ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE 1994 4. Jahrgang, Nr. 8 INHALT: OTTO NEUMAIER: Arbeitsteilung in der Philosophie F STEPHAN LANDOLT: Nietzsches Metaphysik-Skizze: "Der Wille zur Macht" KRITERION INHALT Vorwort OTTO NEUMAIER Arbeitsteilung in der Philosophie STEPHAN LANDOLT Nietzsches Metaphysik-Skizze: "Der Wille zur Macht" und die Beziehungen dieser Skizze zu den zeitgenössischen Naturwissenschaften HANSPETER FETZ Rezension Frank G. Forresr: Valuemetrics", The Sr:if}u:e ofProfessional tnu] Personal Etltics Hin:elheft: ÖS 35.-: DM 5,50: SFr 5.Für Studierende: ÖS 20,-: DM 3,-: SFr 2,80 Für Bibliotheken: ÖS 50,-: DM 7,50: SFr 7.-- 2 3 21 .40 Abonnement (2 Hefte pro Jahrgang): ÖS 60,-: DM 9,-: SFr 8,50,Für Studierende: ÖS 35,--: DM 5.50; SFr 5,Für Bibliotheken: ÖS 100,-: DM 15,-: SFr 14.- . (Alle Preise zuzüglich Porto) Bankverbinduugen: Österreich: Raiffeisenverband Salzburg. B LZ 35092, Kto.Nr. 9250 I030; Deutschland: Hypo-Bank. BLZ 71020407. 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Außerdem hat Hanspeter Fetz erneut zugeschlagen und rezensiert ein weiteres Buch aus den "Value Inquiry Book Series". Ob Valuemetrics", The Seience oI Professional and Personal Ethics von Frank G. Forrest besser abgeschnitten hat als Ethics: The Science of Oughtness von Archie 1. Bahm? Lesen Sie selbst. Wie Sie schon dem Titelblatt entnehmen können, beschränken wir uns in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift auf den Abdruck zweier Artikel, welche allerdings auch entsprechend umfangreich sind. Otto Neumaier ist treuen KRITERION-Lesern bereits durch seinen Beitrag in unserer Ethik-Nummer (i.e. Nr. 2/1991 - Restexemplare sind noch zu haben) bekannt. Diesmal ist er mit "Arbeitsteilung in der Philosophie" vertreten. Erstmals widmet sich einer der in KRITERION veröffentlichten Artikel der Philosophie Friedrich Nietzsches. Ihre KRITERIOI\l-Redaktion 2 KRITERION, Nr.8 (1994), pp.3-19 Otto Neumaier ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE Im folgenden versuche ich zu klären, ob in der Philosophie so etwas wie Arbeitsteilung besteht bzw. was sich daraus ergibt, wenn sie durchgeführt wird. Um dies zu klären, müssen wir aber zunächst zwei andere Fragen beantworten, nämlich einerseits, was überhaupt unter sozialer Arbeitsteilung zu verstehen Ist, und andererseits, was mit "Philosophie" gemeint ist. Die erste Frage' ist dabei wesentlich ausführlicher zu behandeln als die zweite, und zwar aus mindestens zwei Gründen: (i) Ziel der folgenden Überlegungen ist nicht eine Bestimmung von Philosophie im allgemeinen, sondern eine Klärung der Frage nach der Rolle der Arbeitsteilung in diesem Bereich. Dieses Ziel würden wir aus den Augen verlieren, wenn wir zu bestimmen versuchten, was Philosophie "ist" (was auf so engem Rawn ohnehin nicht geleistet werden kann). (ii) Seit Menschen philosophieren, versuchen sie auch zu bestimmen, was unter Philosophie zu verstehen ist. Diese Versuche haben allerdings bislang nicht zu einem einheitlichen Ergebnis geführt, das für unsere Diskussion vorauszusetzen wäre. Darum können und müssen wir den Begriff der Philosophie nur so weit bestimmen, wie dies für das Folgende nötig und nützlich ist. 1. Was heißt Philosophie'! Der Ausdruck 'Philosophie' bezeichnet nicht unbedingt nur das, was von Vertretern des so genannten Faches an Universitäten gelehrt und erforscht wird, und erst recht nicht nur das Denken von "Großen" Philosophen; mit Schlick (1930) können wir darunter vielmehr bestimmte Tdtigkeiten und deren Ergelmisse verstehen; diese sind durch gewisse Merkmale zu bestimmen, unabhängig davon, von wem sie ausgeübt werden. In diesem Sinne ist die Philosophie also nicht ein geschlossener Raum, den zu betreten und zu pflegen nur bestimmten Menschen vorbehalten bleibt (d. h. solchen, die als Philosophen legitimiert sind), sondern ein etwas weiteres Feld, das prinzipiell jedem Menschen offensteht. Dennoch hat auch dieses Feld seine Grenzen, und die Frage ist, wie diese zu ziehen sind bzw. was als philosophische Tätigkeit anzusehen ist. Für Schlick besteht das philosophische Tun vor allem im Klären von Begriffen und Sdtzen. Das Auf- o stellen von Sätzen, über deren Wahrheit oder Falschheit konkret entschieden werden kann, ist in seinen Augen keine philosophische Angelegenheit, sondern eine wissenschaftliche (im weiten Sinne). Eine Wissenschaft ist für Schlick "ein System von Erkenntnissen, d.h. von wahren Erfahrungssätzen; und die Gesamtheit der Wissenschaften, mit Einschluß der Aussagen des täglichen Lebens, ist das System der Erkenntnisse; es gibt nicht außerhalb seiner noch ein Gebiet 'philosophischer' Wahrheiten, die Philosophie ist nicht ein System von Sätzen, sie ist keine Wissenschaft." Trotzdem betrachtet Schlick die Philosophie' weiterhin als Königin der Wissenschaften, da sie die Bedeutung der in den Wissenschaften verwendeten Wörter und Sätze klärt. Geht es in den Wissenschaften um die Wahrheit von Aussagen, so ist die Untersuchung dessen, "was die Aussagen eigentlich meinen", eine philosophische Tätigkeit: "Inhalt, Seele und Geist der Wissenschaft stecken natürlich in dem, was mit ihren Sätzen letzten Endes gemeint ist; . die philosophische Tätigkeit der Sinngebung ist daher das Alpha und Omega aller wissenschaftlichen Erkenntnis.'" Damit ist natürlich nicht gemeint, daß die wissenschaftliche Tätigkeit sinnlos ist, wenn nicht zuvor die Philosophen den Sinn der dabei verwendeten Wörter und Sätze verbürgt haben; damit ist auch nicht gemeint, daß Physiker, Biologen usw. den Sinn ihrer Ausdrücke nicht selbst klären können; vielmehr meint Schlick: Wer sich darum bemüht, die Bedeutung von Ausdrücken zu klären, übt eine philosophische Tätigkeit aus, die das Fundament der Wissenschaften sichert, Andererseits erschöpft sich die philosophische Tätigkeit nicht im Klären von Begriffen, sondern sie trägt auch auf andere Weise dazu bei, das Fundament der Wissenschaften zu sichern. Eine Möglichkeit ist etwa die Integration von Ergebnissen der in der Spezialisierung auseinanderstrebenden empirischen W issenschaften, um so einen Gegenstandsbereich als 1. Schlick (1930: 35/). Im folgenden untersuche ich übrigcns die philosophische Tätigkeit nur insofern, als sie im Zusammenhang der modernen Wissenschaften steht. Dies läßt die Möglichkeit von philosophischen Tätigkeiten offen, die außerhalb davon stehen, Deren I3erücksichtigung würde unsere Diskussion jedoch nicht wesentlich ändern, sondern allenfalls verschärfen, 3 KRITERION philosophische Tätigkeit gelten, d.h. die Untersuchung von Problemen bezüglich der Gültigkeit und (insbesondere) der Grenzen von Theorien. Typische Fragen, denen sich in diesem Sinne jemand stellen muß, der oder die eine empirische Behauptung aufstellt, sind etwa die folgenden: Woher weißt du das? Kannst du die Gültigkeit dieser Behauptung beweisen? Angenommen, deine Behauptung ist wahr; was zeigt sich dadurch bzw. was wissen wir dann? Die Erfüllung dieser (nur scheinbar negativen) Aufgabe schafft zwar nicht immer Freunde, auf jeden Fall aber mehr Klarheit. Zu diesen philosophischen Tätigkeiten gesellt sich u.a. aber auch die "Erziehung" von Problemen, d.h. die Behandlung von Problemen, die noch unreif für die Behandlung mit bestimmten Methoden sind, z.B. mit denen der empirischen Wissenschaften." In diesem Sinne gilt die Behandlung eines Problems so lange als philosophisch, bis das Problem reif für die Behandlung durch eine empirische Theorie ist; viele Theorien früherer Philosophen waren in diesem Sinne philosophisch, d.h.,sie stellten sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn das betreffende Problem reif zu wissenschaftlicher Bearbeitung wurde, als verkappte empirische Theorien heraus. Hier zeigt sich, daß durch die philosophische Tätigkeit praktisch nicht Probleme gelöst werden, sondern daß dadurch u.a. die Grundlagen dafür geschaffen werden, daß Probleme schließlich gelöst werden können. Sobald ein Problem lösbar, d.h. wissenschaftlich lösbar ist, ist es kein philosophisches mehr, bzw. es zeigt sich, daß es überhaupt kein philosophisches war. Das Problem ist dann "erwachsen" bzw, "reif' für die Behandlung durch eine andere Methode.' Wie erwähnt, können diese philosophischen Tätigkeiten (ebenso wie andere) prinzipiell von allen Menschen ausgeübt werden. Im folgenden geht es ganzen zu erfassen bzw. zu überblicken.' Indem ein Gegenstandsbereich aus mehreren (spezialisierten) Perspektiven betrachtet wird, kann er in vielen Details genauer erfaßt werden als bei einer undifferenzierten, "ganzheitlichen" Sicht; andererseits entsteht jedoch das Problem, daß die Einzelbilder den Zusammenhang nicht erkennen lassen bzw. daß der Überblick über den Gegenstandsbereich als ganzen verlorengeht. Darum ist Vermittlung bzw. Integration notwendig, und wer sich darum bemüht, übt (ebenso wie durch das Klären von Begriffen und Gedanken) eine philosophische Tätigkeit aus, die den Bereich einzelner Disziplinen übersteigt bzw. Dinge betrifft, die mehreren oder gar allen davon gemeinsam sind. Die philosophische Tätigkeit der Integration ist vor dem Hintergrund des philosophischen Strebens nach allgemeinen Systemen zu sehen. Neben der Allgemeinheit durch Integration von Ergebnissen verschiedener empirischer Wissenschaften spielt für die Philosophie dabei auch eine Form von Allgemeinheit eine Rolle, die sich clurch die svstenuuische Behandlung von Problemen ergibt, d.h. durch den Versuch, mit möglichst wenigen Grundbegriffen und systematischen Unterscheidungen, mit Definitionen, Axiomen, Theoremen usw. möglichst viel zu erklären. Die philosophische Tätigkeit vollzieht sich also in einer "keimfreien Schreibrischatmosphäre", während die empirische Forschung zufälligen "Virusinfektionen" und anderen Eint1üssen ausgesetzt ist: Eine Gruppe von Forschern mag etwa versuchen, ein bestimmtes Problem zu lösen, ohne daß sie dabei wesentliche Fortschritte macht, untersucht dann einen scheinbar unbedeutenden Nebeneffekt, löst dabei ein ganz anderes Problem und glaubt schließlich, daß das gesamte Projekt von vornherein auf das letztendlich gelöste Problem ausgerichtet gewesen sei.' Philosophisches Denken bleibt von solchen Gegebenheiten relativ unberührt, setzt sich dadurch aber der Gefahr aus, daß es zu sehr idealisiert wird; in einer Zeit verstärkter interdisziplinärer Tätigkeit ist diese Gefahr allerdings geringer als früher. Darüber hinaus kann im Konzert der Disziplinen auch die Grundsatzkritik an empirischen Theorien als 4. Wir brauchen etwa nur an die verkappten naturwissenschaftlichen Überlegungen zu denken, die Aristotclcs z. 13. in den Parva Nat uralia und den Probiemata Physic« anstellt. 5. In diesem Sinne stellte schon Russcll (1912: 136) fest, "daß man einen Gegenstand nicht mehr zur Philosophie zählt, sobald definitive Erkenntnisse über ihn möglich werden; es bildet sich dann in der Regel eine neue und selbständige wissenschaftliche Disziplin." Gcnaucr wäre vielleicht von Aspekten ganzer Problemkomplexe zu sprechen, die sich als empirische Fragen in "unreifem" Zustand entpuppen, denn auch in bezug auf Probleme, die ab einem bestimmten Zeitpunkt von einzelnen Wissenschaften behandelt werden (können), bleiben doch weiterhin philosophische Fragen übrig (z.I3. solche bcgrifflichcr oder systematischer Natur). 2. Wer dies tut, muß in mehreren Disziplinen zu Hause sein, deren Probleme Cl' oder sie zwar nicht so detailliert behandeln kann wie die betreffenden Einzelwissenschaftler, bei denen Cl' bzw. sie jedoch Zusammenhänge sehen kann, die jenen oft mangels Übersicht verborgen bleiben. 3. Daß dies nicht nur möglich, sondern in der Praxis sogar die Regel ist, zeigt etwa Fleck (1935), und zwar anhand der Entdeckung der Wassermann-Reaktion zur SyphilisDiagnose. Fleck weist u.a. auch darauf hin, daß auf diese Weise ganze Disziplinen neu entstehen können. 4 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE zeichnen. Zwar war er nicht der erste, der dies bemerkte, noch versuchte er als erster, dieses Phänomen theoretisch zu erklären." Allerdings hat er es nicht nur umfassender und systematischer untersucht als andere Autoren, sondern seine Ausführungen, eignen sich insbesondere auch hervorragend als Ausgangspunkt für unsere Diskussion der Arbeitsteilung in der Philosophie. Dabei ist freilich dreierlei zu beachten: (i) Naheliegenderweise können wir nicht alle Aspekte von Durkheims soziologischer Theorie berücksichtigen. sondern nur jene, die für unser Problem unmittelbar relevant sind. (ii) Ich behaupte nicht, daß Durkheims Vorstellungen über soziale Arbeitsteilung überhaupt in jeder Hinsicht auf die Philosophie umgemünzt werden könnten. Vielmehr übertrage ich sie darauf im Sinne einer Analogie, die uns hilft, bestimmte Zusammenhänge klarer zu sehen, die aber wie jede Analogie nur begrenzt anwendbar ist. (iii) Zwar geht Durkheim davon aus, daß er im wesentlichen soziale Tatsachen beschreibt und erklärt, doch sind manche seiner Überlegungen anscheinend nicht deskriptiv, sondern normativ, d.h., sie geben vor, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, bzw. sie führen uns das Ideal einer Gesellschaft vor Augen. Dagegen verfolge ich hier einen hypothetischen Ansatz, d.h., die folgenden Überlegungen beziehen sich primär darauf, was wäre, wenn allgemein in der Gesellschaft und speziell in der Philosophie die soziale Arbeitsteilung nach Durkheims Vorstellungen durchgefühlt wird. Durkheims Ausgangspunkt ist die' Frage' nach dem inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft. Wie Durkheim zu zeigen versucht, kann dieser Zusammenhalt weder durch die Annahme eines Gesellschaftsvertrages. noch durch den Hinweis auf den Austausch von Gütern hinreichend erklärt werden . . Abgesehen davon, daß sich Menschen gewöhnlich nicht durch einen Vertrag zu einer Gesellschaft verbinden, hätten Verträge keine verpflichtende Kraft, wenn nicht "hinter den vertragsschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflich- freilich pnmar um Leute, die solche Tätigkeiten beruflich ausüben, d.h. auf eine bestimmte systematische und methodische Weise.' Diese Beschränkung liegt aus mindestens zwei Gründen nahe: (i) Auch wenn in einem weiten Sinne potentiell alle Menschen philosophieren, gilt im engeren Sinne doch das als Philosophie, was gewissen theoretischen Ansprüchen genügt und ein Problem tiefer durchdringt, als dies im alltäglichen Denken üblich ist.? Damit ist nicht gesagt, daß in diesem Sinne alles und (vor allem) nur das als Philosophie anzusehen ist, was von Menschen an universitären PhilosophieInstituten produziert wird. Entscheidend ist vielmehr, ob gewisse Kriterien für die philosophische Tätigkeit im engeren Sinne erfüllt sind. Durch diese Kriterien wird der Kreis der philosophisch Tätigen jedoch einigermaßen verkleinert. (ii) Die Entwicklung des philosophischen Denkens wird weitgehend (wenn auch nicht ausschließlich) durch Menschen geprägt, die sich im erwähnten Sinne beruflich damit beschäftigen. Diese Entwicklung gleicht jedoch in vielerlei Hinsicht jener der Wissenschaften; vor allem spielt hier wie dort die Speziallsierung auf einzelne Bereiche des Ganzen eine immer größere Rolle. Demnach bedarf die Philosophie selbst (ebenso wie die Wissenschaft insgesamt) der Integration ihrer Elemente, damit wir unseren Gegenstand und einander sowie nicht zuletzt auch uns selbst (besser) verstehen. Und damit stellt sich auch die Frage nach der Arbeitsteilung in. der Philosophie. 2. Was heißt Arbeitsteilung'! Viele dürften den Ausdruck 'Arbeitsteilung' primär mit der Organisationsform der Industriewelt sowie mit den dadurch verursachtenProblemen wie Mechanisierung und Entfremdung verbinden. Diese Probleme lassen sich nicht wegerklären, doch stellt sich die Frage, ob das, was wir auf diese oder ähnliche Weise gemeinhin als Arbeitsteilung bezeichnen, das ist, was in der Theorie als solche gilt. Daß dem nicht so ist, zeigt sich etwa durch einen Blick auf Emile Durkheims Buch Über soziale Arbeitsteilung, das 1893 zum ersten Mal erschienen ist. Durkheim hält darin als Tatsache fest, daß die modemen Gesellschaften sich durch zunehmende Arbeitsteilung aus- 7. Vielmehr verweist Durkhcim (1893) selbst nicht nur auf Rousscau (1755) und Smith (1759, 1776), sondern er 6. Ähnlich bcschältigcu sich etwa viele Menschen mit bemerkt ähnliche Vorstellungen bereits in der Politik und Fragen, die im weiten Sinne als physikalische anzusehen - der Nikomachischen Ethik des Aristotclcs. Andererseits sind; aber nur eine theoretisch anspruchsvolle Bcschälli- . werden die Vorzüge und Probleme der Arbeitsteilung bis gung damit gilt im engeren Sinne als Physik. heule wcitcrdiskuticrt; vgl. dazu z. B. Sachssc (1978) . .5 KRITERION sentlich mit der sozialen Lebensweise der Menschen zusammenhängt. Eine natürliche Folge davon ist für ihn aber auch die Entstehung von Moral. Durkheim (1893: 56) hält es für unmöglich, "daß Menschen zusammenleben und regelmäßig miteinander verkehren, ohne schließlich ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln, das sie mit ihrer Vereinigung bilden, ohne sich an dieses Ganze zu binden, sich W11 dessen Interessen zu sorgen und es in ihr Verhalten einzubeziehen. Nun ist aber diese Bindung an etwas, was das Individuum überschreitet, diese Unterordnung der Einzelinteressen unter ein Gesamtinteresse. die eigentliche Quelle jeder moralischen Tätigkeit. Damit sich nun dieses Gefühl präzisieren und bestimmen und auf die gewöhnlichsten oder bedeutsamsten Umstände auswirken kann, überträgt es sich in bestimmte Fonnein; und infolgedessen entsteht ein Korpus· moralischer Regeln." In Durkheims Augen besteht eine Gemeinschaft oder Gesellschaft in nichts anderem als in der Solidarität, welche die Personen miteinander verbindet, und diese Solidarität wird als Moral erlebt. Für Durkheim hängen Gemeinschaftsleben, Solidarität und Moral notwendig zusammen, Wenn eine Gruppe von Menschen nicht durch Solidarität und gegenseitigen Respekt zusammengehalten wird, dann beruht ihr Handeln auch nicht auf Moral bzw. dann sind die Regeln, die diesem zugrunde liegen, keine moralischen Regeln. Vielmehr noch: In einem solchen Fall handelt es sich gar nicht um eine Gemeinschaftbzw. Gesellschaft, sondern bloß um eine mehr oder weniger zufällige Ansammlung von Menschen. Selbst eine Familie gilt in diesem Sinne nur dann als Gemeinschaft, wenn sie durch gewisse Bindungen zusammengehalten wird. Durkheim setzt also implizit einen nonnativen Begriff von "Gesellschaft" voraus, auch wenn er explizit behauptet, es sei unmöglich, daß Menschen zusammenleben, ohne ein Gefühl für das Ganze und mithin Moral zu entwikkeIn. Wenn wir dies deskriptiv verstehen, erweist sich Durkheims Behauptung als falsch, denn de facto bilden Menschen nicht nur Gruppen, obwohl zwischen ihnen keine Solidarität besteht, sondern diese werden auch als Gemeinschaften bezeichnet. Wenn wir dagegen annehmen, daß Durkheims Begriff der "Gesellschaft" nonnativ zu verstehen ist; dann handelt es sich bei solchen Kontakten eben gar nicht um ein Zusammen-Leben, sondern bestenfalls um ein Nebeneinander- Leben. Dieser Begriff der Gesellschaft wirft eine Reihe von Problemen auf. So entsprechen ihm z.B. auch Gangsterbanden, deren Mitglieder zusammenwirken, tungen Respekt zu verschaffen.i" Verträge können also die Gesellschaft nicht ursprünglich begründen, sondern setzen bereits einen gewissen Zusammenhalt von Menschen voraus, durch den 'eine Gemeinschaft bzw. Gesellschaft entsteht. Ähnlich setzt auch der Tausch laut Durkheim (1893: 108) voraus, "daß zwei Wesen wechselseitig voneinander abhängen, weil sie beide unvollständig sind; er macht diese wechselseitige Abhängigkeit nur äußerlich sichtbar. Er ist also nur der oberflächliche Ausdruck eines inneren und profunderen Zustandes. Weil dieser Zustand aber konstant ist, ruft er einen ganzen Mechanismus von Bildern hervor, der mit einer Beständigkeit funktioniert, die der Austausch gar nicht hat." Auch der Tausch setzt also bereits einen sozialen Zusammenhalt voraus, statt diesen zu begründen, geschweige denn, daß er jene Beständigkeit und Festigkeit aufwiese, die für den sozialen Zusammenhalt notwendig ist. Durkheiins eigene Erklärung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hängt mit den Aristotelischen Voraussetzungen seines Ansatzes zusammen. Aristoteles stellt ja in der Politik (1253a2f) fest, "daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehölt und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist." Menschsein schließt demnach von Na/ur aus das Leben in Gemeinschaften ein. Zwar wäre vielleicht theoretisch möglich, daß Menschen im biologischen Sinne als Einzelwesen leben könnten (obwohl auch in dieser Hinsicht naheliegt, daß Menschen zumindest zeitweise Partnerschaften eingehen, da sonst die Möglichkeiten zum Schaffen von Nachkommen ziemlich eingeschränkt wären). Menschsein heißt indes nicht bloß Spezies Homo Sapiens, im biologischen Sinne als Mitglied der da zu sein, sondern insbesondere auch, ein Leben als menschliche Person zu führen. Dafür ist jedoch unbedingt notwendig, daß wir über längere Zeit mit anderen Menschen zusammenleben und intensive Kontakte mit ihnen pflegen. Einen Beleg dafür bieten etwa die "Wolfskinder", denen autgrund ihres Aufwachsens abseits menschlicher Gemeinschaft wesentliche Merkmale einer menschlichen Person abgehen." Auch Durkheim (1893: 412f) bemerkt zu Recht, daß "das psychische Leben" im allgemeinen und die Entwicklung des Bewußtseins im besonderen we8. Durkheim (1893: 165). Die Kritik an der Fiktion des gesellschaftsbegriindenden Vertrages, die Durkheim (1893: 267ff.) in der Folge weiter ausführt, findet sich in ähnlicher Form bereits bei Hume (1748). 9. Ein Beispiel eines Wolfskindes aus neuerer Zeit wird etwa von Curtiss (1977) beschrieben. 6 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE Zweifellos fühlen sich die Angehörigen einer Gruppe aufgrund von Gemeinsamkeiten miteinander solidarisch. Um dies einzusehen, brauchen wir laut Durkheim (1893: 149) etwa nur zu bedenken, "welchen Grad an Energie eine Überzeugung oder ein Gefühl alleine dadurch annehmen kann, daß sie von einer Gemeinschaft von Menschen geteilt wird. [...] Wenn jemand in unserer Gegenwart eine Idee äußert, die auch wir haben, kommt die Vorstellung, die wir uns davon machen, zu unserer Idee hinzu, überlagert sie und vermischt sich mit ihr und vermittelt ihr ihre eigene Vitalität. Aus dieser Verschmelzung entsteht eine neue Idee, die die vorhergehenden aufsaugt und die folglich lebendiger ist, als jede einzelne getrennt genommen. Das ist der Grund, warwn in Massenversammlungen eine Emotion eine derartige Gewalt erreichen kann; die Lebhaftigkeit, die sie in jedem Bewußtsein hervorruft, tönt im Bewußtsein aller wider." Nicht nur solche Massenphänomene ·lassen sich durch Gemeinsamkeiten des Denkens erklären, sondern auch das Verhalten einer Gemeinschaft gegenüber Menschen, die gegen die sozial akzeptierten Regeln verstoßen, insbesondere gegenüber Verbrechern. Diese verletzen "die weitaus allgemeinsten kollektiven Gefühle", weshalb der darin zum Ausdruck kommende Widerspruch zur sozialen Ordnung von der Gesellschaft unmöglich geduldet werden kann, insbesondere wenn sich dieser Widerspruch "nicht nur in Worten äußert, sondern in Handlungen." In diesem Fall genügt nicht "eine einfache Rückkehr zur gestörten Ordnung", sondern "wir brauchen eine gewalttätige Genugtuung.i'U Die auf Gemeinsamkeit beruhende Solidarität bindet die Menschen nicht nur aneinander, sondern auch an die Gesellschaft, die sie bilden; diese wird dadurch definiert, d.h. gegenüber anderen Individuen und Gesellschaften abgegrenzt. Indem wir uns an die Gemeinschaft binden, wird unser individuelles Bewußrsein durch das Kollekti vbewußtsein geprägt. Laut Durkheim haben wir "zwei Bewußtseinsebenen 10. Solche Prinzipien, die letztlich auf die schon aus dem in uns: die eine enthält Zustände, die nur jedem von Buch Tobit (4,15) des AT bekannte Goldene Regcl zurückuns eigen' sind und die uns charakterisieren, während gehen, wurden etwa von Kaut (1785), Hare (1955) lind die anderen jedem Mitglied der Gesellschaft gemeinSinger (1979) vorgeschlagen. 11. Dies wurde von der Kritik auch dementsprechend sam sind. Die erste stellt nur unsere individuelle vermerkt. So bezeichnet etwa Luhmann (1977: 26) DurkPersönlichkeit dar und konstituiert diese; die zweite heims Behandlung von Egoismus und Altruismus "schlicht. stellt den Kollektivtyp dar und folglich die Gesellals einen Theorie-Defekt." schaft, ohne die er nicht existieren würde. Wenn ein 12. Politik (1261a23f); dieses Zitat fungiert als Motto des Element der letzteren unser Verhalten bestimmt, Buches von Durkheim (1893: 41). Zudem verweist um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, und einander in vielen Fällen respektieren bzw. miteinander solidarisch sind. Wenn die Moral ein wesentlicher Faktor einer Gemeinschaft sein soll, dann liegt nahe, die von Durkheim angesprochene Solidarität nicht auf die Mitglieder einer Gemeinschaft von Handelnden zu beschränken, sondern diejeweils von einer Handlung Betroffenen einzuschließen. Von Moral ist demnach nur dann zu sprechen, wenn durch die Prinzipien einer Handlung die Interessen aller Wesen, die von einer Handlung auf gleiche Weise betroffen sind, in gleicher Weise berücksichtigt werden.'? Da diesem Anspruch vermutlich kaum eine Gesellschaft gerecht wird, erscheint Durkheims Gleichsetzung von Solidarität und Moral etwas problematisch. I I Dies ändert jedoch nichts daran, daß sein Ansatz eine Möglichkeit bietet, den Zusammenhalt von Gemeinschaften bzw. Gesellschaften zu erklären. Und Zwar beruht der Zusammenhalt einer Gesellschaft einerseits auf der Ahnlichkeit ihrer Mitglieder, andererseits jedoch auf ihrer Unähniichkeit. Während die erste Annahme kaum ,ein Achselzucken hervorrufen dürfte, erscheint die zweite vielleicht überraschend, obwohl bereits Aristoteles bemerkte, ein Staat bestehe "nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat"? Wie Durkheim zu zeigen versucht, werden Menschen durch ihre Unähnlichkeit nicht nur stärker zusammengehalten als durch ihre Ähnlichkeiten, sondern diese Art des Zusammenhalts erlaubt ihnen auch im Unterschied zu der auf Ähnlichkeit beruhenden Solidarität, daß sie sich an die Gemeinschaft binden und zugleich ihre individuelle Persönlichkeit entwickeln. Um diesen Unterschied zu erhellen, müssen wir die beiden von Durkheim unterschiedenen Arten der Solidarität etwas genauer unter die Lupe nehmen. Durkhcim (1893: 83, Fn. I) auch auf eine Stelle in der Nikomachiselten Ethik (1133aI6), an der Aristoteles ganz im gleichen Sinne feststellt, eine Gesellschaft bestehe "nicht aus zwei Ärzten, sondem aus Arzt und Bauern und überhaupt aus verschiedenen und ungleichen:" 13. Durkheim (1893: 150). Das Strafrecht dient demnach primär weder zur Vergeltung noch zur Abschreckung, sondern zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts, wie Durkheim (1893: 1521) noch genauer ausführt, 7 "KRITERION d.h., es liegt uns nicht daran, "bei anderen eine von uns schlechtweg verschiedene Natur zu finden. Die Verschwender suchen nicht die Gesellschaft der Geizhälse, genausowenig wie aufrechte Charaktere die Gesellschaft von Heuchlern und Duckmäusern suchen. [...] Nur Unterschiede einer bestimmten Art fühlen sich demnach zueinander hingezogen, nämlich diejenigen, die sich gegenseitig ergänzen, statt sich einander zu widersetzen und auszuschließen. [...] Wie reich wir auch begabt seien, es fehlt uns immer etwas, und die Besten unter uns fühlen ihre Unzulänglichkeit. So suchen wir bei unseren Freunden die Fähigkeiten, die uns fehlen, weil wir, wenn wir uns mit ihnen vereinigen, in bestimmter Weise an ihrer Natur teilhaben und uns dann weniger unvollständig fühlen. So bilden sich kleine Freundeskreise, in denen jeder seine Rolle gemäß seinem Charakter einnimmt und ein unverfälschter Austausch an Diensten stattfindet. Einer schützt, der andere tröstet; dieser . berät, der andere führt aus. Diese [...] Arbeitsteilung bestimmt die Freundschaftsbeziehungen." Während die auf Ähnlichkeit beruhende Solidarität "nur in dem Maße möglich [ist], in dem die individuelle Persönlichkeit in der kollektiven Persönlichkeit aufgeht", setzt diese Art von Solidarität voraus, daß "jeder ein ganz eigenständiges Betätigungsfeld hat" und mithin seine individuelle Persönlichkeit bewahrt; das Kollektivbewußtsein läßt dem Individualbewußtsein einen Freiraum, "damit dort spezielle Funktionen entstehen, die es nicht regeln kann. Je größer diese Region ist, um so stärker ist die Kohäsion, die aus dieser Solidarität entspringt. Tatsächlich hängt einerseits jeder um. so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andrerseits ist "die Tätigkeit eines jeden um so persönlicher, je spezieller sie ist. Natürlich ist sie, wie eng wnschrieben sie auch sei, niemals ganz eigenständig. Selbst in der Ausübung unseres Berufes passen wir uns den Gewohnheiten und Praktiken an, die wir mit unserer Berufsgruppe gemeinsam haben. Aber selbst in dem Fall ist das Joch, das wir tragen, 14. Durkheim (1893: 1561). Diese Art von Solidarität viel weniger schwer, als wenn die ganze Gesellschaft bezeichnet Durkheim (1893: 182) als mechanisch, einerauf uns lastet, und es beläßt dem freien Spiel unserer . seits deshalb, weil sich "die sozialen Moleküle, die nur auf diese einzige Art zusammenhalten können, [...] nur in dem Initiative viel mehr Platz. Also wächst hier die IndiMaße bewegen, in dem sie keine Eigenbewegung haben, so vidualität des Ganzen zur gleichen Zeit wie die Indiwie es bei den Molekülen der anorganischen Körper der vidualität der Teile. Die Gesellschaft wird fähiger, Fall ist.", andererseits aber deshalb, weil "das Band, das sich als Ganzes zu bewegen, während zugleich jedes auf diese Art das Individuum mit der Gesellschaft verbindet, gänzlich dem gleicht, das die Sache an die. ihrer Elemente mehr Einzelbewegungen.hat,"!' Person bindet. In dieser Hinsicht betrachtet, ist das individuelle Bewußtsein einfach abhängig vom Kollek15. Durkheim (1893: 182) bezeichnet "die Solidarität, die tivtypus und folgt allen dessen Regungen, wie der besessich der Arbeitsteilung verdankt", als organische Sosene Gegenstand den Bewegungen folgt, die ihm sein Belidarität, da sie in Analogie zum Zusammenwirken von sitzer aufzwingt." Organen zu sehen sei, das "man bei den höheren Tieren dann geschieht das nicht im Hinblick auf unser persönliches Interesse, sondern wir verfolgen kollektive Ziele. Obwohl sich die beiden Bewußtseinsformen unterscheiden, sind sie dennoch aneinander gebunden, denn sie bilden zusammen nur ein Bewußtsein. [...] Daraus folgt eine Solidarität sui generis, die, aus Ähnlichkeiten erwachsend, das Individuum direkt an die Gesellschaft bindet. [...]Diese Solidarität besteht nicht nur aus einer allgemeinen und unbestimmten Anbindung des Individuwns an die Gruppe, sondern sie harmonisiert auch die Einzelheiten der Bewegungen. Da diese kollektiven Bewegungen tatsächlich überall die gleichen sind, erzeugen sie überall die gleichen Wirkungen. Jedesmal, wenn diese auftreten, bewegen sich die Willensakte folglich spontan und gemeinsam in die gleiche Richtung." 14 Da diese Alt von Solidarität darauf beruht, was allen Mitgliedern einer Gemeinschaft gemeinsam ist, geht ihre Entwicklung auf Kosten dessen, was jedem Individuum eigen ist. Diese Solidarität erreicht laut Durkheim (1893: 181f) "ihr Maximum, wenn das Kollektivbewußtsein unser ganzes Bewußtsein genau deckt und in allen Punkten mit ihm übereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualität gleich Null. Sie kann nur entstehen, wenn die Gemeinschaft weniger Platz in uns einnimmt." Wenn uns daran liegt, "eigenständig zu denken und zu handeln, dann können wir [also] nicht sehr darauf aus sein, wie die anderen zu denken und zu handeln", dann sind wir vielmehr daran interessiert, den Einfluß des Kollektivs und der von ihm verlangten Solidarität möglichst zu begrenzen. Ganz anders verhält es sich mit der Solidarität, die auf der Ungleichheit von Menschen in einer Gesellschaft beruh!. Wie Durkheim (1893: 10 If) bemerkt, fühlen wir uns nicht nur zu Menschen hingezogen, die so denken und fühlen wie wir, sondern auch zu solchen, die uns nicht ähnlich sind: Indes kommt dafür nicht jede beliebige Unähnlichkeit in Frage, 8 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE Städte voraus, und die Städte entstehen immer haupt-. Wie ein Vergleich der beiden Arten von Solidarität sächlich mit Hilfe von Einwanderern, d.h. von Indizeigt, sind wir durch Ähnlichkeiten vor allem nach viduen, die ihre Geburtsstätten verlassen haben. [...] außen miteinander verbunden; eine bestehende GeDamit war eine neue Form der Tätigkeit entstanden, meinschaft verstärkt ihren inneren Zusammenhalt, die über den überkommenen Rahmen. der Familie indem sie sich abgrenzt. Die Bildung von Gemeinhinausging." schaften und das Zusammenleben darin ist jedoch Wie Durkheim betont, gewann die Arbeitsteilung eher dadurch bestimmt, daß sich die Menschen in im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung an ihren begrenzten Fähigkeiten voneinander unterBedeutung, sind die Menschen also in immer höhescheiden: Wie u.a. schon Hume (1751) und Herder rem Maße aufeinander angewiesen. Dadurch erhöhte (1772) gesehen haben, sind wir biologische Mängelsich einerseits die Konzentration' bzw. der Zuwesen und als solche' auf andere Menschen angewiesammenhalt der Gesellschaft, andererseits aber drang sen; indem wir Gemeinschaften eingehen, können wir die Arbeitsteilung allmählich in praktisch alle geselluns individuell besser entfalten, da wir unsere Grenschaftlichen Bereiche ein. Laut Durkheim (1893: 84) . zen im Allstausch mit anderen überschreiten bzw. wir "ihren wachsenden Einfluß in den ver-· können ausweiten können. Laut Durkheim (1893: 103) zeigt sich die "Arbeitsteilung" darum bereits in der Seschiedensten Gebieten der Gesellschaft beobachten. Die politischen, administrativen und juristischen xualität, die zwar "nur zwischen Individuen derselben Gattung" besteht, aber "ihren spezifischen Funktionen spezialisieren sich immer mehr. Das gleiche gilt für die künstlerischen und wissenschaftliCharakter und ihre besondere Energie" der "Unähnlichkeit der Naturen" verdankt: "Gerade weil chen Funktionen. Wir sind weit von der Zeit entfernt, Mann und Frau sich voneinander unterscheiden, als die Philosophie die einzige Wissenschaft war; sie hat sich in eine Vielzahl von Spezialdisziplinen aufsuchen sie sich mit Leidenschaft." Die "gegengeteilt, jede mit eigenem Ziel, eigener Methode und seitigen Gefühle" beruhen dabei nicht auf einem Gegensatz, sondern auf Unterschieden, "die sich eigenem Geist. [...] Nicht nur, daß der Gelehrte nicht voraussetzen und ergänzen." Mannund Frau sind für mehr gleichzeitig mehrere Wissenschaften pflegt, er Durkheim "nur die verschiedenen' Teile eines und überschaut nicht einmal mehr die Gesamtheit einer desselben konkreten Ganzen, das sie, indem sie sich einzigen Wissenschaft. Der Kreis seiner Untersuchungen verengt sich auf eine bestimmte Teilzahl vereinen, wiederherstellen." von Problemen oder gar auf ein einziges Problem." Die Sexualität ist zwar eine Quelle der Arbeitsteilung, doch kann deren Entstehung im ökonomischen Sinne damit nicht hinreichend erklärt. werden, denn menschliche Gesellschaften waren nicht von 3. Probleine mit dem Begriffder Arbeitsteilung Anfang anarbeitsteilig organisiert, sondern erst ab . einer gewissen Komplexität. Und zwar beginnt für Wie die zuletzt angestellte Überlegung zeigt, darf Durkheim (1893: 59) die Arbeitsteilung mit der EntArbeitsteilung nicht mit bloßer Spezialisierung verstehung des Handwerks, die u.a. auch die Gründung wechselt werden; sie beginnt zwar damit, beschränkt von Städten zur Folge hatte: "Solange das Gewerbe sich aber nicht darauf, sondern vereint die spezialirein landwirtschaftlich ist, hat es in der Familie und sierten Individuen zu Elementen eines größeren Ganim Dorf, das selbst nur eine Ni großer Familie war, zen, die aufeinander angewiesen sind bzw. einander sein unmittelbares Organ. [...] Da die ökonomische in Hinblick auf dieses Ganze ergänzen. Dies wird u.a. Tätigkeit sich nicht außerhalb des Hauses auswirkt, durch die biologische' Analogie nahegelegt, von der genügt die Familie, um sie zu regeln. [...] Aber das Durkheim ausgeht: Die Organe, aus denen ein komendet, sobald es Handwerker gibt. Um von einem plexer Organismus besteht, sind in bezug auf ihre Handwerk zu leben, braucht" man Kunden, und man Funktionen spezialisiert. Diese Spezialisierung ermuß das Haus auch verlassen, um mit den Konkurmöglicht. dem Organismus das Leben in einer komrenten in Verbindung zu treten, um gegen sie zu plexen Umwelt; kein Organ könnte dies jedoch für kämpfen oder sich mit ihnen zu verständigen. Übersich allein gewährleisten, sondern dafür ist erforderdies setzt das Handwerk mehr oder weniger direkt lich, daß sie zusammen den Organismus als ganzen bilden.l'': Angesichts dieser Auffassung ist es kein beobachten kann. Jedes Organ hat dort seine eigene Physiognomic und seine Autonomie, und trotzdem ist die Einheit des Organismus um so größer, je stärker die Individualisicrung der Teile ausgeprägtist," 16. Aufgrund ähnlicher Übcrlcgungcn nahm Aristotclcs an, daß unsere Sinnesorgane nur insofern wahrnehmen, als sie Elemente eines lebendigen Organismus sind; nicht das 9 KRITERION Wie Durkheim (1893: 434) betont, schließt ArWunder, daß Probleme wie Mechanisierung und beitsteilung jedoch Konkurrenz nicht aus, und zwar Entfremdung, die üblicherweise als Folge der soziadeshalb, weil die Mitglieder einer Gesellschaft nicht len Arbeitsteilung angesehen werden, in Durkheims in vieler Hinsicht einander ergänzen und voneinAugen eher dadurch verursacht sind, daß die Arbeitsander abhängen, sondern weil sie einander in ebenso teilung einseitig bzw. inkonsequent betrieben wurde vieler Hinsicht ähnlich sind und insofern miteinander und wird .' Arbeitsteilung setzt laut Durkheim (1893: konkurrieren: "Die Rolle der Solidarität besteht [also] 442) voraus, "daß der Arbeiter, statt sich ausschließnicht darin, die Konkurrenz zu unterdrücken, sondern lich mit seiner Aufgabe zu beschäftigen, seine Mitar[darin.] diese zu mäßigen." Auch wenn die Menschen beiter nicht aus den Augen verliert, auf sie einwirkt einander benötigen und mit verteilten Rollen zusamund von ihnen beeinflußt wird. Er ist also keine Mamenarbeiten, sind ihre Interessen doch nicht ausschine, die Bewegungen ausführt. deren Richtung sie tauschbar, sondern die Arbeitsteilung "beläßt sie nicht kennt, sondern er weiß, daß sie irgendwohin tendieren, auf ein Ziel hin, das er mehr oder weniger unterscheidbar und gegensätzlich. So wie innerhalb des individuellen Organismus jedes Organ zu jedem deutlich begreift. Er fühlt, daß er zu etwas dient. Dazu ist es nicht nötig, daß er weite Teile des sozia- . anderen in einem Gegensatz steht, auch wenn es gleichzeitig mit ihnen zusammenarbeitet, so versucht len Horizonts übersieht, sondern es genügt, daß er ihn hinreichend weit überblickt, um zu begreifen, daß jeder Kontrahent; obgleich er den anderen braucht, seine Handlungen ein Ziel haben, das nicht in ihnen das, was er benötigt, zu den geringsten Kosten zu selbst liegt." erhalten, d.h. möglichst viele Rechte gegen so weniDies ist indes nicht daseinzige Mißverständnis, das ge Verpflichtungen wie möglich einzutauschen. Es ist also nötig, daß der jeweilige Kostenanteil [...]. es in bezug auf die Arbeitsteilung zu bereinigen gilt. Ein anderes hat etwa mit ihrem Verhältnis zur Konfestgelegt wird, obgleich dies nicht nach einem vorkurren: zu tun. Laut Durkheim verringert die Arbeits- gefaßten Plan vorgenommen werden kann." Damit teilung ja den Konkurrenzkampf zwischen den die Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft Mitgliedern einer Gesellschaft, denn sie ergibt sich hannonisch zusammenleben, müssen laut Durkheim aus der Unähnlichkeit von Individuen, während "die (1893: 269f) also "die Bedingungen dieser ZusamKonkurrenz zwischen zwei Organismen wn so heftimenarbeit [...] für die Dauer ihrer Beziehungen festger ist, je ähnlicher sie einander smd. Da sie die gleigelegt sein. Die Pflichten und Rechte eines jeden chen Bedürfnisse haben und die gleichen Ziele einzelnen müssen definiert sein. [...] Andernfalls verfolgen, rivalisieren sie überall. Solange sie über gäbe es jeden Augenblick Konflikte und neuerliche mehr Ressourcen verfügen als sie brauchen, können Schwierigkeiten." sie noch Seite an Seite leben. Erhöht sich aber ihre Dieser Hinweis auf die Notwendigkeit moralischer Zahl derart, daß ihr Hunger nicht mehr genügend Regeln für das Zusammenleben kann nicht darüber gestillt werden kann, so bricht der Krieg aus, und hinwegtäuschen, daß das Verhältnis zwischen den verläuft um so heftiger, [...] je größer die Zahl der bei den Kräften, die eine Gesellschaft· zuKonkurrenten geworden ist. Ganz anders verhält es sammenhalten, von Durkheim nicht völlig klar be. sich dagegen, wenn die zusammenlebenden Individustimmt wird .. Anscheinend sind sie in seinen. Augen en verschiedenen Gattungen oder Arten angehören. gegeneinander gerichtet und nur mit einem gewissen Da sie sich nicht auf dieselbe Weise ernähren und Energieaufwand im Gleichgewicht zu halten. Indes nicht dasselbe Leben führen, belästigen sie sich geist eher anzunehmen, daß die beiden Arten von Soligenseitig nicht; was dem einen zugute kommt, ist für darität in einem komplexeren Wechselspiel miteinandie anderen wertlos. Die Anlässe zu Konflikten ver-: der stehen, durch das sie gleicherweise für den mindern sich also im selben Maße wie die GelegenBestand und das Gedeihen einer Gesellschaft notheiten, sich zu begegnen, und das urn so mehr, je entfernter die Gattungen oder Varietäten zueinander Nachbarschaft miteinander leben. Die einen leben von den stehen." 17 Früchten des Baumes, die anderen von den Blättern, andere wieder von der Rinde und von der Wurzel. 1... 1 Die Auge sieht also, sondern wir sehen mit den Augen; vgl. Menschen unterliegen dem gleichen Gesetz. In einer lind dazu z.B. Von der Seele 412b19ff. derselben Stadt können die verschiedensten Berufe 17. Laut Durkheim (1893: 325ft) können sich Tiere und nebeneinander leben, ohne sich gegenseitig schädigen zu Pflanzen zudem "dem Lebenskampf um so leichter müssen, denn sie verfolgen verschiedene Ziele." Erst wenn [entziehen], je verschiedener sie sind. Auf einer Eiche sie ähnliche Ziele verfolgen, entsteht "die Gefahr, daß sie kann man bis zu 200 Insektenarten finden, die in guter sich gegenseitig bekämpfen." nur 10 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE und den Sprechern aus den jeweiligen Teilmengen" beruht: Um einen Ausdruck wie 'Gold' völlig korrekt zu verwenden, müßten wir z.B. die Menge der Gegenstände, auf die er zu Recht angewendet wird.. eindeutig identifizieren und von allen anderen Gegenständen unterscheiden können. Nur wenige Menschen sind jedoch dazu fähig; den anderen bleibt nichts anderes übrig, als diesen im Rahmen der linguistischen Arbeitsteilung zu vertrauen bzw. sich auf sie zu verlassen. Ähnliches gilt für viele andere Ausdrücke einer Sprache. Solange die Kooperation zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft funktioniert, ist nicht nur ihre Kommunikation gewährleistet, sondern auch ihr gegenseitiges Vertrauen gerechtfertigt. Die "Rollen" sind dabei nicht einseitig bzw. ein für allemal verteilt (so daß manche "sprachkompetent" und alle anderen darauf angewiesen sind), sondern der Sprachgebrauch in einer Gerneinschaft beruht auf einem komplexen Wechselspiel "linguistischer Arbeitsteilung." Dies verweist uns darauf, daß die Funktionen innerhalb einer arbeitsteiligen Gesellschaft (wie bereits Durkheim bemerkte) nicht ein für allemal festgelegt, sondern bis zu einem gewissen Grad frei verfügbar sind. Die Mitglieder einer Gemeinschaft haben also die Wahl, welchen Beitrag zum gesellschaftlichen Organismus sie (gemäß ihren Fähigkeiten) leisten wollen bzw. können.'? Infolgedessen ist die Arbeitsteilung ein Faktor, durch den sich die Freiheit der Menschen in einer Gesellschaft erhöht, da sie nicht gezwungen sind, eine ganz bestimmte Tätigkeit auszuüben bzw. sich an das anzupassen, was "man" entsprechend dem Willen anderer zu tun hat. Vielmehr stehen jedem Menschen grundsätzlich mehrere Optionen offen. Da die Menschen auch diesbezüglich einander ergänzen und aufeinander angewiesen sind, verstärkt die Freiheit jedoch die Bindung der Individuen an die Gemeinschaft bzw. deren Zusammenhalt. wendig sind. So beruht Z.B. die Identität einer Gruppe, durch die sie nach außen (gegenüber anderen Gruppen) definiert ist, nicht nur auf der Ähnlichkeit ihrer Mitglieder, sondern auch auf ihrer organischen Solidarität, d.h. darauf, wie sie zusammenarbeiten; in diesem Sinne umfaßt etwa auch die Philosophie insgesamt eine Vielfalt theoretischer und methodologischer Prinzipien, durch die sie sich z.B. von Religion, Kunst oder Physik unterscheidet. Andererseits wird eine Gemeinschaft im Inneren nicht nur durch organische Solidarität bzw, durch Arbeitsteilung differenziert und in ein Zusammenspiel verschiedener Funktionen gegliedert, sondern auch dadurch, wie ihre Mitglieder mit den Gegebenheiten umgehen, in denen sie einander gleichen; in diesem Sinne bestimmt z.B. auch die Art, wie philosophisch Tätige miteinander konkurrieren, das Leben in dieser Gemeinschaft. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Kollektivbewußtsein und Individualbewußtsein. Dieses wird laut Durkheim ja von jenem eingeschränkt, während umgekehrt durch Arbeitsteilung die Rolle des Kollektivbewußtseins vermindert wird. Die Rollen sind nicht so einfach verteilt, wie ein Blick auf die Sprache zeigt; diese gilt ja als exemplarischer Fall dessen, was laut Durkheim zum Kollektivbewußtsein gehört, d.h. zu dem, was allen Mitgliedern einer Gemeinschaft gemeinsam ist, bzw. die als Ganzes nur im Kollektivbewußtsein existiert, da Jedes Individuum nur einen Teil des Sprachsysteins seiner Gemeinschaft. beherrscht. 18 In der Tat ist die Sprache ein Faktor, der uns aneinander angleicht, denn sofern uns daran liegt, uns mit anderen zu verständigen, ist nicht so wichtig, daß wir unsere individuelle Kreativität zur Geltung bringen, sondern es kommt auf Gemeinsamkeiten an, die uns die Kommunikation mit anderen ermöglichen. Die Kollektivität der Sprache schließt i~des Arbeitsteilung keineswegs aus: Wie . insbesondere Putnam (1975: 37ft) zu zeigen versucht hat, teilen sich vielmehr die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die "Arbeit" der Beherrschung von Ausdrücken auf. Jede Sprache enthält Ausdrücke, deren Gebrauch genaugenommen nur inanehe Mitglieder der Sprachgemeinschaft beherrschen, während "ihre Verwendung durch andere Sprecher [...] auf einer spezifischen Kooperation zwischen diesen 19. Laut Durkhcirn (I R93: 394) unterscheidet sich die soziale "VOIl der physiologischen Arbeitsteilung durch ein wesentliches Merkmal. Im Organismus hat jede Zelle illre bestimmte Rolle und kann sie nicht wechseln. In der Gesellschall werden die Aufgabcn niemals in einer. derart unbeweglichen Weise verteilt. Selbst dort, wo die Organisationsstrukturcn am rigidesten sind, kann sich das Individuum innerhalb des Rahmens, in den es das Schicksal gestellt hat, noch mit einer gewissen Freiheit bewegen. Im frühen Rom konnte der Plebejer l z. 13. J noch alle Funktionen Irci übernehmen, die nicht ausschließlich den Patriziern vorbehalten waren." I s. In diesem Sinne stellte etwa Saussure (191G: I G) in Anschluß an Durkhcim fest, daß das System einer Sprache (langue) "virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse." II • KRITERION 4. Gibt es Arbeitsteilung in der Philosophie? Der Aspekt der Freiheit bringt uns zur Frage, wie es . denn mit der Arbeitsteilung in der Philosophie stehe. Diese Frage ist für die Philosophie allein schon deshalb relevant, weil diese Disziplin nach Ansicht von Durkheim (1893: 346) selbst das Ergebnis einer Arbeitsteilung im theoretischen Bereich ist, indem sie sich aus der Religion herausdifferenziert hat und mit dieser weiter kommunizieI1,. und weil sie ihrerseits mit den Wissenschaften jüngere Abkömmlinge bzw. Partner in der Arbeitsteilung hat. Allerdings war sich Durkheim (1893: 425) anscheinend sehr wohl bewußt, daß die Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen nicht oder noch nicht unbedingt zu einer auf Arbeitsteilung basierenden Gemeinschaft der Wissenschaften geführt hat, da er eine "in eine Vielheit von Einzelstudien zersplitterte Wissenschaft" beklagt, die "kein solidarisches Ganzes" mehr bildet. Zwar hat sich die Philosophie aus allgemeineren theoretischen Bemühungen entwickelt, zwar hat sie sich selbst weiter differenziert und manche ihrer Probleme. an empirische Wissenschaften weitergegeben, die aus ihr entsprungen sind, aber all diese Disziplinen und ihre Vertreter zeigen nicht jenen Austausch und Zusammenhalt, der sie zu einem größeren Ganzen vereinigte und rechtfertigte, im Durkheimscheu Sinne von Arbeitsteilung zu sprechen. Was wir in der Philosophie wie allgeinein in den Wissenschaften haben, ist Spezialisierung, d.h., das Ganze des Bemühens um Wissen bzw. Weisheit hat sich, wie Durkheim zu Recht bemerkt, "in eine Vielzahl von Spezialdisziplinen aufgeteilt, jede mit eigenem Ziel, eigener Methode und eigenem Geist", so daß heute niemand mehr "die Gesamtheit einer einzigen Wissenschaft" überblickt, geschweige denn, daß er oder sie "gleichzeitig mehrere Wissenschaften" pflegte; vielmehr verengte sich der Kreis ihrer Untersuchungen. "auf eine bestimmte Teilzahl von Problemen oder gar auf ein einziges Problem.'?" Diese Erkenntnis ist natürlich weder neu noch besonders aufregend; die darin angesprochene Spezialisierung erscheint nämlich in mindestens zweierlei Hinsicht unproblematisch: (i) Die Spezialisierung der Wissenschaften im allgemeinen und der Philosophie im besonderen ist nicht das Ergebnis :einer bewußten Entscheidung, 20. Was Durkheim (1893: 84) hier über die Differenzierung der Wissenschaften im allgemeinen sagt, läßt sich auch bei der Entwicklung feststellen, welche die Philosophie seitdem durchlaufen hat und die Gegenstandunserer Überlegungen ist. sondern vielmehr von Versuchen, die Welt, in der wir leben, zu erkennen und damit umzugehen. (ii) Die Spezialisierung bietet eine Möglichkeit, bei diesen Versuchen Fortschritte zu machen, d.h. die Welt qualitativ und quantitativ besser zu verstehen und mithin differenzierter an die Probleme heranzugehen, mit denen wir konfrontiert sind. Wenn Durkheim recht hat, dann ist die Spezialisierung indes nur ein erster, notwendiger Schritt zu einem angemessenen Umgang mit einer komplexer werdenden Welt. Spezialisierung allein ist jedoch zu wenig. Vielmehr ist diese (zwnindest in Durkheims Augen) nur unter der Voraussetzung sinnvoll, daß sich die Indi~iduen wie Organe zu einem größeren Organismus verbinden. Ein Ergebnis der Evolution ist die zunehmende Spezialisierung von Zellen und Organen; diese geht jedoch einher mit einer ebenso zunehmenden Vernetzung dieser Zellen und Organe zu immer komplexeren Organismen, die Entsprechendes leisten. Im Unterschied dazu versuchen in Philosophie und Wissenschaft die einzelnen "Zellen" . und "Organe" oft genug, die Rolle eines ganzen Organismus zu spielen. Möglicherweise beruht dieses Problem auf der Kombination der Vorstellung von geistigem Eigentwn und Originalität mit Geltungsbewußtsein und anderen psychischen Gegebenheiten von Individuen. Das heißt, als philosophisch Tätige versuchen wir mit einem gewissen Recht, "eigenständig zu denken und zu handeln." Dementsprechend vernachlässigen wir nicht nur unsere individuellen Grenzen, sondern wir spielen auch die Rolle. der Gemeinschaft herunter. Wenn Durkheim (1893: 182) recht hat, dann bauen wir damit aber falsche Alternativen auf, denn wir haben ja die Möglichkeit der Arbeitsteilung, bei der "die Individualität des Ganzen zur gleichen Zeit [wächst] wie die Individualität der Teile. Die Gesellschaft wird fähiger, sich als Ganzes zu bewegen, während zugleich jedes ihrer Elemente mehr Einzelbewegungen hat." Sicher wäre es falsch zu behaupten, daß sich philosophisch tätige Menschen völlig "einsam" um Erkenntnis bemühen; dagegen spricht allein schon die Bedeutung, die das Argumentieren und mithin das Gespräch für das philosophische Denken hat. Indes spielt dabei auch eine Rolle, mit wem wir sprechen: mit uns selbst, mit gleichen oder mit ungleichen Menschen. Sicher führen philosophisch Tätige nicht nur Selbstgespräche, sondern sie gewinnen ihre Einsichten wesentlich auch durch das Gespräch mit anderen. Diese sind allerdings oft genug Menschen, die uns in relevanter Hinsicht ähnlich sind. Das heißt nicht, daß sie derselben Meinung sind wie wir; ganz 12 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE diese Gleichheit besteht: Für Freundschaften, die auf Nutzen oder Lust beruhen, ist wesentlich, daß den miteinander befreundeten Menschen gleicherweise an einem Nutzen bzw.: an einer Lust liegt, den bzw. die sie durch die Freundschaft erfahren; das bedeutet aber nicht, daß die Freunde allgemein Gleichheit suchen. Erst recht gilt dies für Freundschaften, die auf Tugend beruhen; in diesem Fall bilden bestimmte moralische Voraussetzungen die gemeinsame Basis der Freundschaft, doch bleibt gerade dann die Möglichkeit offen, daß die daran beteiligten Menschen sich in ihren wesentlichen Fähigkeiten und Neigungen voneinander unterscheiden. Vielmehr kommt es "bloß" darauf an, daß sie sich (in ihrer Gleichheit und Verschiedenheit) füreinander interessieren, einander achten, vertrauen usw. Wie erwähnt, sind solche Einstellungen normativ gesehen für Gemeinschaften aller Arten notwendig. In diesem Rahmen sind jedoch Gemeinschaften, die primär aus gleichen Mitgliedern bestehen, von anderen zu unterscheiden, die sich durch Unähnlichkeit, gegenseitige Ergänzung und Arbeitsteilung ihrer Mitglieder auszeichnen. Die vorhin erwähnte Annahme lautet, daß sich für philosophisch tätige Menschen anbietet, Gemeinschaften der ersten Art zu bilden. Indes stellt sich die Frage, inwiefern dies durch die philosophische Tätigkeit überhaupt nahegelegt werden könnte bzw. sollte. Ganz im Gegenteil ist zu vermuten, daß dies nicht der Fall ist, und zwar u.a. aus folgenden Gründen: (i) Laut Durkheim dominiert in einer Gemeinschaft von Gleichen das Kollektivbewußtsein, d.h. das, was allen Mitgliedern gemeinsam ist; deren individuelle Vorstellungen spielen dagegen höchstens eine untergeordnete Rolle. Da die Kritikfähigkeit als ein Merkmal des philosophischen Denkens gilt, ist dafür jedoch ein gut entwi ckeltes Individualbewußtsein bzw. eine gewisse Eigenständigkeit notwendig. Diese läßt sich zwar in einer arbeitsteiligen Gemeinschaft bewahren bzw. verwirklichen, jedoch nicht in einer Gemeinschaft, die im wesentlichen auf die Gleichheit ihrer Mitglieder gebaut ist. (ii) Wie bereits erwähnt, wird die philosophische Tätigkeit gerade aufgrund des Bernühens um Erkenntnis immer weiter spezialisiert. Dadurch wird die Unähnlichkeit zwischen den philosophisch Tätigen verstärkt, und diese sind in steigendem Maße aufeinander angewiesen. Selbst wenn sie versuchen, mehr oder weniger große Gruppen von theoretisch oder methodisch "Gleichgesinnten" zu bilden, enthalten diese in ihren Grundlagen also bereits einen im Gegenteil baut die Philosophie wesentlich auf dem Widerspruch auf. Aber nicht alle philosophisch Tätigen werden in gleicher Weise als Kritiker oder Kritisierte für würdig befunden, sondern in erster Linie solche, die auf demselben Gebiet mit gleichen Methoden arbeiten, mit denen wir also aufgrund der Ähnlichkeit solidarisch sind. Dies ist nicht unbedingt als Vorwurf zu verstehen; vielmehr setzen Kommunikationund Verstehen ja Gemeinsamkeiten voraus (z.B. auch eine gewisse gemeinsame Kompetenz). Andererseits wird Arbeitsteilung dadurch aber nicht ausgeschlossen, und die Frage, was als Gegenstand philosophischer Gespräche in Frage kommt und von wem erwartet wird, daß er oder sie kompetent ist, darüber zu sprechen, könnte sehr wohl auch anders beantwortet werden, als dies der Fall ist. Wie die philosophisch Tätigen de facto damit umgehen, zeigt letztlich nur, "worauf es ihnen ankommt und worauf nicht" - um mit Wittgenstein (1977: *293) zu sprechen. Freilich wäre denkbar, daß die philosophische Tätigkeit gar nicht eine auf Unterschieden beruhende Gemeinschaft fordert bzw. fördert, deren Mitglieder einander ergänzen, sondern daß dafür eher eine Gemernschaft von Gleichen in Frage kommt. Durkheims Vorstellung von sozialer Arbeitsteilung beruht ja darauf, was Aristoteles über den Staat schreibt. In der Politik (126Ia23ff) unterscheidet dieser den Staat jedoch von anderen Gemeinschaften, z.8. von der Bundesgenossenschaft, die "ihrem Wesen nach um der gegenseitigen Hilfe da" ist; darum gründe sie "in der Quantität, auch wenn keine Unterschiede in der Art vorhanden sind." Indes beruht in gewissem Sinne selbst der Staat auf der Gleichheit der Menschen, die ihm angehören, und zwar insofern, als ein Staat laut Aristoteles iNikomach. Ethik 1155a22) durch Freundschaft zusammengehalten wird; die verschiedenen Arten von Freundschaft beruhen aber auf Gleichheit." Allerdings erhebt sich die Frage, worin 21. Lallt Aristotclcs (Nikomach. Ethik. 1I'\XbIIT) ist Gleichheit z. B. für Freundschalten wesentlich, die auf Lust oder Nutzen beruhen, "denn bcidc Teile tun und wünschen einander dasselbe oder tauschen eines gegen das andere, WIe etwa Lust und Nutzen." Zwar sind dies "Freundschaflcn geringeren Grades und weniger dauerhaft", doch beruht auch die freundschalt zwischen 7/1gendhajien - die Aristotcles (Politik 11'\6b6-29) als eigentliche Form der Freundschall ansieht - insofern auf Gleichheit, als solche Freunde "einander gleichmäßig das Gute" wünschen, wobei "jeder VOll beiden an sich gut und gut für den Freund" ist und "sich zuverlässig als liebenswert" erweist. Durkhcims früher erwähnte Vorstellung von Freundschalt widerspricht dem nur scheinbar. 13 KRITERION "Spaltpilz" bzw. die Anlage zur Spezialisierung und zur Arbeitsteilung. (iii) Sofern wir es für wertvoll erachten, den Bereich der Philosophie weiterhin in seiner Gesamtheit zu betrachten bzw. zu berücksichtigen, erscheint es besonders unplausibel anzunehmen, daß die philosophische Tätigkeit die Bildung von Gemeinschaften fördere, die auf Gleichheit beruhen, Da sich die Philosophie defacto in viele Teildisziplinen differenziert hat, bedarf es nämlich der Arbeitsteilung zwischen diesen, um ihre Ganzheit zu bewahren. Zwar wäre denkbar, daß dies gar kein erstrebenswertes Ziel ist, doch liegt die Annahme näher, daß ein solcher Blick auf das Ganze wegen der umfassenden und allgemeinen Natur philosophischer Erkenntnisse sehr wohl notwendig ist. ~~ (iv) In vielen Fällen besteht das Neue an einer Erkenntnis darin, daß ein Gedanke, eine Fragestellung, eine Lösungsstrategie. eine Methode usw. von einem Gebiet auf ein anderes übeltragen wird. Dies gilt auch für die Philosophie.P Demnach setzt philosophische Einsicht aber oft genug die Kenntnis verschiedener Problembereiche und mithin die Ablehnung der Gleichheit als einer Basis philosophischer Gemeinschaften voraus. (v) Wenn wir die klassische philosophische Forderung des "Erkenne dich selbst!" ernst nehmen, dann müssen wir uns auch der Begrenztheit unserer Existenz stellen. Diese zeigt sich nicht nur in biologischer Hinsicht (wozu neben der erwähnten Sexualitdt xi.«. auch die Zeitlichkeit des Lebens gehört), sondern z.B. auch beim Erkenntnisvenuogen. Wie sehr sich auch alle Menschen bemühen, so werden wir doch nie "die" Erkenntnis der Wirklichkeit erlangen; wer sich darum bemüht, erkennt vielmehr, wie wenig er oder sie letztlich von sich und der Welt weiß .:..- und wie sehr er bzw. sie auch auf die Einsichten anderer angewiesen ist, um zumindest ein !Jißdien mehr zu erfassen. 22. So gesehen erscheint nicht nur die Integration verschiedener philosophischer Tätigkeiten wünschenswert, sondern aucü eine von Philosophie- und Wissenschaft, von Erkenntnisstreben und anderen kognitiven Bereichen, von all diesen und anderen psychischen Vermögen, von Psyche und Physis usw. Wer auf einer dieser Ebenen sowie zwischen ihnen zu integrieren versucht, übt demnach eine philosophische Tätigkeit aus; dicsc ist insgesamt wesentlich komplexer, als früher angedeutet wurde. 23. So wirkte z. B. nicht nur die Anwendung logischer Methoden auf klassische philosophische Probleme befruchtend, sondern auch die Betrachtung des Erkenntnisfortschritts in Analogie zur Evolutionstheorie; vgl. dazu z. B. Popper (1972; 1975). Vor allem das philosophische Ziel der Erkenntnis und Selbsterkenntnis (sowie die Einsicht in die dafür notwendigen Voraussetzungen) legt die Bildung von Gemeinschaften nahe, die auf Zusammenarbeit und Arbeitsteilung beruhen. Deshalb ist erstaunlich, welch große Rolle de facto die auf Ähnlichkeit beruhende Solidarität in den "philosophischen Zellen" und in Zusammenhang damit die Konkurrenz und Rivalität zwischen diesen "Zellen" spielt; diese verwechseln sich oft genug mit dem ganzen Organismus und weigern sich dementsprechend, philosophisch Tätige, die anders sind, als gleichwertig zu akzeptieren, und zwar primär deshalb, weil sie anders sind." Dies ist insofern verständlich, als verschiedenen philosophisch Tätigen unter den gegebenen Verhältnissen oft die Voraussetzungen für ein gegenseitiges Verständnis fehlen; wie erwähnt, ist dies jedoch nicht notwendig. Wenn wir vom Bild der arbeitsteiligen Gemeinschaft ausgehen, so gehört dazu jedenfalls auch die Annahme, daß nicht alle Mitglieder einer solchen Gemeinschaft genau eine Menge von bestimmten Merkmalen gemeinsam haben müssen, tun als solche gelten zu können, sondern es ist auch möglich, daß zwischen ihnen nur Familienähnlichkeiten im Sinne von Wirtgenstein (1953: ~~66t) bestehen, daß also den Aktivitäten, Methoden, Sprachverwendungsweisen. InterJssengebieten usw., die insgesamt als Philosophie bezeichnet werden, nicht eine ganz bestimmte Menge von Merkmalen gemeinsam ist. Wenn wir an die Unterschiede zwischen Östlicher und Westlicher Philosophie oder zwischen verschiedenen Schulen des Denkens denken, dann erscheint dieser Gedanke nicht völlig unplausibel." Wenn in den "philosophischen Zellen" so großer Wert auf Einheit und Ähnlichkeit gelegt wird, so folgen daraus zwar "saubere Verhältnisse" in theo-24. Wir brauchen etwa nur an den Umgang zu denken, den Vertreter verschiedener philosophischer Schulen ort genug miteinander pflegen, bzw. an die lIaltung, die sie gegen die jeweils "anderen" einnehmen. 25. Dennoch benötigen wir Kriterien, um philosophische von anderen theoretischen Tätigkeiten zu unterscheiden, Mit Walsmann (1956) können wir etwa sagen, daß jeglicher philosophischen Tätigkeit das Bemühen um "tiefere Einsichten" gemeinsam ist (was auch immer jemand konkret darunter verstehen mag, daß in der Philosophie (anders als in den Künsten oder in der Politik) die Argumentation wesentlich ist; andererseits unterscheidet sich die Philosophie etwa von der Wissenschaft dadurch, daß ihre Methoden, Theorien, Ergebnisse usw. nicht im selbcn Maße sicher bzw. überprüfbar sind und daß das freie Spiel der geistigen Kräfte, das nicht auf ganz bestimmte lrgcbnissc zielt, eine wesentliche Rolle spielt. 14 ARBEITSTEILUNG lN DER PHILOSOPHIE retischer und methodischer Hinsicht. doch wird dadurch nicht nur die Arbeitsteilung zwischen den ZeIlen behindert oder gar verhindert, sondern auch das philosophische Streben der betreffenden Menschen, da sie Informationen außer acht lassen, die ihre Sicht eines Problems ergänzen und zu neuen Fragestellun- . gen führen. Hier ist nochmals I zu betonen, daß ehe Spezialisierung allein im theoretischen Bereich wie auch sonst zunächst noch keine Probleme mit sich bringt: diese treten jedoch dann auf. wenn ehe damit verbundene' Beschränkung nicht durch Arbeitsteilung aufgefangen wird. In diesem Sinne bemerkte z.B. Wittgenstein mit Bezug auf die Verbreitung der wissenschaftliehen Methode, diese bedeute einerseits eine Bereicherung, durch ihre Vorherrschaft jedoch auch eine Verarmung: "Die eine Methode drängt alle anclern beiseite. Mit dieser verglichen scheinen sie alle ärmlich. Du mußt zu den Quellen niedersteigen, um sie' alle nebeneinander zu sehen, die vernachlässigten und die bevorzugten.t'-" Dies ist natürlich kein Argument gegen das Anwenden wissenschaftlicher Methoden, denn es wäre ebenso eine Verarmung, auf diese einfach zu verzichten: vielmehr müssen wir "aus allen Quellen trinken" bzw. diese so mixen, daß ein schmackhaftes bzw. nahrhaftes Getränk entsteht. Damit ist nicht gemeint, daß jeder philosophisch Tätige aus "allen Quellen" trinkt bzw, sich einem "reinen" Eklektizismus hingibt, sondern (weniger bildlich gesprochen) geht es darum, daß die philosophisch Tätigen ihre individuellen Grenzen einsehen und einander so ergiiuzeu, daß sie gemeinsam mehr sehen als alle für sich allein. Ich plädiere also nicht für ein Wechselspiel hcliciJiger Unähnlichkeiten: ein fruchtbares Zusammenwirken ist im Sinne von Durkheim (1893: 102) vielmehr vor allem von' Unterschieden zu erwarten, ehe einander ergänzen.:? Ebensowenig meine ich, daß jeder tun und lassen kann oder soll, was er will. Um mit Wirtgensrein (1953: §133) zu sprechen, gibt es zwar "nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien." Auch wenn es so gesehen nicht die Methode der Philosophie gibt, sondern eine Vielfalt davon, ist die Philosophie nicht "gebührenfrei": philosophisch tätig zu sein, heißt vielmehr,sich an gewiss« Normen zu binden. insbesondere an die N0rl11 der WahrhattigjUlif, Wie Nietzsehe (1882: 576) betont, bedeutet dieser "unbedingte Wille zur Wahrheit [...] nicht 'ich will mich nicht täuschen lassen', sondern - es bleibt keine Wahl - 'ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht' - iuul hiennit sind wir auf dem Boden der Moral" Dieser Anspruch ist nicht nur für die Identität der philosophischen Tätigkeit wesentlich (und mithin für ihre Abgrenzung gegenüber anderen Arten des Denkens), sondern er schließt andererseits auch die Verpflichtung ein, sich über die eigenen . Grenzen nicht zu täuschen, und somit die Aufforderung zur Arbeitsteilung mit Menschen, die uns ergänzen." 26, Wiugcnsicin (I 1J7~: 11 ~), Ähnlich kritisierte schon Niet/sehe (IX72:,II(») d~IS Vorurteil, es gehe nur cincn angemessenen l Jmgang mit der Wirklichkeit. nämlich Wissenschalt lind Technik. Dieses Vorurteil werde durch das dami t zus.unmcnhäugcndc /heorctischc Weil hiId genährt. das seit Sokr.ucs die Weil erobert lind andere Ircnkwciscu vcrdr.ingt habe: IJnscrc gesamte I:.rI,iellllng h;it laut Nictzschc "dieses Ide;1I im Auge: jede andere l.xistcn> h~11 sich mühsam nebenbei emporzurlugen. als erlaubte. nicht als beabsichtigte l.xistcnz." 27. Auch wenn Iür Zusammelwrbeit notwendig ist. daß Menschen einander in ihrer l Jn.ihnlichkcil ergänzen. SI) EiL\[ dies doch die Möglichkeit offen, daß die philosophisch liiligcn zum Teil in. einem solchen (iegt.:ns;ltz zueinander stehen, dal.\ sie nicht zusanuucnarbcircn können. Auch in einem solchen ]-';111 besteht zumindest prinzipicl] die Möglichkeit, d~Iß sie voneinander lernen. Zwar sind die 5. Gntndefur Ar!ieifsfei!1/ng in der Philosophie Die Möglichkeit und der Bedarf einer Arbeitsteilung im erwähnten Sinne ist in der Philosophie in mehrerlei Hinsicht festzustellen. Drei Beispiele mögen zur Illustration genügen: (i) Wie früher erwähnt, gehört zu den philosophischen Tätigkeiten u.a, die "Erziehung" von Problemen, dh. die Behandlung von Problemen. die noch lInreijfür die Bearbeitung mit bestimmten Me- . tueden sind. z.B. mit denen der empirischen Wissenschaften. Dazu zählen auch Fragen, die aufgrund ihres allgemeinen oder grundlegenden Charakters wohl auf absehbare Zeit Gegenstand philosophischer Überlegungen bleiben werden, wie etwa die Fragen der nonnativen Ethik, So ist etwa eine Antwort auf die Frage nach dem richtigen, gerechtfertigten HanMöglichkeiten des gegenseitigen Versieheus letztlich doch durch iiulividucllc Gegebenheiten begrenzt. doch kann dies kein l.limlcrnis d~i1'iir sein. daß wir die vorhandenen Möglichkeiten ausloten, soweit wir nur können. 2X. In diesein Sinne glaubt etwa auch Popper (llJX4: 22~). zur wissenschau Iichcn Ikrulsclhik gehöre die I.insicht. "d~11.\ wir. um Zll lernen. Fehler niöglichsr Zll vermeiden, gcl'!/(/c ,'011 IIIIS('/"CII Fehlern ICI"IICII müssen" und daß wir mithin "nndcrc Menschen ::'II/" 1~'lIfdccklillg IIlId KUI"/'ck/II" "011 Fehlern luauchcn (1I1id sie III1Sj: insbesondere auch Menschen, die mit anderen Ideen in einer anderen Atmosphäre au Igcwnchscu sind." 15 KRITERION zwei Fragen dringend einer Antwort, nämlich einerseits, wie es bei der vorausgesetzten fundamentalen Rolle der Goldenen Regel kommt, daß sich so gut wie kein Mensch auch nur einigermaßen konsequent daran hält, und andererseits, ob uns diese Regel allein die Lösung auch nur eines moralischen Problems erlaubt. Anscheinend ist dies nicht' der Fall, denn sonst müßten wir mit brennenden Problemen unserer Lebensform ganz anders wngehen. Der Umstand, daß sich die Probleme schneller entwickeln als die Methoden zu ihrer Lösung, läßt also vermuten, .daß die Fragestellungen der Ethik durchaus noch "entwicklungsfähig" sind. Beide Symptome deuten darauf hin, daß wir an viele (wenn auch wohl nicht an alle) Fragen der Ethik zwn gegebenen Zeitpunkt nicht (nur) mit der Methode der logischen Sprachanalyse herangehen können, sondern daß wir sie allenfalls dafür vorbereiten können und daß wir dafür auch andere Methoden benötigen. Dies ist jedoch. ein Grund, in diesem Bereich (wie allgemein in der Philosophie, den Wissenschaften 11l1d der Gesellschaft) Gemeinschaften zu bilden, deren Mitglieder einander in ihren verschiedenen Fähigkeiten ergänzen und beim Versuch, Probleme zu lösen und Erkenntnisse zu gewinnen, die Arbeit untereinander aufteilen. (ii) Philosophische Diskussionen dienen primär der Kommunikation zwischen den Angehörigen des "inneren Kreises" (analog zum Informationsaustausch zwischen den Zellen im Zentralnervensystem eines Organismus), aber nicht so sehr den Menschen, die als "Kunden" der beruflich Philosophierenden anzusehen sind (bzw. dem Zusammenwirken mit 29. Popper (1963: 42). Bereits Anstoteies bemerkte jeanderen Organen). Eine Ausnahme sind vielleicht die doch, daß wir "nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision philosophischen Praktiker, doch verfügen diese oft verlangen" können; für ihn ist es sogar ein Zeichen des nur über wenig Kontakte zwn "Zentrum"; vielmehr Gebildeten, "in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes haben sie sich in eine philosophische "Öko-Nische" zuläßt"; vgl. Nikomach. Ethik 1094bI3-25. Laut zurückgezogen. Ich muß wohl nicht eigens betonen, Waismann (1956: 138) droht das strikte Streben nach Ge- daß innerphilosophische Diskussionen unbedingt nauigkeit sogar, "den lebendigen Gedanken im Keime zu notwendig sind; sie sind sozusagen die Spitze des ersticken. Dies ist leider eines der bedauerlichen Ergebphilosophischen Denkberges. Sie ergeben sich nisse des Logischen Positivismus, nicht vorhergesehen von seinen Begründern, jedoch nur zu augenfällig bei einigen zwangsläufig aus dem philosophischen Fragen und seiner Nachfolger." Damm ist die Philosophie für haben viele Unklarheiten beseitigt; vor allem aber Waismann (1956: 143) "nicht nur Sprachkritik: so auszeigen sie uns immer wieder, wie wenig wir letztlich gelegt, ist ihr Ziel zu eng gefaßt. Sie kritisiert, löst und wissen, und sind insofern sehr wohl auch ein Dienst übelwindet alle Vorurteile, sie lockert alle starren und am Kunden. In diesem Sinne betonte schon RusseU einengenden Gedankenfonnen, gleichgültig ob sie ihren (1912: 138), die Philosophie könne uns "zwar nicht Ursprung in der Sprache oder anderswo haben." 30. Frey (1970: 121) teilt diese Annahme u.a. mit . mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Walsmann (1956: 138), für den sich "der Genius des Philosophen. [...] uirgendwoaugenfälliger [zeigt] als an der Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickneuen Art von Frage, die von ihm in die Welt gebracht. feld erweitern und uns von der Tyrannei.des Gewohnwird. Was ihn auszeichnet und was ihm seinen Platz zuten befreien. Sie vermindert unsere Gewißheiten weist, ist die Leidenschaft des Fragens." dein von wesentlicher Bedeutung für das Leben und Zusammenleben der Menschen, doch läßt sich diese Frage bis jetzt anscheinend nicht so behandeln wie manche Fragen der Logik. Diese "Unreife" ethischer Probleme zeigt sich in mehreren Symptomen, z.B. den folgenden: (a) Zentrale ethische Begriffe (wie "Handlung", "Moral", "Verantwortung", "Willensfreiheit" usw.) sind bis heute überaus unklar geblieben. Nun ist Klarheit, wie u.a. schon Popper bemerkt hat, durchaus "ein Welt an sich; Genauigkeit und Präzision aber sind es nicht. ·Es hat keinen Sinn, genauer sein zu wollen, als es unsere Problemsituation verlangt.l"? So wertvoll es auch in der Ethik ist, Klarheit anzustreben, so ist in der derzeitigen Problemsituation doch (noch) nicht an eine "logische Klarheit" bzw. Genauigkeit zu denken. (b) Wenn es zutrifft, daß Fortschritte im Denken "nicht sosehr durch neue Lösungen als vielmehr durch neue Fragestellungen bestimmt" sind" dann sind wir in der Ethik noch nicht sehr weit, da die heute diskutierten moralischen Prinzipien im wesentlichen auf die schon erwähnte Goldene Regel zurückgehen; Kants (1785) kategorischer Imperativ ist ebenso eine Weiterentwicklung davon wie Hares (1955) Prinzip der Universalisierbarkeit moralischer Normen oder Singers (1979) Prinzip der gleichen Erwägung aller von einer Handlung Betroffenen. Zwar ist denkbar, daß die Goldene Regel ein besonders fundamentales Prinzip ist, das bis heute immer wieder bestätigt wurde, doch harren in diesem Fall 16 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten." Um zu diesen Möglichkeiten zu gelangen, müssen wir immer wieder von den Gewohnheiten ausgehen. Darum kann das, was gewöhnlich als Kern der Philosophie angesehen wird, nicht alles sein; sonst würde die philosophische Diskussion nämlich auf bestimmte Fragestellungen und Arten des Fragens reduziert, d.h., der "Genpool" philosophischer Fragen würde mangels Zugang an frischen Genen verarmen - ein Phänomen, -das im biologischen Bereich als Problem derInzucht bekannt ist.'! Ähnliches gilt auch für die vorhin angesprochene philosophische Praxis, die als zuständig für den Kontakt nach außen angesehen wird (nicht zuletzt auch von ihren Vertretern). Wenn wir die Durkheimsche Analogie ernst nehmen, dann gehört zur philosophischen Tätigkeit ebenso wie zum Handwerk auch der Kontakt mit den Kunden und die Verantwortung diesen gegenüber. Eben danun darf jedoch der Kontakt zum Kern der Philosophie nicht abreißen; gerade die philosophische Praxis benötigt die Vertiefung in der philosophischen Theorie, da sie sonst. verflacht.. Etwas überspitzt können wir in Anlehnung an Kant also sagen: Philosophische Praxis ohne philosophische Theorie ist blind, philosophische Theorie ohne philosophische Praxis ist leer. . (iii) Die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung in der Philosophie läßt sich weiter etwa auch am Problem der Vermittlung von Begriffen und Ideen aufzeigen: lnfolge der Differenzierung und Spezialisierung der. Wissenschaften haben die einzelnen Disziplinen, ihre Teildisziplinen, deren Subteildisziplinen usw. ihre Terminologien entwickelt, die ihren jeweiligen Vertretern zur Kommunikation dienen, den Außenstehenden aber Probleme bereiten, und zwar nicht nur dadurch, daß sie wesentliche Ausdrücke nicht verstehen. sondern auch und gerade dadurch, daß Ausdrükke, mit denen sie aus anderen Kontexten vertraut sind, in einer Disziplin jeweils eine technische Bedeutung erhalten. Eine Fülle von Mißverständnissen ist die Folge, vor allem dann, wenn ein Ausdruck, der in einem bestimmten Kontext wohldefiniert ist, unmittelbar bzw. "naiv" in einen anderen Bereich übertragen wird.t? Nicht nur die Philosophie steht vor . diesem Problem, sondern alle Teilbereiche der Gesellschaft. Besonders anschaulich zeigt etwa Ludwik Fleck am Beispiel eines immunologischen Befundes, wie sich ein und dieselbe Tatsache ändert, wenn Immunologen miteinander sprechen, wenn sie den Befund einem praktischen Arzt mitteilen und wenn dieser wiedenunden Patienten davon informiert.P Wie wir früher gesehen haben, stellt der Sprachgebrauch von Experten für sich ebensowenig ein Problem dar wie der Umstand, daß sich die anderen auf deren Kompetenz verlassen müssen. Und zwar ist dies so lange kein Problem, wie eine "linguistische Arbeitsteilung" im Sinne vonPutnani (1975:39) besteht, d.h. "eine spezifische Kooperation" zwischen den Angehörigen der "jeweiligen Teilmengen" einer Sprachgemeinschaft. Ebendas ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht oder zumindest kaum der Fall. Die Frage, ob eine Kooperation besteht, ist dabei jedoch noch nicht das einzige Problem: Wie die Erfahrung zeigt, sind vielmehr Kooperation und Vertrauen zwischen den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft nicht in jedem Fall hinreichend für eine erfolgreiche Kommunikation. In unserem Fall gehört zur Arbeitsteilung auch ein "Katalysator", d.h. jemand, der sich darum bemüht, von einer Sprachebene in die andere zu übersetzen bzw. dazwischen zu vermitteln. Auch dafür haben wir eine Analogie in der Biologie: Die Information der DNS wird bei der 31: In diesem Zusammenhang ist auch daran zu denken, daß Wiltgenstein (1953: §593) "eine l Iauptursachc philosophischer Krankheiten" in "einseitiger Diät" sieht, d.h. darin, daß wir unser "Denken mit nur einer Art von Beispielen" nähren. Auch dies ist ein Plädoyer lür Arbeitsteilung. 32. Wir brauchen etwa nur daran zu denken,auf welche Weise physikalische Begriffe wie "Masse", "Iiucrgic", 17 "Kausalität" oder "Relativität" im Alltag verwendet werden. Umgekehrt entstehen freilich auch Probleme, wenn Ausdrücke aus dem alltäglichen Sprachgebrauch in den wissenschaltliehen übernommen werden und dort einen ganz anderen Sinn erhalten, Wie schon Willgenstein (1967: §438) bemerkt hat, ist es z.B. in den Wissensehaften üblich, "Phänomene, die gcnauc Messungen zulassen, zu definierenden Kriterien eines Ausdrucks zu machen; und man ist dann geneigt zu meinen, nun sei die eigentliche. Bedeutung ge(i/llden worden. l.inc Unmenge von Verwirrungen ist aufdiese Weise entstanden." Dieses Problem zcigt sich z. H. in der Art, wie 'Denken'. 'Intelligenz' und andere Ausdrücke der "Alltagspsychologic'' in der modernen wissenschaftlichen Psychologie verwendet (bzw, auf das alltägliche Verhalten der Mensehen rückprojizicrt) werden. Ich gehe darauf in Neumaler (1987) etwas ausführlicher ein. 33. Vgl. Fleck (1935:150rJ). Ein zusätzliches Problem besteht laut Fleck (1935) darin, daß wir mit der Vertiefung in ein Problem zunehmend von einem Denkstil abhängig werden, Dies hat u. a. zur Folge, daß Menschen, die ein Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachten, dabei unterschiedliche "Tatsachen" sehen. hn Grund für die Notwendigkeit der Vermittlung theoretischer Inhalte ist mi t anderen Worten in der Thcoricabhiingigkeit von Begriffen bzw. in den unterschiedlichen Graden dieser Abhängigkeit zu sehen. KRITERION Reduplikation nicht direkt auf eine andere DNS .die aber nur gemeinsam erreicht werden können. In diesem Sinne sind wir alle aufeinander angewiesen. übertragen, sondern zunächst durch einen .RNSWie schon Durkheim (1893: 394f) erkannte, könStrang abgelesen und von diesem weitergegeben, und nen wir uns als Mitglieder einer solchen Gezwar anscheinend deshalb, weil dies zuverlässiger und weniger aufwendig ist als eine direkte Infonnati-. meinschaft von Verschiedenen sogar individuell mehr entfalten, als wenn wir einen philosophischen Binonsübertragung. Demnach ist bei philosophischen (bzw. wissen- .'zelkampf führen. Dies hängt u.a. damit zusammen, daß uns die Spezialisierung im Rahmen eines größeschaftlichen) Theorien nicht nur der Zusammenhang ren Organismus mehr Flexibilität erlaubt: "Solange ihrer Entstehung zu berücksichtigen, und auch nicht die wissenschaftliche Tätigkeit noch nicht spezialinur der Kontext ihrer Rechtfertigung, sondern auch siert war, konnte der Gelehrte, da er ja fast die geder Kontext der Vermittlung, und zwar nicht nur der samte Wissenschaft umfaßte, seine Tätigkeit kaum internen Vermittlung zwischen den Angehörigen ändern, denn damit hätte er auf sie selber verzichten verschiedener "Zweige" des theoretischen Untermüssen. Heute kommt es oft vor, daß er sich hinternehmens, sondern auch der externen Vermittlung von einander verschiedenen Wissenschaften widmet, daß Einsichten nach "außen", also an Menschen, die er von der Chemie zur Biologie überwechselt, von diesen Bemühungen nicht notwendigerweise naheder Physiologie zur Psychologie, von der Psychologie stehen. Esistm.a.W. notwendig, die Annahmen und zur Soziologie." Diese Möglichkeit beruht auf der Ergebnisse auf einer Ebene in eine Sprache zu übersetzen, die andere Menschen (mit anderen' HinterVoraussetzung, daß sich auch andere Menschen um Aufgaben innerhalb einer solchen arbeitsteiligen grundannahmen) verstehen und auf eine Weise Gesellschaft kümmern" Allerdings ist mir natürlich interpretieren können, die den Intentionen jener, die sie äußern, grundsätzlich entsprechen. Wer sich wn bewußt, daß die philosophisch Tätigen insgesamt de diese Vermittlung bemüht, übt im Rahmen der wisfacto nicht unbedingt eine Gemeinschaft im Sinne senschaftlichen Arbeitsteilung eine philosophische von Durkheim bilden. Und wo sich "philosophische Tätigkeit aus. Zellen" bilden, spielt den früher angestellten Überlegungen zufolge die Ähnlichkeit ihrer Elemente oft eine größere Rolle als der Gedanke, daß sie einander 6. Ziele der philosophischen Tätigkeit in ihrer Unähnlichkeit ergänzen können. Indes liegt der Gemeinschaftsgedanke aus mehreren Gründen All diesen Überlegungen liegt die Frage zugrunde, nahe: wozu die philosophische Tätigkeit überhaupt dient. (i) Retrospektiv betrachtet ist das, was wir als PhiAuf diese Frage sind zahlreiche Antworten möglich, losophie bezeichnen, gewöhnlich nicht das Ergebnis von denen vermutlich mehrere legitim sind. Ebenso der Tätigkeit einzelner Individuen, sondern des wie Künstler ihre Werke oft für sich selbst schaffen, (beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Zusamsteht es etwa Menschen zu, um ihrer selbst willen menwirkens von Generationen philosophisch tätiger philosophisch tätig zu sein. In diesem Sinne können Menschen, von Philosophen, welche die Arbeiten wir die Philosophie als Summe rein individueller voneinander lesen, ihre jeweiligen Ansichten miteine Bemühungen danun ansehen, woran jedem' einzelnen ander diskutieren usw. 35 Das heißt: Philosophen wa-. jeweils liegt. Aber: So persönlich das Schaffen von ren nie die einzigartigen Geisteshelden, als die sich Künstlern oder Handwerkern motiviert sein mag, so zwnindest manche von ihnen sehen. kann es doch auch zugleich im größeren Rahmen der künstlerischen oder wirtschaftlichen, der gesell34, Auch Wittgeristein hat in diesem Rahmen seine Interschaftlichen oder politischen Entwickltmg gesehen essen sukzessive von der Technik auf Mathematik, Logik und Philosophie verlagert. In diesem Sinne widerlegt er werden. Ähnliches gilt für die Philosophie: Wenn wir zunächst von dieser ausgehen und sie als Ganzheit praktisch seine theoretische Annahme, der Philosoph sei "nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum sehen, dann ergibt sich die Notwendigkeit der ArPhilosophen macht" (vgl. Wittgenstein 1995: 173). beitsteilung, dann ergibt sich, daß wir uns als Ange35. In diesem Zusammenhang ist etwa an Poppers (1963) hörige einer größeren Gemeinschaft sehen, die im Bild der kritischen Tradition jeglicher W isscnschaft Dienste der Philosophie zusammenwirken. Die philoebenso zu denken wie an Flecks (1935) Vorstellung vom Denkkollektiv oder Kulms (1962) These, daß wissenschallsophisch Tätigen teilen sich so gesehen die Aufgabe, liehe Erkenntnis jeweils an ein Paradigma gebunden ist, das Ganze der Philosophie zu fördernbzw. Ziele zu wobei die verschiedenen Paradigmata miteinander kaum erreichen, die für jeden und jede davon wertvoll sind, vergleichbar sind. 18 ARBEITSTEILUNG IN DER PHILOSOPHIE (ii) Prospektiv gesehen liegt die Bildung philosophischer Gemeinschaften, deren Mitglieder einander ergänzen, aus der Einsicht in die Möglichkeiten nahe, die sich aus der Arbeitsteilung ergeben. Der intensive Austausch einer Vielfalt von Infonnationen hat wohl nicht nur einen Erkenntnisschub zur Folge, sondern die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft dürften durch die Einsicht, daß sie in ihren Grenzen und Unterschieden aufeinander angewiesen sind, auch anders miteinander umgehen, als dies hin und wieder zu beobachten ist. Aus der Untersuchung, was sich ergibt, wenn die philosophisch Tätigen in einer Gemeinschaft arbeitsteilig zusammenwirken, folgt demnach, daß Arbeitsteilung in der Philosophie erstrebenswert ist. Wenn die Philosophie auf Arbeitsteilung beruht, dann erweist sich u.a. auch Durkheims Annahme als unplausibel, daß die Integration als philosophische Tätigkeit nicht länger möglich sei. Laut Durkheim (1893: 430) wird die Philosophie durch zunehmende Arbeitsteilung immer weniger fähig, "die Einheit der Wissenschaft zu sichern. Solange ein und derselbe Geist die verschiedenen Wissenschaften meistern konnte, solange war es möglich, die nötige Kompetenz zu erwerben, um deren Einheit. wiederherzustellen. In dem Maß aber, in dem sie sich spezialisieren, können diese großen Synthesen kaum mehr sein als verfrühte Verallgemeinerungen", da es den Menschen immer weniger möglich ist, "eine genügend genaue Kenntnis jener unendlichen Vielfalt der Phänomene, Gesetze und Hypothesen zu haben, die sie zusammenfassen müssen." Im Rahmen der Arbeitsteilung ist dies indes auch gar nicht nötig: Wer sich als Mitglied einer arbeitsteiligen Gesellschaft von philosophisch Tätigen um die Integration von Forschungsergebnissen bemüht, muß ja im Sinne von Durkheim (1893: 442) nicht alles wissen, sondern es genügt, daß er oder sie den Problemhorizont "hinreichend weit überblickt." Die Integration der Ergebnisse empirischer Wissenschaften zu einem Gesamtbild der Welt ist also weiterhin eine philosophische Tätigkeit; sie bedarf jedoch ihrerseits einer vielfältigen Arbeitsteilung der damit Beschäftigten, damit sie erfolgreich sein kann.l'' Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und hg, von O. Gigon. 4. Autl. München 1981. Aristoteles: Politik. Übers. und hg. von O. Gigon. 5. Autl. München 1984. AristoteIes: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst. Übers. und hg. von O.Gigon. München 1983. Curtiss, S. (1977)' Genie. A Psvcholinguistic StU{~V 0/ a Modern Da.l' "Wild New York. Durkheim, E. (! 893): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Übers. von L. Schmidts. 2. Autl. Frankfurt/Mo 1988. Fleck, L. (! 935): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einfuhrung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Hg. von L. Schäfer und T. Schnelle. Frankfurt/M. 1980. Frey, G. 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Frankfurt/M. 1967. 20 KRITERION, Nr.8 (1994), pp.21-39 Stephan Landolt NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" UND DIE BEZIEHUNGEN DIESER SKIZZE ZU DEN ZEITGENÖSSISCHEN NATURWISSENSCHAFTEN ehen; sie konstruieren eine Kraftpunkte-Welt (U2 (347; 368». 1.2 Die Kraftzentren sind keine ruhenden Punkte "in gleichen Ruhe-Strecken" (U2 (350», Nur das (Gesamt-) Maß der Kraft ist fest - siehe bestimmte Zahl von Kraft-Zentren! - das "Wesen der Kraft aber ist flüssig" (U2 -(305». "Die Kraft karm nie ruhen" (U2 (350». 1.3 Es gibt nur eine einzige Kraft-Art: Nietzsche spricht von "WzM" meistens im' Singular; er meint damit aber die Art der Kraft; seine Rede ist intensional. "Alle treibende Kraft ist WzM; es gibt keine Kraft außer dieser" (III: 473; 750). "Die Welt ist WzM und nichts außerdem" (Il: 601; 1II: 917). "Es gibt keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem" (1II: 750; vgl. auch: an P. Gast, 20.3.1882 (lIl: 1178». Es gibt also nur eine KraftArt, und damit nur eine Art des WzM, aber Pluralität von Kraft-Zentren oder Kraft-Quanta. 104 Die Energie der Kraft-Zentren scheint aber nicht bei allen gleich zu sein. Nietzsehe: Gesetzt, es gäbe eine völlig gleichmäßige Kontraktions-Eriergie in allen Kraft-Zentren des Universums: Woher käme die Verschiedenheit? - Das All wäre in völlig gleiche Daseins-Kugeln, gleiche Welten nebeneinander aufgelöst. Die tatsächliche Unordnung widerspricht dem (vgl. U2 (328». Nietzsehe diskutiert die Inhomogenität der Verteilung und damit die ungleiche Gravitationsleistung aber nicht. 1.5 Die Kraft/Willens-Quanta "sind die elementarsten Tatsachen ", aus denen "sich erst Werden und Wirken ergibt [...)" (1II: 778). Der WzM ist "das letzte Faktum, zu dem wir hinunter können"; "Urfaktum aller Geschichte" (Il: 729 (259». 1.6 Die Kraft-Quanta/Willens-Quanta sind ungeworden. Der WzM kann nicht geworden sein (vgl. III: 690). Gott ist nicht der Schöpfer des WzM, nicht die treibende Kraft, sondern "Maximalzustand einer Epoche; ein Punkt in der Entwicklung der (WzM-) Organisation" (1II: 585). An Stelle Gottes sind also alle Kraft-Quanta die "ersten Beweger". Oder: "Gott die höchste Macht - das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt - 'die Welt'! " (III: 602). Nietzsches mythische Metapher dafür: Dionysos (1II: 916f). 1.7 Die Kraft/Willens-Quanta sind "erste Bewegd'; Gründe aller Veränderung: Es ist keine Verän- Einleitung Nietzsches Programm einer Metaphysik des Willens zur Macht - in der Folge abgekürzt: WzM - ist Skizze geblieben und in einer Unzahl von Aphorismen- und Essay- Torsi, größtenteils in den nachgelassenen Texten der 80-er Jahre, verstreut. Es ist schwierig, diese Skizze systematisch zu rekonstruieren. Meine Arbeit hat drei Teile: Im ersten Teil versuche ich eine systematisierende Rekonstruktion vom WzM. Ich versuche zwei verschiedene Sprachverwendungen zu unterscheiden: eine psychoide und . eine quasi-physikalistische. In zwei Exkursen nehme ich Bezug auf RJ. Boscovich und auf Leibniz und Schopenhauer. Im zweiten Teil versuche ich den Anspruchs-Status der WzM-Spekulation herauszuarbeiten: Hypothese oder dogmatische Metaphysik. Im dritten Teil will ich zeigen, daß Nietzsehe seine metaphysische WzM-Hypothese ständig mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften, vor allem mit der Physik und Biologie konfrontiert. - Am Ende der Arbeit gehe ich auf WzM-Spurensuche in die 70-er Jahre. 1. Was versteht Nietische unter "Wille zur Macht"? Nietzsche gibt weder in den von ihm selbst publizierten noch in den nachgelassenen Texten eine explizte Definition von "WzM". Ich versuche eine systematisierende Darstellung, die sich eng an die Texte hält: 1.1 W:::M ist Kraft, kein - (materielles, konstantes) Ding. Das, was wir naiv realistisch "materielle Dinge" nennen, Lebewesen und deren soziale Organisationen eingeschlossen, sind Kräfte-Organisationen, (instabile) Kräfte-Systeme mit organisierenden Zentren. Die "Elemente" dieser Organisationen (der "Dinge") sind selber keine Dinge, keine "Klümpchenatome" (Demokrit, "physische" Atomisten), sondern "dynamische Quanta" (vgl. U2 (366); III: 778». Die Kraftquanta sind also keine "physikalischen" Atome. Die Atome sind erdichtet. Fiktionen (vgl. U2 (338». Die Annahme von Atomen ist nur eine Konsequenz des Substanzbegriffs: ein Ding-Konstrukt, dem wir die Tätigkeit zuordnen (vgl. U2 (358». Die mathematischen Physiker können die "Klümpchenatome" für ihre Wissenschaft nicht brau- 21 KRITERION derung denkbar, bei der es nicht WzM gibt (1II: 775). Kraft-Quanta/WzM sind die elementarsten Tatsachen. aus denen sich erst Werden und Wirken ergibt (1II: 778). Alles Werden, alles Wirken impliziert WzM; es gibt keine "erste Ursache" außer diesen Kraft-Quanta. - WzM ist die bewegende Ursache in allen Bereichen des Kosmos (Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, soziale Systeme, Kultur) - vgl. III: 775f; 11: 60 I (36). Seitenblick zu Aristoteles: Nietzsehe erwähnt zwar Aristoteles nie im Zusammenhang mit seiner WzMSpekulation. einen Hinweis halte ich aber dennoch für angebracht. Nach Aristoteles kann das' Seiende u.a. auch als Dynamis (Kraft. Vermögen, Macht, Fähigkeit) aufgefaßt werden (vgl. .Metaphysik V: 1017b). Dynamis ist "Prinzip der Bewegung und Veranderung'{arche metaboles). Im einen, hauptsächlichen Sinn: das Tätige: x verändert y; im anderen Sinn: die Affektions- oder Leidensfähigkeit. y wird (von x) verändert. Tun (poiein) und Leiden (pas'chein) somit eine Verhältniseinheit. Beispiel: Die Hitze entzündet - das Öl ist brennbar. - Die Krattverhältnisse reichen - zumindest theoretisch vom höchsten Kraftmaß bis zur Kraftlosigkeit (adynamia, irnporentia, steresis (=Privation)). Die Dynamis- Verhältnisse sind Prinzip des Entstehens (genesis) unel des Vergehens (phthora), eies Werdens. Veränderung ist der Übergang vom Vermögen in die Wirklichkeit (energeia). (vgl. Metaphysik: 1019b1021a; 1042b; 10Mb; 1045b-I046a; 1065b-1066a; I069b). Auch Aristoteles deutet somit die Beziehungen der seienden Dinge in einer Hinsicht als Kräfteoder Machtverhältnisse. Und wie bei Nietzsche ist Dynamis der Grund (arche) aller Veränderung. des Werdens und der Wirklichkeit. 1.8 IJie Anzahl-der Kraft-Zentren istfinit: Die Welt besteht aus einer bestimmten Zahl von Kraft-Zentren. Sie erzeugen eine bestimmte Zahl von Kombinationen (vgl. U2 (323)). Die Welt als Kratt könne nicht unbegrenzt sein; eine unendliche Kraft ist mit dem Begriff "Kraft" unverträglich (vgl. U2 (303); III: 916). 1.9 Kraft/Wztd besteht in Relationen: "Es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf andere Kraft-Quanta Macht (Kraft) auszuüben" (III: 776). "Die dynamischen Quanta stehen in Spannung zu den anderen Quanta." (U2 (367)) "[...] jedes Atom (d.h. hier: jedes Kraft-Atom, jedes Kraftzentrum) wirkt in das ganze Sein hinaus - es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum Wille zur Mac ht." (III: 776f). Angenommen, das Universum bestünde aus 3 Kraft-Quanta, dann hat jedes dieser 3 zwei von ihm aus wirkende Kraft-Beziehungen; bei 4 wären es drei Macht-"Strahlen"; bei 5 vier, die jedes zu den. übrigen hat, usw.; Elemente (Kraftzentren): n; Beziehungen von jedem zu den andern: n-1. Man kann das "Macht-Extension" nennen. 1.10 Die Beziehungen bestehen in Stärke-Graden: Ein Machtquantum ist bezeichnet durch die Wirkung, die es ausübt und durch die, der es widersteht. Es gibt keine "Adiaphorie", d.h. keine Neutralität (U2 (368); vgl. auch: III: 457; 490; 522fT; 705 f; 775-77). Jedes Kraftzentrum "mißt, betastet und gestaltet die übrige Welt an seiner Kraft" (U2 (369)): Kraft- oder MachtIntensität. 1.11 Die Veränderung im Universum impliziert die Existenz von mehr als einem Kraft-Qutuu: "Veränderung geschieht im Übergreifen von einer Macht auf die andere Macht" (U2 (38)). Dabei wird jedes Macht-Quant selbst in seiner Kraft verändert. "Gesetzt, die Welt verfügt über ein Quantum von Kraft, d.h. 1.8: eine feste Anzahl von Kraftzentren und Energiekonstanz (U2 (3 10); Energieerhaltungssatz: U2. (325)), so liegt auf der Hand, daß jed~ Machtverschiebung an irgend einer Stelle das ganze System bedingt" (U2 (304)). Nietzsehe erklärt die Veränderung ähnlich wie Leukipp. Demokrit und Anaxagoras: durch die Vielheit der Atome, deren Bewegung und deren Kombination bzw. Mischung. Nietzsehe nimmt auf das Veränderungs-Problem schon 1873, in seinem EssayTorso Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Abschnitt 14. zu Anaxagoras, Bezug. Der heraklitische "Kampf' der Gegensätze" wird ersetzt durch die Kraft-Beziehungen der Kraftzentren. deren Stärkegrade nicht alle gleich groß sind - siehe 1.4. Dadurch ist vermieden, daß es nur symmetrische Beziehungsintensitäten gibt. 1.12 Veränderung impliziert: Es gib! niclu-gleicli große Kraft-Beziehungen. Wenn es immer nichtgleich große Kraft-Beziehungen gibt, dann gibt es kein absolutes Gleichgewicht. Das aber setzt weiter voraus: 1.13, daß die Kraft eines Kraftzentrums VOll jedem kleinsten Moment zu jedem kleinsten unterschiedlich ist. Nietzsehe spricht diese Voraussetzung im Nachlaß der 80-er Jahre nicht explizit aus; er scheint sie aber implizit zu machen. Sie kommt im "Streben nach Machtmehrung" und in der "Macht- Venninderung" zum Ausdruck (vgl. z.B. U2 (337)). Es gibt "vielleicht eine Zeiteinheit, welche fest ist. Die Kräfte brauchen bestimmte Zeiten, um bestimmte Qualitäten zu werden" (U2 (355)). In der sog. 22 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKlZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" (semantisch) i. Stufe für uns. Die Übersetzung in intersubjektive Sprachen sind Metaphorisierungen (semantisch) 2. Stufe, vgl. WL (1873). Aus solchen Metaphern plus mathematischen Überlegungen (von Boscovich u.a.) wird heuristisch das theoretische Konstrukt "Kraft-Zentrum" errichtet - als Alternative zu Fiktionen wie "Ding", "Substanz" und "Klümpchenatom" . "Zeitatomenlehre" vom März!April 1873 spricht er die Voraussetzung der Kraftänderung viel deutlicher aus: (I) "Nehmen wir das Wirkende in der Zeit, so ist das in jedem kleinsten Zeitmoment ein Verschiedenes. Das heißt: Die Zeit beweist das absolute Nichtbeharren einer Kraft. Alle Raumgesetze [... ] zeitlos gedacht, das heißt [... ] gleichzeitig und sofort [... ] die ganze Macht in einem Schlage. Dann abergibt es keine Bewegung". (2) "In jedem kleinsten Moment müßte die Kraft verschieden sein: aber die Aufeinanderfolge wäre in irgendwelchen Proportionen und die vorhandene WeIL bestünde in der Sichtbarwerdung dieser Krall-Proportionen, d.h. Übersetzung.ins Räumliche." (3) "Gewöhnlich nimml man in der alomist(ischen) Physik in der Zeit unveränderliche Atom-Kräfte an, also onta im pannenid(eischen) Sinne. Diese können aber nicht wirken. Sondern nur absolut veränderliche Kräfte können wirken, solche, die keinen Augenblick dieselben sind. Alle Kräfte sind nur Funktionen der Zeit." I Exkurs: zu Roger Joseph Boscovich (1711-1787). Der Kroate Boscovich versuchte ein naturphilosophisches System zu entwickeln, das die Grundgedanken von Leibniz und Newton vereinigen sollte.' Nietzsehe hat Boscovichs Philosophia naturalis Theoria 1873 und 74 gelesen. In den 80-er Jahren betont Nietzsche mehrfach, daß er Boscovich für einen der großen Wendepunkte hält. Boscovichs Lehre ist ihm die Alternative zur mechanistisch-materialistischen Weltanschauung (vgl. U2 (5; 347; 357);, II: .576f; 581): Seit Boscovich gibt es keinen Stoff mehr, -außer als populäre Spracherleichterung: llI: 1178. Die Annahme erfüllter Atompunkte ist für die strengste Wissenschaft der Mechanik unbrauchbar: III: 1211f. Schwere und vis inertia sind keine Eigenschaften der Materie, sondern eine Erscheinungsform der Kraft. Das Vorurteil von "Stoffen" ist widerlegt - und zwar nicht durch einen Idealisten, sondern durch einen Daraus ergibt sich: Nietzsehe faßt die Kraft-Zentren dynamisch: Ihre Kraftgrade ändern sich von Zeitpunkt zu Zeitpunkt. D.h. die Veränderung findet bei jedem einzelnen Kraftzentrum statt. Die Veränderung der Kraftgrade wird auf dieser Ebene nicht mehr "erklärt" , .sie wird postuliert. Die Kraftzentren sind "von selbst" aktiv. So sind sie die Gründe aller Veränderung in den Kraft-Beziehungen und damit in den . Organisationen der Kraftzentren. 1.14 Das Geschehen ist nicht -deterministisch: "sondern bloß der Ausclmck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft [...] sich an einem Quantum Kraftwiderstand (sich) nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist." (U2 (310)). - Das Entstehen der mechanischen Welt könnte ein gesetzloses Spiel sein, "welches endlich ebensolche Konsistenz gewänne wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung. So daß alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden _unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, [...] Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzlichkeit, nur eine Fähigkeit, gesetzlich zu werden, [...]" (vgl. U2 (328 und 319: "Chaos"; llI: 540). 1.15 Sind Kräfte (empirisch) konstatiert? - "Nein, sondern nur Wirkungen, übersetzt in eine völlig fremde Sprache. Das Regelmäßige im Hintereinander hat uns .. verwöhnt" (U2 (307). " 'Veränderungen' sind nur Erscheinungen (oder Sinnesvorgänge für uns)" (U2 (308))2 Sinnesvorgänge sind Metaphern ansieh" und "Erscheinung" ist unhaltbar; er impliziert die Konzeption eines "Subjekts an sich", aber das Subjekt ist fingiert (vgI.IlI: 540). "Das 'Ding an sich' ist widersinnig. Wennich alle Relationen, alle 'Eigenschaften', alle 'Tätigkeiten' eines Dinges wcgdcnkc, so bleibt nicht das Ding übrig" (II1: 563). "Die Eigenschaften eines Dinges sind Wirkungen auf andere 'Dinge', denkt man andere Dinge weg, so hat das Ding keine Eigenschaften; d.h, es gibt keine Dinge ohne andre Dinge, d.h. es gibt kein 'Ding an sich' " (II1: 503; vgl. auch: 863; 970). Subjekt - Objekt sind "Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik)" [... J wir "erkennen" bei weitem nicht genug, um zwischen "Ding an sich" und "Erscheinung" scheiden zu dürfen (vgl. 11: 222 FW (354)). Nictzschc vertritt einen Phänomenalismus und Perspektivismus; d.h. "die Welt, derer wir bewußt werden können, ist nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt. eine verallgemeinerte, eine vergemeinorte Wclt[ ... ] Zeichen, Herden-Merkzeichcn 1... [" (vgl. 11: 2211) In der These von der Wahrnehmung als Zeichen - nicht als Abbildung - trifft sich Nictzschc mit Hermann v. I-Ielmholtz (1879:181). Um aber behaupten zu können, daß die Wahrnehmung Zeichencharakter hat, muß man auch ein bewußt kognitiv konstruierendes Tier sein. Phänomenalismus ist m.E. naiv, von andere I} Schwierigkeiten einmal abgesehen, nicht möglich. 3. De viribus vivis, 1745 und Philosophiae naturalis Theoria -redacta ad unicam legem virium in natura existentium, Vicnnae 1759. 1. zit. aus Schlechta/Anders (1962): 141-144. 2. Nietzsche verwirft aber den Kant'schcn Dualismus von "Ding an sich" und "Erscheinung". Der Gegensatz "Ding 23 KRITERION Boscovichs Theorie ist offensichtlich. Indem Nietzsehe den Kraftzentren auch noch psychoide Qualitäten zuschreibt, erhalten sie eine gewisse Ähnlichkeit zu den Leibniz-Monaden. - siehe unten: Exkurs! Mathematiker, durch Boscovich: III: l178f, an P.Gast 20.3.82. Nietzsche spricht an allen Stellen mit größter Hochachtung von Boscovich. Nietzsche ist u.a. offensichtlich von Boscovichs Elementa-Theorie fasziniert. Der Zusammenhang zwischen der ElementaTheorie und Nietzsches Kraft/Machtzentren-Spekulation ist noch nicht herausgearbeitet worden." - Ich versuche kurz· Boscovichs Elementa-Theorie (nach der Darstellung von Anni Anders, Mathematikerin/Physikerin - in: SchlechtaiAnders (1962» zu skizzieren: Boscovich nimmt erste (nicht-materielle) Elemente eier Materie - "prima elementa materiae" - an. Diese . Elementa sinel einfache.tunausgedehnte Masse-Punkte. Sie unterscheiden sich von bloß mathematischen Punkten durch reale Eigenschaften der Trägheit - vis inertia - und durch wechselseitig aktive Kräfte, mit deren sie aufeinander wirken. Die Kraft/Masse-Punkte bewegen sich nach den Newtou'schen Gesetzen. Die Entfernungen zwischen den Masse-Punkten sind reale; d.h. bestimmte, endliche Distanzen, denn alle unendlich großen oder unendlich kleinen Quantitäten sind unbestimmt; sie haben keine feste Zahl. - Das ist ein Argument, das auch Nietzsche mehrfach anführt: III: 459: WM 1064. - Haben aber alle Kraft/MassePunkte nur endliche Entfernungen von einander, dann muß auch ihre Anzahl endlich sein. Die reale Welt ist daher endlich - eine These, die auch Nietzsche wiederholt vertritt, siehe oben: 1.8; sie ist auch eine wesentliche Prämisse auch seiner Ewigen-Wiederkehr-Spekulation. - Die Masse-Punkte konstituieren die Materie des ganzen Universums durch ihre Repulsivkraft bei sehr kleinen und durch die Attraktionskraft bei großen Entfernungen. Mit Hilfe dieser Eigenschaften der Masse-Punkte versucht Boscovich die physikalischen und chemischen Phänomene, die Kohäsion, die Elastizität und die chemische Affinität zu erklären. Die Boscovich-Masse-Punkte sind in ständiger Bewegung. Sie oszillieren ständig um einen "limes cohaesionis", zwischen Abstoßung und Anziehung. Auch Nietzsches Kraft-Zentren sind keine ruhenden Punkte - siehe 1.2. - Die Analogie zwischen . Nietzsches Kraftzentren-Spekulation und 1.16 Warum nennt Nietssehe die Kraft ."Wille zur Macht"? - "Die einzige (Art) von Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens." (III: 473). "Der siegreiche Begriff 'Kraft', [...], bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als 'Willen zur Macht', d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht" (III: 455). "Die Essenz der Welt ist Wille zur Macht" (III: 494). "Der intelligible Charakter der Welt; die Welt von innen: Wille zur Macht" (II: 601 JGB (36». 1.16.1 Nietische verwendet zwei Sprachen.; eine physikalistische und eine psychoide; JGB(36) zeigt das sehr deutlich. Für die "äußere Seite" die physikalisch-mathematische: "Kraft", "Gesetz", "KraftQuanta", "Mechanismus" u.a .. Die physikalistische Sprache hat, so scheint es, zwei "Schichten": die erste, elementare Schicht enthält Vokabeln wie "Kraftzentrum", "Kraft", "Kraft-Quantum", "Kraftatom" (III: 458); "Quantum Kraftwiderstand''; "Zahl an Kraftzentren" "Quantitäten", "dynamisch" etc. Die zweite enthält Ausdrücke wie "Gesetz", "Mechanismus", "Kausalität", (physikalisches, materielles) "Atom", "Klümpchenatom" etc. Von diesem Vokabular der zweiten "Schicht" betont Nietzsche sehr häufig die fiktionale Funktion, Für die "innere Seite" benutzt Nietzsche ein Vokabular, das aus den psychosozialen Bereichen stammt. Der meßbaren Repulsion, der Abstoßungskraft, spricht er z.B. einen Willen zu, "sich gegen die Macht zu wehren" (vgl. U2 (364». Für die "Innenseite" finden wir z.B, folgende Ausdrücke: "Wille", "Wille zur Mache, "Macht", "MachtwilIen": U2 (368), "Kampf', "primitiver Affekt": 11: 600f; III: 750; "Pathos" (ebd.), "Verlangen": IlI: 455, "Begehren": U2 (337), "Streben nach Macht": U2 (38), "der Wille allein ist unsterblich": U2 (10); "konspirieren": U2 (369); "Qualität", "Vergewaltigung": U2 (368), "Wahrnehmung": U2 (80f), etc. Die physikalistische Sprache der ersten "Schicht" und die psychoiden Ausdrücke sind Vokabular für die Basisebene, für die unterste ontologische Schichte. Davon ist das Vokabular für die höheren Schichten zu unterscheiden, wie z.B. "Wille" in unserem normalen psychologischen Sinne; "Trieb", "Selbsterhaltungstrieb" u.a. Solche Ausdrücke bedeu- 4. V. Gerhardt (1992: 184) streift diesen Kontext nur. Zu korrigieren ist: Boscovichs Theorie ist keine "ZeitatomenLehre", sondern Nietzsche hat die Boscovich-Lektüre ftir seine Skizze einer "Zeitatomenlehre" benutzt und zwar für erkenntnistheoretische Zwecke! - SieheSchlechta/Anders 1962: 127-153. Nietzsche spricht in den 80-er Jahren, wenn er Boscovich erwähnt, nie von seiner "Zeitatomen"Skizze von 1873, sondern immer vom Kraft- bzw. Materieund Mechanik-Problem. 24 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE:. "DER WILLE ZUR MACHT" ten Fiktionen: "Es gibt keinen Willen, es gibt nur Willenspunktationen" (III: 685). Es gibt auch gemischte Ausdrücke aus beiden Sprachen, z.B.: "Macht-Quant": U2 (362), "Grad von Übermacht": U2 (368); "Kraftquanta, die Macht ausüben"; "Willens-Quanta": III: 776. 1.16.2 Das Verhältnis der beiden Seiten und der beiden Sprachen zueinander: Das Zwei-SeitenlZweiSprachen-Konzept erinnert, ohne die Analogie zu weit treiben zu wollen, an Spinoza, an die beiden, uns zugänglichen ewigen Attribute der einen Substanz - Gott - nämlich an die Attribute "Denken (+ Affekte)" und "Extensio", - Die Kraft-Zentren wären "ständig oszillierende Götter" - Nietzsehe ordnet ihnen ebenfalls (ewige) Attribute als wesentliche,. d.h. konstitutive zu: Qualität (innen) und Quantität (außen). Die Kraftzentren als Macht-Quantitäten stehen in intensitätsvariablen Relationen zueinander, sie affizieren (und modifizieren) sich und erzeugen Raum und Zeit, die Extensio. Würden alle Kraftbzw. "Willenspunktationen" in einen Punkt - eine . "Singularität" - zusammenstürzen, verschwände die Welt und damit Raum und Zeit. 1873, in der "Zeitatomenehre" , hat Nietzsehe nebenbei solche Gedanken entwickelt (!) (vgl. Schlechta/Anders (1962): 141f). (A) Dem "inneren" Attribut ordnet Nietzsche, wie gezeigt, eine "psychoide Sprache", psychoide Aussagen zu: (I) WzM als Qualität: Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn. Eine rein quantitati ve Welt wäre unbewegt (II1: 485). "Die Qualität bei jedem chemischen Werden erscheint nach wie vor als ein 'Wunder', ebenso jede Fortbewegung; niemand hat den Stoß erklärt" eIl: 120 FW (112».5 Nietzsehe meint, man müsse die Kräfte als "quale" auffassen: "Aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum [...]" (II1: 485). Andererseits, auf der zweiten, der phänomenalen Sprachebene, meldet Nietzsehe Skepsis gegen die Qualitäts5. Der Stoß war (u.a.) auch 13oscovichs (1711-1787) Problem. Um die Allgemeingültigkeit des Gesetzes von der kontinuierlichen Geschwindigkeitsänderung aufrecht erhalten zu können,. führte.er hypothetisch dieI Repulsivkrall zur Lösung dieses Problems ein. Die wechselseitig und gegensinnig wirkenden Repulsivkräfte zweier Körper verhindern eine unmittelbare Berührung. Die Geschwindigkeitsänderung ist über eine kurze Zeitspanne vor der Berührung stetig und nicht sprunghaft ... Nictzschc hat das Problem wahrscheinlich aus der Boscovich-Lcktürc und anderen Lektüren übernommen (siehe Schlcchla/Andcrs (1962): 131). 25 Sprache an: Qualitäten sind perspektivische "Wahrheiten", alle unsere Empfindungen haften an Qualitäten. Qualität ist eine unübersteigliche Idiosynkrasie (III: 914). Quantitätsdifferenzen empfinden wir perspektivisch für uns - als Qualitäten. Sie sind kein Ansieh (II1: 861). Wenn ich Nietzsehe recht verstehe, dann sind Empfindungs-Qualitäten ein Produkt von Kräften. "Kräfte brauchen bestimmte Zeiten, um bestimmte Qualitäten werden zu können" (U2 (355». Den elementaren Kräften eignet aber das quale WzM (vgl. II1: 504). (2) Der (elementare)WzM besteht als "Willens-. Punktation" - wahrscheinlich in Analogie zu "KraftPunkt", zum nicht-materiellen "Kraftzentrurn". - Die W illens-Punktationen als elementare Qualitäten mehren oder vermindern ständig ihre Macht (vgl. II1: 685). ~Ganz verlieren können Sie diese nicht, sonst würden sie inexistent. (3) W=:M ist Absicht: "Anziehen" und "Abstoßen" im mechanistischen Sinn ist für Nietzsche eine Fiktion. Wir können uns ohne Absicht ein Anziehen nicht denken. Die Absicht ist Mehrung von Macht: I1I: 500. "Absicht", "das wäre eine Interpretation, die wir brauchen könnten, das 'verstehen' wir" (U2 (364»). - An dieser Stelle wird deutlich, daß die Absichts-Zuschreibung eine psychologische Ausdeutung ist: Nietzsehe spricht von "psychologischer Nötigung" dazu (ebd.). Ich nehme an, daß diese psychologische Interpretation auch für alle andern Punkte (I) - (6) gilt. (4) Der W=:M ist "primitiver" Affekt, Pathos, Begehren, .Verlangen, Streben: "Meine Theorie - der Wille zur Macht ist die primitive Affektform. alle andern Affekte sind nur seine Ausgestaltungen" (111: 750). Wahrscheinlich meint er damit Organisationen solch primitiver Affekte, ähnlich wie er den menschlichen Willen als Organisation von "Willenspunktationen" auffaßt. Pathos.. Der WzM ist nicht ein ("starres") Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos (U2 (367» - eine' Art Leidenschaft "elementarste Tatsache, aus der sich erst Werden' und Wirken ergibt" (1lI: 778). - Streben: Jedes Kraftzentnun will stärker wer.den (U2 (38) ) . Nietzsehe "erklärt" damit z.B.die Gravitation der Körper und die biologischen Organisationen. Die Gravitation nimmt mit zunehmender Aggregation zu: "Akkumulation von Kraft" (ebd.). WzM ist "unersättliches Verlangen nach Bezeugung, Verwendung oder Ausübung von Macht als schöpferischer Trieb" (1lI: 455) und "Wille zur Vergewaltigung" (1lI: 777). Begierde: WzM ist die Grundbegierde; Bewegungen KRITERION und Gedanken sind Symptome; "Geist an sich" und haben Perspektiven: Es gibt so viele Weltspiegelungen wie Monaden. (57) - Auch Nietzsehe betont "Bewegung an sich" sind nichts (vgl. U2 (9)). notorisch die Perspektivität der WzM-Zentren und (5) WzM hat "Wahrnehmung": Dem anorganischen Organisationen: Die WzM-Organisationen erdichten Bereich schreibt Nietzsehe "absolut genaue Wahrnehmung" zu: "In der chemischen Welt herrscht die Welten um sich, indem sie Gewohnheiten und Erfahrungen als ihre Außenwelt setzen. (vgl. U2 (83; schärfste Wahrnehmung der Kraftverschiedenheit. Mit der organischen Welt beginnt die Unbestimmt- 369); III: 441; 560; 705; 903). - Die Monaden wirken auf jede beliebige Entfernung. Jeder Körper spürt heit, die Fiktion und der Schein" (U2 (80-82)). (6) Wille wirkt nur auf Wille: Wenn Glaube an alles, was in der Welt geschieht. Jede geschaffene Kausalität, dann "müssen wir hypothetisch den Ver- Monade stellt unbewußt, was in der Welt geschieht, such machen, die Willens-Kausalität als die einzige vor (61;62). Nietzsehe: Jedes Macht-Quant strahlt ins zu setzen. 'Wille' kann [...] nur auf 'Wille' wirken - . ganze Sein aus. Als Unterschiede fallen u.a. auf: und nicht auf 'Stoffe' (nicht auf Nerven zum Bei- Zunächst, Nietzsehe scheint die Annahme von Mospiel -) [...] ob nicht alles mechanische Geschehen naden zu verwerfen: "Es gibt keine dauerhaften letz[...] eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist [...]". ten Einheiten, keine Atome, keine Monaden, [...] " "Selbstregulation, Assimilation, Stoffwechsel, Zeu(III: 685). Doch das trifft m.E. eher bestimmte gung, [...] alle wirkende Kraft zu bestimmen als Monas-Begriffe im antiken Sinn, dann die Monaden 'Wille zur Macht' und nichts außerdem" (JGB(36)) Giordano Brunos und Franz Mercur van Helmonts die "Fiktion des Klümpchen-Atoms" (III: 777). LeibHxkurs: Die Punkte (I) - (6) motivieren zu zwei Seinizens 'Monadologie' diskutiert Nietzsehe zwar nie, tenblicken, auf Leibniz und Schopenhauer: aber Nietzsches Kraft-Quant- oder Willens-Punkt-. Leibniz: - Die Leibniz-Monaden sind ebenfalls ein- Spekulation kommt der Leibniz-Monade am nächfache, nichtmaterielle Substanzen und Zentren. Sie sten: "Seit Boscovich gibt es keinen Stoff mehr" (HI: 1178). - Die Leibniz-Monaden sind geschaffen; es sind die "wahren Atome der Natur", die Elemente der Dinge (vg!. Monadologie: (1) - (3); (30)). - Die herrscht Harmonie und nicht Chaos (69). Die faktiLeibniz-Monaden haben ebenfalls Qualitäten, "hätten sche Welt ist die beste aller möglichen (90) - für sie keine, wären sie keine Wesen" (Monad. (8)). Nietzsche ist sie Jenseits von Gut.und Böse, wertneutral. Bei Leibniz gibt es Monaden-Stufen: Seelen z.B Die Monaden sind in stetiger Veränderung (l0). Durch die Qualitäten sind sie voneinander unter- sind herrschende Entelechien; Gott ist die höchste schieden; es gibt keine zwei gleichen Monaden. und einzige ungeschaffene Monade, bei Nietzsehe Dieser Punkt ist bei Nietzsehe offen. WL (III: 313 gibt es nur WzM-Organisationen oder -Systeme. und III: 896) sprächen dafür, ebenso FW, 3.Buch Beide aber, Leibniz und Nietzsche, sind metaphysi(111) und MA I (18). - Die Veränderung geschieht sche Pluralisten und Voluntaristen - appetitions!; für gradweise - so auch bei Nietzsehe. Die Monaden beide sind die Monaden bzw. die Kraft-WzM-Zenhaben - ähnlich wie bei Nietzsche - von Natur aus tren die Gründe der Veränderung. Nach Leibniz haPerception (Vorstellung) und Begehren (appetitions) ben aber die einfachen Substanzen (Monaden) keinen und Streburigen (tendances). Das Begehren bewirkt (physischen) Einfluß auf das Innere der anderen, nur . den Übergang von einer Perception zur andern (14)- über die Ideen Gottes findet indirekt ein solcher statt. (17); (48); (60). Die Strebungen sind die Prinzipien Nach Nietzsehe führen die Kraft-WzM-Zentren diihrer Veränderung (Leibniz: Hauptschriften Ir: 423f). rekt einen "Macht- und Begierdenkampf'. Nietzsches Bei Nietzsehe: Streben, Absicht zu mehr Macht; WzM-Zentren und Organisationen sind unersättlich: Erkenntnis, Perception, Apperception ist MachtsteiPrinzip "Maximalökonomie". Die Leibniz-Monaden gerung, bzw. "Kräfte-Feststellung", Die Perception sind "spirituell", die WzM- Punktationen bloß nichtist auf mechanistischem Weg .nicht erklärbar (17). materiell; Tätigkeit aber ist "inneres Prinzip" sowohl Auch für Nietzsehe ist die Veränderung ohne die der Leibniz-Monaden als auch der WzM-PunktatioAnnahme von Qualitäten nicht erklärbar: "Wille" nen. Die "psychoide" Sprache überwiegt bei Leibniz. wirkt auf "Wille". - Die einfachen Monaden sind Die Qualität macht die Unterschiede und die VerSeelen, Entelechien (18); (19). - Auch Nietzsche änderung; quantitative Unterschiede gibt es bei den spricht manchmal von den "vielen Seelen" des LeiMonaden nicht (8). Bei Nietzsche dagegen ist die Dybes; Entelechien sind seine unersättlichen Machtnamis, die Macht, auch quantitativausdrückbar. Quanta aber keine. Den Terminus "Entelechie" Auch für Leibniz sind die Monaden "forces primitischeint Nietzsche nicht zu führen. - Die Monaden ves", spontan aus sich selbst, "[ ...] leur nature con- 26 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" ein Wille ist? - Für Nietzsehe ist der WzM kein Ding an sich, viel eher noch ein theoretisches Konstrukt. Kausal-Sprache im Mikrobereich der Kraftzentren und quantifizierende Redeweise läßt er zu: "Wille wirkt auf Wille". Nach Schopenhauer "manifestiert" sich der eine Wille in den Erscheinungen der ganzen Natur, in den Individuationen (für uns). Diese Individuationen kämpfen miteinander und fressen einander. Bei Nietzsehe kämpfen die Willenspunktationen miteinander. Für Schopenhauer ist der Wille eine blinde, finstere, erkenntnislose, treibende Kraft. Nietzsehe behauptet gerade im anorganischen Bereich die schärfste Perzeption: "Da herrscht Wahrheit". Nach Schopenhauer gibt es Werden und Sukzession nur phänomenal, als Vorstellungen. Nach Schopenhauer strebt der Wille nach Manifestation, zum Dasein, zur Befriedigung, zur Lust, nach Nietzsehe zur Macht, Lust ist Prämie nebenbei. - Die beiden provisorischen Vergleiche zeigen, daß Nietzsehe näher bei Leibniz als bei Schopenhauer zu stehen scheint. Ich vermute, die größere Nähe ist durch Nietzsches mehrfache Boscovich-Lektüre bedingt. Zunick zum Verhältnis der beiden Seiten und Sprachen: siste dans la force, et que de cela s'ensuite quelque chose d'analogique au sentiment et l'appetit." Sie sind "metaphysische Punkte" und Quellen der Aktionen (vgl. FünfSchriften zur Logik und Metaphysik S 23-33), aktive Kräfte; sie enthalten einen Drang zur Wirksamkeit, sie werden "durch sich selbst zur Wirksamkeit geführt" (Fünf Schriften S 20t) Bei den Tieren äußern sich diese Kräfte als Trieb, beim Menschen als Wille (vgl. Hauptschriften: 467). Wie bei Nietzsehe ist die Anzahl dieser (Kraft-)Substanzen endlich und konstant (vgl. Metaphysische Abhandlung(9), (17», keine dieser Substanzen vergeht, auch wenn sie sich ändert (ebd. 34), sie sind unzerstörbar, für immer bestehend (Fünf Schriften S 26; Hauptschriften 11: 144f, 423f), ihre "Macht erstreckt sich auf alle. anderen Substanzen (gemeint sind: Monaden). Sie stehen in gegenseitiger Abhängigkeit in Wirken und Leiden (vgl. Aristoteles), insofern sie einander im Ausdrucksgehalt steigern oder verringern (vgl. Metaphysische Abhandlungen (14), (15». Ebenso in Nietzsches WzM-Konzeption! Die Materie, ihre Gestalten sind die Resultanten dieser Kräfte . (vgl. Hauptschriften Il: 260, 265, 290f, 434; Fünf Schriften S 37). Die Körper sind Phänomene dieser Kräfte. Der Raum ist eine Ordnung der Kräfte (Hauptschriften 11: 467f). Nietzsehe: Der leere Raum ist eine-irrtümliche Konzeption; Raum und Zeit an sich gibt es nicht (1Il: 456), aber Nietzsehe glaubt an einen "absoluten Raum als Substrat der' Kraft" (1Il: 457). Die Materie allein gibt keine Rechenschaft über die Bewegung (ebd. 430); im Körper ist ein dynamikon, "kraft dessen die Gesetze der Kraft beobachtet werden können" (ebd. 298). Dem entspricht Nietzsches Auffassung, daß die "materialistische Mechanik" die Tatsache der Bewegung und Veränderung nicht erklären kann. Auch was die Erkenntnis betrifft, gibt es eine Analogie bei Leibniz zu Nietzsehe: Unsere Erkenntnisse sind nur "verworrene" Perceptionen aus der großen Mannigfaltigkeit der Perceptionen.Wie das Rauschen des Meeres - so das Rauschen des Universums, als Ergebnis der Gesamteindrücke auf uns (ebd. 431; Metaphysische Abhandlung (33». Bei Nietzsehe: präzise Wahrnehmung gibt es nur auf der Stufe der Kräfte, der Chemie; alles andere ist Vergrößerung, Simplifikation. Schopenhauer: Zunächst fällt auf: Schopenhauer ist Willens-Monist,Nietzsche Pluralist. Für Schopenhauer gibt es nur einen Willen. Dieser eine Wille ist Ding an sich, jenseits der Erscheinung (d.h. des Vorstellens). Von diesem Ding an sich darf man in quantitativer und Kausal-Sprache nicht reden. - Ein Wunder, daß Schopenhauer überhaupt weiß, daß es genau a (B) Die Prädikate für das "äußere" Attribut habe ich oben schon angeführt: das quasi-quantitativ-physikalistische Vokabular. Die Thesen mit physikalistischen Aussagen finden wir in 1.1 bis 1.14. (C) Das Verhältnis der beiden Seiten und Sprachen:Vielleicht sollte man zunächst ein Drei-Schichten-Modell vorschlagen, um Nietzsches Modell zu erfassen: (I) Die "innere Sphäre": Die Qualität, die "sich ausdrückt" und "Symptome" bildet: Jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz." Gerade, daß es kein Anderskönnen (der Mächte) gibt, darauf beruht ihre Berechenbarkeit" (U2 (368». "Der WzM drückt sich aus in der Art des Kraftverbrauchs, in der Verwandlung der Energie in immer sparsamerer Ökonomie mit immer weniger Kraftaufwand" (U2 (310». (2) Die mittlere, die' "Symptom "<Schicht: "Quantitäten sind Anzeichen" - Symptome - "von Qualitäten" (III: 485) . "Alle Gesetze sind Symptome eines inneren Geschehens" (III: 455). "Der Mechanismus ist Zeichensprache für die interne Tatsachenwelt kämpfender und überwindender Willens-Quanta" (III: 776) . (3) Die physikalistische Modellbildung. "Die Mechanik ist bloße Semiotik der Folgen" (III: 776) - of- 27 KRITERION fenbar Zeichensysteme für die Symptome (zweite Schicht) - für die Anzeichen, die als "Mechanismus" imponieren. Aber es scheint, daß die physikalische Modellbildung auch semantischen Bezug auf die "innere" Sphäre haben soll: "Die Naturgesetze sind Formeln für Machtverhältnisse" (U2 (83». Die quantitativ-physikalistische Sprache ist die Modell-Bildung in der Mechanik, d.h. physikalische/chemische/ biologische Theoriebildung. Die erste Schicht wäre. als die qualitative "Innenseite", die zweite 'als die "Erscheinungsseite", Mikro- und Makrobereich des WzM zu betrachten. Für beide Schichten bzw. "Seiten" verwendet Nietzscheeinerseits eine psychoide Qualitäten-Sprache - andererseits aber auch theoretische Konstrukte wie "Kraftquanta", "KraftZentren" erc, Die dritte Schicht wäre die Ebene der Theoriebildung. 1.16.3 An/wort auf die Frage: "Warum nenn: Nietische die Kraji 'Wille zur Macht'? " (1.16) - Es sind folgende Gründe: (I) Eine rein quantitative, qualitätslose Welt wäre unbewegt, die Kraft ist Qualität. (2) Ohne "Absicht" sind Anziehung und Abstoßung nicht denkbar. (3) Wären die elementaren Zentren nicht "Pathos", "primitive Affekte", gäbe es kein Wirken und Werden. Die einzige Kausalität: Wille wirkt auf . Wille: JGB(36)! (4) Das Pathos ist Verlangen nach mehr Kraft "pleonhexia" könnte man das nennen. Sie ist niemals nur Selbsterhaltung, sondern Streben nach Kraftakkwnulation. - Dieser Punkt ist wichtig für Nietzsches Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Biologie. (5) Jedes Kraft-Atom strahlt ins ganze Kraft-ZentrenUniversum aus (siehe 1.9); Nietzsehe sagt: "Deshalb nenne ich es ein Quantum 'Wille zur Macht': damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie (die mechan. Ordnung) wegzudenken." (III: 777) Von diesen Perspektiven her glaubt Nietzsehe die zeitgenössischen Naturwissenschaften kritisieren und ihnen Alternativ-Vorschläge machen zu müssen. 1.17 WzM und Kausalität: Genügsam bekannt ist Nietzsches Kritik an den traditionellen Kategorien: Ding, Substanz.".'. Kausalität. Die mesokosmische , Kausalität hält er für Fiktion: "eliminieren wir diese Zutaten (Ding, Ursache-Wirkung) dann bleiben nur dynamische Quanta in Spannung zueinander" (U2 (367)). Nicht Ursache-Wirkung, sondern Kampf zweier an Macht ungleicher Elemente. Aus diesem Kampf geht ein Neuarrangement der Kräfte hervor. Der zweite, der neue Zustand, ist "etwas Grundverschiedenes" (U2 (369». Nietzsche verweist dabei öfter auf die Chemie. - Vielleicht vertritt er eine Art Emergentismus (?). "Ursache-Wirkung" müsse man zurück übersetzen: Es gibt keine Veränderung, wenn nicht eine Macht auf eine andere übergreift (U2 (38». Bei allem Geschehen handelt es sich um Grade von Widerstand und Obermacht. Jede Machtverschiebung an einer Stelle bedingt Kraftverschiebung im ganzen System (vgl. U2 (304». Menschliche Willensakte als Ursachen zu nehmen ist eine Illusion; die Willensakte sind Komplexe von Willens-Punktationen (vgl. III: 877). Nietzsehe versucht einerseits die Kausal-Sprache zu vermeiden, andererseits aber scheint er gerade und nur im mikrokosmischen Bereich der Macht-Quanten die Rede von Ursache-Wirkung für zulässig zu halten: "Es gibt keine andere Kausalität als die von Wille auf Wille" (III: 449). "Überall wo Wirkung, da ist Wille auf Wille wirkend" (Ir: 60 I). "Ein Macht-Quantum ist durch die Wirkung bestimmt, die es ausübt und dem es widersteht" (U2 (368». Fazit: Nietzsches WzM ist ein qualitativ bestimmtes, nicht-materielles, Kraft-Zentrum. Es gibt viele, aber endlich viele solcher Willenszentren. Sie konstituieren das Universum. Sie sind in steter Veränderung und die Gründe aller Veränderungen. Sie sind ungeworden und ewig. Sie stehen wesentlich in Kraft/Macht-Beziehung zueinander. Sie sind die "elementarsten" Tatsachen; jedes dieser Willens-Zentren strahlt seine Macht auf alle anderen aus. "Wille zur Macht" nennt Nietzsehe diese Zentren deshalb, weil er .ihnen ein Streben nach jeweils größtmöglicher Kraftakkumulation zuschreibt. - Auf die höheren Organisationsformen des WzM in den chemischen, biologischen, psychologischen und soziokulturellen Stufen einschließlich Erkenntnis gehe ich hier nicht ein; ich verweise auf Landolt/Simons (1991). 2. Der Status der Lehre vom" Willen zur Macht": Ambivalenz. zwischen Hypothese und Dogma. Nietzsehe äußert sich über den Erkenntnis-Anspruch seiner Lehre vom Willen zur Macht (WzM) nicht eindeutig. Er gebraucht verschiedene Ausdrücke, die den Erkenntnisanspruch verschieden einstufen: "Hypothese", "Interpretation", "meine Theorie" (vgl. U2 (39». "Interpretation" und "Theorie" können 28 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" Im Zitat :(I) beruft sich die allegorische Figur "Leben" auf die "Erfahrung": Wo' ich Lebendiges fand, da fand ich (bisher) Willen zur Macht ... Diese Erfahrungen bereiten - induktiv - eine hypothetische Generalisierung vor. Im Zitat (2) werden dannimplizit Generalisierungen vorgenommen: Wo Leben oder Lebendiges ist, da ist auch Wille zur Macht: (x) CLr ~ WMx). - Wo Schätzen (S) ist, da ist Wille zur Macht (WM): (x) (Sr ~ WMx). Diese Generalisierungen werden gelehrt; sie beanspruchen also bestimmte Wissensgrade. hier, im Zarathustra, hätten sie freilich nur einenjiktiven Rang von Gesetzeshypothesen. In den nachgelassenen Texten der 80-er Jahre sind die Aussagen mit Lehrsatz-Charakter zahlreich. Man kann zwar auch hier Vorbehalt anmelden: Nietzsche hat diese Texte nicht selber publiziert, und wir wissen nicht, ob er sie so, in der uns heute vorliegenden dogmatischen Form, veröffentlicht. hatte", Andererseits können wir, gegen diese Vorsicht, eine ganze Reihe dogmatischer WzM-Thesen in den nach-zarathustrischen Schriften, die Nietzsche noch selber publiziert hat, finden: Il: 578 JGB (13): "Leben selbst ist Wille zur Macht"; 11: 644 JGB (186): "I...] eine Welt, deren Essenz der Wille zur Macht ist"; 11: 676f JGB (211): "[ ...] Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist Wille zur Macht. -"; 1I: 818fGM (12): "alle. Zwecke, alle Nützlichkeiten sind Anzeichen davon, daß ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist." "l-..] das Wesen des Lebens [...] Wille zur Macht". Fazi]: Die Zahl der "dogmatischen" Stellen überwiegt die Zahl der hypothetischen bei weitem. Dennoch kommt m.E. elen zwei angeführten Belegen aus JGB (22) und (36) mit mehrfachen expliziten Hypothese-Signalen ein starkes Gewicht zu. Zum einen: weil sie in dem selben Werk zwischen den dogmatischen Aussagen in (13) und (186) stehen; zum andem, weil ichelas Prinzip "des schwächsten Gliedes" wiederum rein hypothetischen Status, aber auch Er-' kenntnis-Anspruch über 50% haben. Der Modus von Nietzsches WzM-Aussagen ist aber meistens der der Behauptung. 2.1 W:::M als Hypothese: 11: 60 I JGB (36): Hier signalisiert Nietzsche seine Spekulation explizit als Hypothese und Setzung: "Man muß die Hypothese wagen [...], ob nicht alles mechanische Geschehen C..] Willens-Wirkung ist. Gesetzt endlich, daß es gelänge [...] aus einer Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist - ; gesetzt, [...] so hätte man sich damit das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als Wille zur Macht". W.Müller-Lauter (1974: 241) schränkt den Hypothesen-Charakter dieser Stelle allerdings ein. Sein Argument: die Parenthese "[ ...] wie es mein Satz ist-" ist ein DogmaSignal. Ich glaube, man kann die Parenthese zweideutig lesen, einerseits als : "wie es meine Hypothese", "mein Vorschlag ist."; andererseits bedeutet "Satz" allerdings auch "Lehrsatz", also Information mit einem bestimmten Wissensgrad-Anspruch. 2.2 W:::M als "Interpretation ": 11: 586 JGB (22): Hier überträgt Nietzsche den Ausdruck "Interpretation" von. der Philologie in die Naturwissenschaften: "und dartun 'hoch das Naturgesetz " .: [... ] Aber, wie ge.sagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht lind Intcrprctationskunst, aus idcr gleichen Natur im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die [...] Durchsctzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde -I ... J Gesetzt, daß auch dies nur Interpretation ist _.. [... ] nun umso besser.- " "Gesetzt, daß [...] nur Interpretation" signalisiert den hypothetischen Charakter von Nietzsches eigener Natur-Interpretation. Es wird aber auch deutlich, daß Nietzsche die Naturgesetze als Gesetzes-Hypothesen auffaßt. 2.3 W:::M als (Lehrlsatz: 11: 371 f, Zarathustra: Die allegorische Figur "Leben" lehrte Zarathustra das Geheimnis "Wille zur Macht": 6. GiorgioColli (1980) warnt, besonders mit Hinsicht auf den-Nachlaß, vor dem Zitieren von Nictzschc-Tcxtcn. Colli geht sogar so weil: Nictzschc zu zitieren ist fälschen, weil man ihn alles und jedes sagen lassen kann, worauf man selber aus.ist (vgl. p.2(9). Ich setze dagegen: dann dürfte man auch aus dem Nachlaß anderer Philosophen nicht zitieren; vor allem müßte man auch das Bibel-Zitieren verbieten. - Gegen die Gefahr der (psychologisch) in duktivcn Bestätigungstendenz hil fl erstens der "empirische Gehalt' (oder, wie ich es hier nennen möchte: der "philologische Gehalt") einer lntcrprctatious-Ilypothcsc. Die Interpretation muß lalsifizicrbar sein. Und zweitens: Zur Überprüfung SI/ehe man Tcxtslcllcn, die der Intcrprctations-I lypothcsc widersprechen können. (I) "Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Daß dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entraten." (2) "Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: Aber nicht Willen zum Leben, sondern - so lehre icli's dich - Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schiitzen selber redet -- der Wille zur Macht!" 29 KRITERION unterstelle. Ich bin also geneigt, den hypothetischen Charakter von Nietzsches WzM-These herauszustreichen. .204 Zur Unterstützung dieser Einstufung mache ich einen kleinen Exkurs über Nietzsches Bewertung der Wissenschaft: empirische Wissenschaften sind für ihn hypothesenerzeugende Unternehmen. Durch Hypothesen, welche alles "erklären", wollen wir die Verworrenheit der Dinge beseitigen:Der Widerwille des Intellekts gegen das Chaos führt zu diesem Unternehmen (vgl. WM, pAlI). Die Bewertung und Selektion der Hypothesen ist methodisch geregelt. Die Philosophie, speziell. die Metaphysik, bringt keine stärkere Erkenntnissicherheit als die Wissenschaft. Nietzsche stuft sie geringer ein. - Seine Kritik an der Metaphysik fällt härter aus als die an der Wissenschaft. Daraus entnehme ich, daß Nietzsche auch seine metaphysische WzM-Kohstruktion als Hypothese einstufen muß. Fiktiv und hypothetisch sind ihm vor allem die Kategorien der Philosophie und der Wissenschaften: "Ding", "Eigenschaft", "Substanz", "Ursache-Wirkung"; "Ich"; "Subjekt", "Atom", "Kraft" etc. Die Wissenschaften und die Philosophie stehen noch unter der Verführung durch die Sprache (11: 790 GM I (13». - "Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" wird Wittgenstein (PU 109.) schreiben. - Die "Sprachmetaphysik, auf deutsch 'die Vermmft' " (11: 959), "ist auf die allernaivsten Vorurteile gebaut. [...] Wir lesen Probleme in die Dinge, weil wir nur in der sprachlichen Form denken [...] (z.B. Subjekt, Prädikatusw.)" (III: 862; vgl. auch III: 456;489;501; 914). Hypothesen sind vorläufige Versuche, regulative Fiktionen. Erst als Hypothesen dürfen Überzeugungen, unter der Polizei des Mißtrauens, Zutritt ins Reich der Erkenntnis haben, d.h. wenn die Überzeugung aufhört, Überzeugung zu sein (11: 206ff FW (344)).7 Aber trotz der grundsätzlichen Kritik an der Erkennbarkeit der Welt und der Betonung des hypothesenfingierenden Verfahrens bewertet Nietzsche die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften, hoch.! 7, Die Bescheidenheit des hypothetischen Vorgehens ist nicht voraussetzungslos. Sie fußt auf dem Glauben, daß man mit methodischer Vorsicht und Mißtrauen der Täu-. schuug entgehen könne und auf dem Glauben, daß die Welt erkennbar und die Wahrheit ein Wert ist (vgl. Ir FW, ebd.). 8. vgl. I: 1142 MR (195); Ir: 171 f FW (293); I: 815 MA 1 (205): "Das Beste und Gesündeste in der Wissenschaft [...] Er schätzt nicht so sehr deren Ergebnisse - diese sind im Meer des Wissenswerten ein verschwindend kleiner Tropfen (1: 603 MA 1(256)) - viel mehr die Methoden: Wenn die Methoden verloren gehen, dann kann der Aberglaube und Unsinn erneut überhand nehmen. Jeder, Mann und Frau, sollte mindestens eine Wissenschaft von Grimd aus kennen gelernt haben, dann wüßte er/sie, was Methode undBesonnenheit ist (vgl. I: 728 MA I (635)). "Der TatsachenSinn [...] ist der wertvollste aller Sinne [.,.] Die Methoden sind das Wesentlichste, auch das Schwierigste,das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat" (11: 1231, A(59)). Die wertvollsten Einsichten sind die Methoden: 11: 1173, A(13); par. III: 808. Aber auch die Ergebnisse, "die standhalten" und insofern sie Grund zu neuen Ermittlungen geben, schätzt Nietzsche (11: 68, FW 1(46». Wissenschaft, so sagt Nietzsche in der GötzenDämmerung (11: 958), besitzen wir so weit, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen, .als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernen. "Der Rest ist Mißgeburt, Nochnicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder FormalWissenschaft, [...] : wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem [...]" Diese Dreiteilung zeigt, welchen Rang Nietzsehe der bisherigen Metaphysik zuweist. Noch deut.licher: Die Metaphysik (die Nietzsche kannte) erklärt die Schrift der Natur gleichsam pnewnatisch: I: 451, MA I (8). Also eher gnostisch-geistlich-mystisch. "Die Dogmen der Metaphysik sind nicht zu glauben,· wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und im Kopfe hat" (I: 518, MA I (109)). Die metaphysischen Annahmen sind erzeugt durch Leidenschaft, Irrtwn und Selbstbetrug. Die allerschlech~ testen Methoden der. Erkenntnis, nicht die besten, haben daran glauben gelehrt: I: 452, MA I (9). Der tiefe Gedanke kann der Wahrheit sehr ferne sein. Starke, tiefe Gefühle verbürgen nichts für die Erkenntnis: I: 457, MA I (15). Es gibt für Nietzsche nur zwei Arten von Wissenschaft: die empirische und die Formalwissenschaft :"die echte Wissenschaft, (ist) die Nachalunung der Natur in Begriffen" (1: 478fMAI (38)), dabei ist zu 30 ist die scharfe Luft - Die Geistig-Weichlichen (die Künstler) verlästern diese scharfe Luft." Und ebd. (20G): "Die Wissenschaft bedarf edlerer Naturen als die Dichtkunst, einfachere, stillere, die weniger auf Nachruhm bedacht . sind" - vgl.auch: I: G14 MA I (272)! NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" beachten, daß Nietzsches Mimesis-Begriff die Poiesis nicht ausschließt! Von der Philosophie sagt er: "Nicht eine Philosophie als Dogma, sondern als vorläufige Regulative der Forschung"(U2 (5)). Nirgends sagt Nietzsche, daß seine WzM-Hypothese eine Bewohnerin der "echten" Wissenschaft ist. Da sie kein Satz der Formalwissenschaften ist, so ist sie eine metaphysische These; aber keine souveräne, unter Mißachtung der Wissenschaften, wie ich im Folgenden zeigen möchte. ten tatsächlich eine fruchtbare heuristische Idee ist, das ist eine andere Frage. Darüber hinaus beansprucht die (Hypojthese WzM auch noch praktische Relevanz zu haben, nämlich "stärker zu machen", d.h. die "Schaffenskraft" des Menschen - unverschämt! - zu steigern. Natur und Kultur als "Polarität und Steigerung", das ist nicht nur Goethes Thema, sondern auch das Nietzsches, nur weniger "klassisch". - Das ist der ideologische Aspekt des WzM, der bisher am häufigsten in der Sekundärliteratur behandelt worden ist. Dafür wurden elie kognitiv/ kritischen Absichten gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften, soweit ich das bisher beurteilen kann, fast ganz übersehen 12. Meines Wissens stößt. nur Wolfgang Müller-Lauter (1974:266f) auf die kritische Alternative im Aphorismus 22 in JGB, wo Nietzsche seine WzM-Hypothese als Alternativ-Interpretation gegen den weltinterpretierenden Gesetzes-Glauben der Physiker vorschlägt: eine Alternativ-Interpretation, die damit endet, elas Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was die Physiker behaupten: "An einer Theorie ist es wahrhaftig nicht ihr geringster ReIZ. daß sie widerlegbar ist: gerade damit zieht sie reinere Köpfe an."? . "Eine Annahme, die unwiderlegbar ist. sie deshalb schon wahr seinT'lo warum sollte 3. Der "Wille zur Mach!" als Antwort aufNietzsches Probleme mit den zeitgenossischen Naturwissenschaften. Das metaphysische Konstrukt "Wille zur Macht" ist für Nietzsche nicht bloß irrationale, emotionale, voluntaristische Revolte gegen die bisherige Metaphysik. Revolte gegen diese ist sie zwar auch. Der "Wille zur Macht", wie besonders aus dem Nachlaß der 80er Jahre hervorgeht. hat einen starken Bezug zu den Naturwissenschaften. der m.E. bisher kaum beachtet worden ist. Nietzsche versteht seine WzM-These als Kritik und Gegenentwurf zu den damaligen Naturwissenschaften, zur (mechanistischen) Physik und zur (darwinistischen) Biologie. Nun sollten, nach Karl Popper. metaphysische Programme oder Entwürfe kognitive Probleme lösen helfen. Sie sollten u.a. als "regulative" Ieleen die Suchrichtung für empirische Forschungsprogramme skizzieren, oder sie sollten kritisch fI Alternativen zu gerade herrschenden moriotheoretischen Forschungsprogrammen entwerfen. Metaphysische. Spekulationen mit "Blick" auf die Wissenschaften können aber auch Mängel an der Erkldrungstiefe diagnostizieren und die empirischen Wissenschaften elarauf hinweisen. Ich glaube, Nietzsches universalistische Spekulation WzM hat eine solche kritische und diagnostische Absicht, speziell gegen die mechanistische Physik. Ob Nietzsches Spekulation für die Naturwissenschaf- (!;tß sie einen 'notwendigen' und 'berechenbaren' Verlauf habe. aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen. sondern weil absolut die Gesetze fehlen. und jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht. .. I, "nämlich. Müller-Lauter betont richtig, daß für Nietzsche die mechanische Denkweise (der Physik des 19.Jhs.) nur "Vordergrunds philosophie" ist, und elaß sie - für Nietzsche - faLsch ist, weil sie schematisiert, abkürzt ... konstante Einheiten, konstante Wirkungen und Gesetze fingiert und die Welt auf Berechenbarkeit mit 12. Weder M.I Icidegger (I % I) noch W Kaufmann (1974) noch die ncucrcn und ncucstcn Publikationen von Theo Meyer (199 I und 1993) bemerken den wissensehn t"tsgeschichtliehen Problemkontext von Nictzschcs WzM-llypothcsc. Volkcr (ierllanH (1992) streift ihn zwar. Er weist, ganz richtig, auf den Zusammenhang zwischen WzM und Roger Boscovichs dynamistisch-pluralistischcr (Wclt-) Konzeption hin, aber er führt diesen Kontext nicht näher aus. Gcrhardt: Nictzschc hat ausgedehnte naturwissenschaftliche Lektüre betrieben. Nictzschc will an den Ursprung aller Bewegung zurück. Die Physik, die bloß "äußere Kausalursachcn" beschreibt, genügt ihm nicht; er will den inneren Beweggrund aller Kräfte aufdecken (vgl. p.l SI). Das trifft zu, aber (3erhardt deckt nicht auf, warum Nictzschc die zeitgenössische Physik nicht genügt. Gerharu Vollmer (!9RS) diskutiert Nictzschcs antidarwinistischc Einstellung, aber nicht im Zusammenhang mit dem WzM! n. 1GB (22) 9.11: 5S1 1GB (IS). 10. IIl: 915. J I. "kritisch" ist hier nicht im Sinne VOll "falsifizierend". von "Widerlegung" gemeint, sondern als "rivalisierende Möglichkeit" zu derzeit unbefriedigenden Theorien. 31 KRITERION sein. Ich brauche Bewegungsansätze und -zentren, von wo aus der Wille um sich greift. Das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. Alle treibende Kraft ist WzM, es gibt keine physische/dynamische oder psychische Kraft außerdem. Es gibt keine Veränderung ohneWzM (vgl. U2 (38;39;55». Nietzsches Problem mit der mechanistischen Physik des 19. Jhs. hat aber noch andere Voraussetzungen: Schöpfung oder Ewigkeit (als Nicht-Anfang und Nicht-Vernichtung der Kraft), Schöpfung durch einen Gott schließt er als "braver" dogmatischer Atheist aus. Einen Beginn der Kraft, der Energie, ex nihilo ebenfalls; so bleibt für Nietzsehe nur die Annahme der Ewigkeit der Energie (vgl. U2 (323;319». Wenn aber die Kraft, bzw. Energie ewig und ungeworden ist, dann müßte die Kraft (im Zeitintervall von -00 bis +(0) einen stabilen Zustand, ein Gleichgewicht, eine maximale Entropie erreicht haben (vgl. U2(305; 316; 318». Es dürfte (jetzt) keine Bewegung und Veränderung mehr geben, es wäre ein "Sein" im strengen Sinne (U2 (316». - Es gibt aber (immer noch) Bewegung und Veränderung, also ist ein solcher (universaler) Entropie-Zustand nicht erreicht. - Diese Sätze sind u.a. auch Prämissen für Nietzsches Versuch eines indirekten Beweises seines Theorems von der ewigen Wiederkunft des Gleichen." Die Kraft ist etwas ewig Aktives. Das sagt Nietzsehe auch: Schaffen ist selbst eine (innere) Eigenschaft der Welt, unveräußerlich und beständig (U2 (32». Im absoluten (ewigen, von außen nicht verursachten) Werden "kann die Kraft nie ruhen, nie Unkraft sein" (U2 (350». Diese Probleme und Voraussetzungen, die Nietzsche hier einbringt, sind für die mechanistische Physik des 19. Jhs., so scheint es, kein Thema; und deswegen hat diese Physik nicht Nietzsches Probleme. Nietzsches Voraussetzungen (keine Schöpfung, kein Entstehen ex nihilo, Ewigkeit der Kraft), konfrontiert mit der mechanistischen Physik, führen zu diesen Problemen, zu seiner Kritik am Mechanismus und zu seinem metaphysischen Lösungsversuch WzM. - Sein zweites Problem ist: 3.2 Die Selbsterhaltung: Nietzsche glaubt in der Biologie, in der Physiologie und im menschlichen Verhaltens bereich Beispiele zu finden, die mit der These vom Selbsterhaltungstrieb als erstem und kardinalem Trieb nicht erklärt werden können: Die Veränderung ist eine Erfahnmgstatsache. Aber es gibt Hilfe einer gemeinsamen (intersubjektiven., S.L.) Zeichensprache imaginiert (vgl. S 269). Diese Kritik der Wissenschaften, der- Erkenntnis überhaupt, ist bei Nietzsehe seit seinem Essay (1873) "'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn"14 notorisch, und im Nachlaß der 80-er Jahre findet man sie am zahlreichsten. Aber das Erkenntnis-und das Ontologie-Problem sind nicht die alleinigen, die Nietzsche mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften hat! Es sind m.E, vor allem folgende Probleme: Bewegung und Veränderung, ein Thema seit seiner Beschäftigung mit Heraklit, Parmenides und Anaxagoras 1872/73, Selbsterhaltung und Anpassung (der Organismen). 3.1 Bewegung und Veränderung: Die mechanistische Physik, so Nietzsche, kann Bewegung und Veränderung nicht erklären: In unseren Wissenschaften, wo die Begriffe Ursache und Wirkung reduziert sind auf Gleichungsverhältnisse. wo auf beiden Seiten das gleiche Quantwn von Kraft sein soll, fehlt die treibende Kraft (vgl. U2 (39». Die mechanistische Auffassung wolle nichts als Quantitäten (vgl. U2 (42», aber in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr und unbewegt (U2 (337». Diese Art von Weltbetrachtung wolle Zahlen, damit sei aber Bewegung unmöglich (U2 (357) und (366».15 Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen bloß semiotisch, sie berührt die ursächliche Krafi und die Prozesse nicht (U2 (367); (38». Gott als treibende Kraft, als "prirnus motor" oder "natura naturans": kommt für Nietzsehe nicht in Frage (vgl. U2 (310». Ich brauche den Ausgangspunkt "Wille zur Macht", schreibt Nietzsche, als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt - nicht (von außen) verursacht 14. Fragment; von Nictzschc selber nicht publiziert. j 5. Das bedeutet keineswegs, daß Nictzschc grundsätzlich gegen Formalisierung, Quantifizicrung und Messung eingestellt wäre. Er meint nur, daß metrische Modelle zwar (simplifizierende) Messungen von Prozessen erlauben, aber noch nicht erklären. Jede kategoriale Sprache (Ding, Eigenschaft, Relation, System), jedes formale und auch jedes metrische Modell ist Iür Nietzsche gleichmachende Simplifikation (vgl. U2 (343; 336; 331; 297; 288; 286; 282; 2:79), aber "es geht nicht besser und wir haben nichts Besseres". Das weiß Nietzsche sehr klar. Es ist das Exakteste, was wir haben, aber für die Erkenntnis der Welt beiweitem nicht exakt genug. Nur in der anorganischen Welt, auf der physikalisch-chemischen Stufe herrsche die schärfste "Wahmclun ung", die schärfste Messung der Kraftverschiedenheiten. Hier sei sie "absolut genau", Mit der organischen Welt beginne die Unbestimmtheit, der Schein (vgl. U2 (80; 82; 83». /- 16. Zu Nietzschcs Beweis-Versuch: siehe die sehr klare Rekonstruktion von Oskar Bcckcr (1936). Zur Diskussion der Ewigen Wiederkehr vor dem Hintergrund der heutigen physikalischen Kosmologie lese man die sehr interessante Abhandlung von Bernulf Kanitscheidcr (1988)! 32 NIETZSCHES MET APHYSIK-SKlZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" keinen Grund, warum auf eine Veränderung eine· andere folgen sollte. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen ... Der Satz des Spinoza von der "Selbsterhaltung" müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen (vgl. U2 (39». Ein weiteres Argument bringt Nietzsehe aus der Biologie: Die unterste und ursprüngliche Tätigkeit im Protoplasma. Es frißt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein als zu seiner Erhaltung nötig ist, vor allem, es "erhält sich" damit nicht, sondern zerfallt ... " Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: "Hunger" ist schon eine Ausdeutung [...] Hunger ist eine spezialisierte Form des Triebes, Arbeitsteilung im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes" (vgl. IIl: 672f). Die Selbsterhaltung ist nichrvdas primum mobile", sowenig wie der Hunger. Hunger ist eine Folge der Unterernährung. Unterernährung heißt Wille zur Macht, der nicht mehr Herr über etwas werden kann. Erst spät, nachdem der WzM andere Wege zu seiner Befriedigung lernte, wird das Aneignungsbedürfnis des Organismus auf den Hunger reduziert, d.h. eingeschränkt auf ein Wiederersatzbedürfnis (vgl. III: 713). M.a.W.: Die Stillung des Hungers ist nicht Endzweck; Selbsterhaltung ist kein Endzweck; sie ist nur die Bedingung für das weitere Schaffen und Wirken von organisierten WzM-Quanta (Organismen, dynamische Systeme etc.) auf andere WzM-Quanta und deren Organisationen. Das Lebendige will seine Kraft auslassen. "Die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon". Den Selbsterhaltungstrieb hält Nietzsehe für keinen kardinalen Trieb; ein überflüssiges teleologisches Prinzip, dessen Annahme gegen die Methode, gegen die Prinzipien-Sparsamkeit verstößt (vgl. Il JGB, Aph 13; vgl. auch U2 (34». Schließlich weist Nietzsehe noch, auf der humanen Stufe, auf bestimmte Formen der Wertschdtzungen, die über das Leben, über einen bloßen Willen zum Dasein hinauszielen, hin: Die allegorische Figur, das blonde Zottelweib "Leben" lehrt Zarathustra folgendes Geheimnis: "ich bin das, was sich immer selber überwinden muß [...] Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber redet - der Wille zur Macht!" (Il: 371f). Nietzsehe meint, daß es Fälle von Selbstopferungen oder Leistungen unter Lebensgefahr oder Einsatz des Lebens gibt, die nicht mit Willen zur Lebenserhaltung, sondern mit dem Willen zur Macht zu erklären sind (vgl. III: 802f). Die Liebe würde er als Einwand nicht gelten lassen; gerade die Liebe ist ihm eine der For- 33 men des gesteigerten WzM.17 Der/die Liebende ist stärker (als die Nicht-Liebenden). Der Gesamthaushalt der Liebenden ist reicher als je, mächtiger, ganzer. Die Liebenden wagen, sie sind reich genug dazu. Sie werden Esel an Großmut und Unschuld. Sie glauben wieder an Gott und an die Tugend, weil sie wieder an die Liebe glauben. Diesen Idioten des Glücks wachsen Flügel: neue Fähigkeiten (vgl. I1I: 752ft). Alle große Liebe will nicht Liebe - die will mehr (Il Z, 5>29). "Die Psychologie hat die Liebe gefälscht, als Hingebung und Altruismus, während sie ein Hinzunehmen ist oder ein Abgeben, infolge eines Überreichtums von Persönlichkeit. Nur die ganzesten Personen können lieben" (III: 520; vgl. auch Il: 1105, Ecce homo (5». "Der, dessen ego schwach und dünn wird, wird auch in der Kraft der großen Liebe schwach" (III: 461). "Das höchste Gefühl der Macht gibt die Liebe [...], aus Liebe tut man viel mehr als aus Gehorsam" (III: 742) "Die Muskelkraft eines Mädchens wächst, sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt, [...] beim Tanz nimmt diese Kraft zu [...]" (III: 841;vgl. auch I1: 47, FW (14); II: 780; II: 888; I: 1223, MR (429); Il: 907, Der Fall Wagner). Widersprechende Stellen fand ich keine. - Wie weit diese Beispiele wirkliche Einwände gegen die Erklärungskraft der damaligen Physiologie und Psychologie sind, kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht prüfen; darum geht es hier auch gar nicht; wichtig ist, daß Nietzsehe nicht müde wird, Beispiele aufzutischen, die die Mängel .der Erklärungskraft und Erklärungstiefe der zeitgenössischen Naturwissenschaften, einschließlich der Psychologie, demonstrieren sollen. Mißverständnisse einerseits Nietzsches und Unklarheiten und Probleme auf Seiten der Naturwissenschaften mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Auch offensichtliche Mißverständnisse haben, wie mir scheint, eine Rolle gespielt. Das zeigen die Einwände gegen die Darwinisten. 3.3 WzM vs. Anpassung und Kampf ums Dasein: Nietzsche neigt "zum Vorurteil, daß sich die Schule Darwins überall getäuscht hat" (III: 748). Er glaubt, daß die Darwinisten Leben als immer zweckmäßigere 17. Physiologisch betrachtet ist (für Nietzschc) die Liebe eine Form des Rausches;' ein Rausch, "der gut daran tut, über sich zu lügen" (1Il: 752). Nietzsche unterscheidet zwei Ätiologien des Rausches: der RatlSch "aus übergroßer Fülle", aus "erhöhter Kraft"; zu dieser Ätiologie rechnet er u.a.die Liebe und die (klassische) Kunst. Die andere Art von Rausch führt er auf eine krankhafte Ernährung des Gehirns zurück (vgl. III: 780f; 754-56). Alkoholika, Drogen, Stoffwechsel-Störungen [...] romantische Kunst, Selbsthypnose, z.B .. mit Hilfe bestimmter Formen von Christentum und/oder Wagnerei. KRITERION Stärkeren, "die reichsten und komplexesten Formen" (III: 741f; 748), sind schwach, wenn sie die organisierten Herdeninstinkte '" die Überzahl gegen sich haben (vgl. III: 748f). "Die Mittel der Schwachen, um sich oben zu halten, sind Instinkte, sind 'Menschlichkeit' geworden, sind 'Institutionen' [...]" Den Nachweis dafür sieht Nietzsche in unseren herrschenden sozialen Werturteilen etc, (vgl. III: 738). Mit diesen Wertsetzungen werden die unteren/mittleren Typen Herr (III: 748),19 wenn sie sich gegen die "Wohlgeratenen" zusammenschließen. Darin sieht Nietzsche den WzM der organisierten Massen, 2.B. der Christen, der Sozialisten und der Demokraten: Sie machen sich die starken "Ausnahme" - Typen gefügig, sie assimilieren diese, so gut sie können, für ihre Ziele, oder sie stoßen diese ab, isolieren oder merzen sie aus. An dieser Stelle muß ich ergänzen, daß Nietzsche auch die darwinistische Evolutionstheorie ablehnt: Er glaubt nicht an die jahrmillionenlangen Metamorphosen (III: 740). Wie die Kreationisten insistiert er: Es gibt keine Übergangsformen. Gattungen sind keine Fortschritte im Vergleich zu anderen Gattungen; auch die Gattung Homo nicht. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom "Niederen zum, Höheren". Nietzsche glaubt an die Konstanz der Gattungen, des Typs (vgl. III: 740f; vgl. dazu auch: Gerhard Vollmer: 1988). "Daß sich höhere Organismen aus niederen entwickelt hätten, ist durch keinen Fall belegt" (III: 748f). Anpassung (positive Selektion) und Kampf ums Dasein sind keine gattungserzeugenden Mechansismen. Es fällt auf, daß Nietzsehe, soweit ich sehe, nirgends den entscheidenden Faktor der erblichen Variation erwähnt - ein Punkt, auf den G. Vollmer (1988) nicht hinweist. Die Domestikation (mit ihrem Varianten-Reichtwn durch künstliche Zuchtwahl) läßt Nietzsche als Argument nicht gelten: Sie geht ihm nicht "tief' genug, sie bedeutet keine "Typus" - Änderung. "Was der züch- innere Anpassung an äußere Umstände definieren, er meint, daß damit die "spontanen, angreifenden, übergreifenden [...] und gestaltenden Kräfte", die primäre Aktivität. übersehen werden (vgl. II, GM, S ,819f). Die Anpassung sei von den Darwinisten unsinnig überschätzt worden. Der Kampf ums Dasein sei "eine unbegreiflich einseitige Lehre" (Il, FW, 215), "mehr behauptet als bewiesen, er kommt vor, aber als Ausnahme [ ] Wo gekämpft wird, da kämpft man wn Macht[ ]" (lI: 998f, GD (14); III: 894; vgl. auch I: 584, MA I (224». "Wille zur Macht ist der Grund aller Veränderung" (III: 748f). Das Wesentliche 30m Lebensprozeß sei "die gestaltende, formschaffende Kraft, welche die äußeren Umstände nützt" (vgl. III: 889). Diese übergreifenden, gestaltformenden Kräfte, welche die äußeren Umstände nützen, sind für Nietz'sehe WzM-Kräfte. Leben sei nicht "Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der immer mehr 'Äußeres' sich unterwirft und einverleibt" (IIl: 898). Nietzsche betont somit die Assimilation gegen die Akkommodation. In der Natur herrsche nicht die Notlage vor, sondern der Überfluß und die Verschwendung bis ins Unsinnige. Der Grundtrieb sei Machterweiterung. darin werde Oft genug auch die Selbsterhaltung in Frage gestellt und geopfert (Il: 215, FW (349». Die Notlage und der Kampf ums Dasein, um die Selbsterhaltung, seien die Ausnahme. Sie bedeuten nur eine zeitweilige Einschränkung des Lebenswillens. Die Zurückschaltung auf Selbsterhaltung ist ein Symptom für Notlagen.'! "Der Drang des Schwächeren zwn Stärkeren, zum Unterschlüpfen aus Nahrungsnot, der Drang zur Einheit läßt auf Schwäche schließen" (III: 457). Der große und der kleine Kampf aber dreht sich nach Nietzsche um Wachstum und Ausbreitung, um WzM, der eben der Wille (auch) des Lebens ist (vgl. Il FW, S 215; Il GD (14), S 998f). Die Notlage kann freilich auch Existenzbedingung sein: "damit ein Individuum sich zusammenhält, sich nicht vergeudet" (III: 889). Der Kampf ums Überleben laufe gerade wngekehrt: zu Ungunsten der Starken. Die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr. Sie haben die große Zahl für sich und sie sind auch klüger (vgUI GD (14), p. 999). Die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfalle findet nicht statt. Die 19. Damit wiederholt Nietzsche eine der Thesen des Sophisten Kallikles in Plattins Gorgias 38, 483c-484a, wonach die Besten und Kräftigsten-unter uns von Jugend an, wie Löwen, mit unseren willkürlichen Gesetzen suggestiv gebändigt werden. Aber Nietzsche erwägt auch - Kalliklcs relativierend - Folgendes in einer Reihe von Fragen: Vielleicht ist der Sieg der Schwachen und Mittleren ein Mittel in der Ökonomie des Lebens, "eine Tempo-Verzögerung, eine Notwehr gegen noch Schlimmeres? [...] Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem und auch in den Wertschälzungen geworden:[ ...] möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkungen der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte? [... ]" (vgl. III: 18. Spinozas Lehre von der Selbsterhaltung und die These der englischen Darwinisten vom Kampf ums Dasein "erklärt" Nietzsche sozio-ökonomisch: Die Lehre von der Lebensnot und dem Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Faktoren stammt von Leuten, die aus Not-Verhältnissen kommen (vgl, II, FW, p.215). 738f). 34 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" Genie, den Cäsar, die sublimste und zerbrechlichste Maschine (vgl. III: 741 f), die biologisch-unfruchtbare, aber kulturschaffende Blüte," den Verbrecher (III: 531; 596), den "Banditen und Korsen" (III: 644), den Ausbund von WzM nach der Idee des Kallikles in Platons Gorgias. All diese Varianten müssen keineswegs die bestangepaßten, biologisch fruchtbarsten und erfolgreichsten Charaktere sein. Das wird kein Darwinist behaupten. M.a.W.: Nietzsches WzMTypen reinsten Wassers ergeben kein Argwnent gegen das (zunächst ebenfalls metaphysische) Programm Darwins. Der Einwand basiert auf einem Mißverständnis, vielleicht sogar auf mangelnder Kenntnis. Die WzM-Spekulation istkeine AlternativHypothese; sie scheint mir sogar mit dem Darwinismus logisch verträglichzu sein. Das evolutionistische Programm kann man als die Idee eines Spiels von Kräften - auch im Sinne Nietzsches - interpretieren. Die Mechanismen der Variation und Selektion haben keine "Absichten" auf Selbsterhaltung bzw. Anpassung(ÜberIeben). Wesen mit Stoffwechsel, Reproduktion und bisherigem Überleben sind .Produkte dieser Kräfte-Spiele.F Thermodynamisch gesehen sind solche Kräftespiele unter physikalisch/chemischen Bedingungen, wie sie, in unserer kosmischen Ecke und in diesem Stadium des Universwns herrschen, mit solchen Organisationseffekten der kürzeste Weg, hochkomplexe Ordnungen, wie auch ein noch höheres Maß an Entropie - in der Umwelt! - zu erzeugen. Nietzsches WzM - Quanten richten auch nichts anderes an: Alles Geschehen ... alles Werden ist ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen; ein Kampf und em Spiel. Das was als "Zweckmäßigkeit" imponiert, ist der Ausdruck für eine momentane Ordnung von Machtsphären und' deren Zusammenspiel (vgl. U2 (75». Das Stärkerwerden bringt Ordnung mit sich, die einem Zwecke mäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen; Ordnungen des Ranges, der Organisation, die den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken müssen (vgI. III: 541f; 492; I: 1102 MR (130». Ein grundsätzliches Mißverständnis besteht auch darin, daß Nietzsche den Darwinisten unterstellt, sein (Nietzsches) Typus des "Starken" sei in ihrer Sicht selektiv begünstigt, der besser Angepaßte (vgl. III: 748t) als der "Schwache". Dem ist nicht so! Gerade (Nietzsches) "schwache" Individuen sind durch ihre Fruchtbarkeit, durch ihre "große Zahl" der (vorläufig) besser angepaßte Typ. Wenn dem so ist, tenden Hand wieder entschlüpft, kehrt in den Naturzustand zurück" ("Verwildern" ,siehe Haus- und Stockenten (Anas platyrhynchos), S.L.). "Man kann nicht denaturer ia nature. Alles konkurriert, seinen Typus aufrecht zu erhalten." (IlI: 740t). Er unterstellt, daß jeder Typus, offenbar jede Art und jede Gattung, (feste) Grenzen habe (vgl. III: 740--42).2° Die Lektüre von Darwins Die Entstehung der Arten (1859) hätte ihm aber zeigen können, daß die Radiation der' Variationen sich nicht einfach an unsere zoologischen oder botanischen Taxonomien" die auf von uns geschaffenen - und sich ändernden - Regeln der Merkmalsauswahl fußen, hält. (vgl. dazu Darwin 1859, Kap.Z, Kap.9 und 14).2: Nietzsche ist natürlich als "Anti-Darwinist" (1Il: 740) kein "Kreationist" im religiösen Sinne. Doch in einem Punkt gibt es eine Ähnlichkeit: Was gewisse Theologen und Sekten-Brüder (z.B. Zeugen Jehovas) Gott zuschreiben, das schreibt Nietzsche seiner WzM-Quanta -Dynamik zu: Die, wie Nietzsche offensichtlich annimmt,' (genetisch) isolierte, also nicht-deszendente Arten-Entstehung müßte das Pro-· dukt (zufälliger) Macht-Quanta-Spiele sein. Doch, falls ich Nietzsches WzM-Spekulation recht verstehe, müßte sie auch mit der Evolutions-Theorie logisch vereinbar sein: Das Macht-Quanta-Spiel kann ja auch die "Bio-Chemie" bis zur (genetischen) Nicht- Kreuzbarkeit treiben, bzw. verändern. M.a.W.: Die Tatsache genetisch isolierter Arten wäre kein Einwand gegen Nietzsches WzMI Nietzsehe unterschätzt den Faktor der Variation, der in Darwins Theorie eine zentrale Rolle' spielt, völlig. Doch die kleineren und größeren, zufälligen Variationen - heute "Mutationen" genannt - ermöglichen auch Nietzsches hochgelobten "höheren Typus", d.h. die "reichste und komplexeste Form", das 20. vgl. aber dazu 111: 542: "Gattung ist aus der Ferne betrachtet etwas ebenso Flüssiges wie Individuum. 'Erhaltung der Gattung' ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung auf dem Weg zu einer stärkeren Art." 21. Auch das Merkmal Fruchtbarkeit bzw.Unfruchtbarkcit gellen für Darwin nicht als sicherer Unterschied zur Artenabgrenzung (vgl. pp.386fl). ~ Jeder Jäger kennt z.B. Rackclhühner, . Bastarde von Angehörigen des Auerhuhns (Tctrao urogallus) und des Birkhuhns (Lyrurus tctrix). Die Ornithologen wissen, daß diese nicht bloß als zwei verschierlene Arten, sondern als verschiedene Gattungen in der Systematik geführt werden. - Darwin selber führt viele Beispiele an.' - Doch die Variation bzw. Mutation, macht schließlich auch nicht vor den Fortpflauzungsmcchanismcn, an der "Keimbahn" und den Verhaltensprogrammen I-lall. Diese erzeugen schließlich Kreuzungs-Barrieren, was dann zur "Arten-Segregation" führt. 22. Die Faktoren, die Mutationen erzeugen und Selektionen bewirken, sind Kräne, die Nictzsche vermutlich an seine Wzlvl-Hypothesc assimilieren würde, 35 KRITERION duation ist ein' ständiges Zerfallen von eins in zwei (U2 68; Tl; 74)). "Die Gleichheit der Machtverhältnisse ist der Ursprung der Generation. Vielleicht ist alle Fortentwicklung an solche entscheidende MachtÄquivalenzen gebunden" (U2 (71)). Zeugung ist die höchste Machtäußerung des Individuums: "Im Wachsen spaltet sich das Individuum in zwei und mehrere" (III: 457). "Der geschlechtliche Instinkt ist nicht eine Folge der Wichtigkeit des Individuwns für die Gattung, sondern Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuwns [.,.] seine höchste Machtäußerung [...] ein Grundirrtwn der Biologen: es handelt sich nicht wn die Gattung, sondern wn stärker auszuwirkende Individuen" (III: 898). Das erinnert uns an die heutige Hypothese vom "Gen-Egoismus". Nietzsehe markiert Zeugung, Vererbung, Anpassung und Ernährung ausdrücklich als Probleme (vgl. Il: 601 JGB (36); III: 456t); Probleme, die ihm die Biologen nicht befriedigend gelöst haben. Die biologischen Beschreibungen der Teilungs-, Zeugungsund Ernährungsvorgänge genügen ihm nicht. Johann Gregor Mendels Vererbungsgesetze. formuliert 1865, hätte Nietzsehe sie gekannt-', wären ihm keine ausreichenden Antworten auf seine Probleme gewesen. Er hätte, so nehme ich an, den gleichen Vorwurf wiederholt wie gegen die klassische Physik: "bloß semiotisch-quantitative Formulierung von Folgeerscheinungen". Die Erklärung der Erbvorgänge mit Hilfe der Mendelschen Gesetze wären Nietzsehe nicht "tief' genug: Die Erklärung für das Wie der' Vererbung wäre ihm noch keine Erklärung für das Daß, die Tatsache der Vererbung und der Generation. Und die damals gängigen Erklärungen, finale, teleologische - causae finales - wie kausale - causae efficientes - für die Anpassung lehnt er als unzureichend ab: "Wie ein Organ benützt werden kann [...], das ist nicht erklärt" (1II: 456). Das Problem der Generation, der Vererbung, der Anpassung, des Meta- und Katabolismus ist, so scheint es, für Nietzsche analog zu dem der Bewegung und Veränderung. Sein metaphysischer Lösungs-Vorschlag: Das ständige Wirken der Kraft-Quanta (und deren Organsisationen), das, was er "Wille zur Macht" nennt: "Sieht man die Geschlechts-Vorgeschichte (eines Individuwns) an, so entdeckt man die Geschichte einer [...] KapitalSammlung von Kraft [...], Arbeiten, Sich-Durchsetzen. [...] - 'Vererbung' ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt" (III: 552). - Wie aber wäre eine solche Kapita- dann ist Nietzsches These von der größeren Macht der Masse, der Selektion zugunsren der Schwachen (III: ·748t) kein Einwand gegen den Darwinismus. "Die Stärksten, die Ausnahmen sind schwach, wenn . sie die organisierten Herdeninstinkte, die Überzahl gegen sich haben" (ebd.; III: 738). Das wird kein Darwinist bestreiten; ebensowenig Nietzsches folgende Behauptung: "Der Zufall dient den Schwachen und den Starken genauso gut" (III: 740). Die Schwachen haben "mehr Geist" - ein weiterer Einwand.-:Darwin habe den "Geist" vergessen. Mit "Geist" meint Nietzsche: Biegsamkeit, List, Verstellung, Vorsicht, Rücksicht, Klugheit, Feinheit, Geduld und "große Selbstbeherrschung" (vgl. I: 584; 11: 998f; III: 738). Auch das ist kein Einwand gegen Darwin; im Gegenteil: die größere Intelligenz und Selbstkontrolle spricht für "bessere" Anpassung, für größere Fitness. M.a.W.: Nietzsches Spekulation vom WzM wäre, zumindest in dem Punkt, keine Alternativ-Hypothese zum Darwinismus, sondern eher ein "metaphysischer Überbau". - Auch die herrschenden Werte (des Christentums, des Sozialismus, der Demokratieetc.) sind keine Einwände gegen den Darwinismus. Sie sind Sozial-Faktoren, die sich die mediokren und "dekadenten Viel-zu-Vielen", zu ihrem Schutz, geschaffen haben. Diese Werte-Faktoren begünstigen das ist Nietzsches Ansicht (Il: J168, A (7)) - die weitere positive Selektion dieser "mißratenen" Typen in größerer Zahl - auch wenn einige an diesen 'Werten zugrunde gehen. - Nebenbei gesagt: Nietzsche ist aus rein ästhetischen (Wert-) "Gründen" auf seinen "starken, wohlgeratenen Ausnahme-Typ" CIl: 624), auf den Un- und Übermenschen (1II: 520; vgl. Goethe: Faust, Verse 490; 3349) als den "Sinn der Erde" (Il: 279ft) versessen. Aus dieser idee fixe heraus nimmt er seine "Umwertung" der "Werte" vor. Mit der Umwertung möchte er in die Selektionsdynamik eingrei fen. 3.4 Teilung und Zeugung: Ein weiters Argument für seine WzM-Spekulation glaubt Nietzsehe in der Fortpflanzung der Organismen zu finden. Ich habe oben schon auf Nietzsches Protoplasma-Beispiel hingewiesen: Die Teilung des Protoplasmas in zwei (Macht-) organisationen tritt dann ein, wenn das Plasmodiwn "den angeeigneten Besitz nicht mehrbewältigen kann." Zeugung bzw. Teilung ist, nach Nietzsehe, Folge einer Ohnmacht (U2 (72); vgl. auch III: 897t). Ein (organisierter) Wille reicht nicht mehr aus, das gesamte Angeeignete zu organisieren. .Ein "Gegenwille" organisiert sich, schafft ein neues 01'ganisations-Zentrwn und löst sich von der ursprünglichen (Willens-) organisation (III: 850; 859). Indivi- 23. Die Biologen haben Mcndcls Gesetze zunächst 3 Y2 Jahrzehnte nicht beachtet. Um 1900 wurden sie wiederentdcckt. 36 NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" präformiert - und zwar im Kontext mit dem Problern des Werdens und der Bewegung. Ich weise nur auf einige von vielen Stellen hin: Abschnitt 5, 6 und 7 zu Heraklit: "Die Gegensätze sind wie zwei Ringende, von denen bald der eine, bald der andere die Obmacht bekommt". Der Agon im Staat, i~ den Palästren und Gymnasien wird ins Kosmische übertragen. Die Welt(en) sind ein ewiges Spiel des Feuers mit sich selbst, ohne moralische Zurechnung - wie ein Kind, das Welten baut und zerstört, - Es gibt nur Wirken, keine andere Art von Sein. "Die Welt ist ein Mischkrug [00']" "Der Streit des Vielen ist die Gerechtigkeit". "Das Ringen dauert in Ewigkeit fort". "Wie jeder Grieche kämpft, als ob er allein im Recht sei,und ein unendlich sicheres Maß des richterlichen, Urteils in jedem Augenblick bestimmt, wohin der Sieg sich neigt, so ringen die Qualitäten miteinander lisierung von Kraft (heute) im Genom zu denken? Kräfte, die Mutationen bewirken "kapitalisiert" in mutierten Genen? Wie? 3.5 Fazit: Nietzsches Hypothese vom WzM ist keine nur philosophisch gewonnene Antithese zu Schopenhauers "Ding an sich", dem sog. Weltwillen; sie ist auch nicht allein aus der Beschäftigung mit den Sozial- und Kulturwissenschaften (Philologie, Geschichte, Psychologie) entstanden, sondern vor allem aus wiederholten (autodidaktischen) Studien in den Naturwissenschaften (der Physik, der Thermodynamik (vgl. U2 (35)), der Chemie (U2 (76;78-80; 293», der Physiologie und Biologie)." Das Problem der Bewegung, der physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse ist der wesentliche Anlaß zu seiner WzM-Spekulation, welche erst zu Beginn der 80-er Jahre auftaucht. Wesentliche Elemente seines Antwortversuchs auf diese Probleme hat Nietzsche - das ist bemerkenswert nicht in Schopenhauers monistischer Willens-Metaphysik gefunden, sondern in der Naturphilosophie des 18. Jhs., 111 Boscovichs dynamistischer und pluralistischer Kraftzentren-Theorie. Die Lektüre von Gustav Theodor Fechners Buch Übel' die physikalische und philosophische Atomlehre (1864) und seine Beschäftigung mit den Vorsokratikern, mit deren Problemen von Sein und Werden und den verschiedenen Antwortversuchen. z.B. denen der Atomisten, brachten ihn 1873 auf Boscovichs Philosophiae naturalis Theoria von 1759.2 5 [00.]" 4. Ein Blick in die 70-er Jali"e Mazzino Montinari (1976) setzt die Entwicklung des' WzM-Konstruktes in die 80-er Jahre, von ca 188288. Die erste, publizierte ausführliche Beschreibung findet sich im 2. Teil des Zarathustra: Von der Selbstüberwindung: "Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht [00.]'" Die Notizen zum Thema WzM reichen bis in den Herbst 1882 hinab: "Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle nur Wille zur Macht." Wenn wir aber Nietzsches Essay-Torso: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873) durchsehen, dann finden wir das Thema. WzM zwar nicht namentlich genannt, aber inhaltlich deutlich 24. Kar! Sehlcehta und Anni Anders (1962) haben Nictzsehcs naturwissenschaftliche Lektüren und Bibliothek (seit Anfang der 70cr Jahre) ausführlich dokumentiert, vgl. pp 1GI-I GG: Dic von Nietzschc benützte Literatur, 25. vgl. dazu Schlcchta/Anders (1962): pp73-99; pp 127140. 37 Diese Passage entspricht Thesen vom Sommer 1885: "In der chemischen Welt herrscht die scluirfste Wahrnehmung der Kraftverschiedenheit. " "Wahrnehmung in der anorganischen Welt, absolut genau: da herrscht 'Wahrheit' " (vgl. U2 (80;81». Und was die Metaphysik der Dinge betrifft, formuliert Nietzsehe 1873 Folgendens: "Die Dinge als Feststehen und Standhalten, so wie das die Menschen- und Tierköpfe glauben, haben gar keine eigentliche Existenz, sie sind das Erblitzen und der Funkenschlag gezückter Schwerter, sie sind das Aufglänzen des Siegs, im Kampfe der entgegengesetzten Qualitäten. [...] die bestimmten als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Obergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite [00'] dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit [...] Fundament der Kosmodizee. [00'] die Eris Hesiods zum Weltprinzip verklärt." Diese mythischen Metaphern entsprechen gut der späteren These, welche die Dinge als ständige Prozesse und Effekte von Kraftfeststellungen auffaßt. Die Eris, der Streit, d.h. die Kraft-Feststellung; die vorläufigen Gleichgewichtungen und Störungen der Gleichgewichte ist "Weltprinzip", - Präludium zwn Satz: "Die Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem" (II1: 917). Man kann solche Passagen nicht mehr im Rahmen Schopenhauers interpretieren - obwohl viel Schopenhauer zitiert wird -, denn die Worte, mit denen Nietzsche Heraklit feiert, widerSchopenhauers Willensverneinung. sprechen "Heraklit ist beglückter Zuschauer", kein Pessimist. Der Text "Die Philosophie im tragischen Zeitalter KRITERION [...]" ist eines der frühen Dokumente gegen den weltverneinenden Pessimismus Schopenhauers. Gegen Parmenides wendet Nietzsehe (mit Anaxagoras) u.a. ein: Die Erfahrung zeigt, daß das Denken "von Be- . griff zu Begriff' schreitet, also in Bewegung ist. Gesetzt, nach Parmenides, Denken und Sein seien identisch, dann ist das Seiende in Bewegung; mehr noch: es gibt eine Mehrheit von Seiendem - nicht bloß eine dichte "Seinskugel", Da nun das Seiende weder aus dem Nichtsein entstehen noch wirklich ins Nichtsein vergehen kann, dann gilt, daß auch eine Vielheit von Seiendem weder aus dem Nichtsein werden noch ins Nichtsein verderben kann. M.a.W.: auch eine Vielheit von Seiendem ist ewig, ungeworden und unzerstörbar. Die Vielheit ist ohne Zu- und ohne Abnahme; in der bewegten Welt bleibt "die Summe des wahrhaft Seienden" in alle Ewigkeit gleich. Die Veränderung betrifft nicht dieses Seiende; sondern ist eine Folge der - ebenso ewigen Bewegung: "Das wahrhaft Seiende ist bald so, bald so bewegt, aneinander, auseinander [...] ineinander durcheinander" (PTG (13)). Dem entspricht ein Text aus den 80-er Jahren (I1I: 916): Die Welt ist "ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht [...] als Ganzes unveränderlich groß [,..], ein Spiel von Kräften [...] ewig sich wandelnd [...] mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr [...] - Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem!" Auch in PTG ist "wahrhaft Seienden" die Vielheit des ("Wesenheiten") eine endlich große Anzahl; eine vollendete Unendlichkeit.. in der Vielheit wie in der Teilbarkeit, ist unmöglich (vgl. PTG (10) und (12)). Die Prämissen von der "finiten und ungewordenen Anzahl" (siehe oben 1.6 und 1.8!) sind also in PTG (1872/73) schon gegeben. Und daß sich Nietzsehe mit Problemen der Mechanik und der Kräfie im Kontext "Vorsokratiker" mit Hilfe der Naturwissenschal ten des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt hat, zeigt sich auch in PTG (14): Schwerkraft, Anziehung, Abstoßung, Stoß; .und PTG (15): African Spie erkenntnistheoretische Fragen, Kant-Kritik, Zeit-Problem; mechanische Übertragung der Bewegung. In Abschnitt 14, zu Anaxagoras, schreibt Nietzsehe: "alle Veränderung bezieht sich nur auf die Form, die Stellung, die Ordnung, die Gruppierung; auf die Mischung und Entmischung dieser ewigen zugleich existierenden Wesenheiten [...} wie beim Würfelspiel, immer sind es dieselben Würfel, aber bald so bald so fallend" - In den 80-er Jahren sind diese "Würfel" die Kraftquanta. - In PTG Abschnitt 38 19, ebenfalls zu Anaxagoras:· "Jener absolut freie Wille (des bewegenden Nous) kann nur zwecklos gedacht werden, ungefähr nach Art des Kinderspiels". Ist nach Anaxagoras der (willkürliche) Neus der "erste Beweger", so sind für den späteren Nietzsehe die stets aktiven WzM-Quanta, die Boscovich'schen Kraft-Zentren, die "ersten (freien) Beweger", Der WzM-Prozeß ist ebenfalls zweckfrei und ein Spiel von Kräften, vgl. III: 492: "pais paizon". Diese Signal-Metapher aus den 80.:er Jahren zitiert verkürzt das Heraklit-Fragment: "aion pais esti paizon" - "Der Aeon (der Weltzeitprozeß) ist ein spielendes Kind." - (alle Hervorhebungen von S.L.) Heraklits Bewegungs-Triade: Begehren - Sättigung Hybris (Übermut) deutet Nietzsehe so: Die Hybris ist der "neu erwachende Spieltrieb", die Kraft zwn Zerstören und neuen Schaffen. Die Welt ist ein "künstlerisches" Phänomen - nicht "die beste aller Welten"; "Spiel in der Notwendigkeit" (PTG (6), (7) und (8)). Die Notwendigkeit scheint die ewige Bewegung zu sein; das Spiel die (indetenninistischen) Kombinationen. - Die Spielmetapher taucht unter dem Schlagwort "Unschuld des Werdens" häufig auf: Kräfte-Spiel jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sinn und Zweck (vgl. z.B. Zarathustra 1: Von den drei Verwandlungen; H: Aufden glückseligen Inseln). Ergebnis Zwei Problem-Quellen haben Nietzsehe zu seiner metaphysischen Wzlvl-Spekulation geführt: Erstens: die Probleme von Sein und Werden bei den vorplatonischen Physikern und Naturphilosophen haben die WzM-Idee vorbereitet; zweitens: im Rapport zu den zeitgenössischen Naturwissenschaften, in zahlreichen Auseinandersetzungen mit diesen - ich habe nur die wichtigsten angeführt - entwickelt er seine WzMSpekulation. Wesentliche Voraussetzungen für die WzM-Hypothese hat Nietzsehe in der KraftzentrenMetaphysik von Boscovich gefunden. Literatur Siglen zu den Werktiteln lmd Text-Ausgaben: Der Antichrist. A FW Die fröhliche Wissenschaft. GD Die Götzendämmerung. GM Die Genealogie der Moral. JGB Jenseits von Gut und Böse. MA I / MA 2 Menschliches, Allzwnenschliches. MR Die Morgenröte. NIETZSCHES METAPHYSIK-SKIZZE: "DER WILLE ZUR MACHT" . Kanitscheider, B. (1988): Nietzsches Idee des zyklischen Universums vor dem Hintergrund der heutigen physikalischen Kosmologie, in: Albertz, J. (ed) (1988), pp.133-155. Kaufmann, W. (1982): Nietzsche.iPhilosoph - Psy. chologe - Antichrist. Übersetzt von Jörg Salaquarda. Dannstadt. Landolt,S. ! Simons, P. (1991): Nietzsches Metaphysics, in: Burkhardr, H. ! Smith,B. (eds.): Handbock 0/ Metaphysics and Ontology. Munieh, Philadelphia, Vienna. Leibniz, G.W. (1966): Monadologie. Übersetzt von H. Glockner. Stuttgart. Leibniz, G.W. (1966): Füil/ Schriften zurLogik und Metaphysik. Übersetzt und herausgegeben von H. Herring. Stuttgart. Leibniz, G.W. C1966): Hauptschriften zur Gründlegung. der Philosophie. Bd.!1. Übersetzt von A. Buchenan. Hamburg. Leibniz, G.W. (1958): Metaphysische Abhandlung. Hamburg. Meyer, Th. (1991): Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff Tübingen, Meyer, Th. (1993):' Nietische und die Kunst. Tübingen, Basel. Montinari, M. (1976): Nietische Na(:hlaß von 1885 bis 188S oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jörg Salaquarda (ed.) (1980), pp.323-349. Müller-Lauter, W. (1974): Nietisches Lehre 1'01/1 Willen zur Macht, in: Jörg Salaquarda (ed.) (1980), pp.234-287. Salaquarda, J. (ed.) (1980): Nietesche. Darmstadt. SchJechta, K. ! Anders, A. (1962): Friedrich Nietzsehe. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens. Stuttgart, Bad Cannstatt. Vollmer, G. (1988): Kognitive und ethische Evolution und das Denken von Kant und Nietesche. in: Albertz, J. (ed) (1988), pp.81-109. Wittgenstein, 1. (1967): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. U2 Umwertung aller Werte (Nachlaß), 2. Buch; die Ziffern in Klammern geben die Fragment-Nwnmer an. WL Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (Nachlaß). WM Der Wille zur Macht (Nachlaß). PTG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (Nachlaß). 1- III Band I bis III der Schlechta-Ausgabe. Ziffern in Klammern geben die Essay-Nummer an. Friedrich Nietzsche: benutzte Ausgaben: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München 1966. Nietzsche, F.: Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlaß zusammengestellt und herausgegeben von Friedrich Würzbach. München 21977. Nietzsche, F.: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung ai/er Werte. Hg. von Alfred Bäumlet. Stuttgart 1939. Sekundärliteratur: Albertz, 1. (ed.) (1988): Kant und Nietssehe - Vorspiel einer kurfugen Weltauslegung? Wiesbaden. Aristoteles (1966): Metaphysik. Übersetzt von H.Bonitz. Hamburg. Becker, O. (I 936): Nietisches Beweisfür seine Lehre I'on der ewigen Wiederkunft., in: Blduer für Deutsehe Philosophie, 9, pp.368-387 CoIli, G. (1980): Nach Nietische. Frankfurt. Danto, A.C. (1965): Nietische as Philosopher. New York. Darwin, Ch. (185911967): Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übersetzt von Carl W. Neumann. Stuttgart. Gerhardr, V. (1992): Friedrich Nietische. München. Heidegger, M. (1961): Nietische. Bd 11. Pfullingen. HelmhoItz, H. v. (1879): Die Thaisachen der Wahrnehmung. Berlin. 39 KRITERION, Nr.8 (1994), pp.40-42 REZENSION Forrest, Frank G.: Valuellletrics~. The Science o( . sets and then maintains falsely that the distinction into countable and non-countable infinite sets be an Professional and Personal Ethics (Value Inquiry infinite analogue to this elassification. What Forrest Book Series 11). Amsterdam - Atlanta GA (Rodopi) hasto say about the cardinality of such sets is re1994. XIV+179 pages. Hfl 60.-IUS$ 35.markable: "The number n is the cardinality of any fixed finite set, and k is the cardinality of any elastic High are the aspirations of FrankG. Forrest who has finite set. Quantitatively, k is greater than n (k> n)" presented with "Valuemetrics'?" a book that pretends (p.5). Forrest, so it seems, really tries to tell us that in its subtitle to provide a "science of professional the cardinality of finite sets (an "ontological measand personal ethics". Forrest's main objective is to present a method that allows calculation in an objec- ure" so to speak) depends on the knowledge of their tive way, without taking re course to intuition 01' members and that those sets whose members are known (to us, to God, 01' to Forrest perhaps?) all have moral norms, considering solely the semantic properthe same cardinality, the latter being smaller than the ties of the concepts used in an act's description, the cardinality cornmon to all sets some of whose mernmoral value of that act. At least three objections can be mounted against his account. Firstly, his notion of bers are unknown. In section 4, "Concepts", Forrest lets up on mathematics and begins to attack semanconcept is dubiousas to its correctness. Secondly, his ties. He introduces three notions: that of a"meaning assignment of values to concepts seems rather arbiset", that of a referent set and finally a set "of actual trary, and in important cases it can even be shown to properties which a particular member of REF [the rest on outright falsities. And, finally, the mathereferent set, rem.] possesses". None of these notions matics underlying his calculations are flawed in sevis defined and only that ofa referent set may be fainileral respects. We substantiate our criticisms in due iar through common phi!osophical usage. The meancourse. Forrest starts with the observation that ing set of "book" according to Forrest is "M book = "goodness" is the basic phenomenon of ethics and {document, pages, written 01' printed material, bindpresents a sketch of adefinition: "Goodness is clegree of concept meaning fulfillment." He tries to elarify ing, 00" covers}". What is this supposed to mean? One interpretation would be that this set contains all, this sketch by pointing out that "goodness is the degree that the set of actual properties of something another that it contains some of the possible defining properties of "book". A further interpretation, sugcorresponcls with the set of names of properties gi ven gested by some of Forrest's remarks, is that it conin the thing's concept" (p.2). Hedoes not, however, provide any formally correct definition and, as will tains all possible properties of books whatsoever. be shown, his account of "concept meaning fulfillHowever, as his further remarks reveal, noneof these ment" is, in all of its likely interpretations,entirely interpretations will do. Forrest distinguishes three untenable. Forrest concedes that "[tjhis conception of types of concepts. "Type 1" concepts have "a fixed goodness is different from people's generalunderfinite meaning set. All members are known. The standing of the word" (p.2). That it is indeed. Therecardinality of this set is n. A square, for instance, has fore, even if tlie definition were formally correct and four properties: (I) geometrie figure, (2) four sides the meaning of the definiens were sufficiently elear, [00'] A square cannot exist unless all these and only it would still fai! to be materially adequate. As comthese properties are present" (p.7). Does Forrest try to monly acknowledged, to render a pre-scientific contell us here that a square has exactly four properties? cept scientific, it is not sufficient to replace it by A square has certainly more than four properties. One some arbitrarily chosen scientific concept. In addican argue that it has indeed infinitely many propertion, the terms' meanings should coincide in relevant ties. A square has in addition to those mentioned for use as much as possible. It cannot be doubted, not instance the properties of being abstract, of not being even by Forrest himself, that this is not true for his identical with the number one, not being iclentical notion. Why call it "goodness" then? Forrest conwith the number two., and so forth. Finally, it is not fronts us then with what he thinks to be "elements of unreasonable to believe that a square has properties set theory": The things he tells us here sound rather unknown to anyone of us, be it only for the simple strange. First, he introduces an epistemic classificareason that some mathematical theory that exhibits tion unknown to standard mathematics of finite sets these properties has not been invented yet (does, into fixed finite sets and elastic finite sets: "Fixed therefore, a square have "cardinality k"?). This sugfinite sets have members all ofwhich are known. [00'] gests that whai Forrest has in mind when speaking Elastic finite sets have members some of which are about properties are not properties simpliciter but unknown" (pA). Here Forrest confounds, for no apdefining properties. However, even this won't work. parent reason, ontological and epistemic properties of A square may be defined in several different ways 40 REZENSION FRANK G: FORREST: VALUEMETRICS~ using other properties than those mentioned above. Moreover, this interpretation of Forrestian "properties" would not square with his view of "Type 11" and "Type 1II" concepts: "A referent of a Type II concept must possess a certain number of properties contained in the meaning set to be a member of the class of things named by the concept. However it need not possess aIJ the possible properties named in Mc [the meaning set, rem.]" (p.9). The referent of a term must certainly exhibit all the properties used in the term's definition. As an example of a "Type Il" concept Forrest cites the word house and as a mernber of its meaning set he presents porch: A house need not possess a porch, but one that does is according to Forrest "bettet" than one that does not. Type IIT concepts, finally, "refer to people". Examples, accoreling to Forrest, are human being, person and girl. He takes these concepts to have infinite meaning sets. His argument for this falls far Sh0l1 of being conclusive. Ir runs as folIows: "The set of properties of a person is a set of sets. [...] The infinite set of thoughts people possess is among the mernbers of the set of sets that cornprise their complete set of properties" (p.II). Further. "[a] set of sets having one or more infinite members is infinite" (p.II). Therefore the meaning set of person is infinite. That all this is utterly false reveals a simple example. Let No and Ne be the sets of all oeld and all even natural numbers respectively, both of which are clearly infinite. The set S =i N,,, NJ, however, is finite only, containing exactly two members. Note that 2 E Ne andN, E S but 2 g S, i.e. the elementhood-relation is, contrary to Forrest's tacit assumption, not transitive. A further. rninor objection can be mounted against the first assumption. The actual explicit thoughts of a person at a given time as well as during his entire life span are certainly only finite in number. What are we supposed then to understand by the "infinite set of thoughts of a person"? . FOJTest, as already noted, is aware of the fact that his use of the terrn "goodness" "is at variance with its ordinary usage. So there arises the neeel to relate his tenn to the familiar one. To this enel, he is coining two novel terms: "concept composition" and "concept transposition". He introduces them in chapter two as folIows: "When meanings interact positively, the concept combination is compositional. [...] Negative interaction is transpositiona]" (p.28). No definitions are given, again we have to make do with examples. According to FOlTest the terms brand new and (:ar, tür instance, interact positively, in contrast to the tenns dalllage anel car, which are saiel to interact negatively. This, he argues, is due to the fact that the term brand new "deepens" the meaning of (:ar, whereas "merging the meanings" öf dwnage and car "produces patiial depletion of the meaning of the concept car'' (p.29). Forrest unsuccessfully tries to clarify his views by way of two "analogous" illustrations from chemistry anel geometry, He gives illustrations where elefinitions are baelly needeel. Interesting results which reflect Forrest's mastery of modem mathematics are presented in chapter 3under the title of "Hartmanean Algebra". Forrest begins to redefine set theoretical notions, - "(A v B) is the set whose elernents are the.elements of both set A anel set B" (this is in fact the elefinition of intersection) - to turn then to an original presentation of cardinal number arithmetic: "Let A anel B be any two fixeel finite sets. Then card A = n anel card B = n. Therefore, card (A v B) = n + n (elefinition of union). But, (A vB) also is a fixed finite set. Thus card (A vB) = n. Therefore, n + n = n which means that the sum of any two finite numbers is a finite number" (p.42). Forrest succeec\s in packing four basic errors into this sm all passage. We will discuss them in some detail since they repeateclly peep out of several subsequent pages. First, from A and B being two finite sets ("fixeel" or not) it eloes not follow that they have the same cardinality. The seconel mistake consists in believing that for any finite sets A anel B and any cardinalities n, m if card /}- = n and card B = m then carel (A vB) = n + m. This is true only if A anel Bare elisjoint, as is easily shown by way ofan example: Let A= {I, 2, 3} and B = {2, 3, 4}, thus (AvB) = {I, 2, 3, 4}. Obviousl y, carel A = 3, carel B = 3, anel, contrary to Forrest's erroneous assumption, card (A v B) :cf- 6. Thirdly, that a set is finite, eloes not entail that its cardinalityis n. Finally, the fact that the sum of any two numbers is a finite number is not expressed by "n n = n". This equation teils us, in fact, that a number n that is addeel to itself is the number itself, whichis truefor n = 0 but false for all other finite + cardinal numbers. In our criticism of the above passage we have tacitly assumecl that the "n" is usecl as a constant. The only other possibility would be to assume its use as a variable. In that case the quote would either not contain any single sratement expressing a fact, but merely open statell1entfimctions, that do not express anything at all, or, alternatively, one woulel be forced to asslllne all variables to be in the scope of an implicitly assumed quantifier, The question then is what kinel of quantifier? The equation n» = n on p.44, for example, is true for n = J but false for all other carclin'.ll numbers of a finite set, so it cannot be a universal quantifier timt is intended here. An existential quantifier, on the other hand, would be mllch too weak for Forrest's purposes. Forrest never cIarifies his use of his n's and k's but informs us on pp. 5 and 33 that n and k are supposed to be "general finite nUll1bers". Not only for the reason that such nUll1hers, exhibiting the properties attributeel to them by For- ./ 41 KRITERION under the label of "Hartmanean Algebra" imply this principle. What else then is the justification for this nonnative statement? Itis not worthwhile to waste any more ink by discussing in any detail the rest of the book. On the subsequent pages, Forrest tries to apply the tools discussed and seeks to establish by scienitific means alone that, for instance, "capital punishmentis justified for murder" (p.99) and that "rape or incest justify abortion prior to 24 to 26 weeks after conception, but not beyond" (p.ISl). Any such procedure purporting to establish the validity ofnonnative statements without recourse to other nonnative statements has been, since David Hume, subject tö profound objections. There fore, some remarks of Forrest's addressing this problem were to be expected here. He seems, however, to befully unaware of the philosophicaJ problems his enterprise raises. The last chapter "Afterword and Outlook" terminates in an announcement that might sound like a threat to some ears: "[ cardinal number arithmetic] is a blunt tool and has limitations. These difficulties possibly can be overcome using quantum wave theory in lieu of set theory [...]. Quantum ethics is plausible. It may evolve in the near future" (p.170). The book combines lack of basic mathematical expertise with an untutored view of semanties and careless philosophical thought. Buying this book is a waste of money, reading it a waste of time. In Austria, Rodopi is known as the publisher of the Grazer Philosophische Studien and other high-quality publications. With books like this, however, Rodopi is very likely to lose the reputation it has acquired. rest. are foreign to contemporary mathematics and, thus, might possibly constitute a major innovation, but also for the sake of clarity, it would be very nice indeed to dispose of a definition of such nwnbers. The following pages are vitiated by errors some of which have already been discussed. All this makes a detailed review virtually impossible. Suffice it to address two selected points. As may be well known, one and the same fact or situation may be correctly described in more than one way, using different words. A case of murder, for example, is amenable to various differing but true descriptions, some of which are prima facie neutral as to the moral status of the murder. some of which are implicitly approving or disapproving. Since Forrest's calculations - that cannot be presented here for the aforementioned reasons - are so tightly fixed on the words that occur in the descriptions of a particular case, it is very likely that even if the devastating tlaws mentioned above did not exist, they would still fail to be correct on account of their linguistic relativity, ar least I cannot see anything in Forrest's account that would rule this out. On p.S9 Forrestmakes use of a principle of "Value Creation" the status of which is dubious. The principle tells us to "[slelect courses of action[...] that result in value creation or that, secondarily, arevalue neutral" and to "avoid those that depreciate it". Forrest contends that parts of Hartmanean Algebra be "the basis" for this principle, but it is not clear in what sense "basis" is to be taken here. As far as I can make out, there is nothing (except perhapsfor the principle ex contradictione quodlibeti that would justify the claim that the mathematics presented in this .book Hanspeter Fet: 42 KRITERION 43 KRITERION DIE AUTOREN STEPHAN LANDOLT, geboren 1945 in NiederumenJSchweiz, studierte in Salzburg Philosophie, Psychologie, Zoologie und Germanistik. Er promovierte in Philosophie und unterrichtet seit 1972 an der Universität Salzburg. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderen Artikel zu wissenschaftstheoretischen Fragen der Psychoanalyse sowie Aufsätze zu Nietzscheund Goethe. Adresse: Universität Salzburg, Institut für Philosophie, Franziskanergasse 1, A-5020 Salzburg, Österreich (Austria) OTTONEUMAIER, 1951 in Dornbirn geboren, studierte von 1970 bis 1979 Philosophie und Deutsche Philologie in Innsbruck, Seit 1980 ist er Assistent am Institut für Philosophie der Universität Salzburg. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Biologische und soziale Voraussetzungen der Sprachkampeten: (1979). Wissen und Gewissen (Hrsg., 1986), Vom Ende der Kunst (1989), Mentalismus in der Cognitive Science (1989), Individuelle und kollektive Verantwortung (1990), Die Bedeutung von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen in der Ethik (1991). Adresse: Universität Salzburg, Institut für Philosophie, Franziskanergasse I, A-5020 Salzburg. Österreich (Austria) 44