Vorlesung Theoretische Chemie I (Prof. Dr. Georg Jansen) Die theoretische Grundlage des MO-LCAO-Verfahrens, in dem Molekülorbitale (MO) durch Linearkombination (LC) von Atomorbitalen (AO) gewonnen werden, ist das Variationsprinzip Ẽ = hΨ̃|Ĥ|Ψ̃i ≥ E0 , hΨ̃|Ψ̃i (1) welches besagt, dass der mit einer Testwellfunktion Ψ̃ berechnete Energieerwartungswert Ẽ niemals unter der exakten Grundzustandsenergie E0 des Hamiltonoperators Ĥ liegen kann. Die Testwellenfunktion wird dabei übrigens nicht als normiert vorausgesetzt, sie muss aber selbstverständlich normierbar sein. Das Variationsprinzip lässt sich im Variationsverfahren zum Auffinden möglichst guter Näherungen der Grundzustandwellenfunktion und -energie benutzen. Dazu wählt man Klassen von Testfunktionen, die auf irgendeine Art und Weise von Parametern abhängen und variiert diese Parameter so lange, bis man die tieftstmögliche Energie bekommen hat: dann ist man zumindest so nahe an der tatsächlichen Grundzustandsenergie, wie es mit der gewählten Klasse von Testfunktionen überhaupt möglich ist. Das ist immerhin etwas - auch wenn man am Ende nicht wissen kann, wie weit weg man denn nun wirklich von der exakten Lösung ist (dazu müsste man diese ja kennen . . .). Die Qualität der Näherung hängt dann letztlich vom eigenen Geschick bei der Auswahl der Klasse von Testfunktionen ab. Damit spielt die Erfahrung“ - die eigene, oder die von Kollegen ” also nicht nur bei chemischen Synthesen, sondern durchaus auch in der theoretischen Chemie eine wichtige Rolle. . . Immerhin hat man mit dem Variationsprinzip aber auch ein Kriterium an der Hand, zu entscheiden, welche der bisher vorgeschlagenen Näherungslösungen denn nun die beste ist: einfach diejenige, die das tiefstliegende Ẽ gebracht hat. Der vielleicht einfachste Ansatz für eine Testwellenfunktion besteht in der Linearkombination von Basisfunktionen“: ” n X Ψ̃(~r; c1 , c2 , . . . , cn ) = ci χi (~r). (2) i=1 Die Basisfunktionen χi (~r) sind dabei fest vorgegeben (von Ihnen selber gewählt, oder Sie wurden Ihnen von erfahrenen Kollegen empfohlen. . .), sie hängen natürlich 1 ansonsten von der Ortskoordinate ~r des Elektrons ab (oder von den Koordinaten und Spins aller Elektronen, bei Mehrelektronensystemen). Die Koeffizienten ci in dieser Testwellenfunktion sind die Parameter, nach deren besten Werten wir im linearen Variationsverfahren“ suchen. Sie sind i.a. komplexwertige Zahlen, in ” den meisten praktischen Anwendungen aber auch einfach reellwertige Zahlen. Das H+ 2 -Molekülion in der bietet ein übersichtliches Beispiel zur Durchführung des linearen Variationsverfahrens. Der Hamiltonoperator sei hier der in der BornOppenheimer-Näherung eingeführte elektronische Hamiltonoperator des H+ 2 für irgendeine von uns gewählte fixe Anordnung der Atomkerne A und B: ~ A, R ~ B ). Ĥ = Ĥel (R (3) Bei großen Abständen zwischen den Atomkernen wird das Elektron mal bei dem einen Atomkern sein - und dann vom anderen Atomkern wenig merken“, mal ” wird es umgekehrt sein. Ist das Elektron bei einem der Atomkerne, wird es sich wohl wie ein Elektron in einem an diesem Atomkern lokalisierten 1s-Orbital verhalten. Daher liegt folgender Ansatz für die Testwellenfunktion nahe: Ψ̃(~r; c1 , c2 ) = c1 χ1 (~r) + c2 χ2 (~r), (4) wobei χ1 (~r) ein 1s-Orbital am Atomkern A und χ2 (~r) ein 1s-Orbital am Atomkern B sei. Damit müssen wir die folgende Funktion minimieren Ẽ(c1 , c2 ) = hc1 χ1 + c2 χ2 |Ĥ|c1 χ1 + c2 χ2 i , hc1 χ1 + c2 χ2 |c1 χ1 + c2 χ2 i (5) die wir mit Hilfe der Definition der Hamiltonmatrixelemente“ ” Hij = hχi |Ĥ|χj i, (6) und der Überlappungsintegrale“ ” Sij = hχi |χj i (7) umschreiben können in Ẽ(c1 , c2 ) = c∗1 c1 H11 + c∗1 c2 H12 + c∗2 c1 H21 + c∗2 c2 H22 . c∗1 c1 S11 + c∗1 c2 S12 + c∗2 c1 S21 + c∗2 c2 S22 (8) Man beachte, dass die Hij und Sij in diesem Ausdruck einfach Zahlen sind: es handelt sich ja um definite Integrale über Größen (die beiden Basisfunktionen 2 χ1 und χ1 sowi ggfs. der Hamiltonoperator), die alle vorab bekannt sind. Diese Integrale mögen durchaus kompliziert zu berechnen sein, aber hier kommt es nur darauf an, dass das prinzipiell immer geht. Der Einfachheit halber nehmen wir jetzt mal an, dass die Koeffizienten c1 und c2 reellwertig gewählt werden können (c∗i = ci ). Die beiden 1s-Orbitale als die verwendeten Basisfunktionen sind ohnehin reellwertig, so dass gilt H21 = hχ2 |Ĥ|χ1 i = hĤχ2 |χ1 i = hχ1 |Ĥ|χ2 i = H12 , (9) da Ĥ ein hermitescher Operator ist. Ferner gilt natürlich S21 = S12 . Somit haben wir letztlich folgende Funktion zu minimieren Ẽ(c1 , c2 ) = c1 c1 H11 + 2c1 c2 H12 + c2 c2 H22 . c1 c1 S11 + 2c1 c2 S12 + c2 c2 S22 (10) Da wir wissen, dass im Minimum einer Funktion ihre ersten Ableitungen nach allen Variablen der Funktion verschwinden müssen, verlangen wir ∂ Ẽ(c1 , c2 ) ∂ Ẽ(c1 , c2 ) ! = = 0. ∂c1 ∂c2 (11) Nennen wir den Zähler in obigem Ausdruck mal Z(c1 , c2 ) = c1 c1 H11 + 2c1 c2 H12 + c2 c2 H22 (12) N (c1 , c2 ) = c1 c1 S11 + 2c1 c2 S12 + c2 c2 S22 , (13) und den Nenner dann gilt unter Verwendung der Produkt und der Kettenregel für die Ableitungen ∂ Ẽ(c1 , c2 ) ∂ = ZN −1 ∂c1 ∂c 1 ∂N −1 ∂Z −1 N +Z = ∂c1 ∂c1 ∂Z ∂N −1 −2 = N − ZN ∂c1 ∂c 1 ∂Z ∂N ! = N −1 − ẼN −1 = 0. ∂c1 ∂c1 Die Bedingung in der letzten Zeile ist äquivalent zu ∂N ∂Z ! − Ẽ =0 ∂c1 ∂c1 3 (14) (15) Wenn wir jetzt noch ausrechnen, dass ∂Z(c1 , c2 ) = 2 (c1 H11 + c2 H12 ) ∂c1 (16) sowie ∂N (c1 , c2 ) = 2 (c1 S11 + c2 S12 ) , ∂c1 können wir die Bedingung (15) explizit als (17) ! (H11 − ẼS11 )c1 + (H12 − ẼS12 )c2 = 0 (18) schreiben. Auf vollständig analoge Art und Weise erhalten wir aus der Bedingung, dass die erste Ableitung von Ẽ nach c2 verschwinden soll, ! (H12 − ẼS12 )c1 + (H22 − ẼS22 )c2 = 0. (19) Die Bedingungen (18) und (19) stellen zusammen zwei lineare Gleichungen für die beiden Unbekannten c1 und c2 dar, die sich in Matrixschreibweise auch so formulieren lassen ! ! ! H11 − ẼS11 H12 − ẼS12 c1 0 = . (20) H12 − ẼS12 H22 − ẼS22 c2 0 Wegen H12 = H21 (nach Voraussetzung, siehe weier oben) kann man dies auch hinsichtlich der Indizes - noch etwas konsistenter schreiben als ! ! ! H11 − ẼS11 H12 − ẼS12 c1 0 = . (21) H21 − ẼS21 H22 − ẼS22 c2 0 Spätestens an dieser Stelle sollte uns auffallen, dass ja auch noch der Wert von Ẽ selber unbekannt ist - wir scheinbar also nur über zwei Gleichungen für drei Unbekannte verfügen. Das ist der Zeitpunkt, sich Gedanken darüber zu machen, wann die obigen Matrixgleichungen denn überhaupt lösbar sind. Und hier gilt ein Satz aus der linearen Algebra der besagt, dass ein Problem der Art Matrix mal ” Vektor gleich Nullvektor“ nur dann eine sogenannte nicht-triviale“ Lösung hat, ” wenn die Determinante der Matrix verschwindet. Die triviale Lösung wäre c1 = c2 = 0 - die ist aber physikalisch völlig uninteresant, da dass das Verschwinden der Wellenfunktion bedeuten würde. Die Bedingung H − ẼS 11 11 H12 − ẼS12 ! (22) =0 H21 − ẼS21 H22 − ẼS22 ist die benötigte dritte Bedingung zur Bestimmung der Größe Ẽ. Man bezeichnet diese Bedingung als Säkulargleichung“ und die darin vorkommende Determinan” te als Säkulardeterminante“. ” 4