Semyon Bychkov - Münchner Philharmoniker

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Semyon Bychkov
Jean-Yves Thibaudet
Samstag, 20. Juni 2015, 13:30 Uhr
Sonntag, 21. Juni 2015, 11 Uhr
Montag, 22. Juni 2015, 20 Uhr
Dienstag, 23. Juni 2015, 20 Uhr
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Johannes Brahms
Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90
1. Allegro con brio | 2. Andante
3. Poco allegretto | 4. Allegro
Maurice Ravel
Konzer t für Klavier und Orchester G-Dur
1. Allegramente | 2. Adagio assai | 3. Presto
Claude Debussy
„La Mer“
Trois esquisses symphoniques
1. „De l’aube à midi sur la mer“
(Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer)
2. „Jeux de vagues“ (Wellenspiele)
3. „Dialogue du vent et de la mer“
(Wechselspiel zwischen Wind und Meer)
Semyon Bychkov, Dirigent
Jean-Yves Thibaudet, Klavier
Samstag, 20. Juni 2015, 13:30 Uhr
6. Öf fentliche Generalprobe
Sonntag, 21. Juni 2015, 11 Uhr
8. Abonnementkonzer t m
Montag, 22. Juni 2015, 20 Uhr
8. Abonnementkonzer t f
Dienstag, 23. Juni 2015, 20 Uhr
Uni-Konzer t
Spielzeit 2014/2015
117. Spielzeit seit der Gründung 1893
Valery Gergiev, Chefdirigent (ab 2015/2016)
Paul Müller, Intendant
Johannes Brahms:
Brahms: 3.
3. Symphonie
Symphonie F-Dur
F-Dur
Johannes
212
„Heroisches ohne
ohne kriegerischen
„Heroisches
kriegerischen
Beigeschmack“
Beigeschmack“
Thomas Leibnitz
Leibnitz
Thomas
Johannes Brahms
Traditionslast der Vergangenheit
(1833–1897)
Uraufführung
Sie waren Antipoden und empfanden einander auch
als solche: Johannes Brahms und Anton Bruckner
repräsentierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts
zwei verschiedene Entwicklungswege der deutschen Symphonik; beide gründen sich auf das symphonische Werk Beethovens. Während der „fortschrittsorientierte“ Strang Schubert – Bruckner –
Mahler bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkungsmächtig blieb, endete die „konservative“ Linie Mendelssohn – Schumann – Brahms bei Brahms selbst.
Der aus Hamburg stammende Wahlwiener wurde
geradezu zur Symbolfigur des musikalischen Konservativismus; er selbst war sich der retrospektiven, historistischen Ausrichtung seines Schaffens
durchaus bewusst. Während Komponisten früherer Zeiten, unbelastet von musikalischer Vergangenheit, ihre eigene Sprache suchten und fanden,
bedeutete für Brahms die im Konzertleben des
19. Jahrhunderts lebendig gebliebene Musikgeschichte eine ständige Herausforderung, ja Belastung. „Ich werde nie eine Symphonie komponieren ! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen
hinter sich marschieren hört“, äußerte sich Brahms
zu Beginn der 70er Jahre dem Dirigenten Hermann
Levi gegenüber.
Am 2. Dezember 1883 in Wien im Großen Musikvereinssaal (Wiener Philharmoniker unter Leitung
von Hans Richter).
Keine Frage, dass mit dem „Riesen“ Beethoven gemeint war. Nach Beethoven als Symphoniker auf-
Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90
1. Allegro con brio
2. Andante
3. Poco allegretto
4. Allegro
Lebensdaten des Komponisten
Geboren am 7. Mai 1833 in Hamburg; gestorben
am 3. April 1897 in Wien.
Entstehung
Nach der Vollendung seiner D-Dur-Symphonie op. 73
legte Brahms eine Pause von immerhin sechs Jahren ein, ehe er sich um 1883 seiner „Dritten“ zuwandte, die während eines sommerlichen Erholungsaufenthalts im Rheingau in erster Linie in
Wiesbaden und Umgebung entstand. Der Orchesterfassung ließ Brahms eine Bearbeitung für zwei
Klaviere zu vier Händen folgen.
Johannes
Johannes Brahms:
Brahms: 3.
3. Symphonie
Symphonie F-Dur
F-Dur
zutreten, erschien Brahms als Herausforderung,
die nur nach äußerst selbstkritischer und gewissenhafter Vorbereitung angenommen werden durfte. Bis 1876 komponierte er eine Reihe von Orchesterwerken, so die beiden Serenaden op. 11 und
op. 16, das 1. Klavierkonzert op. 15 und die „Variationen über ein Thema von Joseph Haydn“ op. 56a;
doch keines trug den Titel „Symphonie“. Erst nach
Beendigung der durchaus bereits symphonisch
konzipierten, meisterhaften „Haydn-Variationen“
glaubte er sich im Besitz des kompositorischen
„Rüstzeugs“, das zur Bewältigung der geschichtlich befrachteten und ehrfurchtgebietenden Gattung der Symphonie nötig erschien. 1876 wurde
die 1. Symphonie op. 68 beendet, von Hans von
Bülow prompt als „Beethovens ‚Zehnte‘“ bezeichnet; ihr folgte bereits ein Jahr später die pastoralbeschauliche „Zweite“. Nach einer mehrjährigen
Pause, in der u. a. das Violinkonzert op. 77 (1878),
die „Akademische Festouvertüre“ op. 80 und die
„Tragische Ouvertüre“ op. 81 (beide 1880) entstanden, schrieb Brahms 1883 endlich seine „Dritte“.
Werkidee im Dunkeln
Kaum ein anderer Komponist des 19. Jahrhunderts
äußerte sich über Entstehung und Inhalt seiner
Werke so wenig wie Johannes Brahms. So existiert als gesichertes Wissen über die Genese der
3. Symphonie nur die nüchterne Tatsache, dass
das Werk im Sommer 1883 in Wiesbaden vollendet wurde, wo Brahms seinen Urlaub verbrachte.
Zwar nimmt das Werk im Briefwechsel mit Verleger Fritz Simrock eine prominente Rolle ein; doch
geht es hier nicht um musikalische Inhalte, sondern
um etwas sehr Profanes: das Honorar. Brahms zählte seinerzeit zu den Komponisten mit hohem, ja
höchstem „Marktwert“. Musste etwa Bruckner
133
die Verleger anflehen, seine Werke – selbstverständlich unentgeltlich – zu publizieren, konnte
Brahms zwischen oft mehreren Angeboten wählen;
meist fiel die Wahl auf Simrock – jedoch erst dann,
wenn Brahms durch geschickte Hinweise auf lukrative Konkurrenzangebote das Honorar auf die
gewünschte Höhe gesteigert hatte. Im Fall der
3. Symphonie gab er sich mit einem Honorar von
5000 Talern (= ca. 7.500 Euro) zufrieden, obwohl
ihm der Wiener Verleger Albert J. Gutmann nach
der erfolgreichen Uraufführung die stolze Summe von 10.000 Gulden (= ca. 10.000 Euro) geboten hatte. Brahms konnte es sich leisten, Simrock
gegenüber in Honorarfragen einen selbstbewusstkoketten Ton anzuschlagen: „Und was wollen Sie
mir denn für die Symphonie schuldig sein ? Das
Gewöhnliche ? Die Hälfte ? Das Doppelte ?“
Da nun von Brahms selbst über Entstehung und Inhalt des Werks wenig oder gar nichts zu erfahren
war, bemühte sich Biograph Max Kalbeck, die Lücke erfindungsreich zu füllen. In seiner mehrbändigen Brahms-Biographie entwickelte er die Hypothese, der 1. Satz habe in anderer Form schon
„in früher Zeit“ existiert. Als Anhaltspunkt diente
ihm ein aus dem Jahr 1883 stammender Brief des
Komponisten an Simrock, in dem dieser dem Verleger mitteilt: „... und wenn ich etwa noch einmal
Notenblätter aus meiner Jugendzeit finde, so will
ich sie Ihnen auch schicken.“ Freilich deutet nichts
auf einen Konnex mit der eben vollendeten 3. Symphonie hin, und auch stilistisch finden sich keine
Verbindungslinien zum Frühwerk. Weiters nahm
Kalbeck an, „dass die Mittelsätze, die als ein mit
dem Übrigen nur lose verknüpftes Ganzes für sich
zu betrachten sind, der Beschäftigung mit Goethes
‚Faust‘ ihr Dasein verdanken.“ Tatsächlich hatte
Franz Dingelstedt, Wiener Burg- und Operndirektor,
414
Johannes Brahms:
Brahms: 3.
3. Symphonie
Symphonie F-Dur
F-Dur
Johannes
Brahms 1880 zur Komposition einer „Faust“-Musik
angeregt; doch mehr als Vermutungen können auch
hier nicht angestellt werden. Vor allem sind die
musikalischen Bezüge der Mittelsätze zu den Ecksätzen keineswegs so „lose“, wie Kalbeck behauptet.
Äußerst fragwürdig und an den Haaren herbeigezogen schließlich erscheint der Versuch des
Biographen, den letzten Satz der Symphonie als
musikalisches Abbild der „Germania“ zu interpretieren, des Niederwald-Denkmals von Johann
Schilling, das im Sommer des Jahres 1883 fertiggestellt und vom deutschen Kaiser mit großem
Pomp eingeweiht wurde. Zwar ist nicht zu leugnen, dass auch Brahms vom zeittypischen Nationalismus beseelt war, dass er das Denkmal von
Wiesbaden aus besuchte und die von ihm repräsentierte antifranzösische Gesinnung der „Wacht
am Rhein“ durchaus teilte. Doch fehlen alle Belege für Kalbecks Behauptung, in Brahms’ „Visionen“ habe sich „das Vaterland zum All, das Deutsche Reich zum Weltreich“ ausgedehnt, woran
sich die Interpretation an schließt: „Davon singt
das Finale der F-Dur-Symphonie in mächtigen
Tönen...“ Gerade der verhaltene, zurückgenommene Schluss dieses Satzes fügt sich in keiner
Weise in das Bild eines kriegerischen „Hurra“Patriotismus.
Zweimal zwei Sätze
Die „Dritte“ ist nicht nur Brahms’ kürzeste Symphonie, sie unterscheidet sich von ihren Schwestern
auch durch ein Charakteristikum der Konzeption:
Zwei monumentale Ecksätze umrahmen zwei intermezzohafte Mittelsätze. In gewisser Weise greift
der Komponist sogar auf den Typus der Symphonie
vor Beethoven zurück, wenn er im 3. Satz die traditionelle Form des Menuetts verwendet – obgleich
die romantische Färbung kaum Gedanken an die
Tanzsätze der Haydn- und Mozart-Symphonien aufkommen lässt.
Ein „Motto“ steht am Beginn des Kopfsatzes, eine
spannungsvolle Folge von drei Bläserakkorden, die
harmonisch das für Brahms typische Schwanken
zwischen Dur und Moll und melodisch die Tonfolge
f-as-f exponieren. Mit dem Motiv f-a-f („frei, aber
froh“) hatte der junge Brahms immer wieder auf
seine ganz persönliche Situation angespielt, auf
die Lichtund Schattenseiten seiner Bindungslosigkeit. Hier, in der mittleren Schaffensphase, zitiert er
das Motiv abermals, jedoch mit charakteristischer
Eintrübung nach Moll. Dem Motto folgt unmittelbar das in weiträumigen Intervallschritten herabstürzende Hauptthema, das sogleich thematisch
weiterentwickelt wird. Als explizit „kämpferisch“
wurde dieses Thema empfunden; vielleicht bezog
sich Hans Richter, der Dirigent der Uraufführung,
auf diese Eigenschaft, als er in einem Trinkspruch
Brahms’ „Dritte“ als seine „Eroica“ bezeichnete.
Als melodischer Gegenpol erweist sich das Seitenthema in der Klarinette, eine tänzerisch ausschwingende Melodie über wiegender Begleitung. Die
Durchführung, dem klassischen Schema gemäß
der Ort dramatischer thematischer Auseinandersetzungen, ist kurz: motivische und harmonische
„Durchführung“ findet im Grunde von Beginn an
statt. Immer wieder meldet sich das „Motto“ in
wechselnder instrumentaler Gestalt zu Wort und
verleiht dem Satz stringente thematische Einheit.
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Johannes Brahms (um 1885)
6
Johannes Brahms:
Brahms: 3.
3. Symphonie
Symphonie F-Dur
F-Dur
Johannes
Ruhe vor dem Sturm
Gegenüber der Dramatik des 1. Satzes vermittelt
das nun folgende Andante die Empfindung schwerelosen melodischen Strömens. Brahms beschränkt
sich im wesentlichen darauf, das schlichte, liedartige Hauptthema immer wieder neu zu färben und
einfallsreich zu umspielen. Einen fragenden, eher
zurückhaltenden Charakter hat das von den Holzbläsern intonierte Seitenthema, dessen auftaktiger Rhythmus sich zu einem melodischen Charakteristikum entwickelt. Formal umschließen in
diesem 2. Satz zwei Rahmenteile einen unruhigeren Mittelteil mit Durchführungscharakter; dass
Brahms in der Reprise das Seitenthema nicht mehr
auftreten lässt, zeugt für seinen freien Umgang
mit tradierten Formen. Auch im 3. Satz, von Beethovens dämonisch-dramatischen Scherzosätzen
meilenweit entfernt, trifft man auf die Grundform
A-B-A und damit auf die Wiederkehr des Rahmenteils nach kontrastierendem Mittelteil. Ganz im
Charakter einer „Valse sentimentale“ schwingt
sich das melancholische Hauptmotiv aus und kehrt
in stets neuen Abwandlungen wieder; das Trio
zeigt ebenfalls zart tänzerischen Charakter, wobei Bläser- und Streichersatz rhythmisch raffiniert
miteinander verschachtelt sind.
Symphonische Dramatik ist erst wieder im Schlusssatz angesagt. Das in Sekundschritten geführte,
im Unisono der Streicher und des Fagotts vorgetragene Hauptthema vermittelt den Eindruck von
Gewitterschwüle; ihm folgt nach einem choralartigen Gedanken, der sich als fast tongetreue Wiederkehr des Seitenthemas des Andante erweist, der
„Gewitterausbruch“: scharf punktierte, dann wieder kurz abgerissene Figuren, die das thematische
Geschehen gleich zuckenden Blitzen durchziehen.
15
Auch in diesem Satz ist bereits die Exposition von
so dichter thematischer Arbeit durchzogen, dass
man sie von der eigentlichen Durchführung, die die
Konflikte nur noch steigert, kaum unterscheiden
kann. Charakteristisch für Brahms ist jedoch der
Ausklang, der weder in Triumph noch Tragik mündet, sondern in stille, friedliche Ergebenheit. Wie
leichtes Windesrauschen erklingen die Figurationen der Streicher, fast flüsternd zitieren sie zum
Abschluss nochmals das Hauptthema des Kopfsatzes.
Breites Deutungsspektrum
Der mit Brahms befreundete Kritiker Eduard Hanslick hatte in seiner musikästhetischen Schrift „Vom
Musikalisch-Schönen“ definiert: „Der Inhalt der
Musik sind tönend bewegte Formen“. Getreu dieser Grundhaltung schrieb er nach der umjubelten
Uraufführung der neuen Brahms-Symphonie, die
am 2. Dezember 1883 im Wiener Musikverein stattgefunden hatte: „Ein wahres Fest – mehr noch für
den entzückten Menschen und Musiker in uns als
für den Kritiker, der hinterher beschreiben soll, wie
die neue Symphonie von Brahms aussieht, und vor
allem was alles schön daran ist. Nun gehört es
weder zu den seltenen, noch zu den unerklärlichen
Mißgeschicken, dass die Beredtsamkeit des Kritikers um so tiefer sinkt, je höher die des Komponisten sich emporgeschwungen. Die Wortsprache
ist nicht sowohl eine ärmere, als vielmehr gar keine Sprache der Musik gegenüber, da sie die letztere nicht zu übersetzen vermag.“ In seiner dennoch ausführlichen Besprechung des Werks ging
er auf Hans Richters Charakterisierung der Symphonie als neue „Eroica“ ein und versuchte eine Art
Standortbestimmung für sie innerhalb von Brahms’
Schaffen: „Brahms’ dritte Symphonie ist tatsäch-
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„Ministrant Hanslick beweihräuchert die Statue des heiligen Johannes“ (aus der satirischen Zeitschrift
„Figaro“, um 1885)
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Johannes Brahms:
Brahms: 3.
3. Symphonie
Symphonie F-Dur
F-Dur
Johannes
lich wieder eine neue. Sie wiederholt weder das
schmerzliche Schicksalslied der ‚Ersten‘, noch die
heitere Idylle der ‚Zweiten‘; ihr Grundton ist selbstbewußte, tatenfrohe Kraft. Das Hero ische darin
hat keinen kriegerischen Beigeschmack, führt auch
zu keinerlei tragischem Akte, wie der Trauermarsch
in der ‚Eroica‘ einer ist...“
Zu romantisch-literarischen Impressionen inspirierte das Werk Clara Schumann, die die Symphonie
ausführlich am Klavier studiert hatte und Brahms
am 11. Februar 1884 schrieb: „Ich habe so glückliche Stunden in Deiner wunderbaren Schöpfung
gefeiert (sie viele Male mit Elise gespielt), dass
ich dies wenigstens gesagt haben möchte: Welch
ein Werk, welche Poesie, die harmonischste Stimmung durch das Ganze, alle Sätze wie aus einem
Gusse, ein Herzschlag, jeder Satz ein Juwel ! – Wie
ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem
geheimnisvollen Zauber des Waldlebens ! Ich könnte nicht sagen, welcher Satz mir der liebste ? Im
ersten entzückt mich schon gleich der Glanz des
erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch
die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet !“
Wie weit in der Aufnahme durch die Zeitgenossen
subjektive Eindrücke auseinanderklafften, zeigt
die Meinung Joseph Joachims – des mit Brahms
befreundeten großen Geigers – über den Schlusssatz der Symphonie. Max Kalbeck hatte darin, wie
gesagt, eine Apotheose des neuen „Deutschen
Reichs“ erblickt; Joachims Assoziationen waren
gänzlich andere: „Und sonderbar, so wenig ich das
Deuteln auf Poesie in der Musik in der Regel liebe,
werde ich doch bei dem Stück (und nur bei wenigen
anderen in dem ganzen Musikbereich geht es mir
ebenso) ein bestimmtes poe t isches Bild nicht los:
Hero und Leander ! Ungewollt kommt mir, beim Gedanken an das 2te Thema in C dur, der kühne, brave Schwimmer, gehoben die Brust von den Wellen
und der mächtigen Leidenschaft, vors Auge – rüstig, heldenhaft ausholend zum Ziel, zum Ziel trotz
der Elemente, die immer wieder anstürmen !“
Mythos der Originalität
Die hier zitierten Stimmen stammen ausschließlich von Freunden und Verehrern des Komponisten.
Ihnen standen – gewissermaßen im Sinne einer
„Fundamentalopposition“ – die Wortmeldungen
aus dem Lager der sog. „Neudeutschen“ und Wagnerianer gegenüber, die Brahms’ Schaffen prinzipiell als rückschrittlich und antiquiert bezeichneten. Eine besonders scharfe Feder führte Hugo
Wolf; bei ihm verband sich der musikästhetische
Standort mit persönlicher Animosität, denn Brahms
hatte ihn – wie auch so manchen anderen – durch
schroff-abfällige Bemerkungen über seine Kompositionen schwer gekränkt.
Im Wiener „Salonblatt“ schlug nun Wolf in seiner
Rezension der 3. Symphonie zurück: „Als Symphonie des Dr. Johannes Brahms ist sie zum Teile ein
tüchtiges, verdienstliches Werk; als solche eines
Beethoven Nr. 2 ist sie ganz und gar mißraten, weil
man von einem Beethoven Nr. 2 alles das verlangen muss, was einem Dr. Johannes Brahms gänzlich fehlt: Originalität.“ Es spricht übrigens für
Brahms’ Humor, dass er die Kritiken Hugo Wolfs
sammelte und sie gelegentlich im Freundeskreis
zur allgemeinen Erheiterung vorlas.
Essay
Brahms, der
Unheroische
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Resignieren statt
statt jubilieren:
Resignieren
jubilieren:
Brahms, der
der Unheroische
Brahms,
Unheroische
Hans Köhler
Stephan
Kohler
Komponieren nach Beethoven
Welche musikgeschichtliche Zukunft war der Gattung „Symphonie“ vorgezeichnet, als Beethoven
sie zu revolutionieren begann ? Oder anders gefragt: Welchen Weg hätte sie genommen, wenn
nicht Beethovens 9 Symphonien sie so nachhaltig
geprägt hätten ? Es bleibt ein müßiges und fruchtloses Denkmanöver, darüber nachzusinnen, welche
Gestalt wohl Schubert, Schumann, Brahms und
Mahler ihren Symphonien gegeben hätten, wäre
da nicht Beethovens von vielen als belastend, ja
geradezu erdrückend empfundenes Vorbild gewesen.
Über Beethoven hinaus, hinter ihn zurück oder geschickt um ihn herum ? Scheitern und Gelingen wurde nicht nur von den Zeitgenossen, sondern vor allem von den Komponisten selbst am Umgang mit
Beethovens symphonischem Erbe abgelesen, das
nicht einfach nur naiv kopiert oder fortgeschrieben
werden durfte, aber auch nicht kaltblütig zu ignorieren war. Dabei schienen es weniger musikinterne Momente, wie etwa Harmonik, Melodik, Rhythmik oder Instrumentation zu sein, die einschüch ternd auf die nächste Komponistengeneration wirkten, und auch nicht Beethovens „architektonische“
Maßnahmen zur Umwälzung des symphonischen
Formen-Repertoires; niederschmetternd und gleichzeitig traditionsstiftend wirkte vielmehr die Aura
des „Heroischen“, die seine Werke verbreiteten
und die wiederum untrennbar mit der persönlichen
Leidensgeschichte ihres Autors verknüpft schien.
Das Heroische als grundsätzliche innere Verfasstheit von Symphonik war von Beethoven in die Gattung eingeführt worden und blieb bis ins 20. Jahrhundert einer der Hauptcharaktere symphonischen
Schaffens, von vielen als „zwingend“ vorgegebene Aufgabe, ja sogar Verpflichtung aufgefasst, deren gelungene Einlösung die Inanspruchnahme der
Gattung fürs eigene Komponieren überhaupt erst
rechtfertigte.
„Durch Nacht zum Licht“
Was bei manchem Spät(er)geborenen zur zwanghaften Pose ausartete – bei Beethoven selbst schien
„heroische“ Haltung mit privater Lebensführung
noch vereinbar, wenn nicht deckungsgleich. Doch
unabhängig von allen biographistischen Lesarten
bieten die Werke selbst, insbesondere die 9., 5. und
3. Symphonie, genügend Anhaltspunkte, um sie
als jeweils individuelle Wege aus einer anfänglich
„tragischen“, quasi schicksalsumwitterten Situation ins gleißende Licht musikalischer Selbstbefreiung zu deuten.
Romantiker wie E.T.A. Hoffmann haben das „innere Programm“ einer kämpferischen Bewältigung
des Fatalen, Dunklen, eines musikalischen „Siegs“
von Dur über Moll, schon früh als musikmetaphorischen Akt der Selbstbehauptung begriffen, als
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18
Essay
Brahms, der
Unheroische
Überwindungsstrategie im Kampf gegen die Macht
finsterer Gegenwelten, aber auch gegen die „OhnMacht“ des menschlichen Individuums. Beethovens c-Moll-Symphonie, die „Fünfte“, war es vor
allem, die man als großangelegte Auseinandersetzung zwischen Nacht und Licht interpretierte,
als Ausgang des Menschen aus einem von Schicksalsschlägen unterjochten Dasein und Eintritt in
einen Zustand vitaler Selbstbefreiung und intellektueller Emanzipation. Den Weg durch Nacht zum
Licht („per aspera ad astra“) haben Generationen
von Musikgelehrten, Interpreten und Konzertbesuchern der „Fünften“ nicht nur als wohlfeiles Etikett angeheftet, sondern damit auch Wesentliches
über die inhaltliche Komponente von Beethovens
Komponieren gesagt: über die Symphonie als Formgefäß für heroisches Ethos und gelebte Humanität.
Schuberts 4. Symphonie, die er selbst seine „Tragische“ nannte, folgt Beethovens c-Moll-Symphonie
nicht nur in der Wahl der Tonart; und auch Schumanns d-Moll-Symphonie knüpft offenkundig an
den von Beethoven geprägten Typus des „affirmativen“ Finales an. Bis hin zur 1. Symphonie des
Schumann-Freundes Johannes Brahms, auch sie
wieder von der Grundtonart c-Moll ausgehend,
blieb die gängige Verlaufsform der Symphonie die
des „per aspera ad astra“, und noch bei Bruckner
münden alle Werke dieser Gattung – mit Ausnahme der unvollendet gebliebenden „Neunten“, der
das Finale fehlt – in eine strahlende und gleichzeitig applaustreibende Dur-Apotheose.
Kurskorrektur „Trauermarsch“
Beethovens „Eroica“, die heldenhaftes Ethos schon
im Untertitel zum symphonischen „Programm“ erhebt, bildet das Schema „Durch Nacht zum Licht“
mit einer signifikanten „Kurskorrektur“ ab, die bis
zu Gustav Mahler Bedeutung und Gewicht behalten sollte, also nicht minder traditionsstiftend
wirkte. Mag der als „Marcia funebre“ integrierte
Trauermarsch zunächst nur Ausdruck von Klage
über heldenhaftes Scheitern sein – gerade dadurch wurde er zum musikgeschichtlichen Vorreiter zahlreicher „Trauermusiken“, die den Heroismus im Diesseits mit dem Erlösungsgedanken im
Jenseits kausal verknüpften, wie es noch am Ende
des Jahrhunderts in Mahlers „Totenfeier“ und
Strauss’ „Tod und Verklärung“ der Fall war. Dennoch: Auch wenn in Beethovens „Eroica“ die metaphorische „Grablegung“ großer Hoffnungen zum
Zentrum einer „heroischen“ Symphonie aufstieg –
die Botschaft von Trauer und Schmerz wurde im
weiteren Verlauf immer noch überwölbt vom Verklärungsglanz einer Schlusskonzeption, die Triumph,
Sieg oder zumindest Ausweg aus Selbstverneinung
und Frustration verhieß.
Die Finalität und Zielgerichtetheit dieser Konzeption wird durch den neu eingeführten Trauermarsch
jedoch „gestört“, weil er nicht – wie später bei Gustav Mahler – Ausgangspunkt und damit Fundament
des gesamten symphonischen Gebäudes ist, sondern dieses nach einem heroisch gestimmten und
deshalb verheißungsvollen 1. Satz quasi gegenläufig „unterwandert“. Es blieb Richard Wagner
vorbehalten, dieses Netzwerk aus Dur und Moll,
also die gegenseitige Durchdringung von Trauer,
Schmerz und heroischem „Sich aufraffen“, als neutrale Mitte zwischen Sieg und Niederlage zu definieren: „Wir wollen nicht erliegen, sondern ertragen !“ Nur wenige Werke der symphonischen
Literatur, etwa Mozarts g-Moll-Symphonie KV 550,
harren in der anfänglichen Moll-Tonart bis zum
sprichwörtlich „bitteren Ende“ aus; bei Mahler ist
11
Johannes Brahms auf Sommerfrische im Salzkammergut (um 1890)
12
20
Essay
Brahms, der
Unheroische
es einzig die „Sechste“, die in Analogie zu Schuberts „Vierter“ denn auch prompt als „Tragische“
in sein Werkverzeichnis Eingang fand.
Der konservative Revolutionär
Zwischen diesen Extremen – dem Festhalten an
der „per aspera ad astra“-Kurve und dem Negativitätssog fatalistischer Provenienz – schien es lange Zeit keine vermittelnde Instanz zu geben. Es gab
sie dennoch und gerade dort, wo man sie vielleicht
am allerwenigsten vermutete: im Lager der sog.
„Konservativen“, denen man zu Unrecht – vor allem
aber zu unüberlegt – den Hamburger Wahl-Wiener
Johannes Brahms zurechnete.
Kaum ein Komponist vor oder nach ihm hatte wohl
mehr Scheu gehabt, sich angesichts der Vorgaben
Beethovens mit der Gattung „Symphonie“ überhaupt noch einzulassen. Erst 1876, als er immerhin schon seine Lebensmitte überschritten hatte,
wagte er es, eine erste Symphonie, bezeichnenderweise in c-Moll, vorzulegen, zu der die ersten
Pläne nicht weniger als 16 Jahre in die Vergangenheit zurückreichten. Überwindung der Tradition,
Abweichung vom Vorgegebenen, war Brahms’
Sache weder hier noch in der folgenden 2. Symphonie, weshalb Hans von Bülow beide Werke als
„Zehnte“ und „Elfte“ bezeichnete, um ihre Abhängigkeit vom Beethoven’schen Vorbild ironisch, aber
durchaus wohlwollend zu markieren.
Triumph des Unheroischen
Mit Brahms’ „Dritter“, die in Wagners Todesjahr
1883 entstand, verhält es sich freilich anders; sie
unter Gattungstraditionen der Ersten Wiener Schule zu subsumieren, ihr den Stempel der klassischen
Konformität, des heroischen Traditionskults aufzudrücken, hieße sie unzulässigerweise in eine
Werkästhetik zu vereinnahmen, aus der sie hörbar ausschert. Brahms’ 3. Symphonie geht schon
in der Wahl der Grundtonart in Opposition zu des
„Titanen“ Beethoven „Eroica“: F-Dur ist des heroischen Tonfalls denkbar unverdächtig und steht
seit der „Pastorale“ weit mehr für liebliche Bukolik und Idylle als für den „Griff in den Rachen
des Schicksals“. Doch nimmt das so heiter und
optimistisch angelegte Werk im Finale eine Wendung, die erneut als gegenläufig zu Beethovens
„Dritter“ angesehen werden kann: Statt die Tonart F-Dur des eröffnenden „Allegro con brio“ aufzugreifen, bedient sich Brahms im letzten Satz
der spannungsreichen Moll-Variante, macht das
Finale zum Schauplatz „eines gewaltigen Ringens
elementarer Kräfte“ und löst sich überraschend
erst in den letzten 40 Takten vom f-Moll des Beginns, um zuletzt alle tragischen Zerwürfnisse und
Konfliktballungen einer denkbar unheroischen,
mehr verdämmernden als verklärenden Schlusslösung zuzuführen.
Deutet dieser rätselhafte Schluss auf eine Verweigerungshaltung des Komponisten, sich unters
Joch der „heroischen“ Gattungstradition zu begeben ? Läutet Brahms hier die Abdankung dessen ein, was seit Beethovens „Eroica“ als ethische
Verfasstheit symphonischen Selbstverständnisses gegolten hat ? Schon Brahms’ Zeitgenossen
versuchten, dem überraschend „unheroischen“
Schluss der „Dritten“ mit außermusikalischen Poetisierungen beizukommen. Dass sich, wie Martin
Geck bemerkte, „symphonischer Schlussjubel im
traditionellen Sinn“ nicht einstellt, ließ etwa Peter
Benary zu der Erkenntnis kommen, Brahms stelle
in seiner Anti-„Eroica“ die klassische Werkästhe-
Essay
Brahms, der
Unheroische
tik insgesamt in Frage und steuere ein nicht gesichertes, sozusagen „offenes“ Ende an: „Eine
interpretatorische Konsequenz läge darin, nicht
mehr auf eine formale Abrundung des Finalsatzes,
nicht mehr auf die Integrierung der Finalcoda ins
Finale als Ganzes abzuzielen, sondern entweder
durch ein nur geringfügig langsameres Tempo die
Coda in einem Licht erscheinen zu lassen, das weniger Verklärung als Verdämmern, weniger Entrückung als Resignation zum Ausdruck brächte – oder
aber eine Brüchigkeit der Form zu offenbaren, wie
sie dann in Gustav Mahlers Symphonik unverhüllt
zutage tritt.“
Unterliegen statt siegen
Mahler wird hier nicht umsonst als geistiger Erbe
weniger von Bruckner als von Johannes Brahms
genannt. Wenn Brahms dem üblichen Auftrumpfen
heroischer Schlussgesten eine mehr als deutliche
Absage erteilt, dann stellt sich als Reminiszenz
an Gustav Mahler wiederum das Wort von den
„Balladen des Unterliegens“ ein, das sein Exeget
Theodor W. Adorno auf Mahlers Symphonien prägte. Nicht um die masochistische Selbstfeier von
„Niederlagen“ gehe es hier, sondern um die rechtzeitig erteilte Absage ans heroische „Durchhalten“, ans „Siegen müssen“ um jeden Preis. Adorno hätte auch an das nicht minder zeittypische
„Requiem“ von Rainer Maria Rilke erinnern können,
in dem lakonisch bemerkt wird: „Wer spricht von
Siegen ? Überstehn ist alles.“ Hier schließt sich
der Kreis zu Wagners „Ertragen statt erliegen !“
und zu der Brahms mit Mahler verbindenden, höchst
subversiven Energie einer zwischen Tradition und
Moderne vermittelnden Haltung der Resignation.
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Wenn Beethovens „Heroismus“ nur noch ironischbrüchig als Zitat aufscheint, dann heißt das aber
noch nicht, dass musikgeschichtliche „Abdankung“
ausschließlich vergangenheitsorientiert sein muss.
„Resignare“ kann auch bedeuten, neue Zeichen zu
setzen, und in diesem Sinne hat Arnold Schönberg
Brahms als den „fortschrittlichen“ unter seinen
Zeitgenossen gefeiert, als Vorboten Gustav Mahlers und Alban Bergs, der wie diese bereits voll
des Wissens war, „dass keine Hoffnung sei, als
die des ‚Lass fahren dahin... !‘ “
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Maurice Ravel: Klavierkonzert G-Dur
Musik, „nichts als Musik“
Stephan Kohler
Maurice Ravel
Entstehung
(1875–1937)
Während sich Ravel gegen Ende 1928 mit Plänen
für ein Klavierkonzert trug, das er für sich selbst
als Konzertpianist zu schreiben gedachte, erreichte ihn der unerwartete Auftrag des einarmigen
Wiener Pianisten Paul Wittgenstein für ein Klavierkonzert nur für die linke Hand. In der Folge
entstanden vom Sommer 1929 an beide Klavierkonzerte parallel, wobei das einhändige Konzert
für Paul Wittgenstein nach nur 9-monatiger Arbeitszeit fertiggestellt war, während das zweihändige Konzert aufgrund von wiederholten Erkrankungen des Komponisten erst im November
1931 beendet werden konnte.
Konzert für Klavier und Orchester G-Dur
1. Allegramente
2. Adagio assai
3. Presto
Widmung
Ravel widmete das Werk seiner ersten Interpretin: der französischen Pianistin Marguerite
Long (1874–1966); er selbst sah sich aus gesundheitlichen Gründen nicht (mehr) in der Lage,
wie ursprünglich geplant den Klavierpart selbst
zu übernehmen.
Uraufführung
Lebensdaten des Komponisten
Geboren am 7. März 1875 in Ciboure gegenüber
dem Hafen von Saint-Jean-de-Luz im französischen Baskenland (Département PyrénéesAtlantiques); gestorben am 28. Dezember
1937 in Paris.
Am 14. Januar 1932 in Paris in der Salle Pleyel
im Rahmen eines Ravel-Festivals (Orchester
der „Concerts Lamoureux“ unter Leitung von
Maurice Ravel; Solistin: Marguerite Long); drei
Monate später, im April 1932, nahm Ravel das
Konzert mit Marguerite Long in einem Pariser
Schallplattenstudio auf.
15
Maurice Ravel (um 1930)
16
Maurice Ravel: Klavierkonzert G-Dur
Rätselhafter Einzelgänger
Der Vater der „Groupe des Six“
Wer war Maurice Ravel ? So einfach die Beantwortung dieser Frage zu sein scheint, so diffizil
wird sie bei näherem Umgang mit Biographie
und Musik des in aller Welt und manchmal bis
zum Überdruss als Schöpfer des „Boléro“ bekannten Komponisten. Unbeirrbares Unabhängigkeitsstreben, verbunden mit einem stark
ausgeprägten Hang zur Selbstkritik, formte Ravel zum Gegentyp eines selbstgefälligen Komponiervirtuosen, als den ihn die Öffentlichkeit
aufgrund der äußerlichen Brillanz eines Werks
wie des späten G-Dur-Klavierkonzerts nur zu gern
einstufte: Die stupende Beherrschung der Ausdrucksmittel, der Einfallsreichtum von Ravels
Instrumentationskunst, die scheinbare Mühe­
losigkeit seines Produzierens und nicht zuletzt
der viele Zeitgenossen peinigende Erfolgskurs
seiner Werke bildeten Irritationsmomente, denen nicht nur die deutsche, sondern zeitweise
auch die französische Musikkritik mit Unverstand und Ignoranz begegnete.
Man hat in der Vergangenheit den Komponisten des „Pelléas“ jedoch immer wieder mit dem
des „Daphnis“ in einem Atemzug genannt, als
handle es sich bei Debussy und Ravel um ein
ähnliches Dioskurenpaar wie bei Bach und Händel, Schumann und Mendelssohn oder Pfitzner
und Strauss. Mitnichten ist dies der Fall: Zahlreiche Stileigentümlichkeiten von Ravels G-DurKonzert verweisen weniger auf Mitläuferschaft
in der wohlfeilen Woge des „debussysme“ als
auf Vorläuferschaft zum Neoklasizismus der
sogenannten „Groupe des Six“, der nächsten
Komponistengeneration, die sich um Jean Cocteau als Chefideologen geschart hatte.
Auch das formal Unantastbare, der Feinschliff und
die Konturenfülle von Ravels G-Dur-Konzert wurden als bloße Äußerlichkeit abgetan, obwohl es
sich gerade in der architekturalen Kühle seiner
Formbildungen, in der reißbrettartigen Schärfe
seiner Verlaufsstrategien am deutlichsten vom
„impressionistischen“ Tonfall Debussys unterscheidet, mit dem es höchstens ein schmales Repertoire
an Klangidiomen verbindet: Über einzelne atmosphärische Analogien, hervorgerufen durch die
zeitgebundene Verwurzelung beider Komponisten
im Pariser Fin-de-Siècle, geht die oft gedankenlos
kolportierte „Abhängigkeit“ Maurice Ravels von
Claude Debussy nicht hinaus.
Beriefen sich die französischen Neoklassizisten
auf eine bewusst anti-romantische Musizierhaltung, scheuten sie vor klanglichen Härten
und bruitistischen Akzenten nicht zurück, und
erhoben sie Einfachheit und Klarheit zu ihren
bevorzugten Stilpostulaten, so verdankten sie
viele dieser Forderungen den beiden zwischen
Sommer 1929 und November 1931 fast gleichzeitig entstandenen Klavierkonzerten Ravels,
von denen das für zwei Hände geschriebene
G-Dur-Konzert den Spätstil des Komponisten
fast noch paradigmatischer repräsentiert als
das originelle, nur für die linke Hand komponierte Auftragswerk für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein.
„Komplex, nicht kompliziert“
Klangliche Transparenz, Tendenz zur Einfachheit
von Form, Melodie und harmonischem Grundmuster, sowie eine bis dahin nicht gekannte Vorrang-
17
Ravels Flügel, an dem er das Klavierkonzert komponierte – darüber das Portrait der geliebten Mutter,
gemalt von seinem Onkel Édouard Ravel
18
Maurice Ravel: Klavierkonzert G-Dur
stellung rhythmischer Parameter zeichnen diesen
Spätstil aus, dessen Mittlerrolle zwischen Impressionismus und Neoklassizismus, zwischen Fin-desiècle und Moderne, auch heute noch keineswegs
voll erkannt ist. Unter der Vorgabe, „komplex,
aber nicht kompliziert“ zu schreiben, wird in vielen dieser letzten Werke Maurice Ravels eine
„Musik der Fülle und Aufrichtigkeit des Ausdrucks“
angestrebt, die nie aufhören sollte, Musik, „nichts
als Musik“, zu sein.
In den sparsamen Äußerungen zu seinem G-DurKlavierkonzert, die von Ravel überliefert sind,
verwies er immer wieder auf Mozart, der ihm
zeitlebens das größte Vorbild blieb und in dessen Werk er die eigenen Ansprüche an Luzidität,
handwerkliche Meisterschaft, klassische Symmetrie und spielerische Eleganz aufs Vollkommenste verwirklicht sah. „Meine Musik ist ab­
solut einfach“, bekannte er einmal, „nichts als
Mozart.“ Oder an anderer Stelle: „Ich bin kein
moderner Komponist im strengsten Sinn des
Wortes, weil meine Musik keine Revolution, sondern eher eine Evolution ist. Obwohl ich neuen
Ideen in der Musik immer zugänglich war, habe
ich niemals versucht, die Gesetze der Harmonie
und Komposition über den Haufen zu werfen. Im
Gegenteil, ich habe immer großzügig meine Inspiration aus den großen Meistern geschöpft,
habe niemals aufgehört, Mozart zu studieren,
und meine Musik ist folglich zum größten Teil auf
den Traditionen der Vergangenheit aufgebaut.“
Zwischen Jazz und baskischer
Folklore
Ravels Wunsch, neben dem für die linke Hand
des kriegsverletzten Paul Wittgenstein geschrie-
benen „Spezialwerk“ ein gattungskonformes,
sozusagen „regelrechtes“ Klavierkonzert zu komponieren, rief bei den Zeitgenossen zwangsläufig den Eindruck einer gewollten Synthese hervor – des Zusammenklangs von monochromer
und polychromer Schreibweise und der Versöhnung klangästhetischer Gegensätze, die Ravel
bis dahin eher als Alternativen gehandhabt hatte. Er selbst nannte das Konzert „ein interessantes Experiment“ im Hinblick auf seine eigenwillige stilistische Position zwischen Prokofjew und
Mozart, zwischen Jazz und baskischer Folkore,
zwischen Drive und Divertissement.
Wie so oft bei Ravel, stellt sich auch im G-DurKonzert das „Sujet“ der Musik erst auf dem Rücken ihrer virtuosen Bewältigung her: Technik
bildet zwar nach wie vor die „conditio sine qua
non“ des Klavierspiels, bleibt für sich genommen aber ohne wirklich tiefere Bedeutung. Um
diese unterhalb der Tastenoberfläche zu entdecken, genüge es, den Klavierpart Note für
Note lediglich zu „spielen“ – die richtige Art,
ihn zu „interpretieren“, ergebe sich dann wie
von selbst... Verklausulierungen wie diese rühren an Ravels Vorliebe für die perfekte artistische Illusion, die als reines Phantasieprodukt
das übliche Vexierspiel zwischen Sein und Schein
in nichts auflöst. „Kunst sollte die Nachahmung
dessen sein, was nicht existiert“, hatte schon
Paul Valéry gefordert und damit eine oft verdrängte Dimension von Ravels Musik umschrieben: ihren Hang zu Mystik und Transzendenz,
mit dem sie die Klangsinnlichkeit zu einer Art
Metaphysik der Diesseitigkeit überhöht.
Claude Debussy: „La Mer“
19
Im Ozean des Lebens
Stephan Kohler
Claude Debussy
(1862–1918)
„La Mer“
Trois esquisses symphoniques
1. „ De l’aube à midi sur la mer“
(Von der Morgendämmerung bis zum Mittag
auf dem Meer)
2. „ Jeux de vagues“ (Wellenspiele)
3. „ Dialogue du vent et de la mer“
(Wechselspiel zwischen Wind und Meer)
Lebensdaten des Komponisten
Geboren am 22. August 1862 in Saint-Germainen-Laye (Département Yvelines / Region Paris);
gestorben am 25. März 1918 in Paris.
Entstehung
Debussy begann das von Anfang an dreiteilig
geplante Werk im Sommer 1903, als er bei den
Eltern seiner ersten Frau Rosalie („Lilly“) Texier
(1873-1932) in Bichain / Burgund wohnte. Der
1. Satz trug anfangs noch den Titel „Mer belle
aux Îles Sanguinaires“ (Ruhige See vor den Îles
Sanguinaires, einer kleinen Inselgruppe bei Korsika), der 3. Satz „Le vent fait danser la mer“
(Der Wind lässt das Meer tanzen); nach einer
Umarbeitung des Schlusses von Satz 2 wurde
die Partiturreinschrift am 5. März 1905 in Paris
beendet. Der revidierte Druck von 1909 unterscheidet sich von der 1905 erschienenen Erstausgabe durch rund 80 Änderungen der Instrumentation, Phrasierung und Dynamik.
Widmung
„Pour la p. m. [= petite mienne] dont les yeux
rient dans l’ombre“ (Für meine Kleine, deren
Augen sogar im Schatten lachen); die sehr private, bewusst verklausulierte Widmung bezog
sich auf Debussys Geliebte und spätere (zweite) Frau Emma Moyse-Bardac (1862–1934), wurde
in der handschriftlichen Partitur im Nachhinein
getilgt und erschien auch nicht in der gedruckten Partitur, die der Komponist seinem Verleger
Jacques Durand (1865–1928) widmete.
Uraufführung
Am 15.Oktober 1905 in Paris (Orchester der
„Concerts Lamoureux“ unter Leitung von Camille Chevillard); Erstaufführung der von Debussy durchgeführten Revision der Partitur: Am
19. Januar 1908 in Paris (Orchester der „Concerts Colonne“ unter Leitung von Claude Debussy).
20
Claude Debussy: „La Mer“
„Musicien français“
Debussy war weder timider Einzelgänger wie
Ravel, noch lebte er wie dieser zurückgezogen
und fernab der Großstadt, sich jeder Vereinnahmung durch die Öffentlichkeit verweigernd.
Im Gegenteil: Er liebte es, der Mitwelt ideologisch verbrämte oder gar nationalistisch überhöhte Funktionsbestimmungen von Musik aufzuzwingen und benutzte seine Doppelrolle als
umstrittener „Neutöner“ und gefürchteter Rezensent auch immer ein wenig zur Absicherung
des eigenen Nachruhms. Anders als der völlig
uneitle und uneigennützige Ravel sah Debussy
seine Rolle nicht als altruistisch gesinnter Förderer jüngerer Kollegen, sondern wollte als
„musicien français“ der französischen Musik
– und nicht zuletzt seiner eigenen – die Vorrangstellung in der europäischen Moderne
sichern.
Da ihn seine Lebenszeit sowohl zum Zeitgenossen der deutschen Spätromantiker als auch der
Wiener Schule um Arnold Schönberg machte,
musste Debussys Position, die unbestreitbar
eine Gegenposition zu diesen beiden sehr deutschen Musikströmungen darstellte, in doppelter
Hinsicht befremden: als Inkarnation einer in
spezifisch französischen Traditionen verharrenden, sensualistischen Sinngebung von Musik,
die ohne die Materialschwere des „teutonischen
Kontrapunkts“, erst recht ohne die Hybris von
Wagners und Schönbergs Musikphilosophien
auskam; und nicht minder als Ausdruck der unterschwelligen Subversion, mit der Debussy die
Autorität der traditionellen Tonalität untergrub
und ihre Regeln geschickt zu überspielen verstand.
Auf der Suche nach mediterraner
„Clarté“
Worin besteht nun das viel zitierte „Französische“ in Debussys Musik ? Er selbst, der sich
vehement gegen eine Internationalisierung der
Musik unter dem Diktat des aus Deutschland
importieren „wagnérisme“ wandte, empfahl
seinen Landsleuten als identitätsstiftendes
„Gegengift“ gegen die aus Bayreuth eingewanderten tristanisierenden Viren die radikale geschichtliche Kehrtwende, den Gang „ad fontes“
(= zu den Quellen). Sein Purifikationswille ließ
ihn bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinabsteigen, wo er vom Ausland noch unbeeinflusste
französische Komponisten vorzufinden gedachte, die seinem Stilideal einer mediterranen
„clarté“ entsprachen: „Französische Musik, das
heißt Klarheit, Eleganz, einfache und natürliche Deklamation. Französische Musik will vor
allem Freude bereiten [‚faire plaisir‘]; Couperin,
Rameau, das sind wahre Franzosen !“
Hier hilft ein flüchtiger Blick auf Debussys eige­
nes Œuvre einem vorschnellen, typisch deutschen Missverständnis vorzubeugen: „Faire
plaisir“ bedeutet in der Tat „Freude bereiten“,
aber gemeint ist die „Freude des Geistes [‚es­
prit‘] “, nicht platte Unterhaltung oder dümm­
liches „Entertainment“, und mit dem Rekurs auf
die Komponisten des barocken „Grand Siècle“
wird keineswegs einer bloß historisierenden
Altertümelei das Wort geredet. Ohnehin legte
Debussy mit einem Werk wie den „Drei symphonischen Skizzen“, die er unter dem Titel „La
Mer“ zusammenfasste, ein authentischeres
Glaubensbekenntnis zu seinen Kompositionsprinzipien ab als mit manchen seiner tages­
21
33
Ivan Thièle: Claude Debussy (um
1905)
(1905)
22
Claude Debussy: „La Mer“
politisch motivierten Glossen in den Pariser Gazetten des Fin-de-siècle.
Das Meer als Abbild der mensch­
lichen Seele
„Leider, leider hören nicht alle Ohren gleich !“
Mit diesem Stoßseufzer Debussys, geäußert
in einem Brief an den ihm prinzipiell gewogenen Musikkritiker Pierre Lalo ist bereits die latent prekäre Rezeptionsvielfalt benannt, die
sich aus dem akustischen Assoziationsspektrum
eines Hörers von „La Mer“ ergeben kann. Sind
es biographisch-lebensweltliche, pittoreskbeschreibende, abstrakt-mathematische oder
gar mystisch-verrätselte Aspekte, die hier unter dem Synonym eines der vier Elemente musikalisch zusammengefasst sind ? Mit der Begriffsbildung „L’homme océan“ hatte ja schon
Victor Hugo in Anlehnung an Shakespeares
Charakterportraits die Seelenlandschaft des
Menschen als vielschichtiges Abbild des Meeres zu deuten versucht, und noch Debussys
Freund Ernest Chausson widmete mit seinem
„Poème de l‘Amour et de la Mer“ der Ineinssetzung von Seelen- und Meereslandschaft
eine hochbedeutsame Komposition.
Auch in Claude Debussys Biographie schlugen
während der Entstehung von „La Mer“ die Wellen hoch und sollten sich nicht so bald wieder
glätten: die stürmische Auflösung seiner Ehe
mit Rosalie Texier provozierte nicht nur einen
Selbstmordversuch der verlassenen Gattin und
entfremdete ihn seinem gesamten Freundeskreis, sondern zog auch eine unangenehme und
für Debussy äußerst schädliche Pressekampag­
ne nach sich. Es wäre denkbar, dass „La Mer“
diese dramatischen Vorgänge wenn nicht spiegelt, so doch zumindest teilweise verarbeitet,
denn immerhin schrieb Debussy über sein Manuskript die später getilgten Widmungsworte:
„Pour la petite mienne dont les yeux rient dans
l’ombre“ (Für meine Kleine, deren Augen sogar
im Schatten lachen); gemeint war Emma Bardac, die Mutter eines Schülers, für die er im
Herbst 1903 seine Frau Lilly verlassen hatte.
Doch ebenso gut ließen sich die apotheotische
Klimax des ersten Satzes, die krisenhafte Nervosität des zweiten und die aggressiven Klangballungen des Finales als Metaphern für das
Spiel von Wasser, Wind und Licht deuten.
„Tönend bewegte Mathematik“
Doch gerade dieses bezweifelte Pierre Lalo in
seiner Uraufführungskritik, die er auf die bündige Formal brachte, in „La Mer“ sei das Meer
weder zu hören, noch zu sehen und noch nicht
einmal zu spüren: Das Publikum der Jahrhundertwende hatte sich an die deskriptivistischen
Exzesse der zeitgenössischen Programmmusik
so sehr gewöhnt, dass es, wo Debussy ein imaginiertes Bild aus Klängen vorschwebte, ein
realistisches, klingendes Abbild erwartete. Die
Hoffnung auf sinnliche „Augenmusik“ wird zwar
von den einzelnen Satzüberschriften genährt,
die in der Tat dem musikalischen Verlauf des
Triptychons in sehr konkreter Weise entsprechen; dennoch ist die Partitur von „La Mer“
nichts weniger als bloßer Spiegel des Äußeren
oder die Übertragung impressionistischer Maltechniken auf die Musik. Alternative Satztitel
aus der Entstehungszeit, etwa „Le vent fait
danser la mer“ (Der Wind bringt das Meer zum
Tanzen), huldigen einer eher symbolistisch,
23
35
Titelillustration für „La Mer“ unter Verwendung von Katsushika Hokusais Farbholzschnitt
„Die
große Welle
vor große
Kanagawa“
Farbholzschnitt
„Die
Welle (1905)
vor Kanagawa“ (1905)
24
Claude Debussy: „La Mer“
irreal unterwanderten Phantasie und machen
nachvollziehbar, warum Debussy die Formel
„impressionistisch“ nicht mal als bloße Worthülse oder Verständigungschiffre für „La Mer“
zulassen wollte.
Das irreale Moment der inhaltlichen unterliegt
auf der rein formalen Ebene der Bändigung durch
exakte, mathematisch genaue Konstruktionsverhältnisse, die auf den Partiturverlauf geometrisch organisierte Proportionen wie Symmetrie oder Goldener Schnitt projizieren. Wäre „La
Mer“ demnach – in Anlehnung an Eduard Hanslicks berühmte Wortprägung – eine Art von „tönend bewegter Mathematik“ ? Dagegen hätte
der Komponist vermutlich nichts einzuwenden
gehabt; denn noch im Entstehungsjahr 1903 –
die zeitliche Parallelität kann kein Zufall sein
– konstatierte Debussy in einem in Paris publizierten Aufsatz: „Musik ist eine geheimnisvolle
Art von Mathematik, deren Elemente universale Gültigkeit besitzen. Mit Musik lässt sich der
Lauf des Wassers beschreiben; mit Musik wird
erklärbar, wie die Wolken am Himmel ziehen;
und letztlich gibt es für Musik kein besseres
Sujet als einen Sonnenuntergang am Meer !”
Synthese-Versuch auf mehreren
Ebenen
Mit seinem auf äußerste Dichte, Komplexität
und Kontrastreichtum angelegten Orchester
wagte Debussy einen Synthese-Versuch auf
mehreren Ebenen: Tradierte Formmodelle der
überlieferten Symphonik werden mit freien
Formgestaltungen verschmolzen, wie es um
1900 für die Gattung der „Symphonischen Dichtung“ typisch war; gleichzeitig spiegeln die
zyklisch aufeinander bezogenen Sätze entfernt
das formale Grundmuster einer 3-sätzigen Symphonie. Auf der Ebene des musikalischen Materials sucht Debussy die Synthese zwischen
differenziertesten Gebilden freier und polymodaler Chromatik, emanzipierten Klang- und Geräuschfeldern sowie rhythmisch komplexen,
melodisch aber eher einfachen Formeln.
Es verwundert nicht, dass die Errungenschaften von Debussys „La Mer“ sogar noch die
Komponisten der nächsten Generation beeindruckten, ja form- und stilbildend auf sie wirkten. Der junge Béla Bartók etwa, wie er bereitwillig zugab, verdankte die Leuchtkraft seines
sinnlichen Klangdenkens – neben dem von ihm
hochverehrten Richard Strauss – vor allem der
musikalischen Sprache Claude Debussys: Als
der Geiger André Gertler Bartók noch in den
späten 30er Jahren auf das naturhaft Fließende, Strömende seiner „Musik für Saiteninstrumente“ ansprach, auf die schier unendlichen
Verzweigungen der Themen in immer wieder
neue Richtungen, erhielt er folgerichtig zur
Antwort: „Merken Sie es wohl ? Es ist ‚La Mer‘ !“
22
Die Künstler
25
Semyon Bychkov
Dirigent
Der in Leningrad (St. Petersburg) geborene Semyon
Bychkov gewann als Zwanzigjähriger den Rachmaninow-Dirigierwettbewerb. Dass ihm der Preis, die
Leningrader Philharmonie zu dirigieren, vorenthalten
wurde, trug zu seiner Entscheidung bei, zwei Jahre
später die ehemalige Sowjetunion zu verlassen.
In seiner Heimatstadt St. Petersburg besuchte
Zu
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dem Zeitpunkt,
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er bis 1998
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der Sächsischen Staatsoper Dresden (1998).
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2000).
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anerkannt ist er für seine Interpretationen der Wer1998
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und Verdi.
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den
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Wiener Philharmonikern.
und dem New York Philharmonic.
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In 1986 war
begann
Semyon
Bychkov
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des
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(1997–2010),
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mit dem des
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und
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beim Orchester
Aufnahmen
der Mailänder
Scala.
der Brahms
Sinfonien und der Werke von Strauss,
Mahler, Schostakowitsch, Rachmaninow, Verdi,
Glanert und Höller hervor. 2010 wurde Bychkovs
Aufnahme des »Lohengrin« vom BBC Music Magazine als »Record of the Year« ausgezeichnet.
Goya
Alle Radierzyklen
17.7.–13.9.2015
Münchner Künstlerhaus
Lenbachplatz 8, www.goya-muenchen.de
Die Künstler
27
Jean-Yves Thibaudet
Klavier
Tilson Thomas und Leonard Slatkin. Regelmäßige Auftritte bei großen Musikfestivals führten
ihn u. a. nach Tanglewood und zum SchleswigHolstein Musikfestival. Daneben hat sich JeanYves Thibaudet auch als vielseitiger Kammer­
musiker einen Namen gemacht; als Liedbegleiter
trat er gemeinsam mit Renée Fleming, Olga Borodina und Cecilia Bartoli auf.
Der von deutsch-französischen Eltern abstammende Pianist wurde in Lyon geboren; er erhielt
mit fünf Jahren seinen ersten Klavierunterricht
und trat im Alter von sieben Jahren erstmals
öffentlich auf. Thibaudets wichtigste Lehrer
waren Lucette Descaves, eine Freundin und
Mitarbeiterin von Maurice Ravel, und Aldo Ciccolini, bei dem er als 12-Jähriger am Pariser
Conservatoire zu studieren begann. Im Alter von
15 Jahren gewann er dort den „Premier Prix du
Conservatoire“ und drei Jahre später die Young
Concert Artists Auditions in New York.
Jean-Yves Thibaudet tritt weltweit als Solist mit
bedeutenden Orchestern auf und spielt unter
Dirigenten wie Vladimir Ashkenazy, Riccardo
Chailly, Charles Dutoit, Valery Gergiev, Michael
Der Pianist macht auch erfolgreiche Ausflüge in
den Jazz, so z. B. mit seinen Programmen „Reflections on Duke Ellington“ und „Conversations
with Bill Evans“ (ECHO-Preis 1998). 2002 erhielt
er den „Premio Pegasus“ des Spoleto Festivals
für seine künstlerischen Leistungen und sein
langjähriges Engagement in Spoleto. Im Juni
2010 ehrte die Hollywood Bowl Thibaudet für
seine musikalischen Erfolge durch die Aufnahme
in ihre Hall of Fame. Außerdem verlieh das Französische Kultusministerium ihm im Jahr 2012 den
Titel „Officier des Ordre des Arts et des Lettres“,
nachdem er bereits 2001 zum „Chevalier de l’Ordre
des Arts et des Lettres“ ernannt worden war.
Seine Konzertkleidung entwirft die gefeierte
Londoner Designerin Vivienne Westwood.
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28
24
Auftakt
„Tiefer Trost und Rechtfertigung“
Die Kolumne von Elke Heidenreich
Neulich habe ich Hermann Hesses „Steppenwolf“ noch mal gelesen – sollte man
in meinem Alter nicht tun, da gehen ein
paar schöne Erinnerungen und Eindrücke
verloren, die mit siebzehn, achtzehn,
wenn man das Buch zum ersten Mal
liest, lesen sollte, stark waren. Die Welt
ist uns, wenn wir älter werden, nicht
mehr ganz so zerrissen, wir haben unseren Platz darin gefunden und suchen nicht mehr so wie Harry
Haller alias Hermann Hesse. Aber was mich wieder
fasziniert hat, war das Kapitel, in dem Harry Haller
im Drogenrausch in seinem imaginären Theater eine Musik hört, schön und schrecklich, die Musik,
die in Mozarts „Don Giovanni“ das Auftreten des
Steinernen Gastes begleitet. Und plötzlich erklingt
„ein helles und eiskaltes Gelächter, aus einem den
Menschen unerhörten Jenseits von Gelittenhaben,
von Götterhumor geboren.“ Haller wendet sich um
und sieht Mozart, lachend, und Mozart zeigt hinunter in die Tiefe des Zaubertheaters, wo sich eine
wüstenähnliche Ebene ausdehnt. „In dieser Ebene
sahen wir einen ehrwürdig aussehenden alten Herrn
mit langem Barte, der mit wehmütigem Gesicht einen gewaltigen Zug von einigen zehntausend schwarzgekleideten Männern anführte. Es sah betrübt und
hoffnungslos aus, und Mozart sagte: ‚Sehen Sie,
das ist Brahms. Er strebt nach Erlösung, aber damit
hat es noch eine gute Weile.‘ Ich erfuhr, dass die
schwarzen Tausende alle die Spieler jener Stimmen
und Noten waren, welche nach göttlichem Urteil in
seinen Partituren überflüssig gewesen wären.“
Der arme Brahms bleibt nicht allein
verspottet, auch Wagner taucht noch
auf und schleppt seine überflüssigen
Noten hinter sich her, sehr, sehr viele. Als ich jung war, bedeutete mir der
Steppenwolf viel, Brahms und Wagner
wenig. Jetzt ist es umgekehrt, aber
alles gehört zusammen: dass man sich
ändert, dass man sich entwickelt, dass man Musik
anders hört und versteht als früher, da man jung
war. Jeder hört anders, jeder, der im Konzert direkt
neben mir sitzt. Manche sehen Bilder beim Hören,
manche erinnern sich an frühere Konzerte mit den
Stücken, die gerade gespielt werden – das meiste
kennt man ja und will es doch wieder und wieder
hören, weil es immer anders ist – je nachdem, wer
spielt, wer dirigiert, wie mir an dem Abend zumute ist. Aber eines ist immer gewiss, und das wusste auch Hermann Hesse, dem die Musik zeitlebens
sehr viel bedeutete: „So begierig ich auf manchen
anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen
und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach
Erkenntnis und Frieden dürstete, gefunden habe
ich das alles immer nur in der Musik. Es brauchte
nicht Beethoven oder Bach zu sein: – dass überhaupt
Musik in der Welt ist, dass ein Mensch zuzeiten bis
ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien
durchblutet werden kann, das hat für mich immer
wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung
alles Lebens bedeutet.“*
*Aus dem Musikerroman „Gertrud“, 1909
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Nachruf Notizen
Philharmonische
29
25
In tiefer Trauer
Arnold Riedhammer
Am 2. Juni 2015 ist Thomas Walsh ganz unerwartet verstorben. Tom war langjähriger Tubist der
Münchner Philharmoniker, Hauptdozent an der
Hochschule für Musik und Theater München und
Gründungsmitglied der Gruppe „Blechschaden“.
Tom hat sich als Dozent für Tuba weltweit einen
großen Namen gemacht und zahlreichen Studenten
den Weg in die besten Orchester geebnet. Seine
Solos und sein Humor werden bei „Blechschaden“
unvergesslich bleiben. Für alle, die ihn kannten –
ein großer Verlust als Mensch, Freund, Musiker
und Kollege!
Lieber Tom, Du bist viel zu früh von uns gegangen.
R.I.P.
Arnold Riedhammer
Ehemaliger 1. Schlagzeuger der
Münchner Philharmoniker
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Im Instrumentenlager
belauscht
Philharmonische Notizen
Herzlich Willkommen
Wir bekommen eine neue stellvertretende Konzertmeisterin und ein neuen Solo-Hornisten: Lucja Madziar (Violine) und Matias Piñeira (Horn) treten ab September ihren Dienst und damit ihr Probejahr an.
Abschied
Karel Eberle verabschiedet sich ab Juni in den
wohlverdienten Ruhestand. Er war seit 1972 Mitglied der 1. Geigen und stellvertretender Konzertmeister.
Orchesterakademie
Unsere Fagott-Akademistin Ryo Yoshimura hat die
Stelle als 2. Fagottistin bei den Wiener Symphonikern gewonnen. Als Akademistin bleibt sie uns aber
noch bis zum Sommer erhalten.
Wir gratulieren und wünschen alles Gute!
MPhil vor Ort bei „Klassik & Klub“ im
„Harry Klein“ und Holleschek+Schlick in
den Postgaragen
Am 13. Mai ging „Klassik & Klub“ in die nächste
Runde im „Harry Klein“. Kai Rapsch (Oboe und
Englischhorn), Clément Courtin (Violine), Beate
Springorum (Viola) und David Hausdorf (Violoncello) spielten Mozarts Oboen-Quartett und Jean
Françaix Quartett für Englischhorn, Violine, Viola
und Violoncello. Johannes Öllinger (Gitarre) war
ebenso zu Gast.
Seit magischen sieben Jahren feiern Holleschek+Schlick
in den Postgaragen. Jetzt werden sie abgerissen.
Grund genug, jemanden zu holen, der davon was
versteht: Martin Grubinger und die Schlagzeuger
der Münchner Philharmoniker! Ein „letztes Konzert + Abrissfest“ fand statt am Samstag, 25. April (siehe übernächste Seite).
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Ort mit Fest
MPhil vor Mphil
Ort – vor
Konzert
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Konzert mit Fest
Simone Siwek
Am 25. April 2015 waren die Schlagzeuger der
Münchner Philharmoniker mit Martin Grubinger in
einem reinen Percussionkonzert in den Postgaragen zu erleben. Ein MPhil vor Ort-“Spezial“ zu einem besonderen Anlass: das letzte Fest von
holleschek&schlick an diesem Ort, denn die Postgaragen werden abgerissen.
Martin Grubinger war Ende April als Solist zu Gast
bei den Münchner Philharmonikern. Als die Anfrage
kam, ein weiteres Konzert mit unseren Schlagzeugern zu geben, sagte er schnell zu und reiste extra
mehrere Tage früher an, um das ehrgeizige Programm
parallel zu seinem Auftritt als Solist einzustudieren.
Für ihn wie für unsere Schlagzeuger hieß das: intensive Vorbereitung und in vier Tagen über 30 Stunden extra Proben inklusive Nebenwirkungen (siehe
unten). Aber es hat sich gelohnt: Standing Ovations!
„Die Zusammenarbeit mit Martin war wahnsinnig
intensiv. Sie hat mich bereichert und inspiriert. Klar
kosteten die Proben zusätzlich zum Konzertprogramm
in der Philharmonie viel Kraft, setzten aber ungleich
viel mehr positive Energie frei!“ (Jörg Hannabach,
Schlagzeuger)
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MPhil vorMphil
Ort – vor
Konzert
Ort mit Fest
„Anfangs war ich ein wenig skeptisch, als Simone Siwek mir vorgeschlagen hat, ein klassisches Schlagzeugkonzert für ein junges Publikum aufzuführen. ‚Anstrengend‘ war die erste Assoziation. Was Grubinger
und die Münchner Philharmoniker dann in den Postgaragen aufgeführt haben, hat nicht nur das Publikum
aus den Stühlen gerissen. Ich bin bekehrt. Und das
nächste Schlagzeugkonzert ist schon ausgemacht –
stehend dann.“ (Otger Holleschek, Kooperationspartner)
„Wir kennen Martin als Solist mit dem Orchester. Nun
durften wir ihn auch als Teamplayer kennen lernen,
der sich ganz selbstverständlich in unsere Gruppe integrierte. In den Proben legte er großen Wert auf die
Meinung aller Spieler und erwartete von jedem, dass
er sich einbrachte.“ (Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger)
„Martin spielt gerade ein Stück wie Pléiades sonst
mit seinem festen Ensemble. Dass er ein komplettes
Programm mit uns zusagte ist eine große Ehre für jeden von uns! Dieses Projekt hat mich begeistert und
persönlich stark motiviert. Ich denke ich kann für alle
Schlagzeug-Kollegen sprechen, wenn ich sage, dass
uns diese Woche auch als Gruppe nachhaltig zusammengeschweißt hat.“ (Stefan Gagelmann, SoloPauker)
„Martin Grubinger forderte von allen vollen Einsatz.
Das bedeutet: immer 100% – und der Schritt von
99% zu 100% kann groß sein! Er perfektioniert
rhythmische Genauigkeit, Lautstärke, Klang und
Dynamik und verliert dabei nie die Freude am Spielen. Das ist unheimlich ansteckend und fordert einen
mental und körperlich. In meinem Fall bedeutet das:
Muskelkater, zwei blutige Finger und nach diesem
Projekt eine gute Kondition: ich merke, dass ich
mich weniger Einspielen muss.“ (Guido Rückel, SoloPauker)
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MPhil vorMphil
Ort – vor
Konzert
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„Wir hatten nahezu unser komplettes Schlagwerk
im Einsatz. Mit über 60 Instrumenten war der Aufund Umbau sehr komplex und musste auf jeden
Musiker abgestimmt sein. Martin war sehr engagiert und verlangte Musikern und Instrumenten
einiges ab. Erste ‚Opfer‘ waren mehrere Bongos,
deren Felle binnen kürzester Zeit durchschlagen
waren. Zur Sicherheit wurden Ersatzinstrumente
angemietet. Nach dem Konzert mussten 6 Paukenfelle und 18 TomTom-Felle ausgetauscht werden.
Also: bei Werken wie dem Xenakis ist es durchaus
ratsam nicht mit Naturfellpauken zu spielen.“ (Kilian Geppert, stellvertretender Orchesterinspizient)
Das Programm:
Sollima: Millennium Bug, Miki: Marimba Spiritual,
Xenakis: Pléiades (daraus den Fellsatz), Jobim:
Chega de Saudade, Engel: Ragtime und Grubinger:
Planet Rudiment
Es spielten:
Sebastian Förschl, Stefan Gagelmann, Jörg Hannabach, Michael Leopold, Guido Rückel, Walter
Schwarz, Linda-Philomène Tsoungui
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Orchestergeschichte
Die Tonhalle, Heimstatt der Münchner Philharmoniker
von 1895 bis 1944
Gabriele E. Meyer
Bis zur Eröffnung des Kaim-Saales (der späteren
Tonhalle) im Jahre 1895 gab es in München – sieht
man von den akustisch unbefriedigenden CentralSälen in der Neuturmstraße ab – als einzigen großen
Konzertsaal nur das Kgl. Odeon. Allerdings wurde
dieser repräsentative Raum dem 1893 von Franz Kaim
gegründeten Vorgänger der Münchner Philharmoniker nur widerwillig zur Verfügung gestellt; für den
vorausschauenden Unternehmer Grund genug, ein
weiteres Großprojekt in Angriff zu nehmen. Nach
mehreren vergeblichen, weil nicht finanzierbaren
Anläufen, entschloss sich Kaim schweren Herzens,
seinen Saal selbst zu erbauen, und zwar auf dem
Eckgrundstück Türkenstraße 5 zur inzwischen neu
angelegten Prinz-Ludwig-Straße. Die Bauleitung
hatte er Martin Dülfer anvertraut. Die Fassaden
gestaltete der renommierte Architekt im LouisSeize-Stil, wegen der typischen Lorbeer- oder Fruchtgirlanden auch „Zopfstil“ genannt. Schon ein halbes
Jahr nach der Grundsteinlegung im April 1895 wurde der „Kaim-Saal“ mit einem dreitägigen Musikfest
„unter dem Protektorat des Prinzen Ludwig Ferdinand
von Bayern“ eingeweiht (19.–21. Oktober). Die Orchestergründung trat in Anlehnung an den Konzertort nun unter dem Namen „Kaim-Orchester“ auf. Die
ursprünglich veranschlagte Kostenpauschale von
500.000 Mark überschritt Dülfer allerdings „um die
horrende Summe von 380.000 Mark“. Kaim gelang
es nur mit Hilfe „mäcenatischer Gönner, zu denen
maßgeblich Frau Marie Barlow gehörte“, den finanziellen Ruin abzuwenden. Ab Oktober 1905 gingen
die Konzertbesucher in die „Tonhalle“; eine Begründung für diesen Namenswechsel gab es merkwürdigerweise nicht. – Im Laufe der Jahre waren an
dem Saal immer wieder bauliche und akustische
Veränderungen vorgenommen worden, um den Ansprüchen von Musikern und Zuhörern zu genügen.
Viele historisch und künstlerisch bedeutsame Konzertereignisse verzeichnen die Annalen – bis hin zu
jener Nacht des 24./25. April 1944, als ein vor allem
für die Innenstadt verheerender Bombenangriff auch
die philharmonische Heimstatt und den Odeonssaal
in Schutt und Asche legte. Der schmerzliche Nachruf in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ nur
zwei Tage später erinnerte nochmals an das, was
da vernichtet worden war. „Diese Räume waren Individualitäten, jeder hatte seinen besonderen Charakter, dem man als Konzertierender gerecht werden mußte. Jeder hatte auch seine spezifische
Atmosphäre, die den Hörer mit ihrer ganz eigenartigen Stimmung empfing und die sich gewissermaßen aus dem langjährigen künstlerischen Geschehen ergab.“ Noch aber ging der Konzertbetrieb
weiter. Eilends suchte die Stadt nach Ausweichquartieren und fand sie im Prinzregententheater,
im Löwenbräukeller, im Deutschen Museum, in der
Aula der Universität. Nach Kriegsende befanden
sich die Philharmoniker weiterhin auf Wanderschaft.
Zwar probierte Hans Rosbaud, GMD von 1945 bis
1948, zunächst noch in den notdürftig hergerichteten Kellerräumen an der Türkenstraße, die Konzerte aber fanden an anderen Orten statt. Zu einem
durchaus möglichen Wiederaufbau des Saales, in
dem einst Thomas Mann Katja Pringsheim, seine
spätere Frau, entdeckte, konnte man sich nicht
durchringen. Erst 1985 erhielten die Münchner Philharmoniker mit der Philharmonie im Gasteig wieder
ein eigenes Zuhause.
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Das Festival mphil 360°
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„Mein Ziel ist es, dass jeder Münchner die Chance hat,
die Münchner Philharmoniker live zu erleben.“
Dieses ehrgeizige Ziel hat Valery Gergiev zur Antrittspressekonferenz am 31. Januar 2013 formuliert.
Zum Saisonstart 2015/16 rufen die Münchner Philharmoniker und ihr zukünftiger Chefdirigent Valery
Gergiev ein neues Festival in München ins Leben:
mphil 360°. Es wird vom 13. bis 15. November in allen fünf Sälen des Münchner Gasteigs stattfinden.
Freitag, 13.11.2015, 20 Uhr
Schönberg: »Begleitmusik zu einer Lichtspielszene« |
Skrjabin: »Promethée. Le Poème du feu.« | Wagner:
»Die Walküre« 1. Aufzug
Valery Gergiev, Denis Matsuev, Anja Kampe, Johan
Botha, René Pape, Philharmonischer Chor München
Samstag, 14.11.2015, 12 Uhr – 24 Uhr
Musikfest für alle – Eintritt frei
Till Brönner, Hauschka, Andreas Martin Hofmeir,
Miloš Karadaglić, Gewinner des Tschaikowsky-Wettbewerbs, Valery Gergiev, Tin Men and the Telephone, Mariinsky Strawinsky Ensemble, Deutsch-Russisches Ensemble, Odeon Jugendorchester, Kammerorchester der Münchner Philharmoniker, Community Music
Sonntag, 15.11.2015
Kern der Programme am Sonntag sind die fünf Klavierkonzerte Prokofjews. Jedes Klavierkonzert wird
kombiniert mit Werken aus der deutschen bzw.
Münchner Musikgeschichte. Die Münchner Philharmoniker werden dabei zwei Konzerte, das Mariinsky-Orchester drei Konzerte bestreiten.
11 Uhr
Prokofjew: »Symphonie classique« & Klavierkonzert Nr. 1 (Solist: Herbert Schuch) | Haydn: Symphonie Nr. 82 »Der Bär«
13 Uhr
von Weber: Ouvertüre zu »Der Freischütz« | Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 2 (Solist: Denis Matsuev) |
von Weber: »Aufforderung zum Tanz«
15 Uhr
Reger: Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin |
Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 3 (Solist: Behzod Abduraimov)
17 Uhr
Hartmann: Suite aus »Simplicius Simplicissimus« |
Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 4 (Solist: Alexei Volodin)
19 Uhr
Widmann: »Con brio« | Mozart: Klarinettenkonzert
A-Dur (Solist: Jörg Widmann) | Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 5 (Solist: Olli Mustonen)
Karteninformationen
Karten zu allen Veranstaltungen des Festivals gibt
es ab 11.08.2015 im Webshop der Münchner Philharmoniker unter mphil.de und bei München Ticket
(089/54 81 81 400).
Der Eintritt zu allen Veranstaltungen am Samstag,
14.11.2015, ist frei, jedoch nicht ohne Eintrittskarte möglich.
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Vorschau
Do. 02.07.2015, 20:00 Uhr 8. Abo b
Fr. 03.07.2015, 20:00 Uhr 8. Abo c
So. 12.07.2015, 20:00 Uhr
Klassik am Odeonsplatz
Richard Wagner
Vorspiel zu „Parsifal“
Edvard Grieg
„Peer Gynt“-Suite Nr. 1 op. 46
Igor Strawinsky
„Psalmensymphonie“
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
Fantasie-Ouvertüre „Romeo und
Julia“
Anton Bruckner
Messe Nr. 3 f-Moll für Soli, Chor
und Orchester
Carl Orff
„Carmina Burana“
Kent Nagano, Dirigent
Anne Schwanewilms, Sopran
Mihoko Fujimura, Mezzosopran
Michael Schade, Tenor
René Pape, Bass
Philharmonischer Chor München,
Einstudierung: Andreas Herrmann
Krzysztof Urbański, Dirigent
Daniela Fally, Sopran
Benjamin Bruns, Tenor
Jochen Kupfer, Bariton
Philharmonischer Chor München,
Einstudierung: Andreas Herrmann
Kinderchor des Staatstheaters am
Gärtnerplatz, Einstudierung:
Verena Sarré
Impressum
Herausgeber
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4,
81667 München
Lektorat: Stephan Kohler
Corporate Design:
Textnachweise
Thomas Leibnitz, Elke Heidenreich,
Arnold Riedhammer, Monika Laxgang, Simone Siwek und Gabriele
E. Meyer schrieben ihre Texte als
Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Phil­h armoniker.
Stephan Kohler stellte seine Texte
(Brahms, Ravel, Debussy) den Münchner Philharmonikern zum Abdruck
in diesem Programmheft zur Verfügung; er verfasste auch die lexikalischen Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten Werken. Künstler­biographien (Bychkov,
Thibaudet): Nach Agenturvorlagen.
Alle Rechte bei den Autorinnen und
Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungsund kostenpflichtig.
Graphik: dm druckmedien gmbh,
München
Druck: Color Offset GmbH,
Geretsrieder Str. 10,
81379 München
Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix
zertifiziertem Papier der Sorte
LuxoArt Samt.
Bildnachweise
Abbildungen zu Johannes Brahms:
Christian Martin Schmidt, Johannes
Brahms und seine Zeit, Laaber
1998; Christiane Jacobsen (Hrsg.),
Johannes Brahms – Leben und
Werk, Wiesbaden / Hamburg 1983;
Franz Grasberger, Johannes Brahms
– Variationen um sein Wesen, Wien
1952. Abbildungen zu Maurice Ravel:
Roger Nichols, Maurice Ravel im
Spiegel seiner Zeit – Portraitiert von
Zeitgenossen, Zürich – St. Gallen
1990; Theo Hirsbrunner, Maurice
Ravel – Sein Leben, sein Werk,
Laaber 1989. Abbildungen zu Claude
Debussy: Michael Raeburn / Alan
Kendall (Hrsg.), Heritage of Music,
Volume IV, Oxford 1989; François
Lesure, Claude Debussy (Iconographie musicale IV), Genève 1975.
Künstlerphotographien: Sheila Rock
(Bychkov); Decca Kasskara (Thibaudet); Leonie von Kleist (Heidenreich);
Archiv der Münchner Philharmo­n iker (Thomas Walsh), Denise Vernillo und Guido Rückel (MPhil vor
Ort).
DAS
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In freundschaftlicher
Zusammenarbeit mit
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117. Spielzeit seit der Gründung 1893
Valery Gergiev, Chefdirigent (ab 2015/2016)
Paul Müller, Intendant
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