (1949, 16) unterscheidet man zwischen der dissoziierten und der assoziierten Heterophorie. d e Abb. 2.24 a – e Typischer Befund bei Exophorie. Erläuterungen im Text. ben. Es macht eine langsame Bewegung von links nach rechts (Fusionsbewegung), weil es hinter der Abdeckscheibe nach außen (links) abgewichen war. Das rechte Auge bleibt unbewegt (▶ Abb. 2.24 d, e). 192 Dissoziierte Heterophorie Bei der Messung werden die Augen sensorisch dissoziiert, indem man völlig unterschiedliche Bilder anbietet, z. B. dem linken Auge ein kleines Sehzeichen und dem rechten Auge die homogene Fläche eines Okkluders oder ein Dunkelrotglas. Besteht eine Differenz zwischen der Orthostellung und der bei Aufhebung der Fusion gefundenen Vergenzstellung, so spricht man von dissoziierter Heterophorie (nicht zu verwechseln mit dissoziiertem Schielen, bei dem nicht der Sehreiz, sondern die Motorik der beiden Augen dissoziiert ist). Assoziierte Heterophorie Die assoziierte Heterophorie zeigt sich bei prismatischer Annullierung einer Fixationsdisparität, die z. B. am Ogleoder Mallett-Test (s. S. 208) festgestellt wird (Kap. 2.3.7). Verwendet man eine Abdeckscheibe aus Mattglas (wie in ▶ Abb. 2.24 angedeutet), kann man die Bewegung des abgedeckten Auges unmittelbar beobachten. Bei dem beschriebenen Befund diagnostiziert man eine Exophorie, wenn man sicher ist, dass ● die Vertikalmeridiane (12-Uhr-Meridiane) beider Augen parallel stehen, dass also keine Zyklodeviation vorliegt, ● beide Augen foveolar fixieren, ● keine intermittierende Form des manifesten Außenschielens vorliegt, ● eine Augenmuskellähmung ausgeschlossen ist. Statt Heterophorie sind auch die Begriffe latentes Schielen und latenter Strabismus gebräuchlich. Besteht weder eine dissoziierte noch eine assoziierte Heterophorie, spricht man von Orthophorie. Bei der hier gegebenen Sehschärfe (1,25 beidseitig) kann foveolares Fixieren unterstellt werden. Ist dies nicht der Fall, bedarf es weiterer Untersuchungen (Kap. 2.3.6). Die bei geöffnetem Fusionsregelkreis (z. B. beim Verdecken eines Auges) eingenommene Vergenzstellung, wird zuweilen auch als Vergenzruhelage bezeichnet. Dieser Ausdruck kann missverstanden werden. Man sollte ihn daher, wenn überhaupt, nur mit Vorbehalt benutzen. „Vergenzruhelage“ suggeriert nämlich Entlastung und Behaglichkeit. Dieser Wortsinn könnte zu dem Fehlschluss Merke Im klinischen Alltag spricht man von Orthophorie, wenn – bifoveale Fixation vorausgesetzt – im alternierenden Abdecktest keine Einstellbewegung zu sehen ist. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. a 2.3.2 Begriffe und Häufigkeit 2.3 Heterophorie und Asthenopie 3000 Anzahl 2500 2000 Ferne Nähe 1500 1000 500 0 -14 -12 -10 -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 8 10 12 14 Exophorie Esophorie dissoziierte Heterophorie [cm/m] Abb. 2.25 Häufigkeit von Exo- und Esophorien für Ferne und Nähe bei beschwerdefreien Personen nach Tait 1951 (21). Die dissoziierte Heterophorie ist auf der Abszisse in Prismendioptrien (cm/m) aufgetragen; links vom Nullwert (= Orthophorie) die Exophorie (negatives Vorzeichen), rechts vom Nullwert (positiv) die Esophorie. verleiten, die Vergenzruhelage müsse mit Hilfe von Prismen auch für die natürliche Sehsituation unbedingt angestrebt werden. Merke Orthophorie ist – insbesondere bei Blick in die Nähe – mehr Ideal- als Normalzustand (▶ Abb. 2.25). Statistische Untersuchungen haben ergeben, dass Heterophorien bei 70 – 80 % der Bevölkerung vorkommen. Die meisten Menschen mit Heterophorie sind beschwerdefrei. Als Asthenopie bezeichnet man Beschwerden wie Kopf-, Stirn- und Augendruck oder -schmerz, Schwindel- und Unsicherheitsgefühl, Augenbrennen, Müdigkeitsgefühl in den Augen, Lichtscheu, Unschärfe besonders beim Wechsel von Nah- zu Fernfixation oder umgekehrt (Abstandswechsel), wenn diese Beschwerden durch nicht- oder fehlkorrigierte Ametropien, durch Akkommodationsstörungen oder durch Heterophorien ausgelöst werden. Nicht- oder fehlkorrigierte Ametropien und Akkommodationsstörungen sind in allen Altersgruppen häufige Ursachen von Asthenopie, Heterophorien seltene. Ähnliche Beschwerden können aber auch andere Ursachen haben (Kap. 2.3.6). 2.3.3 Klassifikation Heterophorien können nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt werden: nach der Richtung der Abweichung und nach dem Auftreten von Beschwerden (▶ Abb. 2.26, ▶ Tab. 2.11). 2 Horizontal-, Vertikal- und Zyklophorien können bei einem Patienten gemeinsam auftreten. Bei der Anisophorie ist die Heterophorie in den verschiedenen Blickrichtungen unterschiedlich. Dies kann Zeichen einer geringfügigen Augenmuskellähmung sein (latente Parese) oder auch durch die unterschiedliche prismatische Wirkung seitenverschiedener Brillenglasbrechwerte bei Anisometropie verursacht werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 4880 beschwerdefreie Personen (Tait 1951) 3500 Die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen der Häufigkeit der Heterophorie und der Häufigkeit asthenopischer Beschwerden bei Heterophoren spricht dafür, die Heterophorie ohne Beschwerden als bedeutungslose Normvariante von der Heterophorie mit Beschwerden als Krankheit begrifflich zu trennen. Merke Heterophorie ohne Beschwerden kann man als Normophorie bezeichnen, Heterophorie mit durch sie verursachten Beschwerden als Pathophorie. 2.3.4 Ätiologie In der älteren Literatur sind im Wesentlichen 3 Grundkonzepte diskutiert worden, denen bestimmte Heterophorieformen entsprechen sollen, nämlich die statische, die akkommodative und die neurogene Heterophorie (▶ Tab. 2.12). In welchem Umfang die verschiedenen Faktoren tatsächlich zur Entstehung einer Heterophorie beitragen, ist weitgehend unklar. Mechanisch-anatomische Momente scheinen jedenfalls von untergeordneter Bedeutung zu sein. Studien zur Häufigkeit der verschiedenen Heterophorieformen in der Bevölkerung sprechen für eine starke Tendenz zur Orthophorie oder zu kleinwinkligen Heterophorien (▶ Abb. 2.25). Weiterhin ist bekannt, dass weder groteske Verdrängungen des Auges (z. B. durch eine Mukozele der Stirnhöhle) noch ausgedehnte Eingriffe an den äußeren Augenmuskeln oder ihren Hüllen (z. B. Kestenbaum-Operation, Netzhautoperationen) eine Heterophorie induzieren. Solche Beobachtungen zeigen, dass der Grundtonus der äußeren Augenmuskeln Belastungen 193 Störungen des Binokularsehens b c d e =f g =h Abb. 2.26 a – j Abdecktest: Bei Orthophorie und Heterophorie findet sich bei unbehindertem Binokularsehen keine Fehlstellung (a). Bei Orthophorie (b) fehlt diese auch dann, wenn das beidäugige Sehen durch Abdecken eines Auges aufgehoben wird. Bei Heterophorie (c–j) zeigt sich am abgedeckten Auge eine Fehlstellung im Sinne der Eso- (c) oder Exophorie (d), der positiven (e, f) oder negativen Vertikalphorie (g, h), der Inzyklo- (i) oder Exzyklophorie (j). i j Tab. 2.11 Klassifikation der Heterophorien nach verschiedenen Gesichtspunkten. Art der Abweichung Richtung der Abweichung Bezeichnung A Einteilung nach der Richtung der Abweichung. Horizontalvergenzstellung Vertikalvergenzstellung Zyklovergenzstellung nach innen oder außen Horizontalphorie nach innen Esophorie nach außen Exophorie höher oder tiefer Vertikalphorie rechtes Auge höher (linkes Auge tiefer) positive Vertikalphorie (Hyperphorie rechts, Hypophorie links) linkes Auge höher (rechtes Auge tiefer) negative Vertikalphorie (Hyperphorie links, Hypophorie rechts) Vertikalmeridiane in A- oder V-Stellung Zyklophorie in A-Stellung Inzyklophorie in V-Stellung Exzyklophorie B Einteilung nach der Änderung der Abweichung mit der Blickrichtung. Keine Änderung mit der Blickrichtung (konkomitierend) alle Richtungen der Abweichung Heterophorie Änderung mit der Blickrichtung (inkomitierend) alle Richtungen der Abweichung Anisophorie (latente Parese) Fortsetzung ▶ 194 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. a 2.3 Heterophorie und Asthenopie Tab. 2.11 Fortsetzung Art der Abweichung Richtung der Abweichung Bezeichnung C Einteilung nach der Differenz der Abweichungen für Ferne und Nähe. größere Abweichung bei Fernblick nach innen Esophorie mit Divergenzinsuffizienz nach außen Exophorie mit Divergenzexzess nach innen Esophorie mit Konvergenzexzess nach außen Exophorie mit Konvergenzschwäche Heterophorie ohne Beschwerden alle Richtungen der Abweichung Normophorie Heterophorie mit Beschwerden alle Richtungen der Abweichung Pathophorie größere Abweichung bei Nahblick 2 D Einteilung nach Beschwerden. Tab. 2.12 Ursachen der Heterophorie. Mutmaßliche Ursache Statische Heterophorie Bauanomalie der Orbitae, Anomalien der Augenmuskeln (Muskelansätze, Muskelverlauf, Muskelstruktur) Akkommodative Heterophorie Refraktionsanomalie, Korrektionsfehler (un- oder unterkorrigierte Hyperopie, überkorrigierte Myopie), anomaler AC/ A-Quotient Neurogene Heterophorie ungenügende Eichbarkeit des Fusionsregelkreises, zentrale Akkommodationsstörung Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Heterophorietyp in weiten Bereichen so angepasst werden kann, dass wenigstens bei kurzfristiger Aufhebung der Fusion keine Heterophorie nachzuweisen ist. Vieles spricht dafür, Heterophorien als ungenügende Anpassungsfähigkeit des sensomotorischen Regelsystems zu deuten, das die Fusion und eine der Sehentfernung entsprechende Akkommodation aufrechterhalten soll (▶ Abb. 2.27). Dieses Regelsystem muss Ungenauigkeiten der Bildschärfe wie der Augenstellung erkennen (sensorischer Teil des Regelkreises – kortikale Leistung) und diese in eine entsprechende Ausgleichsinnervation für die inne- abc Akkommodationssteuerung Gläser + aa bb cc SFZ Unschärfe Bild scharf Annäherung + disparate Prisma − Abbildung ein Bild Vergenzsteuerung 3,4,6 MFZ a − b Abb. 2.27 a, b Neurovisuelles Regelsystem. a Fusionsregelkreis (s. Kap. 1.5). Gegenstände auf dem Horopter (abc) werden am Augenhintergrund auf korrespondierenden Netzhautstellen abgebildet. Die Bildinformation gelangt über die Sehbahn in das „sensorische Fusionszentrum“ (SFZ). Dort werden Bildunterschiede (Bilddisparitäten) bei Prismenvorsatz oder Vergenzfehlern ermittelt und dem „motorischen Fusionszentrum“ (MFZ) mitgeteilt. Das MFZ generiert Korrekturimpulse über die Augenmuskelkerne und -nerven (3, 4, 6) an die Augenmuskeln, die eine fusionale Vergenzbewegung auslösen und dadurch die Bilddisparität beseitigen. b Akkommodations- und Fusionsregelung. Bildunschärfe bei Übersichtigkeit, Objektannäherung oder Vorsatz zerstreuender Messgläser (Minus-Gläser) aktivieren die Akkommodation (oberer Bildteil), bis das Bild scharf ist. Parallel zur Akkommodation wird die Vergenz aktiviert (unterer Bildteil). Objektentfernung oder Vorsatz sammelnder Messgläser (Plusgläser) bewirken eine entgegengesetzte Reaktion mit Abnahme von Akkommodation und Konvergenz. Disparate Abbildung (Diplopie) bei Prismenvorsatz oder Fehlstellung der Augen (unterer Bildteil) aktivieren das Vergenzsystem zu Fusionsbewegungen (fusionale Konvergenz oder Divergenz). Überschreitet die Belastung das Fusionsvermögen, können ergänzend Akkommodation und akkommodative Vergenz aktiviert (bei Prismen Basis außen) oder deaktiviert werden (bei Prismen Basis innen). 195 Störungen des Binokularsehens ren und äußeren Augenmuskeln umsetzen (motorischer Teil des Regelkreises – subkortikale Leistung, Hirnstamm). 2.3.5 Pathophysiologie R R L L subjektiv objektiv R L Heterophorie und Fixationsdisparität In diesem Buch wird der Begriff Fixationsdisparität als sprachlich genauere, sachlich bessere Übersetzung von „fixation disparity“ bevorzugt. Die von der DIN 5340:1998-04 favorisierte Bezeichnung Fixationsdisparation ist mit der Mess- und Korrektionsmethodik nach H.J. Haase (MKH) verbunden und bezieht sich auf die Ergebnisse dieser Methodik (s. S. 210). ▶ Messung der Fixationsdisparität. Subjektiv kann die Fixationsdisparität auf folgende Weise gemessen werden (▶ Abb. 2.28). Auf einem beidäugig sichtbaren Hintergrund werden mit einem Haploskop (Phasendifferenzhaploskop, Polarisationshaploskop, Computermonitor mit LCD-Shutterbrille o. ä.) 2 übereinanderstehende vertikale gerade Linien (sog. Noniusstriche) angeboten, so dass die dem rechten Auge sichtbare Linie über der für das linke Auge bestimmten steht. Die Versuchsperson kann die obere Linie horizontal verschieben. Sie erhält die Aufgabe, diese Linie so einzustellen, dass sie genau über der unteren Linie zu stehen scheint. Wenn die Vergenz der Augen der Entfernung der Sehobjekte genau entspricht (Orthovergenz), stellt die Versuchsperson den oberen Strich so ein, dass er auch objektiv mit dem unteren Strich fluchtet (▶ Abb. 2.28 a). Bei einer Exophorie (▶ Abb. 2.28 b) erreichen die Augen die der Objektentfernung entsprechende Vergenz nicht ganz, da das Fusionsmuster in der Mitte eine Lücke hat: Die Noniusstriche werden ja jeweils nur einem Auge gezeigt. Damit können die Netzhautmitten, die für eine exakte Fusion zuständig sind, nicht genutzt werden. Die Folge ist, dass Exophore beim Blick auf das Testmuster eine Exo-Fixationsdisparität (kurz Exodisparität) aufweisen. Erhält die exophore Versuchsperson die Aufgabe, den oberen Strich so zu verschieben, dass er genau über dem unteren Strich zu stehen scheint, so 196 a R L subjektiv R L objektiv L R b Abb. 2.28 a, b Messung der Fixationsdisparität. Beide Augen fixieren durch ein Haploskop einen jeweils monokular sichtbaren Noniusstrich auf einem binokular angebotenen Hintergrund. a Orthophore Versuchspersonen schieben den oberen Noniusstrich so, dass er auch objektiv genau über dem unteren Noniusstrich steht. b Exophore zeigen meist eine Exo-Fixationsdisparität. Um zu erreichen, dass der obere Noniusstrich genau über dem unteren zu stehen scheint, schieben sie den oberen Noniusstrich ein wenig nach rechts. Der Untersucher kann an der Versetzung zwischen oberem und unterem Noniusstrich das Ausmaß der Fixationsdisparität ablesen. wird sie den oberen Strich so weit nach rechts verschieben, bis er sich in der Netzhautmitte des rechten Auges abbildet. Der Untersucher kann dann an der objektiven Versetzung zwischen den beiden Noniusstrichen das Ausmaß der Exo-Fixationsdisparität ablesen. Fixationsdisparitäten können bei orthophoren Versuchspersonen mit Prismen induziert werden. Bei Belastung mit Prismen Basis außen kommt es zu einer Exodisparität, bei Prismen Basis innen zu einer Esodisparität. Mit vertikaler Ausrichtung der Prismenbasis lassen sich ähnlich Hyper- bzw. Hypodisparitäten hervorrufen. Der Zusammenhang zwischen Prismenbelastung und Fixationsdisparität lässt sich in einem Diagramm veranschaulichen Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Schon Hofmann und Bielschowsky (1900) haben vermutet, dass die motorische Fusion hinter der Verschiebung haploskopischer Objekte zurückbleibt. Ogle hat dieses Phänomen als „fixation disparity“ (Fixationsdisparität) bezeichnet und gezeigt, dass die Fixationsdisparität nicht nur bei Belastung der Fusion an Haploskopen oder mit Prismen auftritt, sondern auch bei Heterophorien (16). Ogles Messmethodik behindert die foveale Fusion und verändert dadurch die Fixationsdisparität. Erst mit den modernen objektiven Messverfahren kann die Fixationsdisparität unter den Bedingungen des natürlichen Sehens bestimmt werden (8). 2.3 Heterophorie und Asthenopie ▶ Bedeutung der Fixationsdisparität. Die Fixationsdisparität, die an monokularen Markierungen (z. B. Noniusstrichen) wahrgenommen wird, entspricht nicht genau der unter natürlichen Sehbedingungen vorhandenen Fixationsdisparität. Der Grund ist, dass die Fusion durch die Lücken im Hintergrundmuster gestört ist. Im Bereich der monokularen Markierungen sind Lücken unvermeidlich. Sie stören die Fusion selbst dann, wenn neben peripheren fusionierbaren Konturen auch ein zentrales binokulares Fixierobjekt angeboten wird (2. Experiment in 5). Der Blick auf das lückenhafte Fusionsmuster erlaubt den Augen, von der Orthovergenzstellung ein wenig abzuweichen. Die dabei entstehende Fehlstellung weist darauf hin, dass die Vergenz dazu neigt, in eine bestimmte Richtung auszubrechen. Daher lässt sich die mit monokularen Markierungen ermittelte Fixationsdisparität als Indikator für ein Probeprisma bei Pathophorie nützen (Kap. 2.3.7). Eine Fixationsdisparität bis zu etwa 60 Winkelminuten findet man auch, wenn man den Augen ein voll fusionierbares Muster ohne monokulare Markierungen anbietet (Übersicht in 8). Unter solchen natürlichen Sehbedingungen kann man sich nicht auf die Wahrnehmung des Probanden stützen. Vielmehr ist man auf die Messung der Vergenzstellung mit technisch aufwendigen Registriermethoden angewiesen. Bei diesen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die mit monokularen Markierungen wahrgenommene Fixationsdisparität oft ein wenig kleiner ist als die objektiv gemessene, selbst dann, wenn man die monokularen Markierungen nicht dauernd zeigt, sondern in ein voll fusionierbares Muster nur kurz einblitzt (8). Erklärt wird diese Abweichung der Wahrnehmung von der objektiven Augenstellung mit winzigen Verschiebungen der Netzhautkorrespondenz, die offenbar auch bei Binokular-Normalsehenden häufig vorkommen. Die objektiv gemessene Fixationsdisparität korreliert hoch mit der bei vollständiger Dissoziation gemessenen Heterophorie (8). Das heißt, bei Exophorie findet sich meist eine Exo-, bei Esophorie meist eine Eso-Fixationsdisparität. ▶ Fixationsdisparität bei Heterophorie. In diesem Abschnitt ist mit „Fixationsdisparität“ stets die an monokularen Markierungen wahrgenommene Vergenzfehlstellung gemeint. Eso-FD Bogenminuten 0 5 cm/m Basis innen 0 -20 -10 0 10 20 30 40 20 30 40 cm/m Basis außen -5 -10 a Exo-FD Eso-FD 10 Bogenminuten assoziierte Phorie cm/m Basis innen 0 -20 -10 10 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. (▶ Abb. 2.29), in dem die Prismenbelastung auf der Abszisse (nach rechts Basis außen, nach links Basis innen) erscheint, die Fixationsdisparität auf der Ordinate (nach oben Esodisparität, nach unten Exodisparität). In diesem Diagramm ordnen sich die einzelnen Messwerte zu einer Fixationsdisparitätskurve. Sie endet rechts und links dort, wo die Versuchsperson bei höherer Prismenbelastung Diplopie für das Hintergrundbild angibt oder einen der Noniusstriche infolge Exklusion nicht mehr wahrnimmt. Die horizontale Ausdehnung (Länge) der Kurve entspricht der motorischen Fusionsbreite, während die vertikale Ausdehnung (Höhe) der Kurve die Fähigkeit der Versuchsperson widerspiegelt, Bildunterschiede im Binokularsehen ohne Diplopie zu verarbeiten. cm/m Basis außen Abb. 2.29 a, b Fixationsdisparitätskurven. Die Fixationsdisparitäten (Ordinate in Bogenminuten, nach oben Eso-Fixationsdisparität = Eso-FD, nach unten Exo-Fixationsdisparität = Exo-FD) sind gegen die Prismenbelastung aufgetragen (Abszisse in cm/m, nach rechts Basis außen, nach links Basis innen). a Orthophore zeigen ohne Prismenvorsatz und bei geringen bis mittleren Prismenbelastungen keine oder wenig Fixationsdisparität. b Bei Exophoren (grüne Kurve) findet sich häufig schon ohne Prismen eine ExoFixationsdisparität, in diesem Fall 2 Bogenminuten (Exo-FD: Pfeil von unten). Zu Null wird die Fixationsdisparität mit 5 cm/m Basis innen. Der Wert dieses „Nullstellungsprismas“ entspricht der assoziierten Heterophorie (Pfeil von oben). -5 Exo-FD b 197 Störungen des Binokularsehens Merke Fixationsdisparitätskurven mancher Heterophorer zeigen im Vergleich mit Kurven Orthophorer eine Reihe charakteristischer Anomalien: ● Fixationsdisparität ist schon ohne Prismenbelastung vorhanden (Ruhedisparität) und verschwindet erst bei Vorsatz von Prismen (▶ Abb. 2.29 b; fakultative Mikroanomalie nach Crone, 3). ● Fixationsdisparität ist ohne Prismenbelastung vorhanden, verschwindet aber nicht bei Vorsatz von Prismen oder erst bei Prismen mit starker Wirkung (obligate Mikroanomalie nach Crone, 3). Mit diesen Mechanismen ist zu erklären, dass manche Exophore bei Blick in die Ferne binokular unscharf sehen, monokular hingegen deutlich. Sie müssen bei Blick in die Ferne so viel an Konvergenz zum Ausgleich ihrer Exophorie aufwenden, dass es zur Akkommodation in einem Ausmaß kommt, das für die Ferne nicht angemessen ist und damit zur Unschärfe führt (Fallbeispiel 1). Andererseits kann man bisweilen Esophore beobachten, die in der Nähe auf ihre Akkommodation zugunsten einer geringeren Nahesophorie verzichten (Fallbeispiel 2); diese Patienten können leicht mit solchen verwechselt werden, die eine (juvenile) Hypoakkommodation haben. Auch wenn Ruhedisparität und Heterophorie nach Größe und Richtung nicht streng korrelieren, kann man aus diesen Kurven schließen, dass das Zusammenspiel von motorischer und sensorischer Fusion gestört ist. Bei fakultativer Mikroanomalie können die Patienten noch in Orthostellung sensorisch fusionieren, sie neigen aber dazu, die Orthostellung bei geringer motorischer Belastung (z. B. Heterophorie) aufzugeben; bei obligater Mikroanomalie sind sie nicht zu präziser fovealer Fusion fähig. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sich dieser Heterophorietyp nicht dauerhaft mit Prismen ausgleichen lässt und auch bei orthoptischer oder operativer Therapie persistiert. Heterophorien mit fakultativer Mikroanomalie im Sinne Crones zeigen diese Persistenz des Stellungsfehlers unter Prismen nicht. Bei ihnen kann die Fixationsdisparität mit Prismen geringer Ablenkung (bis 10 cm/m) auf Null gebracht werden (Kurve B in ▶ Abb. 2.29). Der Wert dieses „Nullstellungsprismas“ entspricht der assoziierten Heterophorie, von der im Zusammenhang mit der Prismentherapie der Heterophorie noch die Rede sein wird. Heterophorie und AkkommodationsKonvergenz-Kopplung Die Kopplung von Akkommodation und Konvergenz äußert sich so (▶ Abb. 2.27 b; 14): ● Akkommodation, ausgelöst durch Objektannäherung oder auch durch Vorsatz von Gläsern mit negativem Brechwert (z. B. Minus-Gläser bei Emmetropie), bewirkt eine Zunahme der akkommodativen Konvergenz. Nachlassen der Akkommodation bei Objektentfernung oder Vorsatz von Gläsern mit positivem Brechwert (z. B. Plus-Gläser bei Emmetropie) bewirkt eine Abnahme der akkommodativen Konvergenz. ● Prismengläser Basis außen oder Exophorien aktivieren die fusionale Konvergenz. Wird dabei die Leistungsfähigkeit der fusionalen Konvergenz überschritten, so wird das beidäugige Einfachsehen durch eine Aktivierung der akkommodativen Konvergenz erhalten, wobei Unscharfsehen durch die unzweckmäßig gesteigerte Akkommodation in Kauf genommen wird. 198 Exophorie mit Kompensation über akkommodative Konvergenz (Fallbeschreibung von H. Mühlendyck) 34-jähriger Patient ● Binokulare Sehschärfe: Ferne ohne Korrektion 0,2, mit – 4,0 D sph 1,2. ● Monokulare Sehschärfe: Ferne ohne Korrektion R/L jeweils 1,2. ● Alternierender Prismenabdecktest Ferne insgesamt 10 cm/m Basis innen, nach 5 Minuten Okklusion 50 cm/m Basis innen. ● Mit RA 50 cm/m Basis innen binokulare Sehschärfe F ohne Korrektion 1,2. Fallbeispiel Scheinbare Akkommodationsparese bei Esophorie 15-jähriger Junge, wird überwiesen wegen einer Akkommodationsparese. ● Refraktion R/L: +3,0 D sph. ● Fernvisus mit R/L: +3,0 D sph binokular und monokular 1,2. ● Nahvisus mit R/L: +3,0 D sph: ○ monokular 1,0, dabei Esodeviation des abgedeckten Partnerauges. ○ binokular 0,2, mit Addition von +3,0 D sph (also insgesamt + 6,0 D) binokular 1,0. ● Alternierender Prismenabdecktest mit +3,0 D sph (Fernkorrektion): ○ Ferne Esotropie +3°. ○ Nähe intermittierende Esotropie +8°. ● Nahvisus mit R/L +3,0 (Fernkorrektion) und 12 cm/m Basis außen 1,2. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Fallbeispiel 2.3 Heterophorie und Asthenopie Bei Diagnostik und Therapie müssen neben der Abweichung von der Orthostellung auch angeborene und erworbene Anomalien der sensorischen und motorischen Fusion und der Akkommodation gesucht und beachtet werden. Weiterhin ist zu bedenken, dass okuläre (Tränenfilmanomalien, Regenbogenhautentzündung, Glaukom u. a.) und extraokuläre (Augenmuskellähmungen, endokrine Orbitopathie, Hirntumor, Multiple Sklerose, Bluthochdruck u. a.) Erkrankungen nicht selten Beschwerden auslösen, die mit der Asthenopie verwechselt werden können. Merke Ein sicherer Rückschluss von Beschwerden auf eine okuläre Ursache ist ebenso wenig möglich, wie man aus okulären Befunden (Ametropie, ungenaue Akkommodation, Heterophorie) auf Beschwerden schließen kann. Für Diagnostik und Therapie bei Heterophorien sind Beschwerden, Allgemeinzustand, Organbefund, Refraktion, Akkommodationsverhalten, Abweichung von der Orthostellung bei Ausschluss der Fusion sowie motorische und sensorische Fusion zu untersuchen und zu bewerten. Beschwerden Patienten mit Heterophorie können über eine Reihe von Missempfindungen klagen, die nicht ohne Weiteres auf die Augen bezogen werden können. Im Einzelfall kann man nie mit Sicherheit von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Beschwerden und Heterophorie ausgehen. Immer gilt es, Wahrscheinlichkeiten abzuwägen. Wenig kennzeichnend sind zum Beispiel Kopfschmerzen, allgemeines Unlustgefühl, anhaltende Müdigkeit und Schwindelgefühl. Spezifischer weisen mangelnde Ausdauer bei Naharbeit oder beim Distanzwechsel sowie Doppelbildwahrnehmung darauf hin, dass eine unkorrigierte Heterophorie die Ursache sein könnte. Einen stärkeren Hinweis auf eine okuläre Ursache geben Schmerzen, wenn sie in Augenhöhle oder Stirn lokalisiert werden, Brennen in den Augen und vermehrte Lichtempfindlichkeit. Bei diesen Beschwerden muss neben Funktionsanomalien vor allem an strukturelle Schäden der Augen gedacht werden wie Konjunktivitis, Iritis oder Glaukom. Für eine Fehlfunktion der Augen (ohne strukturellen Schaden) sprechen mangelnde Ausdauer bei Naharbeit (Lesen) oder beim Distanzwechsel, unscharfes Sehen und Doppelbildwahrnehmung. Diese Beschwerden weisen auf eine Akkommodationsstörung, eine nicht korrigierte Fehlsichtigkeit oder, besonders bei zeitweise auftretenden binokularen Doppelbildern, auf eine Heterophorie hin. 2 Merke Von hoher diagnostischer Bedeutung ist, zu welcher Zeit die Beschwerden auftreten und wann sie sich verschlimmern. Charakteristisch für eine Fehlfunktion der Augen ist, wenn die Beschwerden im Lauf des Tages stärker werden, morgens beim Aufwachen aber noch nicht vorhanden sind. Ferner kann ein zeitlicher Zusammenhang mit Tätigkeiten, die genaues Sehen über lange Zeit erfordern, einen wichtigen Hinweis auf eine Fehlfunktion der Augen bieten. Stets sind aber andere Erklärungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. So können z. B. Beschwerden, die an einem neuen Computer-Arbeitsplatz aufgetreten sind, damit zusammenhängen, dass die Aufgabe komplexer wurde oder dass sich Spannungen mit neuen Mitarbeitern ergeben haben. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 2.3.6 Basisdiagnostik Merke Von asthenopischen Beschwerden oder von Asthenopie sollte nur gesprochen werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit einer Fehlfunktion der Augen (ohne strukturellen Schaden) wahrscheinlich ist. Oft wird im Nachhinein ein ursächlicher Zusammenhang angenommen, wenn sich die Beschwerden des Patienten nach einer bestimmten Behandlung gebessert haben, z. B. nach dem Tragen einer neuen Prismenbrille. Leider ist diese Beurteilung „ex juvantibus“ (= auf Grund einer Hilfe) nicht treffsicher. Zum einen können sich die Beschwerden allein durch die verständnisvolle Anteilnahme und Zuwendung des Therapeuten gebessert haben. Zum anderen ist ein spontanes Einpendeln auf den Mittelwert „regression to the mean“ in Betracht zu ziehen. Darunter versteht man Folgendes: Bei den meisten Patienten mit Asthenopie wechselt die Intensität der Beschwerden spontan. Zum Beispiel können Kopfschmerzen an manchen Tagen schlimm, an anderen Tagen kaum vorhanden sein. Ärztlichen Rat suchen die Patienten meist zu einer Zeit, in der die Beschwerden stark sind. Dann werden sich die Beschwerden bessern, egal welche und ob überhaupt eine Behandlung erfolgte. Nach der schlimmen Phase pendeln sich die Beschwerden allein durch den Spontanverlauf auf das mittlere Ausmaß ein. Um Fehlschlüsse auf Grund von Suggestion und „regression to the mean“ zu vermeiden, wird die Wirksamkeit einer Behandlung in 199 Störungen des Binokularsehens der modernen Medizin durch doppeltblinde Studien geprüft, bei denen weder der Therapeut noch der Patient weiß, ob die zu prüfende Therapie tatsächlich erfolgte oder ein Placebo verabreicht wurde. Leider gibt es für die Behandlung heterophoriebedingter Beschwerden noch keine Studie, die diesem Anspruch genügt. Deshalb muss man sich bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Heterophorie und Beschwerden und bei der Auswahl des Behandlungsverfahrens auf Erfahrung stützen, die an einzelnen Patienten oder Fallserien ohne Kontrollgruppe gewonnen wurde. Diese Erfahrung ist allerdings kritisch zu interpretieren. Außerdem muss man prüfen, ob der ursächliche Zusammenhang und die Therapie zu bekannten pathophysiologischen Mechanismen passen. gen aus den Meningen oder den Halsmuskeln bereits als Schmerz interpretiert werden (2). Leider ist bezüglich der pathophysiologischen Zusammenhänge noch vieles unklar. So kennt man z. B. noch nicht den Mechanismus, der von Heterophorie zu Kopfschmerz führt. Weitgehend abzulehnen ist die These, die mit der motorischen Fusion einhergehende Anspannung bestimmter Augenmuskeln überfordere deren Energiehaushalt, so dass sich im Muskel Stoffwechselprodukte ansammeln, die Schmerzrezeptoren reizen. Gegen diese Möglichkeit spricht zum einen, dass Schmerz auch bei kleinwinkliger Heterophorie vorkommt und dass großwinklige Heterophorie keineswegs immer zu Schmerz führt. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Augenmuskeln bereits bei Geradeausblick, also „in Ruhe“, in einer Spannung von ca. 8 Gramm (nach dem Internationalen Einheitensystem 0,008 Newton) gehalten werden (S. 76) und dass die Änderung ihrer Spannung bei Blickwendungen wesentlich größer ist als die zur Überwindung üblicher Heterophoriewinkel geforderte. Wenn man die „Muskelthese“ ablehnt, ist nicht einzusehen, warum heterophoriebedingte Kopfschmerzen vorzugsweise in der Gegend der Augenhöhle bzw. Stirn verspürt werden sollen, wie in der Internationalen Kopfschmerz-Klassifikation erwähnt12. Eher kommt in Betracht, dass die fusionale Überwindung der Heterophorie nicht die Augenmuskeln überbeansprucht, sondern bestimmte Hirnfunktionen. Nach diesem Konzept ist durch Heterophorie hervorgerufenes Kopfweh als Spannungskopfschmerz anzusehen. Spannungskopfschmerz kann z. B. auch durch psychischen Stress ausgelöst werden (2). Im Gegensatz zur Migräne wird der Spannungskopfschmerz als dumpf empfunden und betrifft den ganzen Kopf. Ebenfalls im Gegensatz zur Migräne wird der Spannungskopfschmerz nicht von einer besonderen Reizung der Schmerzrezeptoren in den Meningen oder den zerebralen Gefäßen ausgelöst. Vielmehr ist die Empfindlichkeit der Schmerzverarbeitung im Gehirn erhöht, so dass „normale“ Meldun- Eine sorgfältige Anamnese erleichtert und verkürzt die Diagnostik: ● frühere Schielerkrankungen ● familiäre Häufung von Anisometropie, Amblyopie oder Schielerkrankung ● zeitlicher Zusammenhang mit Brillenwechsel 12 http://ihs-classification.org/de/02_klassifikation/ 03_teil2/11.03.03_cranial.html 200 Zuweilen wird angenommen, dass Heterophorie zu Bindehautreizung mit Augenbrennen führen könne. Ob es diese ursächliche Verknüpfung tatsächlich gibt und wie sie ggf. funktionieren könnte, ist jedoch unklar. Wie auf vielen anderen Gebieten der Medizin muss man auch bei der Diagnostik und Therapie der Heterophorie Unsicherheiten hinnehmen, ohne dabei in Passivität zu verfallen. Die folgenden Abschnitte sind allerdings mit den geschilderten Vorbehalten zu verstehen. Wenn man dem Patienten zuhört und sich zunächst darauf beschränkt, durch gelegentliche nonverbale Äußerungen („hmm“ oder Kopfnicken) Teilnahme zu signalisieren, wird man in den meisten Fällen ein ziemlich vollständiges Beschwerdebild bekommen und sich auf wenige Nachfragen beschränken können. Dabei ist zu klären, ob es sich um ein monokulares oder binokulares Problem (Verschwinden der Diplopie oder Besserung der Beschwerden oder der Sehschärfe bei Verschluss eines Auges) handelt, ob Scheinbewegungen bei Nystagmus als Diplopie missdeutet werden oder ob eine Parese (Zunahme der Beschwerden in bestimmten Blickrichtungen oder bei Augenbewegungen) vorliegt. Auch den Problem- und Arbeitsbereich sollte man sich genau beschreiben lassen. Merke Auszuschließen ist weiterhin, dass der Patient früher geschielt hat. Bei familiärer Häufung von Anisometropie, Amblyopie und Schielen muss sorgfältig nach Anomalien der Korrespondenz und nach Mikrostrabismus gesucht werden. Bei Brillenträgern wird erfragt, wann und wie die letzte Brille bestimmt und verordnet wurde (subjektiver Abgleich oder nach vorheriger objektiver Refraktionsbestimmung) und ob sich seitdem die Beschwerden geändert haben. In diesem Zusammenhang muss die getragene Brille überprüft werden. Gleitsichtgläser haben manchmal eine falsche Seitenzentrierung oder eine zu hohe oder zu tiefe Anpassung der Progressionszone. Bei Zylindergläsern ist auf die korrekte Ausrichtung der Ach- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Merke 2.3 Heterophorie und Asthenopie Asthenopie und Organbefund Augenbrennen, Fusionsstörungen und monokulare Diplopie werden bisweilen durch organische Erkrankungen des Auges oder seiner Anhangsgebilde verursacht (▶ Abb. 2.30). Störungen der Tränensekretion (SchirmerTest, Tränenfilm-Aufbruchzeit), chronische Bindehautentzündungen, Unregelmäßigkeiten der Hornhautoberfläche, Trübungen der brechenden Medien und Makulaveränderungen müssen deshalb ebenso ausgeschlossen werden wie Pupillenanomalien (z. B. Pupillotonie), Stauungspapille und Papillenentzündungen (Papillitis). Refraktion und AC/A-Quotient Asthenopische Beschwerden sind häufiger auf eine nicht oder falsch korrigierte Refraktionsanomalie (Fallbeispiel 3) als auf eine Heterophorie zurückzuführen. Dies gilt auch dann, wenn gleichzeitig eine Heterophorie vorliegt (asymptomatische Heterophorie mit Refraktionsasthenopie, Fallbeispiel 4). Fallbeispiel Unkorrigierte Hyperopie 30-jährige Frau, seit dem 11. Lebensjahr häufig quälende Stirnkopfschmerzen. Mehrere neurologische und neuroradiologische Untersuchungen erfolgten. Sie ergaben keine klare Ursache. Ein Augenarzt hatte eine Fernkorrektion mit RA +1,25 D sph, LA +1,0 D sph verordnet. Die Patientin hatte diese Gläser nicht getragen. Befunde: Refraktion RA +1,5 D sph, LA +1,0 D sph Abdecktest F/N Orthophorie Der Patientin wurde nachdrücklich empfohlen, die Fernkorrektion ständig zu tragen. Sie folgte dieser Empfehlung und war danach dauerhaft beschwerdefrei. Fallbeispiel Unkorrigierte Hyperopie (Fallbeschreibung übersetzt aus 15) Bei der augenärztlichen Eingangsuntersuchung von Krankenpflegeschülerinnen berichtete eine 19-Jährige über schwere asthenopische Beschwerden, die während ihrer letzten beiden Schuljahre auftraten. Sie war eine sehr fleißige und erfolgreiche Schülerin. Ihre Augen wurden nie untersucht. Der Organbefund war völlig normal. Die Sehschärfe lag beidseits bei 6/6. Die Refraktionsbestimmung ergab beidseits +3,0 sph – 0,25 zyl Achse 0°. Es fand sich eine Exophorie von – 20 cm/m für die Ferne und von – 25 cm/m für die Nähe bei großen Fusionsbreiten und normaler Stereofunktion. Es wurde ihr empfohlen, eine Brille zu tragen. Zugleich wurde ihr erklärt, dass die Brille die Exophorie und damit auch die Beschwerden verstärken könnte. Sie bekam die Brille, war sofort beschwerdefrei und blieb es für die 3 Jahre, während der Nachkontrollen möglich waren. Offensichtlich handelte es sich um eine akkommodative Asthenopie und nicht um eine heterophoriebedingte, wie man zunächst vermutet hatte. 2 Merke Die genaue Überprüfung der getragenen Brille und eine sorgfältige objektive und subjektive monokulare und binokulare Refraktionsbestimmung sind die Grundlagen aller weiteren Maßnahmen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. sen zu achten. Achsenfehler können neben asthenopischen Beschwerden auch eine Kopfneigung in die Richtung verursachen, in welche die Zylinderachse gedreht werden muss. Dabei muss man besonders auf eine angemessene Korrektion der Hyperopie, der möglicherweise vorhandenen juvenilen Akkommodationsschwäche, der Presbyopie und des Astigmatismus achten. Auch ist zu bedenken, dass einzelne Patienten im Nahbereich eine andere Astigmatismuskorrektion benötigen als bei Blick in die Ferne. Anomalien im Verhältnis zwischen akkommodativer Konvergenz und Akkommodation (AC/A-Quotient s. Kap. 3.1) zeigen sich als Konvergenzexzess (Esophorie, Nähe stärker als Ferne), Divergenzexzess (Exophorie, Ferne stärker als Nähe), Konvergenzinsuffizienz (Exophorie, Nähe stärker als Ferne) oder Divergenzinsuffizienz (Esophorie, Ferne stärker als Nähe). In der Bevölkerung dominieren AC/A-Quotienten von 3 – 5 cm/m akkommodativer Konvergenz je D (1/m) Akkommodation, also weniger als die Idealwerte (5 – 7 cm/m je D). Damit überwiegen Nahexophorien, die durch fusionale Konvergenz kompensiert werden (▶ Abb. 2.25). Ein erhöhter AC/A-Quotient ist bei Heterophorien vom Typ des Konvergenz- oder Divergenzexzesses aus der Winkeldifferenz zwischen Fern- und Nahheterophorie zu erschließen. Bemerkenswert ist, dass diese Heterophorien mit einem reduzierten Akkommodationserfolg (hypoakkommodative Formen) einhergehen können. Deshalb sollte man bei Konvergenz- oder Divergenzexzess auch den maximalen Akkommodationserfolg mit optimaler Fernkorrektion monokular und binokular messen (Kap. 3.1). Manchen Patienten ist trotz normaler Messwerte keine ausdauernde Akkommodation möglich. Diese Patienten klagen in der Regel schon über asthenopische Beschwerden, wenn sie 5 – 10 Minuten ohne einen Nahzusatz lesen müssen. 201 Klagen des Patienten Verdachtsdiagnose suche/untersuche/Maßnahmen Augenbrennen Augenrötung endokr. Orbitopathie Lidzeichen, Bewegungsdefizit Internist, Nuklearmedizin Schirmer-Test ohne/mit Anästhesie, Break up- Time Spaltlampe, Abstrich Tonometrie, Ophth (Papille), GF Refraktion vgl. unten Druckdolenz NAP V, 1 u. V, 2 HNO Tonometrie, Ophth (Papille), GF Refraktion Dyslakrimie Augendruck, Stirnkopfschmerz Helmkopfschmerz Hemiekranie, Flimmern Blendung Unschärfe Verzerrtsehen Binok. Diplopie – F, N, alle BR gleich – vorwiegend F Konjunktivitis Glaukom Astigmatismus Heterophorie Sinusitis Glaukom latente Hyperopie überkorrig. Myopie Heterophorie Zervikalmigräne Migräne Dyslakrimie, Konjunktivitis, Glaukom Medientrübung Astigmatismus intermitt. Exotropie Heterophorie Refraktionsproblem Akkommodativ komp. Fernexophorie Astigmatismus Makulopathie Nystagmus latentes/manifestes Begleit- oder Lähmungsschielen (Immer auch an Myasthenie denken!!) dekomp. Mikrotropie Heterophorie dekomp. Esophorie Abduzensparese – vorwiegend N dekomp. Nahexophorie Konvergenzparese Trochlearisparese – vorwiegend Abblick Senkerparese Trochlearisparese endokr. Orbitopathie – vorwiegend Aufblick vgl. unten Orthopäde Neurologe Spaltlampe Refraktion Abdecktest, Binokularprüfung vgl. unten Mydriasis bei Abdecktest Fernvisus binok. << monok. Ophth (Makula) Encephalomyelitis disseminata konkomit. Winkel, ARK konkomit. Winkel, NRK/SBES konkomit. Winkel, NRK/SBES inkomit. Winkel, NRK Stauungspapille? konkomit. Winkel, NRK/SBES Pupillomotorik, Akkommodation Kopfneigung, Zyklotropie, Senkungsdefizit Senkungsdefizit Lidzeichen, Hebungsdefizit Abb. 2.30 Differenzialdiagnose der Asthenopie. Die Klagen des Patienten führen zu verschiedenen Verdachtsdiagnosen, die mit bestimmten Maßnahmen (suche/untersuche/Maßnahmen) geklärt werden müssen. Bedeutung der Abkürzungen: ARK = anomale retinale Korrespondenz, NRK = normale retinale Korrespondenz, SBES = subnormales Binokularsehen, BR = Blickrichtung, F = Ferne, N = Nähe, GF = Gesichtsfeld, HNO = Hals-Nasen-Ohrenarzt, NAP = Nervenaustrittspunkte, Ophth = Ophthalmoskopie. Die genaue Beobachtung des Verhaltens ist oft hilfreicher als die beschriebene Messung. Ein erster Hinweis auf eine juvenile Hypoakkommodation ergibt sich schon aus der Beobachtung, dass diese Patienten spontan einen Leseabstand aufsuchen, der für das Lebensalter ungewöhnlich groß ist. Nähert der Untersucher dem lesenden Patienten den Text an, so wird dieser bei Hypoakkommodation entweder den Kopf immer weiter zurücknehmen oder der 202 stetigen Annäherung des Textes Widerstand entgegensetzen. Ein nützlicher Schnelltest ist der Additionstest (▶ Abb. 2.32 a), bei dem geprüft wird, wie – bei optimierter Fernkorrektion – der Vorsatz von Plus-Gläsern die Lesedistanz, Lesefähigkeit, die Naharbeit oder die Bildschirmarbeit beeinflusst. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen des Binokularsehens 2.3 Heterophorie und Asthenopie Additionsbedarf = (Additionsmaximum + Additionsminimum)/2 Die Vorzeichen der Messwerte sind zu beachten. Fallbeispiel Beginnende Presbyopie 40-jähriger Patient klagt über mühsame Naharbeit mit zeitweiligem Verschwommensehen und Stirnkopfschmerz trotz getragener Fernbrille. Fernrefraktion: RA +0,75 sph, LA +1,5 sph Nähe (40 cm): Additionsmaximum +1,75 D, Additionsminimum +0,25 D Das ergibt einen mutmaßlichen Additionsbedarf von + (1,75 D + 0,25 D)/2 = 1,0 D Insbesondere bei Kindern empfiehlt es sich, diese subjektiven Verfahren durch die objektive Skiaskopie in Miosis zu ergänzen. Man kann die Qualität der Akkommodationseinstellung näherungsweise abschätzen, indem man Lichtwanderung und Pupillenausleuchtung aus der Entfernung bewertet, die dem Patienten mit dem aktuellen Fixierobjekt vorgegeben wird. Für diesen Zweck können auch kleine Fixierobjekte auf das Skiaskop geklebt werden. Diese isostatische Skiaskopie (Fixationsentfernung des Patienten = Skiaskopierabstand des Untersuchers) erreicht nicht die übliche Präzision der Methode, weil man unter den hier beschriebenen Bedingungen nicht genau auf der Fixierlinie des Patienten messen kann. Es wird empfohlen, die Nahaddition bei hypoakkommodativen Kindern und Jugendlichen knapp zu bemessen (möglichst nicht mehr als 1,0 D), damit die Akkommodation hinreichend trainiert wird. In der Praxis sollte man stets überprüfen, ob mit einer so niedrigen Addition in einer Gleitsichtbrille eine beschwerdefreie Nahtätigkeit gesichert werden kann. Nachweis und Messung der Heterophorie Merke Vor der Anwendung objektiver und subjektiver Tests zum Nachweis und zur Messung der Heterophorie müssen andere Schielformen (Mikrostrabismus, Lähmungsschielen) und Blickstörungen erfasst oder ausgeschlossen werden können. 2 ▶ Ausschluss von Begleit- und Lähmungsschielen. Merke Zum Ausschluss von Begleit- und Lähmungsschielen sind durchzuführen: ● Untersuchung des Binokularsehens, z. B. mit einem Stereotest ● Ab- und Aufdecktest in der Hauptblickrichtung sowie in den übrigen diagnostischen Blickrichtungen ● Beurteilung der Kopfhaltung ● ophthalmoskopische Fixationsprüfung (entbehrlich bei einem Fernvisus beider Augen von 1,0 oder mehr). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Genauer kann der Additionsbedarf über die Messung der relativen Akkommodation abgeschätzt werden (Fallbeispiel 5): Die Untersuchung wird am Phoropter durchgeführt. Der Patient betrachtet durch die optimierte Fernkorrektion im Nahbereich (zum Lesen in der Regel 0,4 m, zum Bildschirm 0,6 bis 0,7 m) binokular etwas größere Optotypen, als seiner Visusgrenze entspricht. Man schätzt zunächst den Additionsbedarf nach Entfernung und Alter und gibt eine entsprechende Addition hinzu. Nun werden zunächst in 0,25-D-Schritten steigende Pluswerte zur Akkommodationsentlastung vorgegeben, bis es zur Unschärfe kommt. Dieser Wert (Additionsmaximum) wird notiert. Anschließend werden beiden Augen gleichzeitig in 0,25-D-Schritten abnehmende Pluswirkungen als Akkommodationsforderung vorgeschaltet, bis Unschärfe eintritt. Der Vorsatzwert wird als Additionsminimum notiert. Der mutmaßliche Additionsbedarf ergibt sich nach Horizontale und vertikale Heterophorien von 2 cm/m und darüber können mit dem einseitigen Ab- und Aufdecktest (Kap. 3.1.2) gut erkannt werden. Bei Heterophorie hat der Ab- und Aufdecktest folgendes Resultat: beim einseitigen Abdecktest finden sich keine Einstellbewegungen (▶ Abb. 2.26 a, b). Die Orthostellung bei unbehindertem beidäugigen Sehen ist bewiesen, wenn die ophthalmoskopische Fixationsprüfung beidseitig zentrale Fixation ergibt bzw. wenn der Fernvisus beidseits bei 1,0 oder höher liegt. Bei diesem Befund liegt eine Heterophorie vor, wenn das Auge hinter der Abdeckscheibe aus der Orthostellung abweicht (▶ Abb. 2.26 c–h). Größere Abweichungen aus der Orthostellung sind sichtbar, wenn man seitlich hinter die Abdeckscheibe auf das abgedeckte Auge sieht. Kleinere Abweichungen sind an der Fusionsbewegung zur Orthostellung zu erkennen, die beim Aufdecken des abgedeckten Auges auftritt (▶ Abb. 2.24, ▶ Abb. 2.31). Findet sich beim einseitigen Abdecktest eine Einstellbewegung, dann ist damit ein manifester Strabismus bewiesen (Kap. 2.4 und 3.1). Dieser kann zentrale (foveale) oder exzentrische (periphere) Fixation aufweisen. Einstellbewegungen beim einseitigen Abdecktest finden sich bei vorübergehend dekompensierten Heterophorien und intermittierenden Heterotropien ebenso wie bei Augenmuskelparesen und konstanten Formen des Begleitschielens. Patienten mit dekompensierten Heterophorien und mit Augenmuskelparesen klagen über Doppelbildwahrnehmung, wenn man beim Abdecktest die Einstellbewegungen des manifesten Strabismus sieht. 203 Störungen des Binokularsehens b c d e f Abb. 2.31 a – f Fusions- und Einstellbewegungen beim Aufdecktest. Steht das linke Auge nach Abdecken in Innenschielstellung (a), kann man beim Aufdecken Folgendes sehen: b: eine langsame Fusionsbewegung des linken Auges von innen (Esophorie oder linksseitiger konvergenter Mikrostrabismus mit latenter Komponente); c und d: eine rasche Einstellbewegung beider Augen nach links, gefolgt von einer langsamen Fusionsbewegung des rechten Auges von innen (Esophorie mit Dominanz des linken Auges oder rechtsseitiger Mikrostrabismus mit latenter Komponente; e keine Bewegung (linksseitige oder alternierende Esotropie); f eine rasche Einstellbewegung beider Augen durch linksseitige Fixationsaufnahme (rechtsseitige, selten auch alternierende Esotropie). Eine wichtige Differenzialdiagnose zur Heterophorie ist der Mikrostrabismus. Charakteristische Befunde bei Mikrostrabismus sind: kleiner Schielwinkel bis 5°, harmonisch anomale Korrespondenz und Amblyopie. Nicht selten besteht exzentrische Fixation. Entspricht die Entfernung der fixierenden Netzhautstelle von der Fovea dem Schielwinkel (Mikrostrabismus mit Identität), dann ist beim einseitigen Abdecktest keine Einstellbewegung zu erkennen. Je kleiner der Schielwinkel, desto schwieriger ist es, „Mikrostrabismus mit Identität“ von Ortho- oder 204 Auch bei Mikrostrabismus ist nicht selten zu beobachten, dass das abgedeckte Auge zusätzlich zur manifesten Schielstellung nach innen abweicht (Mikrostrabismus mit latenter Komponente). Die sensorischen Befunde bei Mikrostrabismus können so geringe Normabweichungen zeigen, dass eine Verwechslung mit einer Heterophorie möglich ist, wenn man den Abdecktest nicht sorgfältig ausgeführt hat. Schließlich darf Lähmungsschielen nicht mit einer Heterophorie verwechselt werden. Die Verwechslung kann für den Patienten schlimme Folgen haben, weil dadurch die Diagnose einer Grunderkrankung (endokrine Orbitopathie, Myasthenie, Hirntumor, Hirnentzündung, Gefäßerkrankungen) verschleppt und die Einleitung der richtigen Therapie verzögert wird. Es ist deshalb unerlässlich, neben der Hauptblickrichtung auch die übrigen Blickrichtungen zu untersuchen. Bei Lähmungsschielen finden sich typische Bewegungsdefizite (Inkomitanzen, Kap. 4.2). Als häufig verkanntes Krankheitsbild ist in diesem Zusammenhang die okuläre Myasthenie zu nennen. Es ist wichtig, daran zu denken, nach den klinischen Zeichen zu suchen (von der Tageszeit abhängige Ptosis und Diplopie, Ermüdungsreaktion bei forciertem Aufblick (SimpsonTest) und ggf. einen Tensilon-Test zu veranlassen. Schließlich sollte man auch nach Blickstörungen fahnden. Geprüft werden sollten: Blickzielbewegungen (Sakkaden, S. 78), optokinetischer Nystagmus und Folgebewegungen (S. 81) und vestibuläre Kompensationsbewegungen (S. 85). Zyklophorien und Zyklotropien können mit dem Auf- und Abdecktest kaum erfasst werden. Sie sind zu vermuten bei Kopfschiefhaltung oder wenn schiefstehende Doppelbilder angegeben werden. Ohne solche Indizien sollte man mit dem Maddox-Zylinder nach einer Zykloabweichung suchen. ▶ Messung der Heterophorie. Im Kontext der Basisdiagnostik dient die Messung der Heterophorie der Orientierung über die Größe der latenten Fehlstellung. (Messverfahren zur Prismenbehandlung s. Kap. 2.3.7.) An den Ab- und Aufdecktest kann man den einseitigen oder alternierenden Prismenabdecktest unmittelbar anschließen. Dabei sollen im Fern- und Nahbereich Untersuchungsbedingungen gewählt werden, die zu einem dem Abstand entsprechenden Akkommodationsaufwand anreizen. Für die Ferne verwendet man kleine Bilder oder Sehzeichen. Nahtestgeräte (Reiner, Osterberg) bieten dazu Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. a Heterophorie zu unterscheiden. Das Resultat der Fixationsprüfung und die einseitige, mit der exzentrischen Fixation einhergehende Reduktion des Reihenvisus sind dann entscheidend. 2.3 Heterophorie und Asthenopie in den Testbildern bzw. -vorlagen kleine Optotypen, deren Kontrast bzw. Lesbarkeit abgefragt werden kann. beide Augen verteilten Prismen entsprechender Gesamtablenkung in der Messbrille ausgeglichen werden. Zyklophorien können mit dem Maddox-Zylinder und dem Fixierlicht des Maddox-Kreuzes oder mit dem Dunkelrotglas und dem Streifenlicht an der Tangententafel nach Harms gemessen werden. Beispiel: Im alternierenden Prismenabdecktest wurden für die Ferne gemessen: 4 cm/m Basis innen, 6 cm/m Basis unten vor dem rechten Auge. In die Messbrille kommen zum Ausgleich 3 cm/m Basis unten für das rechte Auge, 3 cm/m Basis oben für das linke. Mit diesen Werten wird der 2-/4-cm/m-Prismentest Basis außen, innen, oben und unten durchgeführt. Merke Ob eine Heterophorie zu Beschwerden führt, hängt nicht von ihrer Größe ab. Manche Heterophore sind trotz erheblicher Abweichung (bis zu 15 cm/m; 21) beschwerdefrei, während andere bei kleiner latenter Fehlstellung über schwere Asthenopie klagen. Die Frage, ob im Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Asthenopie und Heterophorie besteht, lässt sich nur mit zusätzlichen Daten klären. Ein ursächlicher Zusammenhang ist wahrscheinlich, wenn einer oder mehrere der folgenden Punkte gegeben sind: ● Es liegen keine anderen Erkrankungen vor, die ähnliche Beschwerden auslösen. ● Die adäquate Korrektion der Ametropie und der Ausgleich des Akkommodationsdefizits beseitigen die Asthenopie nicht. ● Der 2-/4-cm/m-Prismentest ist positiv. ● Die diagnostische Okklusion hat ein typisches Ergebnis. ● Es findet sich eine Prismenkorrektion, die sich im Tragetest bewährt (Kap. 2.3.7). Man gewinnt nur dann ein verlässliches Bild, wenn man Suggestivfragen strikt vermeidet und nur mit Alternativfragen arbeitet (Musterfrage: „Ist diese Option besser oder schlechter als die vorangegangene?“). ▶ 2-/4-cm/m-Prismentest. Mit dem 2-/4-cm/m-Prismentest Basis außen, innen, oben und unten (▶ Abb. 2.32 b; 14) wird der Prismenbedarf unter natürlichen Sehbedingungen abgefragt. Der Test eignet sich für reine Horizontal- und Vertikalheterophorien. Bei kombinierten Abweichungen sollte vorab die vertikale Komponente mit dem alternierenden Prismenabdecktest gemessen und mit auf Der Prismentest beginnt für die Ferne. Der Patient betrachtet binokular kleine Optotypen, die er noch gut erkennen kann, mit seiner optimierten Fernkorrektion in einer Messbrille (ggf. mit Vertikalprisma; Messbrille ist besser als Phoropter, weil man Augen und Mimik des Patienten besser beobachten kann). Nun wird ein Prisma der Ablenkung 2 cm/m zuerst Basis außen, dann innen, dann oben und zuletzt unten für jeweils ca. 2 Sekunden vor das nichtführende Auge gehalten. Der Patient beurteilt, ob sich die Bildschärfe mit einer dieser 4 Möglichkeiten verbessert. Ist der Patient in der Beurteilung unsicher, sollte man den Testdurchgang wiederholen. Anschließend wird das führende Auge ebenso untersucht. Danach wird der ganze Untersuchungsgang auch mit einem Prisma der Ablenkung 4 cm/m durchgeführt. Die Ergebnisse werden protokolliert. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ▶ Bewertung der Heterophoriemesswerte. Vergleichbare Werte erhält man nur, wenn man bei allen Kontrollen dasselbe Messverfahren anwendet und auf gleiche äußere Bedingungen achtet (Prüfdistanz, Raumbeleuchtung, Tageszeit). Im Übrigen ist eine gewisse Instabilität der Heterophorie von vorneherein zu erwarten, da der Fusionsregelkreis (▶ Abb. 2.27 a) unter der künstlichen Sehbedingung der Heterophorieprüfung geöffnet ist (19). Unter natürlichen Sehbedingungen garantiert der Fusionsregelkreis die Stabilität der Vergenzstellung. Bei geöffnetem Fusionsregelkreis ist eine Stabilität der Vergenzstellung unnötig. 2 Die Alternativen sollen beim Prismentest nur kurzzeitig gezeigt werden, damit es möglichst nicht zu einer Prismenadaptation kommt, die die Deutung der Untersuchungsergebnisse erschwert. Je nach Beschwerdebild verfährt man entsprechend für die Arbeitsdistanzen mit Lese- oder Bildschirmbrille. Der 2-/4-cm/m-Prismentest liefert rasch Aufschluss darüber, ob ein Heterophorer eine bestimmte Prismenpräferenz hat oder nicht. Durch die unterschiedlichen Basislagen kann man Placeboeffekte aufdecken. Das im Prismentest bevorzugte Prisma wird mit in die Messbrille gesteckt, wobei die Prismenstärke auf beide Augen gleichmäßig verteilt wird. Mit Prismenleiste oder Prismenkompensator (Kapitel 3.1) wird die Prismenstärke zunächst vermindert, dann erhöht, wobei der Patient weiterhin die Bildschärfe zu beurteilen und zugleich auf Missempfindungen wie Augendruck und Spannungsgefühl zu achten hat. Wieder sollten die Alternativen nur kurz angeboten werden (ca. 2 Sek.), damit eine Prismenadaptation vermieden wird. Ergebnis ist schließlich ein Probeprisma mit horizontaler, vertikaler oder auch schräger Basislage, das im Tragetest weiter geprüft wird. ▶ Diagnostische Okklusion. Bei der diagnostischen Okklusion wird das nichtführende Auge für einige Stunden bis mehrere Tage mit einem Pflasterverband kontinuierlich verschlossen. Die Fehlstellung wird bei Abnahme des 205 Störungen des Binokularsehens +1.0 dpt-Additionstest Lesekomfort und Lesedistanz ohne und mit Addition von 1.0 dpt zur Fernkorrektion 2- bzw. 4 cm/m-Prismentest (Ba Bi Bo Bu) positiv binokulare Visusprüfung ohne und mit Prismen negativ negativ a positiv Okklusionstest negativ negativ negativ positiv c b Abb. 2.32 a – c 3 einfache Tests zur Orientierung bei Asthenopikern: Additionstest (a), 2- bzw. 4-cm/m-Prismentest (Basis außen, innen, oben und unten; b) und diagnostische Okklusion (c). Beim Additionstest (a) wird geprüft, ob sich Lesekomfort und Lesedistanz bei beidseitigem Zusatz von 1 (oder 2) D sph zur optimierten Fernkorrektion bessern (positiver Test) oder nicht (negativer Test). Beim 2- oder 4-cm/m-Prismentest (b) werden Einzelprismen mit der Ablenkung 2 und 4 cm/m in der Basislage außen, innen, oben und unten zunächst vor das nichtführende Auge, dann vor das führende Auge gehalten. Der Patient trägt dabei die optimierte Fernkorrektion und betrachtet Sehzeichen in der Ferne nahe seiner Visusgrenze. Das Ergebnis ist positiv, wenn der Patient eine Verbesserung angibt (in diesem Schema mit Basis innen). Beim Okklusionstest (c) wird das nichtführende Auge für 2 bis 3 Tage kontinuierlich mit einem Hautpflaster verklebt. Die dadurch verursachte Einäugigkeit wird nicht nur als erleichternd, sondern teils als belastender als die Beidäugigkeit empfunden. Die meisten Patienten können trotzdem zwischen der Belastung durch die Einäugigkeit und der „Befreiung“ von den Binokularproblemen gut unterscheiden. Ergänzend sollte man den Patienten bei Abnahme des Pflasters beobachten. Für binokulare Störungen spricht, wenn bei Abnahme des Pflasters Beschwerden geäußert werden. Pflasters unter Vermeidung freien Binokularsehens gemessen. Abhängig von der Okklusionsdauer sind die Messwerte zunächst für einige Minuten instabil. Es empfiehlt sich deshalb, die Messungen nach 3 Minuten zu wiederholen und erst danach weitere Trageversuche mit Probeprismen zu machen. Aufschlussreicher als die Messung nach Abnahme der Okklusion sind Informationen, die aus der Beobachtung des Patienten gewonnen werden können (▶ Abb. 2.32 c). Jeder Mensch mit funktionsfähigem beidäugigen Einfachsehen empfindet den Verschluss eines Auges als störend. Deshalb hört man auch von Patienten mit Pathophorie nicht immer, dass die Okklusionszeit angenehmer war als das Binokularsehen davor. 206 Merke Viele geben an, dass die einäugige Sehweise zwar unangenehm war, dass aber die Asthenopie während der Okklusion nachließ oder verschwand. Andere empfinden erst die Rückkehr zum Binokularsehen bei Abnahme des Pflasters als belastend. In beiden Fällen darf man mit einiger Sicherheit annehmen, dass die Probleme tatsächlich von der Heterophorie herrühren. Die diagnostische Okklusion sollte nicht ohne Berücksichtigung des individuellen Befunds für mehrere Tage verordnet werden. Sie ist für den Patienten unangenehm, kann seine Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen, beschränkt seine Verkehrstauglichkeit und kann schließlich bei sehr labilem Binokularsehen dauernde Dekompensation mit ständiger Doppelbildwahrnehmung auslösen. Hinzu kommt, dass die Messwertinterpretation bei einer Langzeitokklusion schwierig wird, weil irrelevante Abwei- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Befinden unter 2- bis 3- tägiger Okklusion des nichtführenden Auges und unmittelbar danach 2.3 Heterophorie und Asthenopie chungen auftreten können. Deshalb wird von einigen Autoren eine Okklusionsdauer von maximal 24 Stunden empfohlen. Ist man bereits mit Refraktions- und Prismenbestimmung sowie mit den nachfolgenden Tragetests zu einem klaren Ergebnis gekommen, ist die diagnostische Okklusion entbehrlich. 2.3.7 Spezielle Diagnostik für die Prismentherapie Merke Unabdingbare Voraussetzung für alle Verfahren ist, dass der Patient seine optimierte Fernkorrektion trägt, wenn der Prismenbedarf für die Ferne ermittelt wird, bzw. die angemessene Lese- oder Bildschirmkorrektion, wenn der Prismenbedarf für die Lese- oder Bildschirmbrille bestimmt werden soll. Weiterhin sollte man sicher sein, dass keine exzentrische Fixation, kein manifestes Begleitschielen und kein Lähmungsschielen vorliegen. 2 Verfahren zur Prismenbestimmung Die Suche nach einer Methodik zur Messung und Korrektion der Heterophorie durchzieht das einschlägige Schrifttum seit Jahrzehnten. Den dazu passenden Stein der Weisen gibt es bisher leider nicht. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir nicht genau wissen, in welchem Umfang Messwerte, die wir durch Störung des Binokularsehens ermitteln, für das unbehinderte Binokularsehen relevant sind. Die Vielfalt notwendiger differenzialdiagnostischer, differenzialtherapeutischer und psychologischer Erwägungen und die Korrektionsprobleme sind eine Herausforderung für Augenärzte, Orthoptisten, Augenoptiker und Optometristen. In der Kooperation der Berufsgruppen übernimmt der Augenarzt eine wichtige Aufgabe. Jeder Augenarzt, der Wert darauf legt, seine Patienten umfassend zu betreuen, sollte deshalb mit den Grundprinzipien der Prismenverordnung bei Heterophorie vertraut sein. Wenn man nach der bereits besprochenen Vordiagnostik davon ausgehen kann, dass die Beschwerden des Patienten seiner Heterophorie zuzuschreiben sind, ist zunächst zu prüfen, ob andere Maßnahmen (Operation, in Sonderfällen orthoptische Übungsbehandlung, s. u.) vorrangig indiziert sind (s. S. 213). Ist dies nicht der Fall, sollte eine Prismentherapie begonnen werden. Die Prismentherapie wird mit Messungen eingeleitet, die das normale beidäugige Sehen mehr oder weniger stören. Im Folgenden werden dazu besprochen: ● Messung der dissoziierten Heterophorie mit dem alternierenden Prismenabdecktest, dem Maddox-Zylinder, dem Dunkelrotglas oder dem Schober-Test, ● Messung der assoziierten Heterophorie mit dem Mallet-Test, ● selbstgewähltes Prisma, ● Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase (MKH). In der Praxis wird man sich für eines der nachstehenden Verfahren entscheiden. Welches man wählt, wird von Erfahrung und Ausstattung abhängen. Besonders empfehlenswert sind Methoden, die das Binokularsehen wenig stören wie die Messung der assoziierten Heterophorie (Mallett-Test) oder das selbstgewählte Prisma. Für keines der nachstehenden Verfahren gibt es bisher Studien, die dem „Goldstandard“ der evidenzbasierten Medizin entsprechen (sog. randomisierte kontrollierte Studien). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Merke Merke Der Rückschluss von unsystematisch erzielten „Erfolgen“ einer Prismenbehandlung auf die Qualität eines bestimmten Verfahrens zur Prismenbestimmung ist unzulässig, weil die „Erfolge“ auch der Suggestivkraft des Therapeuten, der natürlichen Fluktuation der Symptome, einer spontanen Besserung bzw. einem spontanen Rückgang zum Mittelwert (regression to the mean) geschuldet sein können. Messung der dissoziierten Heterophorie Die Messwerte der dissoziierten Heterophorie können nur in Ausnahmefällen unmittelbar als Probeprismen eingesetzt werden. In der Regel wird man Modifikationen nach ▶ Tab. 2.13 vornehmen. ▶ Alternierender Prismenabdecktest. Untersuchungsgerät: Messbrille, Abdeckscheibe, Einzelprismen, Prismenleisten, die Akkommodation anregende Fixierobjekte. Für Ferne und Lesedistanz – je nach Beschwerdeprofil und Arbeitssituation auch für Zwischendistanzen – werden zur Akkommodation anregende Fixierobjekte angeboten (Sehzeichen, Lesetext, Comics o. ä.). Gemessen wird für die Ferne in Hauptblickrichtung, für die Nähe in Leseoder Arbeitshaltung. Man schätzt zunächst die Größe der Abweichung mit dem alternierenden Abdecktest und hält dann unter fortgesetztem alternierenden Abdecken ein Prisma entsprechender Ablenkung in der passenden Basislage vor das nichtführende Auge. Die Ablenkung des 207 Störungen des Binokularsehens Tab. 2.13 Auswertung der dissoziierten Heterophorie nach dem alternierenden Prismenabdecktest, nach den Tangententafelmethoden bzw. nach dem Schober-Test. Messbar sind Wähle als Prisma für den Trageversuch vom Messwert Heterophorie Eso- +VD Exzyklo- Eso- +VD Exo- –VD bei Eso ⅔ bei Exo ⅓ bis ½ 4/5 Exo- –VD Inzyklo- Alternierender Prismenabdecktest ja ja nein Maddox-Kreuz + Dunkelrotglas ja ja nein Maddox-Kreuz + Maddox-Zylinder ja ja ja Harmswand + Dunkelrotglas ja ja ja Schober-Test ja ja nein Prismas wird modifiziert, bis die Einstellbewegungen neutralisiert sind. Finden sich Horizontal- und Vertikalphorien kombiniert, muss man vertikale und horizontale Prismen zugleich vorsetzen. Sind die Einstellbewegungen ausgeglichen, kann man die Abdeckscheibe wegnehmen und den Patienten fragen, ob Diplopie besteht oder ob er das Ergebnis als angenehm empfindet. Wenn erforderlich, kann man die Prismen weiter anpassen. Zyklophorien können nicht mit dem alternierenden Prismenabdecktest gemessen werden. Die weitere Auswertung folgt entsprechend ▶ Tab. 2.13. ▶ Tangententafel mit Maddox-Zylinder oder Dunkelrotglas. Untersuchungsgerät: Messbrille, Dunkelrotglas, Maddox-Zylinder, Maddox-Kreuz oder Tangententafel für 5 m bzw. entsprechende Skalen auf Nahtestgeräten. Dunkelrotglas oder Maddox-Zylinder werden in der Regel vor das führende Auge gesetzt. Der Patient hat auf einer Tangentenskala (Tangententafel nach Harms 2,50 m, Maddox-Kreuz, Tangentenskala auf den Nahtestgeräten nach Reiner oder Osterberg) den roten Punkt (Dunkelrotglas) oder Strich (Maddox-Zylinder) zu lokalisieren (Auswanderungsmessung). Die dissoziierte Heterophorie kann entsprechend in Winkelgrad von der Skala abgelesen und überschlägig in cm/m umgerechnet werden nach der Formel: 1 Winkelgrad (°) = 2 Prismendioptrien (cm/m) Den Maddox-Zylinder stellt man zur Messung von Horizontalphorien waagrecht (= vertikale Lichtlinie), zur Messung von Vertikalphorien dagegen senkrecht (= horizontale Lichtlinie). Erscheint dem Patienten die objektiv senkrecht oder waagrecht stehende Lichtlinie geneigt oder gekippt, liegt eine Zyklophorie vor. In diesem Fall ist der Maddox-Zylinder so einzustellen, dass die Lichtlinie dem Patienten senkrecht oder waagrecht erscheint. Die Zyklodeviation kann danach unmittelbar an der TABO-Gradskala der Messbrille abgelesen werden. Zyklophorien können auch mit dem Dunkelrotglas an der Harmswand erfasst werden, deren Fixierlicht zu einem Lichtstrich aufgeblendet werden kann. Ob hellrote, dunkelrote, weiße oder graue Maddox-Zylinder benutzt wer- 208 den, ist für die Messwerte bedeutungslos. Die weitere Auswertung folgt ▶ Tab. 2.13. ▶ Schober-Test. Untersuchungsgerät: Messbrille mit RotGrün-Vorsatz, Schober-Test für 5 m. Durch einen Rot-Grün-Vorhalter sind 1 rotes Kreuz und 2 konzentrische grüne Ringe auf schwarzem Hintergrund zu betrachten. Ist das Rotglas rechts und das Grünglas links, sieht das rechte Auge das Kreuz, das linke die konzentrischen Ringe. Ein Prismenkompensator wird vor beiden Augen so eingestellt, dass das rote Kreuz in den Ringen zentriert erscheint (Zentriermessung). Die Messwerte (Ablenkung in cm/m, Basislage in Winkelgrad) werden am Prismenkompensator abgelesen. Die weitere Auswertung folgt entsprechend ▶ Tab. 2.13. Messung der assoziierten Heterophorie Untersuchungsgerät: Messbrille mit Polarisationsvorsatz, Ogle-Test oder Mallett-Test-Einheit (OXO-Test) für Ferne oder Nähe. Die assoziierte Heterophorie wird gemessen, indem man Prismen so lange verstärkt, bis eine an monokularen Markierungen festgestellte Fixationsdisparität verschwunden ist (▶ Abb. 2.29 b). Mit Ausnahme der monokularen Markierungen schauen die beiden Augen auf identische Testfiguren. Bei den Tests von Ogle und von Mallett dienen Noniusstriche als monokulare Markierungen (▶ Abb. 2.33). Ogle war der Erste, der das Konzept der assoziierten Heterophorie einführte. Sein Test wird aber kaum mehr verwendet, da er nur parazentrale Fusionsobjekte bietet. Der in angloamerikanischen Ländern und in Frankreich weitverbreitete Mallett-Test bietet mit „O X O“ zusätzlich zu peripheren auch ein zentrales Fusionsobjekt. Dadurch wird die Testsituation den natürlichen Sehbedingungen sehr ähnlich. Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass eine am Mallett-Test wahrgenommene Fixationsdisparität auch beim Blick auf ein vollständig fusionierbares Muster vorhanden ist. Vielmehr lockert die im Bereich Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Methode 2.3 Heterophorie und Asthenopie P D a b T G F C T F D R L P D T G F C T F D R L P D R L E O P T L N E E O P T L N E E O P T L N E Bild für LA Bild für RA Wahrnehmung bei Nullstellungsprisma Water Cresses are sold in small bunches, one penny each, or three bunches for twopence. The crier, of Water Cresses frequently travels seven or eight miles before the hour of breakfast to fresh; but there gather them is generally a pretty good supply of them in Covent Garden market, brought, along with other vegetables, from the gardens adjacent to the Metropolis, where they are planted and cultivated like other garden stuff. They are, however, from this circumstance, very inferior from those Water Cresses are sold in small bunches, one penny each, or three bunches for twopence. The crier, of Water Cresses frequently travels seven or eight miles before the hour of breakfast to fresh; but there gather them is generally a pretty good supply of them in Covent Garden market, brought, along with other vegetables, from the gardens adjacent to the Metropolis, where they are planted and cultivated like other garden stuff. They are, however, from this circumstance, very inferior from those Water Cresses are sold in small bunches, one penny each, or three bunches for twopence. The crier, of Water Cresses frequently travels seven or eight miles before the hour of breakfast to fresh; but there gather them is generally a pretty good supply of them in Covent Garden market, brought, along with other vegetables, from the gardens adjacent to the Metropolis, where they are planted and cultivated like other garden stuff. They are, however, from this circumstance, very inferior from those Bild für LA Bild für RA Wahrnehmung bei Nullstellungsprisma 2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. T G F C T F D Abb. 2.33 a, b Ogle-Test (a) und Mallett-Test (b) für die Messung der assoziierten horizontalen Heterophorie (Eso- bzw. Exophorie). Beim Mallett-Test werden die grünen Noniusstriche von hinten beleuchtet. Sie bestehen aus gekreuzt-polarisiertem Material, so dass durch eine Polarisationsbrille das linke Auge (LA) nur den unteren Noniusstrich sehen kann, das rechte Auge (RA) nur den oberen. Alles Übrige (O X O, Rahmenfeld und Text) wird von vorne beleuchtet und ist beidäugig sichtbar. Eine Fixationsdisparität äußert sich in einer Verschiebung der Noniusstriche gegeneinander und gegenüber dem X. Das Prisma, das die Verschiebung der Noniusstriche ausgleicht (Nullstellungsprisma), entspricht der assoziierten Heterophorie. Es gibt auch einen Test für die vertikale Phorie und eine Variante für Fernfixation. Der Ogle-Test hat eine ähnliche Anordnung. Er war für ein Projektionshaploskop konzipiert, bei dem man die Position des dem linken Auge gezeigten Noniusstrichs verschieben konnte (▶ Abb. 2.28). der Noniusstriche vorhandene Unähnlichkeit der Bilder beider Augen die Fusion, so dass die Augen einer Tendenz zum Ausbrechen in den Heterophoriewinkel um wenige Winkelminuten folgen können. Diese Tendenz zum Ausbrechen kann der Proband daran erkennen, dass die Noniusstriche nicht fluchten. Der Untersucher kann dann ein Prisma so lange verstärken, bis der Proband die Noniusstriche genau übereinander sieht. Mit dem so ermittelten „Nullstellungsprisma“ ist die Tendenz zum Ausbrechen in den Heterophoriewinkel beseitigt. Aus der Stärke des Nullstellungsprismas lässt sich die Größe der assoziierten Heterophorie ablesen. Das Untersuchungsergebnis hängt davon ab, wie der Patient eingewiesen wird. Die mit O X O angestrebte weitgehende Verriegelung der fovealen Fusion lässt sich nur erreichen, wenn der Patient kontinuierlich zum Fixieren des X angehalten wird. Dabei soll er die Position der Noniusstriche in seinem parazentralen Gesichtsfeld beurteilen (Testvariante A, s. 4, S. 77). Fragt der Untersucher dagegen nach der Wanderung der Noniusstriche, ist die Versuchung groß, dass der Patient seine Fixation auf die Noniusstriche richtet, so dass das Bild des O X O nach parafoveal verschoben wird. Damit geht die foveale Verriegelung der Fusion verloren (Testvariante B, s. 4, S. 89). Im Ergebnis werden mit Variante B größere Phoriewerte gemessen als mit Variante A. Bei Messung der dissoziierten Heterophorie ist der Fusionsregelkreis unwirksam, weil den beiden Augen keinerlei fusionierbare Konturen angeboten werden (z. B. beim Abdecken eines Auges). Auch bei der Messung der assoziierten Heterophorie ist der Fusionsregelkreis unwirksam. Der Grund ist, dass das Fehlersignal des Regelkreises, nämlich die am Ogle- oder Mallett-Test erkennbare Disparität der Netzhautbilder, durch Nachführen der Prismenstärke laufend zunichte gemacht wird. Dadurch kann der Fusionsregelkreis seine Aufgabe nicht erfüllen, für eine der Sehentfernung entsprechende Vergenzstellung zu sorgen. Da der Fusionsregelkreis sowohl bei Bestimmung der dissoziierten als auch der assoziierten Heterophorie unwirksam ist, stimmen die mit den beiden Methoden gewonnenen Werte weitgehend überein. Es gibt aber kleine Unterschiede, die auf unterschiedlich die Akkommodati- 209 Störungen des Binokularsehens Selbstgewähltes Prisma Untersuchungsgerät: Messbrille, Prismenleisten, normaler Sehraum mit vielen Details. Das Verfahren gestattet Messungen bei völligem Verzicht auf monokulare Marker unter natürlichen Sehbedingungen. Patienten mit Asthenopie können dabei die für sie angenehme Prismenstärke selbst wählen (18, 19). Für dieses „selbstgewählte Prisma“ sollte man das Sehobjekt aus dem Bereich wählen, in dem die Asthenopie des betreffenden Patienten besonders häufig und schwer auftritt, z. B. einen PC-Bildschirm. Man bietet Prismen unterschiedlicher Ablenkung und Basislage kurzzeitig (für ca. 2 Sekunden) an. Manuell geschickte Patienten kann man dazu anleiten, mit Hilfe einer Prismenleiste oder eines variablen Prismenkompensators die Prismenstärke, mit der sie am angenehmsten sehen, selbst auszusuchen. Die beim Blick auf ein voll fusionierbares Muster durch den Patienten selbst gewählte Prismenstärke ist insofern mit der dissoziierten und der assoziierten Heterophorie vergleichbar, als der Fusionsregelkreis bei allen 3 Bestimmungen unwirksam ist. Erklärt sei dies wie folgt: Wenn man den Patienten das für ihn angenehmste Prisma wählen lässt, ist die Vergenz nicht auf den zur Objektentfernung passenden Winkel festgelegt. Vielmehr kann die Vergenz wegen der fortlaufend nachgestellten Prismenstärke bis zum vollen Phoriewinkel ausweichen. Regeltechnisch lässt sich sagen: als Fehlersignal fungiert nicht die Disparität der Netzhautbilder, sondern ein unangenehmes Gefühl. Dieses unangenehme Gefühl wird durch den Regelvorgang so weit wie möglich beseitigt. Der Vorteil des selbstgewählten Prismas gegenüber der dissoziierten und der assoziierten Heterophorie besteht darin, dass Unterschiede der Bilder beider Augen keinen Einfluss auf die Vergenz ausüben können. Dennoch ist auch das selbstgewählte Prisma nur als erster Anhalt für eine Verschreibung anzusehen. Die MKH baut auf den Gedanken auf, die bereits bei der Messung der assoziierten Heterophorie geschildert wurden. Eine winzige Vergenzfehlstellung (im Rahmen der MKH nicht Fixationsdisparität, sondern „Fixationsdisparation“ genannt) gilt als Hinweis darauf, dass es der betreffenden Person schwerfällt, eine zunächst verborgene größere Vergenzfehlstellung durch Fusion vollständig zu überwinden. Es werden Prismen zunehmender Stärke vorgegeben, bis keine „Fixationsdisparation“ mehr feststellbar ist. In diesem Zustand soll dann keine verborgene Vergenzfehlstellung mehr vorhanden sein, so dass der Betreffende keine Mühe mehr aufwenden muss, um zu fusionieren. Die meisten MKH-Tests (▶ Abb. 2.34) folgen dem Prinzip des Ogle- bzw. Mallett-Tests: Auf einem binokularen Hintergrund ohne oder mit zentralem Fixierobjekt erscheinen monokulare Markierungen, deren Zuordnung der Proband beurteilen muss. Einem grundsätzlich anderen Prinzip folgt der Valenztest. Das Ergebnis der MKH bezeichnen deren Nutzer als „Winkelfehlsichtigkeit“, da sie davon ausgehen, dass das Netzhautbild im prismatisch unkorrigierten Zustand an falscher Stelle liege. Es befinde sich nicht vor der Netz- Kreuztest Zeigertest Doppelzeigertest Hakentest Stereotest Valenztest Merke Stets sollte man im Tragetest erproben, ob eine Besserung der Asthenopie nicht auch mit einem schwächeren Prisma erreicht werden kann. Bemerkungen zur Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase (MKH) und zur „Winkelfehlsichtigkeit“ Untersuchungsgerät: Messbrille mit Polarisationsvorsatz, Polatest-Sehprüfgerät. 210 Abb. 2.34 Für das Binokularsehen bestimmte Testtafeln des Polatest-Sehprüfgeräts, die auch für die Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase (MKH) benützt werden können. Beidäugig sichtbare Testteile schwarz, nur rechts- bzw. linksäugig sichtbare Testteile in der Abbildung grau, in Wirklichkeit schwarz. Für Kreuz-, Zeiger-, Doppelzeiger- und Hakentest entspricht die wiedergegebene Anordnung der Wahrnehmung beim „Nullstellungsprisma“. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. on anregenden Fixierobjekten oder auf Wettstreit beruhen können (18). 2.3 Heterophorie und Asthenopie Der Polatest mit seinen Varianten (Polatest Classic, Polatest N Classic, Polatest E) ist ein Sehprüfgerät der Firma Zeiss, das neben anderen Tests auch Tafeln enthält, die für die MKH benutzt werden können. Wenn diese Tafeln hier beschrieben werden, ist das nicht als Einführung in die MKH zu verstehen. Wer diese wünscht, sollte sich an das einschlägige Schrifttum halten, ggf. auch an entsprechenden Kursen teilnehmen13. Er sollte aber auch die Befunde zur Kenntnis nehmen, welche die MKH infrage stellen. Die Befunde können in folgenden Leitsätzen zusammengefasst werden: ● Die Messung der „Fixationsdisparation“ mit der MKH liefert keine repräsentativen Ergebnisse für die Augenstellung unter natürlichen Sehbedingungen (5, 6, 17). ● Die Testergebnisse sind teilweise durch binokularen Wettstreit zu erklären (12). ● Die Augenprävalenz ist etwas Physiologisches. Sie wird durch MKH-Prismen meist nicht verändert. Stereoasymmetrien bei gekreuzter und ungekreuzter Disparität im Valenztest sind klinisch bedeutungslos (7, 11). ● Nach MKH verordnete Prismen bessern nicht die Stereofunktion (9). ● Die MKH versagt bei kleinwinkligem Einwärtsschielen (10). Die für das Binokularsehen relevanten Felder des Polatest-Sehprüfgeräts sind Kreuz-, Zeiger-, Doppelzeiger-, Haken-, Stereo-Dreieck- und Valenztest (▶ Abb. 2.34). Alle Testfelder enthalten haploskopische Objekte aus Polarisationsfolie (z. B. Kreuzbalken). Beim Zeiger-, Doppelzeiger-, Haken-, Dreieck- und Valenztest finden sich zusätzlich monokular sichtbare Objekte innerhalb der Feldfläche. Jedes Feld wird einzeln angeboten. Die Felder werden von hinten durchleuchtet und erscheinen in einem weißlackierten Rahmen. Den MKH-Tafeln des Polatest nachempfundene Figuren finden sich auch in manchen Sehzeichenprojektoren. Die Projektion hat allerdings den Nachteil, dass man bei etwas reduzierter Umfeldhelligkeit arbeiten muss. Dadurch können sich bei derselben Person andere Messwerte ergeben als bei den MKH-Tafeln des Polatest. Die Untersuchung kann zwar am Phoropter durchgeführt werden, die Verwendung einer Messbrille ist allerdings vorzuziehen, weil diese dem Patienten mehr Bewegungsfreiheit lässt und eine bessere Beobachtung durch den Untersucher gestattet. Bei der Messung ist darauf zu ach- 13 Beides bei http://www.ivbv.org. ten, dass der Patient seinen Akkommodationserfolg so steuert, dass die Testvorlagen in optimalem Kontrast („schön schwarz“) erscheinen. Gelingt dies nicht, sollte die Refraktion überprüft werden. Der Kreuztest bietet Fusionsanreize nur in der Peripherie (Rahmen, Umfeld). Im Zentrum findet sich ein horizontaler Balken, der nur dem einen Auge sichtbar ist, und ein vertikaler Balken, den nur das andere Auge sehen kann. Zeiger-, Doppelzeiger- und Hakentest enthalten zusätzlich in ihrer Mitte einen Fusionsreiz in Form eines schwarzen Rings. 2 Der Kreuztest kann, ähnlich wie die von Ogle angegebene Figur (▶ Abb. 2.33 a), zur Bestimmung der assoziierten Heterophorie verwendet werden, indem man Prismen vorsetzt, bis der Proband die beiden Kreuzbalken in „Nullstellung“ sieht, d. h. bis sich die beiden Balken in ihrer Mitte schneiden. Auch Zeiger-, Doppelzeiger- und Hakentest können der Bestimmung der assoziierten Heterophorie dienen. Sie ähneln dem Mallett-Test (▶ Abb. 2.33 b), indem sie neben den als monokulare Marker fungierenden Zeigern und Skalen auch ein zentrales Fusionsobjekt bieten. Mit dem Zeigertest kann auch eine Zyklophorie erkannt werden, wenn die beiden Zeigerspitzen im Vergleich zu den Skalen nicht gleichsinnig nach rechts oder links versetzt erscheinen, sondern die eine Zeigerspitze z. B. nach rechts, die andere nach links. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. haut, wie bei der Myopie, sondern liege seitlich oder in der Höhe versetzt. Bei objektiven Messungen hat sich aber herausgestellt, dass man aus der Wahrnehmung der Testfiguren nicht darauf schließen kann, dass unter natürlichen Sehbedingungen eine Fehllage des Netzhautbildes vorhanden ist. Mit dem Stereo-Dreiecktest lässt sich grobes räumliches Sehen feststellen. Die Dreiecke können durch entsprechende Polarisation entweder vor oder hinter dem zentralen Punkt dargeboten werden. Feinere Stereopsis lässt sich mit einer weiteren Tafel des Polatest bestimmen. Der Valenztest bietet, ähnlich dem Stereo-Dreiecktest, eine räumliche Figur. Oberhalb und unterhalb eines zentralen Objekts (Punkt mit Skalenstrichen) befindet sich je ein Dreieck. Auch beim Valenztest können die Dreiecke räumlich vor oder hinter dem zentralen Objekt gezeigt werden. Der Valenztest ermöglicht es, den Beitrag, den die beiden Augen zum Sehen leisten, abgestuft miteinander zu vergleichen. Trägt z. B. das rechte Auge etwas mehr als das linke Auge bei (Prävalenz des rechten Auges), so erscheinen die Dreiecke (wenn sie „vorne“ gezeigt werden) etwas nach links versetzt, nicht ganz so weit, wie wenn das rechte Auge allein sehen würde. Tragen beide Augen gleich viel zum Sehen bei (Äquivalenz), erscheinen die Dreiecke genau in der Mitte über und unter dem zentralen Sehobjekt. Die Begriffe „Prävalenz“ und „Äquivalenz“ sind vom Lateinischen „valere“ = „wert sein“ abgeleitet. Sie wurden bereits 1958 von R. Sachsenweger geprägt. Viele Personen gewichten ihre Augen beim Valenztest etwas unterschiedlich, selbst wenn die beiden Augen bei einzelnem Gebrauch gleich gut sind. Die im Valenztest feststellbare ungleiche Gewichtung der Augen bezieht 211 sich nur auf stark in der Tiefe gestaffelte Objekte. Wenn man den Valenztest in der Ferne anbietet, liegt das vordere Objekt zum Beispiel in 3,8 m, das hintere in 5 m Entfernung. Bei Objekten, die unter einer so großen Stereodisparität gesehen werden, ist eine unterschiedliche Gewichtung der Augen nicht nachteilig. In manchen Situationen ist die Prävalenz sogar vorteilhaft, z. B. wenn man eine Münze in den Schlitz eines Automaten stecken will, ohne nach rechts oder links abzuweichen. Beim Peilen ist eine Prävalenz so zweckmäßig, dass man sie durch Zukneifen eines Auges erzwingt. Man schaut nur mit einem Auge, um in der Tiefe versetzte Objekte in eine Reihe zu bringen. Im Rahmen der MKH wird bei Prävalenz die geringere Gewichtung eines Auges als Hinweis darauf gedeutet, dass das Fixierobjekt in diesem Auge wegen einer „Fixationsdisparation“ parazentral abgebildet werde. Eine dementsprechende Vergenzfehlstellung hat sich jedoch bei objektiver Messung nicht bestätigt (6). Deswegen taugt eine Prävalenz auch nicht als Hinweis darauf, dass es der entsprechenden Person schwerfalle, eine latente Vergenzfehlstellung durch Fusion zu überwinden und dass deshalb korrigierende Prismen zu empfehlen seien. Im Rahmen der MKH wird ferner angenommen, dass die Stereosehschärfe bei Prävalenz herabgesetzt sei, und zwar wegen der in einem Auge vermuteten parazentralen Abbildung. Auch dies hat sich nicht bestätigt. Vielmehr kann die Stereosehschärfe auch bei Prävalenz sehr gut sein (9). Merke Zusammenfassend kann gesagt werden: Die MKH wurde in dem Bestreben entwickelt, Korrektionsprismen unter möglichst natürlichen Sehbedingungen zu bestimmen. Mit der Methode sollte insbesondere die völlige Unterschiedlichkeit der Bilder beider Augen vermieden werden, wie sie zur Messung der dissoziierten Heterophorie unumgänglich ist. In dieser Hinsicht schien eine Prismenkorrektion auf Grund der Wahrnehmung des Valenztests eine gute Idee zu sein, denn im Valenztest finden sich keine monokularen Reize, wie die Noniusstriche bei den Ogle- und Mallett-Tests. Allerdings hat sich die Vermutung nicht bewahrheitet, Prävalenz sei ein Hinweis auf eine latente Vergenzfehlstellung, die mit Prismen korrigiert werden sollte. Tragetest und Verordnung Untersuchungsgerät: Messbrille, Prismengläser. Beim Tragetest konzentriert man sich auf Sehaufgaben, bei denen die stärksten Beschwerden geklagt werden. Die mit den beschriebenen Verfahren bestimmten Prismenwerte werden in eine Refraktionsbrille übernom- 212 men, die auch sphärische und zylindrische Werte korrigiert. Die Prismen werden auf beide Augen verteilt. Bei horizontalem und vertikalem Prismenbedarf kann man auch mit einer schrägen Basislage arbeiten. Je nach Beschwerdekonstellation schaut der Patient mit der Probebrille in die Ferne, geht im Raum umher, liest oder macht Bildschirmarbeit. In der Regel kann sich der Patient innerhalb von 5 – 10 Minuten ein Bild davon machen, ob die Probebrille angenehm ist oder nicht. Ist die Probebrille angenehm, kann man die entsprechenden Werte verordnen. Ist das nicht der Fall, werden die horizontale und/oder die vertikale Prismenwirkung mit der Prismenleiste abgeschwächt oder verstärkt, wobei man die Alternativen für jeweils ca. 2 Sekunden anbietet. Bevorzugt der Patient andere Prismen, wird der Tragetest mit geänderten Prismen wie beschrieben wiederholt. Mehr als 3 Versuche dieser Art in Folge sind selten sinnvoll. Besser sind neue Trageversuche an einem anderen Tag. Findet man auch dann keine befriedigende Lösung, kann eine diagnostische Okklusion die Analyse weiterbringen. Danach wird vor einer Prismenverordnung der Tragetest wiederholt. Fresnel-Prismen sind für diese Trageversuche nur begrenzt brauchbar, weil sie eine Vernebelung verursachen, die den heterophoren Patienten die Beurteilung der Prismenwirkung erschwert. Empfehlenswert sind sie jedoch, wenn sich während des Tragetests eine deutliche Winkelvergrößerung anbahnt (14). In diesem Fall wäre mit einer alsbaldigen Änderung der Prismenbrille zu rechnen. Die Verwendung von Fresnel-Prismen bietet dazu eine kostengünstigere Alternative. Folienprismen sollten für das Brillenglas des nichtdominanten Auges verordnet werden. Merke Nach erfolgreichem Abschluss des Tragetests werden die schwächsten Prismenwirkungen verordnet, mit denen der Patient Beschwerdefreiheit erreicht. Die Prismenwirkung wird dabei auf beide Augengläser gleichmäßig verteilt, wenn keine Anisometropie vorliegt. Anderenfalls sind Glasstärke bzw. Glasgewicht bei der Prismenverteilung zu berücksichtigen. Sind horizontale und vertikale Wirkung gleichzeitig zu verordnen, wählt man für beide Augen ein Prisma mit schräger Basislage. Prismenwirkung und Achse können in diesem Fall grafisch im Nomogramm (▶ Abb. 2.35) oder mit einem Taschenrechner bestimmt werden. Umrechnung mit dem Taschenrechner: Die Umrechnung der horizontalen (a) und der vertikalen Prismenkomponente (b) in das resultierende Prisma (c) folgt dem Satz des Pythagoras: pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi c ¼ a2 þ b2 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen des Binokularsehens 2.3 Heterophorie und Asthenopie 280 16 24 0 14 12 230 10 8 210 220 6 18 16 14 12 10 8 6 4 2 19 10 12 14 16 18 2 190 6 180 8 10 12 16 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 0 16 14 15 0 18 90 120 130 140 25 9 8 17 15 60 5° 2 1 20 7 6 13 50 5 15 4 5 2 3 1 2 4 11 40 10° 5 10 2 30 10 15° 5 T OG 33 0 4 20° 12 N 320 20 25° 310 18 10 15 300 290 0 Prismen (cm/m) Basis oben 270 0 35 20 30° 10 N OD 0 25 35° 15 T 0 26 el nk wi 40° 20 25 0 34 45° R 200 50° 30 0 17 pr ism at 60° isc he 55° r 30 ns io at ot 25 65° 25 110 70° 20 100 75° 15 80 30 10 70 12 5 85° 80° 2 1 30 Prismen (cm/m) Basis außen Abb. 2.35 Nomogramm zur Umrechnung horizontaler und vertikaler Prismenwirkungen in Prismen mit schräger Basislage und umgekehrt. Beispiel: Erforderlich sind vor dem linken Auge 9 cm/m Basis außen und 4 cm/m Basis oben. Das resultierende Prisma hat eine Wirkung von 9 cm/m bei einer Basislage von 23° (Konturlinie). Verordnen könnte man beispielsweise 5 cm/m Basis 23° links, 4 cm Basis 203° rechts. Für Prismen anderer Basislage wäre das Nomogramm entsprechend zu spiegeln bzw. zu erweitern (Bildeinsatz). Dabei sind die Werte von a und b als Absolutbeträge (ohne Beachtung der Basislage) einzusetzen. Die Basislage α des resultierenden Prismas kann berechnet werden nach: α = arctan (b/a) Damit die Ergebnisse in das TABO-Schema passen, müssen für das rechte Auge Prismen Basis innen als +a, Prismen Basis außen als –a, Prismen Basis oben als +b und Prismen Basis unten als –b eingesetzt werden. Für das linke Auge tauschen Prismen Basis außen und innen das Vorzeichen. Durch die Verrechnung horizontaler und vertikaler Prismenwirkungen zu einer Gesamtwirkung mit schräger Basis wird die in der Korrektion erforderliche Prismenwirkung reduziert. Auch bei der Verordnung schräger Prismen ist die Verteilung horizontaler und vertikaler Wirkungen auf beide Augen aus Gewichtsgründen vorzuziehen. Orthoptische Übungen Leider ist die Wirksamkeit orthoptischer Übungen kaum durch Studien belegt, die den Anforderungen evidenzbasierter Medizin genügen. Zweifel gründen sich darauf, dass Personen mit Heterophorie ohnehin im täglichen Leben „üben“, indem sie ein Abgleiten der Augen in eine Schielstellung vermeiden. Nur bezüglich der Exophorie mit Konvergenzinsuffizienz gibt es prospektive Studien mit Vergleichsgruppe, die für den Wert zusätzlichen orthoptischen Übens sprechen (20). Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine reine Heterophorie, da eine manifeste Vergenzfehlstellung auftritt, sobald der Konvergenznahpunkt überschritten wird. Nach der aktuellen Studienlage (20) sind orthoptische Übungen nur bei Exophorie mit reiner Konvergenzinsuffizienz gerechtfertigt, d. h. bei gutem Akkommodationsvermögen (mindestens 5 D). Ältere Empfehlungen zur Übungsbehandlung der Konvergenzinsuffizienz (15, S. 543) beruhen auf retrospektiven Studien, meist ohne Vergleichsgruppe und ohne strikte Unterscheidung zwischen der reinen Konvergenzinsuffizienz (niedriger AC/A-Quotient) und der Naheinstellungsinsuffizienz (Insuffizienz der Nahkonvergenz und der Nahakkommodation). In diesen Studien wurde beschrieben, dass sich geübte Funktionen gebessert hätten, wie z. B. die Fusionsbreite. Ob diese durchaus glaubhaften Besserungen sich auf das Sehen im Alltag auswirken, 213 Störungen des Binokularsehens Die Übungsmöglichkeiten sind vielfältig (20, 4, S. 138). Sie können hier nicht im Detail beschrieben werden. Wir konzentrieren uns auf Hinweise zu Übungen im freien Raum. Solche Übungen sind gegenüber einer Geräteschulung (Stereoskop, Synoptophor) zu bevorzugen, weil sie unter weitgehend natürlichen Sehbedingungen ablaufen und auch zu Hause durchgeführt werden können. Bei den Übungen ist zu überprüfen, ob ein Auge während der Übungen abweicht. Zu Hause kann das ein Angehöriger übernehmen, der von einer Fachkraft entsprechend eingewiesen wurde. Es hat sich allerdings gezeigt, dass eine in der Praxis kontrollierte intensive Übungsbehandlung in Kombination mit häuslichen Übungen mehr bringt als häusliche Übungen allein (20). In jedem Fall soll der Patient für die Übungen zu Hause gut eingewiesen und regelmäßig in der Praxis kontrolliert werden. Die Übungsbehandlung (4, S. 138, 15, S. 543) einer Heterophorie mit Dekompensationsbeschwerden zielt auf eine Verbesserung der Konvergenz- und Divergenzbreite (▶ Abb. 2.36). Der Patient soll dabei ein Gefühl für seine Augenstellung bekommen und lernen, eine auftretende Fehlstellung fusional zu überwinden. Besonders bei einer Exophorie mit Konvergenzinsuffizienz ist dies in der Regel nach wenigen Behandlungssitzungen möglich. Alle Übungen werden mit der optimalen optischen Korrektion durchgeführt. Die Sehobjekte sollen kontrastund strukturreich sein. ▶ Fusionsbreite im freien Raum. Man beginnt in der Sehentfernung, in der Kompensation möglich ist. Bei Exophorie versucht man, die konvergente, bei Esophorie die divergente Fusionsbreite zu verbessern. Dazu setzt man Prismen zunehmender Ablenkung vor (Prismenleiste, Basis außen bei Exophorie, Basis innen bei Esophorie), bis Unschärfe oder Doppelbilder angegeben werden. Dann vermindert man die Prismenwirkung so weit, dass Unschärfe und Doppelbilder verschwinden. Danach wird die Prismenwirkung wieder verstärkt, bis erneut Unschärfe oder Doppelbilder auftreten. Diese Prozedur sollte 10-mal wiederholt werden, möglichst 2-mal täglich. Merke Wenn ein Patient unter Prismenbelastung weder Unschärfe noch Diplopie wahrnimmt, wenn er also das gesamte Bild eines Auges supprimiert, handelt es sich meistens nicht um eine dekompensierende Hetero- 214 phorie, sondern um einen intermittierenden oder ständigen Strabismus, der allenfalls operativ zu behandeln ist. Orthoptische Übungen, die auf eine Beseitigung der Suppression zielen, können in diesen Fällen zu äußerst störendem Doppeltsehen im täglichen Leben führen. Bei Patienten, die zu normalem Binokularsehen nicht fähig sind, ist die Suppression ein Schutzmechanismus gegen Diplopie, der nicht durchbrochen werden darf. In einem nächsten Schritt sollen die Übungen in der Sehentfernung durchgeführt werden, in der die Beschwerden hauptsächlich auftreten. ▶ Sprungfusion. Haben die Übungen mit Prismenleiste Erfolg, kann man zu Sprungfusionsübungen übergehen. Dabei setzt man dem Patienten das stärkste Prisma vor, das er bei den Übungen mit der Prismenleiste ohne Unschärfe und Diplopie toleriert hat (bei Exophorie Basis außen, bei Esophorie Basis innen). Das plötzliche Vorsetzen dieses Prismas induziert in der Regel Doppelbilder, die fusioniert werden müssen. Nach der Fusion belässt man das Prisma für 5 Sekunden, dann entfernt man es. Wieder werden Doppelbilder auftreten, die fusioniert werden müssen. Etwa 5 Sekunden nach Fusion hält man das Prisma erneut vor. Der Zyklus wird 10-mal wiederholt, möglichst 2-mal täglich. ▶ Konvergenzübungen. Bei Exophorie mit Konvergenzinsuffizienz werden als weitere Maßnahme Konvergenzübungen empfohlen. Dazu wird einem Holzspatel ein kleines Fixierobjekt aufgeklebt. Der Patient hält den Spatel auf Armlänge, betrachtet das Fixierobjekt und nähert ihn dann langsam seinen Augen (Zielrichtung Nasenwurzel), bis das Fixierobjekt kleiner erscheint, unscharf oder doppelt wahrgenommen wird. Ist das eine oder andere der Fall, wird das Fixierobjekt von den Augen gerade so weit entfernt, bis es wieder scharf, einfach und normal groß erscheint. Diese Position wird für 3 – 5 Sekunden gehalten. Danach wird der Spatel auf Armlänge zurückgeführt. Etwa 10 derartige Zyklen sind zu empfehlen, möglichst 2-mal am Tag. Hilfreich als Konvergenzübung ist auch eine zwischen Nasenwurzel und ausgestrecktem Arm gehaltene Schnur, auf welcher im Abstand von einigen Zentimetern Kugeln aufgefädelt sind. Der Patient fixiert zunächst die entfernteste Kugel und springt dann schrittweise auf die jeweils nähere Kugel. Danach divergiert er wieder bis zur entferntesten Kugel. ▶ Freiäugiges Fusionieren. Eine gute, aber anspruchsvolle Übung ist das freiäugige Fusionieren zweier Bilder, die nebeneinander auf eine Karte gedruckt sind. Die beiden Bilder unterscheiden sich nur durch Kontrollobjekte. Zum Beispiel zeigt das eine Bild eine Katze mit Schwanz, aber ohne Ohren, das andere eine Katze mit zwei Ohren, aber ohne Schwanz. Um fusionale Konvergenz zu üben, Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. bleibt meist fragwürdig. Ganz ungeeignet sind retrospektive Studien ohne Vergleichsgruppe, wenn geprüft werden soll, ob orthoptische Übungen zu einer Besserung asthenopischer Beschwerden führen. Immer muss bei der Planung berücksichtigt werden, dass sich Beschwerden spontan oder durch die freundliche Zuwendung des Therapeuten bessern können. Selbst kürzlich publizierte Studien sind entsprechend kritisch zu werten (z. B. 1). 2.3 Heterophorie und Asthenopie 10-Punkte-Programm zur Asthenopieund Pathophoriebetreuung Nachstehend sind die Schritte von der Anamnese bis zur Brillenverordnung in einem 10-Punkte-Programm zusammengefasst: 1. Anamnese (Beschwerden; Problembereich, in dem Beschwerden auftreten; Augenerkrankungen; andere Leiden). 2. Organbefund (Pupille, Vorderabschnitt, Hornhautsensibilität, Tränenfilm, Augenhintergrund). 3. Auf- und Abdecktest bei Fernfixation in den diagnostischen Blickrichtungen (Ausschluss von manifestem Begleitschielen und von Lähmungsschielen) und bei Nahfixation. 4. Alternierender Prismenabdecktest und Zyklophorietest bei Fern- und Nahfixation in Hauptblickrichtung. 5. Objektive Refraktion (Skiaskopie) ohne, bei Eso-Abweichung oder Akkommodationsproblemen auch mit Zykloplegie. 6. Subjektiver monokularer und binokularer Abgleich für Ferne und Nähe; Vergleich der monokularen und der binokularen Sehschärfe. 7. Trageversuch mit Brille ohne Prismen im „Problembereich“. Bei Akzeptanz verordnet man die Brille, anderenfalls weiter mit 8. 8. Frage der orthoptischen Übungsbehandlung prüfen. Wenn dies nicht sinnvoll oder möglich ist, weiter mit 9. 9. Im Problembereich mit sphärischer und zylindrischer Korrektion Probeprismen ermitteln. 10. Tragetest mit Prismen, werden sie akzeptiert: Brillenverordnung. 2.3.8 Selten eingesetzte Verfahren (Messung der Fusionsbreite, Regeln von Sheard und Percival) Merke Als Maß für die motorische Fusion dient die Fusionsbreite. Als relative Fusionsbreite bezeichnet man die Summe der Beträge zweier entgegengesetzter, maximal möglicher Vergenzstellungen (auch relative Ver- genzbreite oder relative Vergenzreserve genannt), die bei angemessener Akkommodation noch binokulares Einfachsehen gestatten. Bei Heterophorien ist stabiles Binokularsehen nur möglich, wenn die Abweichung von der Orthostellung durch die gegensinnige relative Vergenzbreite – also ohne Beteiligung der akkommodativen Vergenz – kompensiert wird. 2 Zu unterscheiden sind die horizontale, die vertikale und die Zyklofusionsbreite. Die horizontale Fusionsbreite setzt sich aus Konvergenz- und Divergenzbreite bzw. Konvergenz- und Divergenzreserve zusammen. Die vertikale Fusionsbreite umfasst entsprechend positive und negative Vertikalvergenzbreite bzw. -reserve, die Zyklofusionsbreite In- und Exzyklovergenzbreite bzw. –reserve (▶ Abb. 2.36; DIN 5340:1998-04). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. soll der Patient das linke Bild mit seinem rechten Auge und das rechte Bild mit seinem linken Auge ansehen und beide verschmelzen. Macht er das richtig, sieht er die Katze 3-mal, in der Mitte das binokular fusionierte Bild und je rechts und links davon ein monokulares. Um dem Patienten diese Übung beizubringen, empfiehlt es sich, ihn zunächst auf eine Bleistiftspitze konvergieren zu lassen, die er sich in etwa halber Entfernung vor die Karte hält. Messung der Fusionsbreite Merke Prismen Basis außen zwingen zu fusionaler Konvergenz und – ab einer gewissen Ablenkung – auch zu mehr Akkommodationsaufwand (Nebelpunkt innerhalb der Konvergenzbreite). Prismen Basis innen nötigen zu fusionaler Divergenz und – ab einer gewissen Ablenkung – zu einer Minderung des Akkommodationsaufwands (Nebelpunkt innerhalb der Divergenzbreite). In der Praxis kann man die Lage der Nebelpunkte innerhalb der horizontalen Fusion und damit die entsprechenden Vergenzbreiten wie folgt ermitteln: Der Patient wird zunächst am Phoropter optimal mit binokularem Abgleich korrigiert. Ist dies geschehen, werden nicht zu kleine, gut sichtbare Optotypen angeboten. Die Augen des Patienten sind in Orthostellung. Mit Prismenkompensatoren vor beiden Augen werden symmetrisch langsam zunehmende Prismenwirkungen Basis außen erzeugt und damit zunehmende Konvergenz, bis der Patient Unschärfe angibt. (Zusammen mit der einsetzenden Akkommodation rechnet das Gehirn das Sehobjekt kleiner, da es fälschlich davon ausgeht, das Sehobjekt habe sich angenähert.) Damit ist der Nebelpunkt der Konvergenzfusion eingestellt. Die Summe der jetzt an den beiden Prismenkompensatoren abzulesenden Ablenkungen entspricht der relativen Konvergenzbreite (Orthostellung bis Nebelpunkt). Entsprechend kann man den Nebelpunkt innerhalb der Divergenzfusion und damit die relative Divergenzbreite mit Prismen Basis innen ermitteln (▶ Abb. 2.36). Wird die Prismenwirkung Basis außen oder Basis innen über den Nebelpunkt hinaus verstärkt, tritt Diplopie ein (Abreißpunkt). Vermindert man nun die Prismenwirkung langsam, kommt es bei Ablenkungen, die unterhalb 215 Störungen des Binokularsehens des Abreißpunkts liegen, wieder zur Fusion (Wiedervereinigungspunkt). Der Abstand zwischen Nebelpunkt und Abreißpunkt ist im Divergenzbereich durchweg erheblich kleiner als im Konvergenzbereich. Im Divergenzbereich ist deshalb – besonders für die Ferne – oft nur der Abreißpunkt nachweisbar (▶ Abb. 2.36). treten. Ob die fusionalen Vergenzen für die Kompensation der Fehlstellung ausreichen, kann man nach den Regeln von Sheard und Percival abschätzen. Regeln von Sheard und Percival Exklusion kann bei der Messung der Fusionsbreite nur erkannt werden, wenn die beiden monokularen Bilder durch entsprechende Kontrollobjekte markiert werden (z. B. mit dem Lichtschweiftest nach Bagolini, s. Kap. 3.2.). Ohne solche Kontrollen ist die soeben beschriebene Methode deshalb nur für Ortho-, Normo- und Heterophore geeignet, die Diplopie wahrnehmen und nicht exkludieren. Korrektionsprisma = ⅔ × horizontale Heterophorie – ⅓ × gegensinnige relative Vergenzbreite Die horizontale Heterophorie wird dabei mit dem alternierenden Prismenabdecktest oder an der Tangentenskala gemessen, die relative Vergenzbreite wie oben beschrieben. Merke Merke An die Möglichkeit der Exklusion muss man denken, wenn bei der beschriebenen Untersuchung trotz zunehmenden Prismenvorsatzes vom Patienten nie Unschärfe oder Diplopie angegeben wird. Eine Prismentherapie ist nach Sheard notwendig, wenn der Wert des Korrektionsprismas ein positives Vorzeichen hat. Die Basislage des Korrektionsprismas entspricht der Richtung der Heterophorie. Für die Bestimmung der Nebel-, Abreiß- und Wiedervereinigungspunkte sind kontinuierlich wirkende Prismenkompensatoren (Drehprismen nach Herschel) günstiger als die abgestuften Prismenleisten. Es ist zweckmäßig, jede Messung zu wiederholen, weil die Prismenvergenz übungsabhängig ist und sich ihr voller Wert oft erst nach mehrmaliger Bestimmung zeigt. Alle genannten Größen sollten, ebenso wie die Heterophorie, vorrangig in der Entfernung gemessen werden, in der Beschwerden auf- Fallbeispiel Zwei Beispiele für die Regel nach Sheard: 1. Exophorie 6 cm/m, relative Konvergenzbreite 18 cm/m, Korrektionsprisma = ⅔ × 6 – ⅓ × 18 = 4 – 6 = – 2 Damit ausreichende relative Konvergenzbreite, kein Prisma erforderlich. AP AP FB WP WP NP NP RD 20 cm/m Bi 10 RK 0 10 20 30 40 cm/m Ba Abb. 2.36 Horizontale Fusionsbreite. Bei Vorsatz von Prismen steigender Ablenkung Basis außen tritt in der Regel zunächst Bildunschärfe ein (Nebelpunkt – NP), weil die Versuchsperson nach Ausschöpfen der fusionalen Konvergenz Akkommodation und akkommodative Konvergenz einsetzt. Erst bei weiterer Verstärkung der Prismen kommt es zu Diplopie (Abreißpunkt – AP). Die Prismenbelastung muss deutlich reduziert werden, bevor der Patient wieder fusionieren kann (Wiedervereinigungspunkt – WP). Bei Prismenbelastung Basis innen lassen sich Nebel- und Abreißpunkt selten abgrenzen. Der von Diplopie freie Bereich zwischen den Abreißpunkten wird als Fusionsbreite (FB) bezeichnet. Die Fusionsbreite schließt den von Unschärfe freien Bereich zwischen den Nebelpunkten ein. Dieser Bereich setzt sich zusammen aus der fusionalen Konvergenz (relative Konvergenzbreite – RK) und der fusionalen Divergenz (relative Divergenzbreite – RD). 216 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Nach Sheard ist komfortables Binokularsehen bei horizontaler Heterophorie nur möglich, wenn dabei nicht mehr als ein Drittel der gegensinnigen relativen Vergenzbreite andauernd belastet wird. Ob diese Bedingung bei einem Heterophoren erfüllt ist, lässt sich nach der Regel von Sheard rechnerisch mit der folgenden Formel prüfen: Bei der Messung der positiven und negativen Vertikalvergenzbreiten findet sich ebenfalls nur ein Abreißpunkt. Die Fusionsbreite in der Vertikalen ist erheblich kleiner. Sie umfasst nur wenige Winkelgrade. 2.3 Heterophorie und Asthenopie Eine andere Möglichkeit zur Beurteilung der relativen Vergenzbreite bietet die Regel nach Percival: Korrektionsprisma = ⅓ größere relative Vergenzbreite – ⅔ kleinere relative Vergenzbreite Wieder spricht ein positives Vorzeichen für einen therapie- oder korrektionswürdigen Befund, wobei die Basislage eines möglichen Korrektionsprismas von der Richtung der größeren Vergenzreserve bestimmt wird. Fallbeispiel Beispiel 2 (siehe oben) mit der Regel nach Percival: Relative Konvergenzbreite 12 cm/m, relative Divergenzbreite 3 cm/m, Korrektionsprisma = ⅓ × 12 – ⅔ × 3 = 4 – 2 = 2 Relative Konvergenzbreite ist damit zu klein, Versuch: Korrektionsprisma 2 cm/m Basis außen. Die angegebenen Formeln und Beispiele zeigen, dass die horizontale Heterophorie mit den Prismen nach Sheard und Percival nur teilweise ausgeglichen wird. Bei Pathophorie wird die Anforderung an die fusionale Vergenz durch die Prismen entlastet. Wegen der geringen vertikalen Fusionsreserven sind diese Regeln für vertikale Heterophorien unbrauchbar. Man wird bei Vertikalphorien Prismen wählen, die den latenten Stellungsfehler weitgehend ausgleichen. 2.3.9 Differenzialdiagnose und Therapie der Heterophorieformen Esophorie Differenzialdiagnose Von der Esophorie ist der Mikrostrabismus mit esophorem Anteil zu unterscheiden. Bei Konvergenzexzess kann eine Akkommodationsinsuffizienz vorliegen (hypoakkommodative Form). Leichte neurogene Abduzensparesen und Abduzenspseudoparesen bei endokriner Orbitopathie können eine Esophorie vom Divergenzinsuffizienztyp vortäuschen. Therapie Akkommodative Esophorien mit oder ohne Konvergenzexzess werden mit einer Brille behandelt. Dabei wird die Hyperopie so weit wie möglich auskorrigiert. Kindern im Vorschulalter werden die in Zykloplegie gemessenen Werte unter Abzug von 0,5 D sph verordnet, weil die Brille dann leichter angenommen wird. Bei älteren Kindern und Erwachsenen wird man das Ergebnis einer subjektiven Refraktionsbestimmung zugrundelegen, wobei sich die verordneten Gläser so weit wie verträglich der zykloplegischen Refraktion nähern sollten. 2 Bleibt nach Ausgleich der Hyperopie ein Konvergenzexzess bestehen, müssen Bifokalgläser verordnet werden. Kindern und Jugendlichen mit normaler Akkommodation sollte man nur Bifokalgläser mit hoch eingesetzter horizontaler Nahteilgrenze verordnen (Nahteilgrenze in Pupillenmitte oder 1 mm darunter), weil eine tiefer eingeschliffene Nahaddition oft nicht hinreichend genutzt wird. Demgegenüber nutzen hypoakkommodative Patienten auch einen tiefer eingesetzten Nahzusatz. Hypoakkommodative Konvergenzexzesse können nur mit Bifokalgläsern, Gleitsichtgläsern oder diffraktiven Kontaktlinsen behandelt werden, während normakkommodative Konvergenzexzesse operiert werden können. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 2. Esophorie 6 cm/m, relative Divergenzbreite 3 cm/m, Korrektionsprisma = ⅔ × 6 – ⅓ × 3 = 3 Relative Divergenzbreite ist nicht ausreichend, Versuch: Korrektionsprimsa 3 cm/m Basis außen. Im Allgemeinen sind Esophorien nicht therapiebedürftig. Sie werden gut kompensiert und verursachen keine Asthenopie. Orthoptische Übungen sind bei Esophorie weniger erfolgversprechend als bei Exophorie (1). Deshalb wird man nur üben lassen, wenn eine akkommodative Komponente nicht durch Gläser abgefangen werden kann und bei bestehender Asthenopie sowohl Prismentherapie als auch Operation abgelehnt werden. Esophorien bis zu 12 cm/m können mit einer Prismenbrille behandelt werden, die für den Entfernungsbereich verordnet werden muss, in dem die Beschwerden auftreten. Dass die Esophorie unter Prismenbehandlung bis zu operationsbedürftigen Werten zunehmen kann, ist bekannt (Fallbeispiel 6) und hinnehmbar, wenn die Indikationsstellung stimmt. Fallbeispiel Dekompensierende „Esophorie“ 47-jähriger Mann: Im Alter von 17 Jahren erstmalig ungekreuzte Diplopie, keine Kopfschmerzen; ab dem 22. Lebensjahr Prismenkorrektionen zunehmender Stärke. Bei Erstvorstellung R/L jeweils 12 cm/m Basis außen. Nach Prismenadaptation Zunahme des Prismenbedarfs auf R/L jeweils 20 cm/m Basis außen. Danach Operation: ● RA M. rectus medialis Rücklagerung 6 mm ● RA M. rectus lateralis Faltung 6 mm 217 Störungen des Binokularsehens Bei Esophorien über 12 cm/m und bei Versagen der Prismenbehandlung ist eine operative Therapie angezeigt. Eine präoperative Prismentherapie („Prismenaufbau“ bis zur Winkelkonstanz) ist empfehlenswert. Esophorien können durch „Überkompensation“ einer Exophorie vorgetäuscht werden (Fallbeispiel 1) oder sich hinter einer „Akkommodationsparese“ verbergen (Fallbeispiel 2). Ausnahmsweise kann eine konvergente Mikrotropie mit einer divergenten „Ruhelage“ vorkommen (Fallbeispiel 7). Fallbeispiel Konvergente Mikrotropie mit divergenter „Ruhelage“ 46-jährige Patientin: Schon als Kind geschielt, Hyperopie und Astigmatismus. Zunehmende asthenopische Beschwerden mit zunehmender Hyperopiekorrektion. Refraktion: ● RA +7,5 D sph – 1,0 D zyl Achse 77° ● LA +7,5 D sph – 0,5 D zyl Achse 108° Additionsbedarf: R/L +2,0 D sph Einseitiger Prismenabdecktest Ferne 4 cm/m Basis außen, Nähe 4 cm/m Basis außen Alternierender Prismenabdecktest Ferne 8 cm/m Basis außen, Nähe 10 cm/m Basis außen. Tragetest: Prismen Basis außen nicht vertragen, aber mit R/L je 3 cm/m Basis innen (!) gut. 3 Jahre später erneut Asthenopie. Refraktion: ● RA +7,5 D sph – 1,25 D zyl Achse 79° ● LA +7,5 D sph – 0,5 D zyl Achse 110° Additionsbedarf RA +3,0 D sph, LA +2,5 D sph Alternierender Prismenabdecktest Ferne 6 cm/m Basis außen, Nähe 8 cm/m Basis außen. Tragetest: mit R/L je 2 cm/m Basis innen (!) gut. In diesem Fall führte die mit dem alternierenden Abdecktest ermittelte dissoziierte Heterophorie in die Irre. Ihre Vergenzruhelage erreichte die Patientin mit einem selbstgewählten Prisma (Seite 209). 218 Exophorie Differenzialdiagnose Beim Konvergenzexzesstyp muss man nach Störungen der Akkommodation fahnden (hypoakkommodativer Konvergenzexzess), beim Konvergenzinsuffizienztyp an ungenügend korrigierte Presbyopie (Bildunschärfe behindert fusionale Konvergenz) und an psychogene Störungen denken. Die intermittierende Exotropie sollte nicht mit einer dekompensierten Exophorie verwechselt werden. Die Differenzierung ist möglich, weil bei der dekompensierten Exophorie in der Abweichphase Diplopie auftritt, während Patienten mit intermittierender Exotropie exkludieren oder Panoramasehen angeben. Die subjektive Lokalisation im objektiven Winkel (z. B. nach Prismenausgleich) ist bei dekompensierter Exophorie normal, bei intermittierender Exotropie oft zunächst anomal, so dass es nach Prismenausgleich zur Diplopie kommt. Bei längerem Prismentragen und nach einer Schieloperation normalisiert sich die Lokalisation meist. Manche Patienten benutzen zur Kompensation ihrer Fernexophorie neben der fusionalen auch die akkommodative Vergenz und sehen – bei meist erheblicher Asthenopie – in Folge der Akkommodation in der Ferne binokular unscharf (Pseudomyopie). Wegen solcher Konstellationen ist es wichtig, die Sehschärfe nicht nur monokular, sondern auch binokular zu prüfen. Beschwerden und binokulare Sehschärfe bessern sich bei diesen Patienten oft deutlich, wenn man ihnen ein schwaches Prisma (4 cm/m) Basis innen vor ein Auge hält (14). Andere Patienten brauchen stärkere Prismen (Fallbeispiel 8). Fallbeispiel Exophorie mit Kompensation über die akkommodative Konvergenz (Fallbeschreibung von H. Mühlendyck) 16-jähriges Mädchen: Seit 2 Jahren Myopie bekannt mit späterer Zunahme auf R/L – 1,75 D sph. Erstvorstellung: „Wackeln der Bilder beim Aufsehen vom Buch an die Tafel“, „bewegte Gegenstände sind ganz unscharf“. Objektive Refraktion (Miosis) Augenarzt: ● RA – 7,75 D sph ● LA – 10,0 D sph Objektive Refraktion (Zykloplegie): ● RA – 1,25 D sph ● LA – 0,75 D sph – 0,25 D zyl A 165° Fernvisus mit diesen Werten in Miosis 0,3. Schober-Test/Polatest-Sehprüfgerät: Unscharfsehen, Esodeviation. Alternierender Prismenabdecktest: Ferne keine Einstellbewegungen, Nähe – 10°! 4-cm/m-Prismentest Basis innen positiv. Prismenaufbau 8 cm/m Basis innen, Fernvisus damit 0,8. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Unmittelbar danach im Prismenabdecktest insgesamt 4 cm/m Basis außen, keine Diplopie, keine Prismenverordnung. 3 Jahre nach der Operation wieder Diplopie, im Prismenabdecktest insgesamt 8 cm/m Basis außen, davon R/L jeweils 3 cm/m Basis außen verordnet. 9 Jahre nach der Operation Diplopie mit bisheriger Brille, im Prismenabdecktest insgesamt 14 cm/m Basis außen, davon R/L jeweils 6 cm/m Basis außen verordnet. 12 Jahre nach der Operation Diplopie mit bisheriger Brille, im Prismenabdecktest insgesamt 20 cm/m Basis außen. 2.3 Heterophorie und Asthenopie Ein besonders eindrucksvolles Beispiel findet sich bei Bielschowsky: Fallbeispiel Akkommodationsspasmus bei Exophorie (Fallbeschreibung von A. Bielschowsky 1934) 22-jährige Patientin: Hyperopie korrigiert, keine Beschwerden. Nach Influenza Akkommodationsspasmus von zuerst – 1,0 D sph, nach 8 Tagen – 4,0 D sph, zuletzt – 7,0 D sph. Mehrere Atropin-Kuren, Hypnose über 7 Wochen ohne Erfolg. Trotz zeitweiliger Diplopie Prismen nicht akzeptiert. 3 Jahre später findet Bielschowsky eine Exophorie und erkennt, dass die Patientin ihren Akkommodationsspasmus einsetzt, um die exophoriebedingte gekreuzte Diplopie zu kompensieren. Nach Behandlung mit Prismen Basis innen und M.rectus-medialis-Resektion Rückbildung des Akkommodationsspasmus. Bei manchen Patienten kommt es durch „Überkompensation“ einer Exophorie zu einer „Esophorie“ (Fallbeispiel 1). Therapie Der adäquate Ausgleich jeder Refraktionsanomalie (besonders Myopie, Astigmatismus, Presbyopie) ist selbstverständlich. Noch wichtiger als bei allen anderen Heterophorien ist es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob die Beschwerden des Patienten tatsächlich von der Exophorie verursacht werden (Fallbeispiel 4). Exophorien lassen sich durch orthoptische Übungsbehandlung beeinflussen. Dabei ist die Beseitigung von Suppressionstendenzen wichtiger als eine Schulung der Fusionsbreite. Die Übungsbehandlung scheint bei Exophorie vom Typ der Konvergenzinsuffizienz besonders erfolgversprechend (Kap. 2.3.7; 20). Wenn diese Methoden scheitern oder nicht durchgeführt werden können, bleibt die Prismentherapie. Ihr sollten Trageversuche mit Probeprismen vorangehen (Kap. 2.3.7). Ein Vollausgleich wird dabei in der Regel nicht akzeptiert. Fallbeispiel 2 Exophorie mit persistierender Ausgleichsinnervation (Fallbeschreibung von H. Mühlendyck) 30-jähriger Patient: seit mehreren Jahren bei Müdigkeit Diplopie. Refraktion: R/L +0,5 D sph Alternierender Prismenabdecktest Ferne/Nähe Exophorie 20 cm/m. Tragetest: ● mit beidseits 10 cm/m Basis innen ungekreuzte Diplopie ● mit beidseits 4 cm/m Basis innen gut Danach verordnete Korrektion für mehr als 3 Jahre gut. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Verordnung einer 8 cm/m „press-on“-Fresnel-Folie für das rechte Auge. 1 Monat später: mit 8 cm/m Basis innen Fernvisus monokular und binokular wieder 0,3, mit 10 cm/m Basis innen Fernvisus 1,0. Alternierender Prismenabdecktest: Ferne – 5°, Nähe – 10°. Verordnung einer Prismenbrille mit: ● RA – 1,0 und 5 cm/m Basis innen ● LA – 1,25 und 5 cm/m Basis innen Über 2 Jahre mit dieser Korrektion Fernvisus 1,0. Bestehen die asthenopischen Beschwerden bei diesen Versuchen trotz mehrfacher Veränderung der Prismen fort, ist auch von einer Prismenbrille keine Besserung zu erwarten. In diesem Fall hat der Patient möglicherweise eine nicht therapierbare Anomalie des Binokularsehens. Auch eine psychische Belastung kann zu asthenopieähnlichen Beschwerden führen. Eine entsprechende Behandlung ist dann angezeigt. Bei Exophorien über 12 cm/m und/oder bei Scheitern aller anderen Verfahren ist eine operative Therapie zu erwägen. Vorher sollte mit diagnostischer Okklusion noch einmal überprüft werden, ob die Beschwerden tatsächlich auf die Heterophorie und die damit verbundenen Störungen des Binokularsehens zurückzuführen sind. Für Operationsindikation und -dosierung gelten die üblichen Grundsätze (s. Kap. 5.1). Ein präoperativer Prismenausgleich über 7 – 28 Tage bis zur Winkelkonstanz scheint nützlich. Vertikalphorie Differenzialdiagnose Vertikalphorien müssen vom dissoziierten Höhenschielen (Zunahme der Vertikalabweichung bei Aufmerksamkeitsverlagerung auf das andere Auge oder bei einseitiger Verminderung des Lichteinfalls) und von Vertikalparesen unterschieden werden. Wechselseitiger Höherstand unterschiedlichen Ausmaßes spricht für dissoziiertes Höhenschielen, großwinklige Vertikalphorie mit entsprechender vertikaler Fusionsbreite und Inkomitanz eher für Parese. Grundsätzlich sollen Vertikalphorien mit denselben Methoden untersucht und vermessen werden, die auch 219 bei Zyklovertikalparesen angewandt werden (Kopfneigetest, Tangententafel nach Harms mit Dunkelrotglas, s. Kap. 3.1). tig vorhandene Horizontal- und Vertikalphorien mit Prismen ausgeglichen worden sind. In der Regel ist eine operative Therapie nicht zu umgehen. Therapie Literatur Die vertikale Fusionsbreite ist physiologischerweise gering, eine orthoptische Übungsbehandlung deshalb wenig sinnvoll. Die Patienten nutzen meist schon die ganze Fusionsbreite, zu der sie nach der Qualität ihres Binokularsehens überhaupt fähig sind. Vertikalphorien bis 12 cm/m können mit Prismenbrille behandelt werden, wenn nicht gleichzeitig eine wesentliche Zyklodeviation vorliegt. Größere Vertikalphorien bedürfen operativer Therapie (Kap. 5). [1] Aziz S, Cleary M, Stewart HK, Weir CR. Are orthoptic exercises an effective treatment for convergence and fusion deficiencies? Strabismus 2006; 14: 183 – 189 [2] Cathcart S, Winefield AH, Lushington K, Rolan P. Stress and tension-type headache mechanisms. Cephalalgia 2010; 10: 1250 – 1267 [3] Crone RA. Diplopia. Amsterdam: Excerpta Medica; 1973 [4] Evans BJW. Pickwell’s binocular vision anomalies: investigation and treatment. Oxford: ButterworthHeinemann; 2007 [5] Gerling J, Ball M, Bömer T et al. Fixationsdisparation am Pola-Zeigertest: nicht repräsentativ für die Augenstellung unter natürlichen Sehbedingungen. Klin Monbl Augenheilkd 1998; 212: 226 – 233 [6] Gerling J, de Paz H, Schroth V et al. Ist die Feststellung einer Fixationsdisparation mit der Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase verlässlich? Klin Monbl Augenheilkd 2000; 216: 401 – 411 [7] Jaschinski W, Schroth V. Ocular prevalence: difference between crossed and uncrossed disparities of stereo objects. Strabismus 2008; 16: 159 – 164 [8] Jaschinski W, Jainta S, Kloke WB. Objective vs. subjective measures of fixation disparity for short and long fixation periods. Ophthalmic Physiol Opt 2010; 30: 379 – 390 [9] Kromeier M, Schmitt C, Bach M et al. Bessern Prismen nach Hans-Joachim Haase die Stereosehschärfe? Klin Monbl Augenheilkd 2002; 219: 422 – 428 [10] Kromeier M, Kommerell G. Gelingt eine prismatische Korrektion des kleinwinkligen Einwärtsschielens mit der Mess- und Korrektionsmethodik nach Hans-Joachim Haase? Klin Monbl Augenheilkd 2006; 223: 29 – 35 [11] Kromeier M, Heinrich SP, Bach M et al. Ocular prevalence and stereoacuity. Ophthalmic Physiol Opt 2006; 26: 50 – 56 [12] Lang J. Die sensorischen und standespolitischen Schwachstellen der Prismenverordnung am Polatest. Klin Monbl Augenheilkd 1994; 204: 378 – 380 [13] Mallett RFJ. The investigation of fixation disparity at near and a new fixation disparity technique, part I/ II. Optician 1964; 148: 547 – 551, 574 – 581 [14] Mühlendyck H, Rüssmann W, Reinboth JJ. Der 4Prismendioptrien-Basis-innen Test in der Diagnostik von Exophorien mit Asthenopie und Kompensation über die akkommodative Konvergenz. Ophthalmologe 1993; 90: 6 – 10 Fallbeispiel Positive Vertikalphorie 41-jähriger Patient: seit dem 15. Lebensjahr beständig Asthenopie trotz verschiedener Korrektionen mit/ohne Nahaddition. Refraktion: ● RA +5,75 D sph ● LA +5,25 D sph Alternierender Prismenabdecktest Ferne/Nähe insgesamt 5 cm/m Basis unten vor dem rechten Auge. Verordnung nach Tragetest: Prismenbrille mit RA 3 cm/m Basis unten, LA 2 cm/m Basis oben. 22 Jahre später weiterhin beschwerdefrei mit RA 3 cm/m Basis unten, LA 2 cm/m Basis oben. Zyklophorie Differenzialdiagnose Zyklophorien sind in der Regel Zeichen einer Parese des M. obliquus superior oder des M. obliquus inferior (zyklovertikale Parese) oder auch eines Strabismus sursoadductorius oder deorsoadductorius. Falsch korrigierter Astigmatismus (falsche Achsenrichtung) kann eine Pseudozyklophorie hervorrufen, die durch winkeluntreue Abbildung der Umwelt zustande kommt. Die Patienten versuchen bisweilen, durch Kopfneigung und entsprechende Gegenrollung der Augen das dominierende Auge achsengerecht zum Brillenglas auszurichten. Therapie Eine orthoptische Übungsbehandlung scheint bei Zyklophorie nutzlos. Optische Korrektionsmittel (Dove-Prisma) sind nicht praktikabel. Manchmal können kleinwinklige Zyklophorien doch kompensiert werden, wenn gleichzei- 220 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Störungen des Binokularsehens