06.11.2014 Dr. P. Grampp 1 1. Stufe der Schuldfähigkeitsbetrachtung 06.11.2014 Dr. P. Grampp 2 Zweistufiges Modell •bestimmte psychische Befunde Stufe I •normativ wertende Elemente: „krankhaft“, „tiefgreifend“ und „schwer“ (Bezug auf die psychiatrische Diagnose) •Die Entscheidung darüber verbleibt letztlich beim Gericht •Auswirkungen der in Stufe I benannten Befunde auf die Fähigkeit, Stufe II •das Unrecht der Tat einzusehen oder •nach dieser Einsicht zu handeln. 06.11.2014 Dr. P. Grampp 3 1. Stufe der Schuldfähigkeitsbeurteilung Krankhafte seelische Störung andere schwere seelische Abartigkeit Kreis der Psychische Zustände, bei denen ein Ausschluss der Schuldfähigkeit in Betracht Sonderausschuss Strafrecht gemeinsam mit Vertretern von Psychiatrie und Psychologie entwickelt Schwachsinn Man kann sie in tiefgreifende ihrer Zuordnung und BewußtseinsUnterscheidung nur störung verstehen, wenn man von der Gesetzgebungsgeschichte ausgeht. 4 06.11.2014 Dr. P. Grampp Klassifikationssysteme Diagnosesystem • neuere in der Psychiatrie entwickelten diagnostischen Klassifikationssysteme • ICD-10 (WHO) • DSM IV (American Psychiatric Association) ICD-10 • Zustandsbilder werden deskriptiv anhand einer Symptomliste zugeordnet (z.B. über Checklisten) • Grundbegriff: „Störung“ • Verzicht auf eine ursachenabhängige Zuordnung • Kein Zusammenhang mit den gesetzlichen Merkmalen der ersten Stufe der §§ 20 und 21 StGB • Gefahr des Abprüfens (Proband wie Gutachter) • Kriterien sind unscharf, interpretationsbedürftig 06.11.2014 Dr. P. Grampp 5 Negative Formulierung der Schuldfähigkeit „Ohne Schuld handelt, wer […]“ zweistöckige „psychisch-normative Methode“ (1) Erster Stock (Stufe) vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB Zweiter Stock (Stufe) Hatte der festgestellte psychopathologische Zustand Auswirkungen auf die Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit des Täters 06.11.2014 Dr. P. Grampp 6 Schuldunfähigkeit § 20 StGB (§21 StGB für die Schuldminderung Schuldausschluss Verbindung von Ursache und Wirkung muss als Folge seiner geistigen oder seelischen Störung unfähig sein, das Unrecht der Tat einzusehen unfähig Unrecht einzusehen Dabei können auch mehrere Eingangsmerkmale bestehen vermindert befähigt Unrecht einzusehen vermindert befähigt nach der Einsicht zu handeln Unfähig nach der Einsicht zu handeln 06.11.2014 Dr. P. Grampp 7 Klarer Ablauf Stufe 1 •Eingangsmerkmal (formaler Ordnungsbegriff) •Vier Kriterien •Es muss dann immer die Frage der Schuldunfähigkeit zu prüfen Stufe 2 •Krankheit führt nie automatisch zur Schuldunfähigkeit (2) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 8 krankhafte seelische Störung frühere Formel „krankhafte Störung der Geistestätigkeit Störung: „nicht normale Zustand“ •erworbene •angeborene, •vorübergehende u •dauernde Beeinträchtigungen „krankhaft“ •seelischer Sinnzusammenhang ist durch einen sinnfremden, körperlichen Krankheitsvorgang gestört •nachweisbare oder zumindest postulierte organische Prozessen •alle Arten von Störungen der Verstandestätig, des Willens-, Gefühls- oder Trieblebens, die die Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (BGHSt 14,32) Anm. Die Voraussetzung der Somatogenie ist fraglich, da alle psychischen Entäußerungen somatisch sind 06.11.2014 Dr. P. Grampp 9 Was zählt zu den krankhaften seelischen Störungen Somatisch bedingte Erkrankungen Exogene Psychosen (z.B. Demenzen uä) Endogene Psychosen Physiologische und Pathologische Rauschzustände 06.11.2014 Dr. P. Grampp 10 Krankhaften seelischen Störungen – Endogene Psychosen Postulierte somatische Ursache •schizophrene Störungen •affektive Störungen (Manische /depressive/bipolare Formen) Akuter Schub / floride schizophrene Symptomatik •fast durchweg Schuldunfähigkeit (Einsichtsunfähigkeit) Leichte Residualzustände •erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit Vollremittierten, ehemalig schizophrenen Patienten •volle Schuldfähigkeit ist möglich •wenn das Delikt aus dem Leben des Menschen heraus normalpsychologisch nachvollziehbar ist 06.11.2014 Dr. P. Grampp 11 Krankhaften seelischen Störungen – Exogene Psychose nachweisbare hirnorganische Ursache • traumatische Psychosen aufgrund von Hirnverletzungen, Infektionspsychosen • hirnorganische Krampfleiden • Hirntumore, hirnorganisch bedingter Persönlichkeitsabbau im Sinne der Demenz • hirnorganische Schädigungen infolge längeren Drogenkonsums • Intelligenz- und Persönlichkeitsabbau bei chronischen Alkoholikern • körperliche Abhängigkeit von psychotropen Substanzen • reversible Intoxikationspsychose in Form der Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenintoxikation 06.11.2014 Dr. P. Grampp 12 Krankhafte seelische Störungen – Alkoholrausch Häufigst vorkommende Intoxikationspsychose Kein schematisches Vorgehen •unterschiedliche Auswirkungen auf Personen und in verschiedenen Tatsituationen •starke Alkoholgewöhnung oder –toleranz kann auch bei einer BAK von 3 ‰ nur mit geringen Ausfallserscheinungen einher gehen, andere sterben dann Anhaltspunkte •Ab einer BAK von 2 ‰ Prüfen einer Dekulpierung •Ab einer BAK von 3 ‰ Prüfen der Exkulpierung •Je höher die BAK, je kürzer die Zeit zwischen der Tat und der Blutentnahme, je alkoholungewohnter der Proband, desto größer ist der Indizwert der BAK. 06.11.2014 Dr. P. Grampp 13 Krankhafte seelische Störungen –Alkoholrausch BAK Rückrechnung •Anhand der Trinkangaben •Anhand der Symptomatik •Persönlichkeitsfremdheit der Tat •Sinnlosigkeit des Rauschverhaltens, Reaktion auf Unvorhergesehenes •Äußerliche Ausfallserscheinungen Abnorme Alkoholreaktion •Im Rahmen einer Hirnorganik •Außergewöhnlich starke Ausprägung der Intoxikation, Streitsucht, Gereiztheit •Differentialdiagnose: Epileptischer Anfall bei Intoxikation und postiktaler Erregungszustand 06.11.2014 Dr. P. Grampp 14 Das Merkmal der tiefgreifenden Bewußtseinsstörung Trübung bzw. Ausschaltung des Selbst- bzw. Außenweltsbewusstseins •Fähigkeit zur Vergegenwärtigung des intellektuellen und emotionellen Erlebens •Form der Desorientierung Bewusstsein •nicht aufgehoben •Sondern eingeengt •Tiefgreifend entsprechend einer krankhaften seelischen Störung normalpsychologische Störungen •Schlaftrunkenheit, Erschöpfimg, Übermüdung •vor allem hochgradige Affekte (Affekttat) •Schwergradiger Affekt 06.11.2014 Dr. P. Grampp 15 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung– Affekttat Hochgradiger Affekt • Einmalige Lebenssituation • Biographie ist leer • Problem: Tötungsdelikte sind oft affektbeschwert (25%) Psychisch • meist gesunde Personen: Persönlichkeitsfremdheit • Spezifische Vorgeschichte • Psychopathologische Vordisposition • konstellative Faktoren (Alkohol, Medikamente, Übermüdung) • abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen • charakteristischer Affektaufbau und –abbau • Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung • Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe • Missverhältnis zwischen Tatanstoß und Reaktion • Erinnerungsstörungen, • Störung der Sinn- und ErlebnisKontinuität 06.11.2014 Dr. P. Grampp 16 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung–Affekttat Unverschuldeter Affekt • Konflikt wird ganz überwiegend vom Opfer verursacht • Beschwört Entladung herauf • Panik, Furcht, Schrecken, weniger Wut, Hass, Verschuldeter Affekt • Täter hätte konkret den Affektaufbau verhindern können • Z.B. Mitnahme einer Tatwaffe gefahrerhöhende Handlungen • Verschuldensprüfung beschränkt sich auf die Genese des zur Tat führenden Affektes (nicht Alkoholisierung) • Wirkt der Täter einem Beziehungskonflikt entgegen 06.11.2014 Dr. P. Grampp 17 Das Merkmal „Schwachsinn“ Defekte der Intelligenz •Nicht erworben (z.B. Demenzen) •Keine organische Befunde Feststellung •lebensgeschichtliche Daten •Verhaltensbeobachtung •psychodiagnostische Gespräch •Lebenskompetenzeinschätzung (Kompetenzbereiche) •Testverfahren Problem das mit Gutachten ausgeglichen wird •Feineinschätzung ist nötig, •Risiko für Juristen: „falsch positiv, falsch negativ) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 18 Das Merkmal „Schwachsinn“ Neben der IQ- Testung ist die klinische Beschreibung wesentlicher Bestandteil der Diagnose leicht Mittel schwer •HAWI IQ 50-69 •HAWI IQ 35-49 •HAWI IQ 20-34 •Debilität •Imbizillität •Mentales Alter: 9 12 Lj •Mentales Alter: 6-9 Lj 06.11.2014 Dr. P. Grampp Schwerst •HAWIUnter 20 19 Merkmal „schwere andere seelische Abartigkeit“ 06.11.2014 Dr. P. Grampp 20 Persönlichkeitsstörungen Definition •Ungewöhnliche Ausprägungen von Persönlichkeitszügen, des Charakters und des Temperaments •erhebliche subjektive Beschwerden oder Mängel sozialer Anpassung (vgl. Saß 1988, S. 14). Neuerliche Konkretisierungen •um eine Ausweitung der Exkulpierung zu verhindern •Saß (a.a.O., Kröber 1995, S. 538 ff.) und Schorsch (1988, S. 110 ff.) •Symptomhäufung •die progredient zunehmende Okkupierung des Erlebens durch das Symptom •Einengung der Lebensführung und Realitätswahmehmung •Stereotypisierung des Verhaltens, etwa bei sexuellen Deviationen, •emotionale Labilisierung, insbesondere unter depravierenden Lebensumständen 06.11.2014 Dr. P. Grampp 21 Persönlichkeitsstörungen besonders auffällige Persönlichkeitsstrukturen •Andauernd •beginnt bereits in der Kindheit oder Jugend •Manifestiert sich im Erwachsenenalter Für die Betroffenen •erhebliche subjektive Leiden •deutliche Leistungseinschränkungen Idealtypen (Prädeliktionstypen) •paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile und BorderlinePersönlichkeiten, außerdem histrionische (früher hysterische), anankastische, ängstliche und abhängige Persönlichkeiten sowie narzistische und schizotype Persönlichkeitsstörung 06.11.2014 Dr. P. Grampp 22 Persönlichkeitsstörungen dissoziale Persönlichkeitsstörungen Ausprägung Rechtsprechung verlangt daher eine relativ genaue Qualifizierung Defizite vergleichbar mit forensisch relevanten krankhaften seelischen Verfassungen 06.11.2014 Dr. P. Grampp 23 Persönlichkeitsstörung und Dekulpierung Borderline •Besondere Probleme bei der Diagnose der Borderline Persönlichkeitsstörung •entscheidend Qualität und die Intensität der Persönlichkeitsstörung •Unterschied zur Psychose: Qualitativer Unterschied; die Realitätsprüfung, Objektbeziehungen und Ich-Funktionen •zeitlich überdauernden, im Regelfall lebenslanger Zustand •Diagnostische System ist exakt zu definieren (Gefahr mit der Verwechslung mit dissozialer Störung) •Getrennt davon muss die Entscheidung der als „schwere andere seelische Abartigkeit“ begründet werden 06.11.2014 Dr. P. Grampp 24 Sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen Paraphilien oder sexuelle Deviationen Meist Pädophilie, Exhibitionismus Selten Voyeurismus, Sadomasochismus, multiple Störung der Sexpräferenz Anlass der den „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“ nach einer ausführliche Sexualanamnese Prüfung des Anteils der Paraphilie an der Sexualstruktur /Persönlichkeitsgefüge Fähigkeit des Probanden zur Kontrolle paraphiler Impulse Beurteilung der Steuerungsfähigkeit die sehr seltene Exkulpation Kriterium der „Süchtigen Entwicklung“ 06.11.2014 Dr. P. Grampp 25 Sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen der Täter vermag selbst bei Aufbietung aller ihm eigenen Willenskräfte ihm nicht zu widerstehen bei naturwidriger Triebhaftigkeit (z.B. Pädophilie) dekulpeirt schon ein Trieb durchschnittlicher Stärke Verfall an Sinnlichkeit dranghafte Unruhe, Unrast, Fahrigkeit, Reizbarkeit steigende Frequenz der sexuellen Betätigung bei abnehmender Satisfaktion; Sucht: ; Süchtigkeit des Erlebens; Ausbau von Phantasie, Praktik, Raffinement; Promiskuität und Anonymität; 06.11.2014 Dr. P. Grampp 26 Suchtkrankheiten Alkohol- Drogen- Medikamentensucht • Opioide • Sedativa • Cannabinoide • Hypnotika • Kokain • Koffein • sonstige Stimulanzien • Halluzinogene • Tabak • flüchtige Lösungsmittel • sonstige psychotrope Substanzen 06.11.2014 Dr. P. Grampp 27 Sucht zählt zu den schweren anderen seelischen Abartigkeiten •Schließt allerdings Schuldunfähigkeit nicht von vornherein aus •Rechtsprechung ist zurückhaltend •Einzelfälle verminderte Schuldfähigkeit Abhängigkeit •Direkter Zusammenhang mit Beschaffung •Zwanghaft, ohne Absicherung usw. •Toleranzsteigerung •Gewöhnung •Dosiserhöhung •Zwang Substanz einzunehmen •u.a. Persönlichkeitsveränderung Suchtmittel 06.11.2014 Dr. P. Grampp 28 Nicht stoffgebunde Süchte Kein einziger Fall mit vollständiger Exkulpation, Oder einer erhebliche Verminderung der Steuerungsfähig keitkeit krasse Fällen psychische Defekte und Persönlichkeit sänderungen Spielsucht ICD-10 F63.0; DSM-IV-R 312.31 Ex/Deculpierung einer Spielsucht ist in der psych. Literatus umstritten Pyromanie ICD-10 F63.1 Kleptomanie ICD-10 F63.2 06.11.2014 Dr. P. Grampp 29 Wann können Impulskontrollstörungen relevant für die Schuldfähigkeit sein? Bedingung wären • Symptome für umfassendere psychopathologische Auffälligkeiten Oft über Komorbiditäten doch prüfungsrelevant • Hier insbesondere über schwere Persönlichkeitsstörungen 06.11.2014 Dr. P. Grampp 30 Relevanz für die Schuldfähigkeit Relevanz •Schwere, Grad der Störung •Einfluss auf das Handlungsgefüge des Täter Bedeutung •entscheidende Prüfung auf die zweite Stufe der Schuldfähigkeit, die Einsichts- und Handlungsfähigkeit Problem: Krankheitswert nur Vergleichbarkeit nur in den Bereichen •der Schwere der Einwirkung der Störung auf das Handlungsgefüge •Beeinträchtigung normgemäßen Handelns des Täter •„vergleichbar der schweren seelischen Störung“ •Einengen analog einer Zwanghaftigkeit (vgl. BGH NStZ RR 1998, S. 174) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 31 Die strukturale Psychopathologie Primäre Störungsebene Art der Störung • Minderbegabung Psychose primäres Betroffensein der Gegenstandsfunktion • Psychopathie und Psychose primäres Betroffensein der Bedeutungsfunktion • Nie entwickelt Primär oder Sekundär Qualität und Intensität der Störung • Entwickelt und sekundär verloren • Reversibel versus Irreversibel • Störung der Gegenstandsfunktion: reizbarer Affekt • Störung der Bedeutungsfunktion: manisch depressive Affekte • Vordergrund: Wahn Psychose • Vorausgehend: Ausfall der Gegenstandsfunktion • Moroser Affekt (langfristig, beim Irrtum kurzzeitig) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 32 Die Kaskade der Einsicht und Steuerung Einsichtsfähigkeit Fehlende Einsicht Steuerungsfähig Einsicht vorhanden Steuerungsunfähig 06.11.2014 Dr. P. Grampp Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert 33 2.Stufe der Schuldfähigkeitsbeurteilung •Es bedarf der positiven Beantwortung der 1. Stufe Keine •Es gibt keine Einheitslösung Einheitslösung 2. Stufe ist entscheidend •Frage nach der Einwirkung der in der ersten Stufe festgestellten psychischen Zustände auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit •Gibt es überhaupt wissenschaftlich haltbare Aussagen zur Einsicht- und Steuerung des Täters Diskurs •Zuständigkeit: psychiatrisch-psychologische Sachverständige oder allein der Richter 06.11.2014 Dr. P. Grampp 34 Ab wann spricht der Gutachter von Einsichtsunfähig? Fähigkeit aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt war, „das Unrecht der Tat einzusehen • (intellektuelle Komponente der Schuldfähigkeit). Einschränkung einer der beiden Fähigkeiten reicht aus! Diese ist zu treffen und differenzieren (2) Ausschluss selten Falls vorhanden (1) nach dieser Einsicht zu handeln“ • (voluntative Komponente der Schuldfähigkeit). Psychopathologische Zustand muss sich ursächlich auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt haben 06.11.2014 Dr. P. Grampp 35 Wann ist eine Einsichtsunfähigkeit beispielsweise plausibel? Psychotischen Schwerwiegende intellektuelle Einbußen Realitätsverkennungen Einsichtsunfähigkeit Agnostizismus streit Indeterminismu sproblem Gibt es Freiheit der Entscheidung? Einsicht? (1) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 36 Einsichtsfähigkeit Fähigkeit des Täters, das Unrecht der begangenen Tat (konkrete Tatbestandsverwirklichung) einzusehen Es gibt partielle Einsichtsunfähigkeit, z.B. Dokumentenfälschung, Unrechtseinsicht zu Tötung ist dennoch vorhanden Täter kann nicht zum Unrechtsbewusstsein durchdringen (1) gleichbedeutend mit einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB (nicht Verbotsunkenntnis) Voraussetzung für weitreichende Maßregeln §§ 63, 64 und 69 Abs. 1 06.11.2014 Dr. P. Grampp 37 Beispiel Keine Einsicht zum Unrecht der Leistungserschleichung Unrechtseinsicht Gespalten (1) Ein hirngeschädigter Mann, fährt ohne Fahrkarte Bahn und nutzt ein Auto ohne Fahrerlaubnis und Versicherungsschutz Persönlichkeitsstörung führen zu keiner Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit unauffälliges Verhalten vor der Tat Einsicht zum Tatbestand des Fahrens ohne Führerscheins Dennoch kann eine Psychose vorliegen (2) Differenzierte Reaktionen und Verhaltensweise unauffälliges Verhalten vor der Tat 06.11.2014 Dr. P. Grampp zur Tatzeit vorhandene Erkenntnis , dass Allgemeinheit dies als Unrecht sieht 38 Folgen der fehlenden Einsichtsfähigkeit 06.11.2014 Dr. P. Grampp 39 Steuerungsfähigkeit Die strukturale Psychopathologie Die normative Einsicht bedarf der Steuerungsfähigkeit Einsicht Abstraktionen von psychologischen Tatsachen Steuerung WILLE Steuerung setzt Einsichtsfähigkeit voraus Einsichtsfähigkeit nach der Intention in bezug auf das Objekt Steuerungsfähigkeit nach der Intention in bezug auf das Subjekt 06.11.2014 Dr. P. Grampp 40 Die strukturale Psychopathologie Einsicht und Steuerung Minderbegabter Dementer mangelhaften Gegenstands- und Bedeutungsfunktion Geisteskranke Wahrnehmung und Gesellschaft mangelhaften Gegenstands- und irreale Bedeutungsfunktion Wechsel der Objekte, Stabilität der Subjekte Einsichtsfähigkeit Führt zu Meinungen rahmenhaft gesellsch. übereinstimmend Steuerung ist demnach auch aufgehoben Sinnnorm entsprichte der Sinngesetzlichkeit Einsichtsfähigkeit Steuerung ist demnach auch aufgehoben unzureichende Persönlichkeitsentwicklung versus – Zerfall 06.11.2014 Dr. P. Grampp 41 Steuerungsfähigkeit Einsicht vorhanden Ein Kriterium der Stufe 1 vorhanden •Nur weiter, wenn diese Fähigkeit vorhanden ist • nach dieser Einsicht zu handeln • Abwägefähigkeit: Anreize der Tat und der ihr entgegenstehenden Hemmungsvorstellungen unfähig 06.11.2014 Dr. P. Grampp 42 Schuldunfähigkeit keine Dauereigenschaft • Ausschluss der Schuld im Hinblick auf eine konkrete Tat (1) Tatrichter überprüft • die vom Sachverständigen gestellte Diagnose • den Schweregrad der Störung • deren innere Beziehung zur Tat (2,3) Zusammenkommen mehrerer schuldfähigkeitsmindernder Faktoren • eingehender Erörterung • Auch im Fall der vorhandenen Schuldfähigkeit 06.11.2014 Dr. P. Grampp 43 Die verminderte Schuldfähigkeit Eine Form der Schuldfähigkeit (keine „Halbzurechnungsfähigkeit“) Einsicht ins Unrecht ist gegeben er ist verantwortlich und wird bestraft Schuldfähigkeit graduierbarer, quantifizierbarer Begriff gleichen psychischen und normativen Merkmale wie in § 20 StGB Rechtspraxis § 21 StGB Erheblich verminderte Schuldfähigkeit Häufiger als Schuldunfähigkeit „erhebliche“ Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit 06.11.2014 Dr. P. Grampp 44 Die verminderte Schuldfähigkeit Graduierung im § 21 StGB • Beeinträchtigungen geringeren Grades „bei Kapital-, Triebund Hangverbrechen liegen regelmäßig vor “ • Werden im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung berücksichtigt Erheblichkeit im Sinne des § 21 StGB • Gericht nach sachverständiger Beratung • Beratung ohne Bindung an die Äußerungen von Sachverständigen • in eigener Verantwortung (BGH NStZRR 2004, 39 f) • Anforderungen umso höher, je schwerwiegender das Delikt ist 06.11.2014 Dr. P. Grampp 45 Zwei Schritte zur verminderten Schuldfähigkeit Schritt 1 • Qualität und Intensität des Eingangsmerkmals • Keine automatischen Schlussfolgerung (schwere andere seelische Abartigkeit auf verminderte Steuerungsfähigkeit) Schritt 2 • die Relevanz der Störung für die Handlungssteuerung bei einer konkreten Tat (Gutachter) • „Erheblichkeit“ mit breitem Entscheidungsraum (Richter) • Muss sehr sorgfältig begründet werden begründen (BGH NStZ 1996, 380) (normative Bewertung) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 46 Verminderte Schuldfähigkeit Definition •die seelische Verfassung des Täters und seine dadurch bedingte Steuerungsfähigkeit hebt sich deutlich vom Durchschnitt der Normalität ab •nähert sich der Schuldunfähigkeit an Richtwerte •Alkohol: ab 2‰ (Tötung, schwere Gewalt) ist die Erheblichkeit anzunehmen (Kritik: Gewöhnung usw.) (1) Folge •Eröffnet die Verhängung von Maßregeln gemäß §§ 63, 64, 69 StGB (2) •Gehäuft bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit, i.B. abweichenden Sexualverhalten •Richter kann die Strafe nur gemäß § 49 Abs. 1 StGB mildern (Ermessen) (3) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 47 nicht ausschließbare erhebliche Schuldminderung vorsichtigere Handhabung der Dekulpation nach § 21 StGB • nach dem Zweifelssatz bei § 21 StGB zugunsten des Verurteilten • Schließt die Unterbringung nach §63 StGB aus (Änderung angestrebt) Fall der schweren anderen seelischen Abartigkeit • unter den nicht begutachteten Angeklagten vor der Strafkammer • 43,8% eine Persönlichkeitsstörung, davon 35,2% eine dissoziale und 18,1% die Borderlinestörung (1) • offener Strafvollzugs in Ulm: 50% Persönlichkeitsgestörte (2) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 48 Zusammentreffen mehrerer Störungen (Komorbidität) Alkoholrausch Zusammentreffen mehrerer Eingangsmerkmale des § 20 StGB Persönlichkeitsstörung 06.11.2014 Dr. P. Grampp 49 Umgang damit Kumulation führt häufig zu §§ 20, 21 StGB (1) •§§ 20, 21 StGB •§ 323 a StGB •§§ 63, 64 StGB Beispiele (2) •Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit •mit anderen psychischen Störungen, insbesondere mit der dissozialen Persönlichkeitsstörung • Dauerhafte krankhafte Störung und Alkoholisierung bzw. Drogenkonsum •Tiefgreifende Bewusstseinsstörung und Alkoholisierung •Alkoholintoxikation und Drogenwirkungen •Persönlichkeitsstörung und Alkoholisierung bzw. Drogenkonsum (3) 06.11.2014 Dr. P. Grampp 50 Praxis der Rechtssprechung (§§ 20, 21 StGB und des § 323 a StGB) bei §§ 20, 21 StGB • festlegen auf ein Eingangsmerkmal (1) • Weitere beschweren das Eingangsmerkmal (2) (z.B. Alkohol-, Drogenkonsum) Alternativ • Merkmal mit primärer Bestimmung zum Tatzeitpunkt und Tatbezug • Merkmaldominanz und Unterordnung 06.11.2014 Dr. P. Grampp 51 Häufigkeiten der Urteile Gem. §§ 20, 21, 63,64 StGB 06.11.2014 Dr. P. Grampp 52 Häufigkeit der Anwendung der §§ 20/21StGB 4 3 2,1 2,1 2,2 2,5 2,9 §20 % 06.11.2014 §21 % §20 % 2002 1999 1995 1991 1987 1983 1979 0,10,10,11 0,08 0,05 0,06 0,07 0,05 0,060,060,06 0,070,070,06 0,070,080,08 0,1 0,1 0,09 1975 0 2,1 2,3 3,1 1,11,21,11,1 1,3 1971 1 1,8 1,9 2 1967 2 2,2 2,3 2,8 2,9 Dr. P. Grampp 53 WeiteHäufigkeit der Anwendung der §§ 63/64 StGB 800 600 §§20/63 2002 1997 §§ 21/64 1991 0 1985 §§ 21/63 1979 200 1973 §§20/63 1967 400 Gesamtzahl der Urteile 06.11.2014 Dr. P. Grampp 54 Schuldfähigkeit Zusammenfassung 06.11.2014 Dr. P. Grampp 55 Workflow 1 Frage nach Einsichts- und Schuldfähigkeit Diagnose Juristische Zuordnung Einsichts fähigkeit Steuerungsfähigkeit Maßregel? (medizinisch) Aktenlage Formulierung des Untersuchungsgegenstandes Indizien aus der Aktenlage zur Fragestellung Präzisierung der Gutachtensfragen (Fachgebiet) 06.11.2014 Präzisierung der Gutachtensfragen/Thesen Dr. P. Grampp 56 Familiärer Rahmen Beziehungen Workflow 2 Eigene Daten aus der Untersuchung des Probanden Allgemeine biographische Angaben Biographie unter Diagnosegesichtspunkten Vorerkrankungen Biographie unter Diagnosegesichtspunkten Subjektive Sicht der Vorwürfe Familienanamnese Delinquente Entwicklung Vegetative Anamnese Hinweise auf seelische Krankheiten Berufsfeld Einbettung in den Lebensvollzug, Sozialer Lebensraum Untersuchungsergebnisse Angaben zur juristischen Fragestellung Familiärer Rahmen Beziehungen 06.11.2014 konstellative Faktoren der angeschuldigten Tat Dr. P. Grampp 57 Workflow 3 Formulierung des Untersuchungsgegenstandes Psychischer Befund Psychopathologie Psychodynamischer Befund (ggf OPD) Somatischer und neurologischer Befund Formulierung des Untersuchungsgegenstandes Schichtenregel Organisch- genetisch – reaktiv Frage: Tatzeitpunkt? Psychometrie Labor Bildgebung u.a. 06.11.2014 Dr. P. Grampp 58 Workflow 4 Stufe I der Beurteilung Diagnose (ICD-10) Schwere seelische Störung Bewusstseinstrübung (Veränderung der Bewusstseinslage) Schwachsinn (klinischer Grad) Schwere andere seelische Abartigkeit Stufe II der Beurteilung Einsichtsfähigkeit vorhan den Ja Steuerungsfähigkeit Vollständig aufgehoben Aufhebung nicht auszuschließen Erhebliche Minderung sicher Erhebliche Minderung nicht auszuschließen Maßregel § 64 StGB Maßregel § 63 StGB 06.11.2014 Dr. P. Grampp 59