Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73 Im Sommer 1877 zieht Brahms sich zur Erholung erstmalig nach Pörtschach am Wörthersee zurück – und komponiert den größten Teil seiner 2. Sinfonie; im Herbst vollendet er sie in Lichtental bei Baden-Baden. Clara Schumann bekommt am 3. Oktober 1877 bereits den ganzen ersten und einiges vom vierten Satz vorgespielt, worauf sie in ihr Tagebuch notiert, dass der erste sie »hoch entzückte«: »Ich finde ihn in der Erfindung bedeutender als den ersten Satz der ersten Symphonie«; über das Finale ist sie »ganz voller Freude«. Fazit, erleichtert fast: »Mit dieser Symphonie wird er auch beim Publikum durchschlagenderen Erfolg haben als mit der ersten, so sehr diese auch die Musiker hinreißt durch ihre Genialität und wunderbare Arbeit«. (Ins selbe Horn wird der bei den Proben dann anwesende – zumindest als HaydnForscher nicht in Vergessenheit geratene – Carl Ferdinand Pohl stoßen: »Es ist ein prachtvolles Werk, das Brahms der Welt schenkt und zudem so recht zugänglich. Jeder Satz ist Gold, und alle vier zusammen bilden in sich ein notwendiges Ganzes. Leben und Kraft sprudelt überall, dabei Gemütstiefe und Lieblichkeit. Das kann man nur auf dem Lande, mitten in der Natur komponieren.«) Am 22. November 1877 setzt sich Brahms ans Briefeschreiben, um den Freunden einiges über die inzwischen fertige Zweite Sinfonie ›mitzuteilen‹ (und verkehrt dabei, wie üblich, die Sachverhalte eher in ihr Gegenteil). Elisabeth von Herzogenberg erfährt: »Die neue ist aber wirklich keine Symphonie, sondern bloß eine Sinfonie, und ich brauche sie Ihnen auch nicht vorher vorzuspielen. Sie brauchen sich nur hinzusetzen, abwechselnd die Füßchen auf beiden Pedalen, und den f-moll-Akkord eine gute Zeitlang anzuschlagen, abwechselnd unten und oben, ff und pp – dann kriegen Sie allmählich das deutliche Bild von der ›neuen‹.« Und August Cranz wird »gewarnt«: »Die neue Symphonie ist so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so was Trauriges, Molliges geschrieben; die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen.« Ähnlich heißt es noch am 29. Dezember 1877 in einem weiteren Brief an Elisabeth von Herzogenberg: »Hier spielen die Musiker meine Neue mit Flor um den Arm, weil’s gar so lamentabel klingt; sie wird auch mit Trauerrand gedruckt.« Tags darauf findet die Uraufführung statt: in Wien, die Philharmoniker spielen unter Hans Richters Leitung; Pohl: »Musterhafte Ausführung, wärmste Aufnahme. Dritter Satz (Allegretto) da capo, wiederholte Hervorrufe.« Die »offizielle« Uraufführungs-Kritik, von Eduard Hanslick, ist am 3. Januar 1878 in der Wiener Neuen freien Presse zu lesen: »Die vor einem Jahre aufgeführte erste Symphonie von Brahms war ein Werk für ernste Kenner, die dessen fein verzweigtes Geäder ununterbrochen verfolgen und gleichsam mit der Lupe hören konnten. Die zweite Symphonie scheint wie die Sonne erwärmend auf Kenner und Laien, sie gehört allen, die sich nach guter Musik sehnen, mögen sie die schwierigste fassen oder nicht. Unter Brahms’ Kompositionen nähert sich ihr in Stil und Stimmung am meisten das B-Dur-Sextett, also dasjenige seiner Instrumentalwerke, welches ihn am populärsten, ja so sehr beliebt gemacht hat, daß die nachfolgenden komplizierteren Quartette von dieser Liebe zehren konnten ...« Übrigens: Der »Charakter« der Zweiten »ließe sich ganz allgemein bezeichnen als ruhige, ebenso milde als männliche Heiterkeit, welche einerseits zum vergnügten Humor sich belebt, andererseits bis zu nachsinnendem Ernst sich vertieft. Schon der erste Satz, den, ohne weitere Einleitung, gleich ein sanftes dunkles Hornthema beginnt, hat etwas Serenadenartiges, eine Stimmung, die noch mehr im Scherzo und Finale hervortritt ... »Wir können unsere Freude darüber nicht laut genug verkünden, daß Brahms, nachdem er in seiner ersten Symphonie dem Pathos faustischer Seelenkämpfe gewaltigen Ausdruck verliehen, nun in seiner zweiten sich der frühlingsblühenden Erde wieder zugewendet hat.« (Eine unterscheidende Beobachtung, die sich später, bei Karl Geiringer zum Beispiel, sozusagen auf den Punkt gebracht findet: »Eine eigenartige Übereinstimmung im Stimmungsablauf besteht zwischen den ersten beiden Symphonien von Brahms und Beethovens V. und VI. Symphonie.« Die Zweite also Brahms’ »Pastorale«? Der Schluss legt sich nahe.) Variationen über ein Thema von Haydn für Orchester op. 56a Variationen hat Brahms reichlich komponiert. »Ich habe eine eigene Liebhaberei für die Form der Variation und meine, diese Form könnten wir wohl mit unserem Talent und unserer Kraft noch zwingen.« Einem Schüler also würde er raten...? »Variationen schreiben ist vorläufig das Gescheiteste, was Sie tun können. « Und wie? »Ich finde, die Variationenform müßte strenger, reiner gehalten werden. « Vielleicht lohnte ein Blick zurück in die Variationengeschichte? »Die Alten behielten durchweg den Baß des Themas, ihr eigentliches Thema, streng bei.« Später dann? »Bei Beethoven ist die Melodie, Harmonie und der Rhythmus so schön variiert.« So dass die ›Jetztzeit‹ an Erfahrungen reich wäre? »Ich muß aber manchmal finden, daß Neuere mehr (ich weiß nicht rechte Ausdrücke) über das Thema wühlen. Wir behalten die Melodie ängstlich bei, aber behandeln sie nicht frei, schaffen eigentlich nicht Neues daraus, sondern beladen sie nur. Aber die Melodie ist deshalb gar nicht zu erkennen.« Fazit, für ihn selber? »Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas ... Über den gegebenen Baß erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe.« Seine Haydn-Variationen hat Brahms im Sommer 1873 in Tutzing am Starnberger See komponiert (für zwei Klaviere, aber freilich mit Blick aufs Orchester) und am 2. November ‘73 in Wien mit dem Philharmonischen Orchester uraufgeführt. Kritik, ein Jahrzehnt später von Hugo Wolf verfasst (bei aller Boshaftigkeit ein insgeheimes Lob?): »Variationen für Orchester von Herrn Brahms über ein Thema von Haydn legen ein beredtes Zeugnis ab für die eigentliche Begabung Brahms’: die der kunstvollen Mache. Aufs Variieren von gegebenen Themen versteht sich Herr Brahms wie kein anderer. Ist doch sein ganzes Schaffen nur eine große Variation über die Werke Beethovens, Mendelssohns und Schumanns. Ja, wenn man sämtliche Werke von Brahms in diesem Sinne beurteilen würde – und ich halte diesen Standpunkt für den einzigen richtigen – dann lasse auch ich Brahms neben Beethoven gelten, und das Einmaleins kommt dabei auch wieder zu Ehren.« Die mit Brahms bekannt gewordene Clara Schumann-Schülerin Florence May hat es in ihrer Brahms-Biographie von 1905/11 an freundlicheren Worten nicht fehlen lassen: »Die Haydn-Variationen folgen demselben Grundsatz, der sich in den meisten Brahmsschen Werken dieser Gattung geltend macht. Fesselnd, mit steigender Wirkung durch ihren wechselnden Charakter und ihre feine technische Ausführung, bietet uns eine jede ein selbständiges, anziehendes Tonbild, das mehr oder weniger aus dem Thema gewachsen ist, während das ganze Werk zur Einheit abgerundet wird durch ein (nach Art der Chaconne) auf einer immer wiederkehrenden (fünftaktigen) Baßfigur aufgebautes Finale, das, gegen Schluß, immer deutlichere Anklänge an das Thema bringt, bis endlich der Choral selbst wieder einsetzt.« P.S.: Das Divertimento mit dem »Chorale St. Antoni«, das Brahms in der Privatsammlung seines Freundes, des Haydn-Forschers Carl Ferdinand Pohl für sich entdeckte, wird inzwischen allgemein als ›von unbekannter Hand, jedenfalls kaum aus der Feder Joseph Haydns stammend‹ betrachtet. Paul Fiebig