Kinder psychisch erkrankter Eltern

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}P REGIONAL // PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN
Kinder psychisch erkrankter Eltern
Für eine Enttabuisierung dieses schwierigen Themas Q Laut Schätzungen leben in Deutschland drei
bis vier Millionen Kinder mit Eltern zusammen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Diese Kinder müssen besondere und schwierige Anforderungen meistern und sind damit oft allein. Kindertagesstätten können hierbei eine besondere Rolle übernehmen.
Sirid Gursinsky
Dipl.-Pädagogin, Mitarbeiterin
KiElt
Ramona Jacobasch
Dipl.-Heilpädagogin, Mitarbeiterin KiElt
I
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n Deutschland lebt ein erheblicher
Anteil an Kindern mit psychisch erkrankten Eltern(teilen) zusammen.
Genaue Statistiken darüber existieren
nicht, da diese Anzahl schwer erfasst
werden kann und eine hohe Dunkelziffer existiert. Schätzungen gehen von
3 bis 4 Millionen Kindern aus, die von
einem psychisch erkrankten Elternteil
betroffen sind (vgl. Spiegel online Juli
2012).
Häufig vorkommende psychische
Erkrankungen
sind
Depressionen,
schizophrene Psychosen oder manisch-depressive Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen, wie die Borderline-Störung. Bei allen psychischen
Erkrankungen sind das Fühlen, Denken, Handeln und die Wahrnehmung
der betroffenen Personen verändert. Die
Symptome bei den Erkrankten können
in Schwere, Art und Ausprägung unterschiedlich sein.
Zunahme an psychischen
Erkrankungen
Die Depression ist stark verbreitet und
nimmt immer mehr zu. Sie betrifft in
Deutschland mehr als 3 Millionen Menschen. Sie äußert sich in einer lang anhaltenden gedrückten Stimmung mit
Verlust von Interessen, Freude, Antrieb
und sozialen Kontakten. Häufig ist sie
mit Ein- und Durchschlafstörungen sowie Ängsten und Gefühlen von Wertlosigkeit verbunden.
KiTa MO 7-8 | 2013
Eine schizophrene Störung tritt bei
ca. 1 % der Bevölkerung auf und äußert sich in »Positivsymptomen«, die ein
»Plus« an Verhaltensweisen und Wahrnehmungen darstellen, sowie in »Negativsymptomen«, die ein »Minus« dieser
ausmachen. Zu den Positivsymptomen
gehören Wahnvorstellungen, Stimmen
Hören oder fremdartiges, nicht nachvollziehbares Verhalten. Die »Negativsymptomatik« ist beispielsweise durch
den Verlust von Antrieb und Gefühlen
sowie durch sozialen Rückzug gekennzeichnet.
Die bipolare Störung, früher auch manisch-depressive Erkrankung genannt,
ist an einem stark wechselnden Gemütszustand mit zwei gegensätzlichen Ausprägungen – «himmelhoch jauchzend –
zu Tode betrübt« – erkennbar. Ungefähr
vier Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen. In der manischen Phase weisen die erkrankten
Menschen ein Gefühl der Euphorie auf,
sie überschätzen sich meist selbst und
sind übersteigert aktiv. Verhaltensweisen,
die oft mit Enthemmung einhergehen,
können die Personen selbst sowie ihre
sozialen Beziehungen stark belasten und
schädigen. Der Wechsel der manischen
und depressiven Phase kann sich innerhalb weniger Tage aber auch in weitaus
längeren Zeiträumen von Monaten oder
in einem Jahr vollziehen.
Nicht selten weisen die von einer
schizophrenen oder bipolaren Störung
betroffenen Personen keine Krankheitseinsicht auf und eine ärztliche Behandlung oder anderweitige Unterstützung ist
schwierig zu initiieren.
Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben starke Stimmungsschwankungen, es kann zu unangemessenen aggressiven Ausbrüchen gegen
andere und die eigene Person bis zur
Selbstverletzung kommen. Innerlich
fühlen sich die Betroffenen häufig leer
und haben Angst vor dem Verlassenwer-
den. Zwischenmenschliche Beziehungen
sind oft unangemessen intensiv und unbeständig (vgl. Familienselbsthilfe Psychiatrie).
Nicht nur der Betroffene selbst, sondern die gesamte Familie und insbesondere die Kinder sind durch die psychische Erkrankung belastet. In Folge dieser
leidet die Familie unter sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, finanziellen
Problemen und Isolation. Die familiären
Beziehungen sind problematisch, häufig
kommt es zur Trennung der Eltern.
Daneben geht die Erkrankung mit
massiven emotionalen Belastungen der
Kinder einher. Sie erleben teilweise gravierende Veränderungen in der Persönlichkeit der Eltern, deren Verhaltensweisen und Affektivität mit. Eltern reagieren
verzögert oder inadäquat auf kindliche
Signale. Dies löst Ängste, Scham, Sorgen
und Unsicherheit bei den Kindern aus
(vgl. Lenz 2005). Kleinere Kinder glauben, für die Krankheit der Eltern (mit)
verantwortlich zu sein, diese zum Beispiel durch ihr Verhalten mit verursacht
zu haben und entwickeln Schuldgefühle.
Insgesamt ist festzustellen, dass die
Auswirkungen der psychischen Erkrankung auf die Kinder umso gravierender
sind, je jünger sie sind (vgl. Riedel 2011).
Kinder psychisch erkrankter Eltern
haben ein höheres Risiko, selbst eine
psychische Störung zu entwickeln. Einerseits ist dies auf genetische Faktoren,
andererseits auf die psychosozialen und
familiären Belastungsfaktoren zurückzuführen.
Rollenmodelle zur Bewältigung
Nach Wegscheider lassen sich vier
verschiedene Rollen, die Kinder alkoholkranker Eltern häufig zur Bewältigung der elterlichen Erkrankung entwickeln, unterscheiden. Diese Rollen
sind auch bei Kindern mit psychisch
erkrankten Eltern zu finden. Der
»Held« übernimmt viel Verantwor-
REGIONAL // PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN Q}
tung und Engagement und vermittelt
Kompetenz. Der »Sündenbock« lenkt
mit seinen Verhaltensauffälligkeiten
von den Problemen in der Familie ab.
Das »verlorene Kind« wirkt unauffällig
und zieht sich zurück. Der »Clown«
versucht durch Späße die anderen aufzuheitern.
Viele Studien belegen eine vermehrt
vorkommende Ängstlichkeit bei Vorschulkindern mit psychisch erkrankten
Eltern. Vor allem durch die mangelnde
Verlässlichkeit in der Zuwendung fehlt
die Entwicklung von Sicherheit und
Selbstwirksamkeit, die sich auf der emotionalen Ebene in Ängstlichkeit äußert
(vgl. Riedel 2011).
Kinder mit Störungen im Sozialverhalten haben vermehrt psychisch erkrankte
Eltern (vgl. Lenz 2010).
Auch die erkrankten Eltern sind von
Schuldgefühlen betroffen. Aufgrund der
Symptome der Erkrankung sowie deren
Folgeprobleme haben sie oft Schwierigkeiten, der Betreuung, Erziehung und
Zuwendung gegenüber ihren Kindern
gerecht zu werden.
Im sozialen Umfeld herrscht häufig
ein Kommunikationsverbot über die
psychische Erkrankung. Dies belastet
die Kinder und Eltern zusätzlich und
erschwert die notwendige Suche von
Hilfe.
Kinder mit psychisch erkrankten Eltern entwickeln jedoch nicht zwangsläufig Auffälligkeiten oder eigene psychische Störungen. Die große Mehrheit
der Kinder wächst ohne gravierende
Beeinträchtigungen auf. Sie können
im Rahmen der Bewältigung der elterlichen Erkrankung zudem eigene Stärken wie Verantwortungsbewusstsein
oder Empathie entwickeln (vgl. Riedel
2011).
Resilienzfaktoren schützen Kinder im
Sinne eines Puffers vor den Auswirkungen der Belastungen und können die
Entwicklung einer eigenen psychischen
Störung verhindern oder mildern.
Albert Lenz (2010) benennt auf personeller, familiärer sowie sozialer Ebene
u.a. folgende Resilienzfaktoren für Kinder psychisch erkrankter Eltern sowie die
gesamte Familie:
Den Kindertagesstätten kommt eine
bedeutende Rolle bei der Unterstützung der Familien zu. Kinder können
hier die Erfahrung von stabilen und
unterstützenden Beziehungen zu erwachsenen Personen, den Erzieher/innen, machen. Persönliche Ressourcen
der Kinder werden mit Unterstützung
der pädagogischen Fachkräfte und in
der Gleichaltrigengruppe gestärkt.
Ein geregelter Tagesablauf mit festen
Regeln und Strukturen vermittelt den
Kindern Verlässlichkeit und Sicherheit.
Die Eltern werden im Alltag in der
Kinderbetreuung entlastet sowie bei der
Erziehung unterstützt.
Hilfe und Beratungsstellen vor Ort
Eine weitere Aufgabe könnte in der
Netzwerkarbeit bestehen. Eltern können an weiterführende Einrichtungen
vermittelt werden. Auf der Internetseite
des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie ist ein aktueller Hilfeatlas abrufbar,
der einen bundesweiten Überblick über
Hilfen für Kinder psychisch erkrankter
Eltern bietet. Außerdem können Broschüren für Fachkräfte, psychisch erkrankte Eltern und deren Kinder bestellt
werden.
In unserer praktischen Arbeit mit betroffenen Eltern in der Beratungsstelle
KiElt des Psychosozialen Trägervereins
Sachsen e.V. stellten wir fest, dass ein
offener Umgang der Eltern mit ihrer Erkrankung gegenüber Erzieher/innen in
der Kindertagesstätte entlastend wirkte.
Für betroffene Familien gibt es eine Vielzahl an weiteren professionellen Hilfen
im Bereich der (Gemeinde-)Psychiatrie
und Jugendhilfe. Erziehungsberatungsstellen, Jugendamt und Sozialpsychiatrische Dienste leisten Unterstützung. Oft
fällt es den Eltern aus Angst vor Stigmatisierung und aufgrund von Schuldgefühlen jedoch schwer, sich an diese
unterstützenden Dienste zu wenden.
Eine Begleitung durch eine Vertrauensperson, wie Erzieher oder Sozialpädagoge aus der Kindertagesstätte, ist hier
oftmals hilfreich.
In Dresden existiert seit 2006 ein spezifisches Unterstützungsangebot durch
den Psychosozialen Trägerverein Sachsen
e.V. Die Beratungsstelle KiElt bietet für
Kinder und deren psychisch erkrankte
Eltern verschiedene Hilfen an. Der Zugang erfolgt niedrigschwellig ohne Überweisung und Formalitäten. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung ist
nicht notwendig.
Eltern werden in Beratungen zu Themen wie der Bewältigung der eigenen
psychischen Erkrankung, in Erziehungsfragen oder zur Gestaltung familiärer Beziehungen unterstützt. Bei
Bedarf erfolgt eine Vermittlung zu anderen spezialisierten Institutionen und
Fachkräften, wie zum Beispiel Sozialpädagogische Familienhilfe, Facharzt
für Psychiatrie, Psychologischer Psychotherapeut. Aufgrund der komplexen
Problemlagen der Familien ist häufig
ein umfassendes Netzwerk an Hilfen
wichtig.
Kinder im Alter von 2 bis 10 Jahren
nehmen mit ihren Eltern(teilen) an
einem wöchentlichen Familiennachmittag in der Beratungsstelle teil. Sie
können hier unbeschwert Freizeit genießen sowie soziale Kompetenzen im
Umgang mit anderen Kindern weiterentwickeln. Das Netzwerk der Familien
wird hier erweitert. Eltern finden andere Gleichbetroffene, mit denen sie sich
austauschen und über das Gruppenangebot hinaus treffen und unterstützen
können.
Für 8- bis 12 jährige Kinder mit psychisch erkrankten Eltern findet eine
Gruppe zur Aufklärung der Kinder über
die elterliche Erkrankung sowie den
Umgang damit statt. Für jüngere Kinder
erfolgt diese Unterstützung eher in gemeinsamen Familiengesprächen.
Fazit
Um Kinder und (alleinerziehende) Eltern
in der Freizeit- und Alltagsgestaltung zu
unterstützen und bei einem notwendigen
Klinikaufenthalt des Elternteils die Betreuung und Versorgung des Kindes sicherzustellen, bedarf es einer Reihe von Maßnahmen. Passende Strukturen und ein gut
funktionierendes Netzwerk sind dafür die
Voraussetzung. Ein Patenschaftsprojekt für
diese Zielgruppe befindet sich derzeit im
Psychosozialen Trägerverein derzeit Sachsen e.V. in Planung.
}
}P WEITERE INFOS UND KONTAKT:
Psychosozialer Trägerverein Sachsen e.V.
KiElt – Beratungsstelle für Kinder,
Jugendliche und Eltern mit psychischen
Belastungen und Erkrankungen
www.ptv-sachsen.de
Telefon: 0351-44039967
E-mail: [email protected]
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