Marketing in der realen Kundenwelt

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Marketing in der realen Kundenwelt
Dieser Text wurde von Christian Belz verfasst und ist für eine Buchveröffentlichung 2014
bestimmt. Wichtige Grundlagen und Hinweise stammen besonders von Dr. Marc
Rutschmann und auch die weiteren Kollegen im Entwicklungsprojekt ‚Reales Marketing‘
trugen massgeblich bei. Ich danke Jochen Barringer, Eduard Häusler, Daniel Huber, HansPeter Künzler, Christoph Oggenfuss und Prof. Dr. Marcus Schögel.
1.
2.
3.
Einstieg
Bedingungen: Gerangel in den Märkten
Customer Insight
3.1 Klassische Kundenbefragungen
3.2 Kundenverhalten und reale Handlungen erfassen
Microverhaltensanalysen
Analytisches CRM
3.3 Verhaltensforschung
Neurobiologie
Verhaltensforschung und Techniken der Beeinflussung
Gefährliche Ichwelt
4.
3.4 Anerkennung des Ansatzes
Marketinglösungen
4.1. Marketing in der Identifikationswelt
Billiganbieter suchen Glaomour
Attraktive Arbeitswelt im Marketing
Homo Oeconomicus
Bekannheit und Marken als Eintrittskarte bei Kunden?
Rolle des Marketing
Verbleibender Gesamtauftritt
Innovatuionen für Substanz
Es gibt die starken Marken doch!
4.2. Reales Marketing in der Handlungswelt
Prinzipien für reales Marketing
Vielfältige Lösungsansätze
Widerstände in Unternehmen
Change Management
Prozessorientiertes Marketing
5.
6.
Erkennbarkeit des realen Marketing
Folgerungen
© beim Verfasser, St. Gallen September 2013
1
Marketing in der realen Kundenwelt ist nicht selbstverständlich. Die Gedanken sind
frei und schön, auch wenn sie nicht dem realen Verhalten entsprechen. Dieser
Beitrag demontiert das Identifikationsmarketing und plädiert dafür, dass sich
Marketing nahe am Kunden bewegt, seine Handlungen auslöst und ihn effizient zum
Kauf führt. Es geht also um handlungs- und kundenprozessorientiertes Marketing.
Der Ansatz ist übergreifend, aber aus dem Dialogmarketing entstanden und dessen
Stellenwert bleibt hoch. Sehr intensiv sind aktuelle Geschäftsmodelle und
Kommunikation im Internet darauf angewiesen, den Weg der Kunden im Netz
wirksam zu begleiten. Dabei sind die Kundenprozesse off- und online mannigfaltig
verknüpft.
Reales Marketing führt zu mehr Erfolg und stärkt damit die Stellung des Marketing im
Unternehmen. Reales Marketing bringt eine neue Faszination für die Aufgaben im
Marketing.
1. Einstieg
Ausgangslage ist ein zunehmendes Gerangel in den Märkten.
Innnerhalb dieses Gerangels gibt es zwei Wege, um Kunden
zu erforschen und Lösungen im Marketing zu lancieren.
Die Ausgangslage für
Identifikationsmarketing
Wer Marketing beobachtet kann die beiden Welten leicht
und handlungsorientiertes Marketing
erkennen: Die Identifikationswelt stützt sich auf klassische
stimmt überein.
Marktforschung und steigert die Attraktivität des Anbieters im
Kopf des Kunden. Die Handlungswelt konzentriert sich auf
Verhaltensanalysen von Kunden und auf Analytisches CRM,
um die Prozesse potenzieller Kunden besser zu erfassen und
erfolgreich zu begleiten.
Die Zusammenhänge zeigt Abbildung 1.
2
Abbildung 1: Marketinglandschaft und Stränge des Identifikationsmarketing und des
realen Marketing
Stellen Sie sich vor:
Bestehende Initiativen
im Marketing verlieren
ihre Wirkung
und werden
unwirtschaftlich. Es gibt
Lösungen, aber nur
wenige merken es.
Es nützt nichts attraktiv
und schön zu sein, aber
die Wettbewerber
machen das Geschäft.
Die × oder ү in der Abbildung sind übertrieben. Wir drücken
damit dramatisch aus, dass sich der Zugang zum
erfolgreichen Marketing endgültig verändert hat. Natürlich
müssen beide Welten nebeneinander existieren und es gilt,
sie auch je professionell zu nutzen. Nur sollen sich die
Gewichte stark verschieben, denn bisher dominierte zu
Unrecht das Identifikationsmarketing die Diskussion des
Marketing. Unsere These: Das erfolgreiche Marketing
verschiebt sich vom Kaufentscheid zum Kaufprozess, von
den Leistungsmerkmalen zu den vielen und zeitaufwendigen
Verhaltensschritten des Kunden.
Verbreitet ist der Ansatz oder die Sichtweise, dass
Unternehmen zum Kunden kommen müssen. Dieser Blick
geht vom Angebot an Produkten, Point of Sale, Touchpoints
oder Kanälen aus. Gleichzeitig gestalten damit die
Unternehmen den Zugang. Der Kunde soll auf ihr Angebot
treffen und damit abgeholt werden. Wir stellen die Sicht
gegenüber, den Kunden zum Kauf zu führen. Die
Kunden zum
Kundenprozesse sind damit der Ausgangspunkt.
Unternehmen und zum
Kauf zu führen ist die
Unternehmen werden zum Begleiter, zum Transporteur auf
Marketingaufgabe.
dem Weg, den der Kunde geht. Diese Umkehr reicht viel
Leistungen für Kunden
weiter, als es auf den ersten Blick scheint.
zu verbessern, bleibt die In der eigentlichen Leistung und dem Prozess der
grosse Herausforderung. Zusammenarbeit mit Kunden liegen in jedem Markt noch
3
viele wirksame Verbesserungen. Unternehmen tun gut
daran, sich auf ihre eigentlichen Aufgaben und die Substanz
für Kunden zu konzentrieren, um ihren Erfolg zu steigern.
Die Bausteine aus vorstehender Übersicht (Abbildung 1)
klären wir in der Folge.
2. Bedingungen: Gerangel in den Märkten
Naturgemäss
unterscheiden sich
Mangelgesellschaften
und Emerging Markets
in ihren
Voraussetzungen.
Die Wurfweite des
Marketing nimmt
drastisch ab.
Marketing bewegt sich in aktuellen Herausforderungen. Die
Bedingungen in entwickelten Märkten lauten meistens:
Überkapazitäten, Informationsflut und Preiskampf,
gesteigerte Geschwindigkeit, Globalisierung,
auswechselbare Leistungen und überbordende Sortimente.
Nicht selten stellt sich einem Marketingverantwortlichen die
Aufgabe, sein neues Produkt No. 164 im Umfeld von 200
weiteren, ebenfalls neuen Produkten der Wettbewerber
wirksam zu vermarkten.
Potenziert wird das Gerangel in den Märkten durch neue
technologische Möglichkeiten, eine wachsende Zahl von
Medien und eine überbordende Vielfalt von
Marketingansätzen. Gleichzeitig steigt die Komplexität vieler
Anbieter, weil zahlreiche Leistungen in mehreren Märkten
und für unterschiedliche Kundengruppen verkauft werden.
Verbreitet ist die Argumentation in Unternehmen, dass in
ihren Märkten für den Kunden alle Leistungen weitgehend
auswechselbar sind. Verantwortliche suchen deshalb in
Nebenschauplätzen von Prämien, Sponsoring und
emotionaler Aufladung nach Lösungen. Nicht zuletzt diese
Argumentation führte das Marketing ins Abseits und
degradierte es zum begleitenden Unterhaltungsprogramm
für Kunden. Manche Marketingverantwortliche ziehen aus
‘We believe in the next
der Tendenz zu auswechselbaren Leistungen die
life of things. We think in Bestätigung, dass nur das Marketing den wesentlichen
cycles and act in cycles
Unterschied für Kunden gegenüber dem Wettbewerb
– and cycles.’
schaffen kann. Der Rest des Unternehmens scheint zu
‚Die Tasche ist selbst ein
versagen. Sie glauben damit, an Gewicht zu gewinnen. Wer
Teil des Marketing.
aber so argumentiert, kapituliert im Leistungskern des
Dafür braucht es keine
Unternehmens und begründet indirekt, dass das eigene
Werbung‘ (Monika
Unternehmen verzichtbar ist.
Walser, Geschäftsführerin, Freitag, Zürich
in der Handelszeitung,
01. November 2012)
Zudem hemmen gesuchte Inszenierungen bestehende
Kunden, ohne dass dies beabsichtigt wird. Starke Marken
werden zwar gleichzeitig von gewissen Kunden begehrt und
von anderen abgelehnt. Manche Gags und gesuchten
Positionen streuen aber einfach Sand in das Getriebe
zwischen Kunden und Anbieter.
4
Lässt sich in diesem Gerangel der Märkte erfolgreicher
vorgehen, wenn Kundenwünsche besser erfüllt werden?
3. Customer Insight
Unternehmen orientieren
sich begrenzt am
Kunden. Denn sie wollen
nur tun, was für ihre
Erträge nötig ist.
Zumutbares Marketing
lautet der realistische
Begriff. Alles andere
widerspricht dem
ökonomischen Prinzip
oder ist unehrlich.
Oft wird die 360 Grad
Sicht des Kunden herauf
beschwört. Sie ist weder
möglich noch sinnvoll.
Seit jeher beansprucht Marketing, sich an den Kunden zu
orientieren. Auch englische Begriffe wie Customer Insight
oder Customer Centricity und Intimacy täuschen aber nicht
darüber hinweg, dass die Fortschritte in den letzten
Jahrzehnten recht marginal ausfielen.
Die Marktpsychologie befasste sich besonders damit, was
bei den Kunden vor der Kaufhandlung stehen könnte. Statt
sich mit dem konkreten Kundenverhalten auseinander zu
setzen, konzentrierte sie sich quasi auf die Prädisposition
des Kunden; beispielsweise auf Einstellungen, Motive und
Images. Statische Kaufmodelle erfassten zahlreiche
Einflüsse auf den Kauf, ohne wirklich zu helfen. Auch mit
dem Hinweis auf das wichtige ‚Unterbewusstsein’ spekuliert
die Konsumentenforschung oft stärker, als dass es erklärt,
was den Kunden bewegt.
In der Folge zeigen wir, wie begrenzt klassische
Marktforschung ist, plädieren für Micro-Verhaltensanalysen
und Analytisches CRM für den Einblick in den Kunden.
Auch weisen wir auf das Füllhorn von gesicherten
Erkenntnissen aus der Verhaltensforschung hin.
3.1. Klassische Kundenbefragungen
Menschen identifizieren sich mit Unternehmen, Marken und
Produkten und kaufen sie dann auch. So eine verbreitete
Annahme. Sie kaufen, was sie sich vornehmen und was
ihnen (beispielsweise in der Werbung) gefällt. Sie wägen
Vor- und Nachteile für ihre Käufe ab und greifen dann zum
besten Angebot. Dieses Menschenbild, welches Denken
und Handeln in Einklang wähnt, ist ausgesprochen attraktiv.
Deshalb werden Kunden auch nach Images, Kaufkriterien
oder Zufriedenheit befragt. Ihre eigenen Interpretationen
und Begründungen für Käufe werden damit die Basis für
wichtige Lösungen in Marketing und Vertrieb.
Kunden beantworten
Fragen, auch wenn sie
diese nicht verstehen
oder eigentlich keine
Angaben machen
können.
Mit 50% der
Schon die Fragen zur Identifikationswelt sind oft irrelevant
für das Verhalten des Kunden und damit den Erfolg von
Marketing und Vertrieb. Beispielsweise sind Verpackungen
oder Direct Mails, die dem Kunden in Untersuchungen
besser gefallen, oft weniger wirksam als jene, die er
ablehnt. Unzuverlässig sind die Ergebnisse auch durch
weitere Verzerrungen. Typisch die Untersuchung einer
5
Marktforschung
verschwenden
Unternehmen ihr Geld
und wir wissen mit
welcher Hälfte.
Klassische
Marktforschung gibt eine
trügerische Sicherheit
für das Marketing.
Weil Marktforschung
unzuverlässig ist, nutzen
Führungskräfte mehr
und mehr nur jene
Ergebnisse, die ihre
Absicht bestätigen und
ihnen nützen.
Studentengruppe, welche drei Smart Phones nach
Benutzerfreundlichkeit, Trendiness, Design und vielen
weiteren Kriterien untersuchte. Eines dieser drei Geräte
existierte zwar gar nicht im Markt, wurde aber ebenso wie
die weiteren bewertet. Eine weitere Studentengruppe
befragte kurz vor der Wahl die schweizerischen Bürger, ob
sie die Volkspartei (SVP) wählen werden. Trugen die
Interviewer ein Leibchen mit SVP-Logo war das Ergebnis
50%, mit neutralem Leibchen nur 25%.
Marktforschung in der Identifikationswelt des Kunden ist
nicht für das Kaufverhalten relevant und unkontrollierte
Verzerrungen verfälschen die Ergebnisse zusätzlich. Die
‚Altmeisterin‘ der Demoskopie Elisabeth Noelle-Neumann
zeigte das bereits früh in ihren Veröffentlichungen (1982).
Falls klassisch befragt wird, gilt es mindestens, sich auf das
konkrete Verhalten auszurichten, nahe an konkreten
Erfahrungen des Kunden zu erheben und die Ergebnisse
der Marktforschung mit den Fakten zur Kundenbeziehung
(z.B. mit dem Kundenumsatz im Zeitablauf) zu verknüpfen.
In der wissenschaftlichen Marketingforschung werden
deshalb vermehrt Experimente eingesetzt. Meist sind sie
auf das Verhalten der Kunden gerichtet, was auch wir
fordern. Sie stützen sich aber oft auf konstruierte
Situationen und eine gedachte und nicht effektive Wahl der
Untersuchten. Zudem führen Experimente oft nur zu kleinen
Ergebnissen, weil nur ein oder wenige Variablen variiert
werden, um klare Hinweise zu erreichen.
3.2. Kundenverhalten und reale Handlungen
erfassen
Denken und Handeln sind
zweierlei. Das kennt man vom
eigenen Alltag.
Reales Kundenverhalten stützt
sich auf die Handlungen des
Kunden in etappierten
Kaufprozessen mit situativen
Einflüssen. Wichtige Ansätze
sind analytisches CRM, Web
und Social Mining sowie MicroVerhaltensanalysen (gestützt
auf konkrete und differenzierte
Kundengeschichten zu
Handlungsabfolgen,
Situationen und Beobachtung).
Kunden handeln meistens nicht, wie sie denken. Oft
prägen unbeachtete Gewohnheiten, Gelegenheiten
und Zufälle die Aufmerksamkeit des Kunden und ihre
Käufe. Akzentuiert wird diese Entwicklung in der
Multioptionsgesellschaft. Kunden gefällt so viel, sie
möchten sich um unzählige Dinge kümmern, sie
setzen die Qualität der vielfältigen Leistungen voraus.
Deshalb führen sie die meisten Kaufprozesse nur von
A-C oder K, wenn bei Z der Kauf liegen würde. Sie
beginnen viel, verschieben, brechen ab, wechseln auf
Anderes.
Micro-Verhaltensanalysen
Damit werden Informations- und Kaufprozesse lang,
6
Gegenpol ist die klassische
Marktforschung.
Micro-Verhaltensanalysen
stützen sich auch auf
Befragungen, nur ist der
Untersuchungs-Gegenstand
die konkrete Abfolge zu Kauf
oder Nichtkauf, Spekulation
des Kunden werden nicht
berücksichtigt.
Microverhaltens-analysen
beruhen auf den Grundsätzen
der Verhaltensforschung. Sie
schaffen die konkrete Basis für
spezifische Kaufhandlungen
und darauf aufbauend lassen
sich die Erkenntnisse der
Verhaltens-forschungen
nutzen, um Kunden an
Schlüsselstellen im
Kaufprozess zu mobilisieren.
Die gute Botschaft: Erfasste
Stellhebel für die Fortsetzung
der Kundenprozesse sind oft
mehrheitsfähig, das heisst sie
wirken von der Bankdirektorin
bis zum Arbeitslosen.
verschlungen, enthalten mehr und mehr
Zwischenschritte. Dass der Markenauftritt gefällt, die
Kunden ein Angebot begehren und sich dann
bewegen, wird zum Sonderfall für extensive Hobbies,
Luxus und soziale Produkte. Richtet sich die Mehrheit
der weiteren Unternehmen (vielleicht etwa 95% der
Anbieter) nach dem Prinzip, die Marke einzigartig zu
inszenieren, dann verschwendet sie ihr Geld.
Gestützt auf diese Erkenntnisse gewinnen
Unternehmen eine relevante Einsicht der Kunden,
indem sie etappierte und reale Kundenprozesse unter
dem Mikroskop betrachten, einzelne Prozesse der
Kunden übereinanderlegen und Muster erkennen. In
den Mustern werden die Stellen lokalisiert, wo viele
Kunden reagieren und demgemäss das Marketing
einsetzen muss, damit der Kunde seinen Kaufprozess
fortsetzt.
Abbildung 2 zeigt am Beispiel Hotelplan eine
Auswertung zum Kundenprozess für Reisen. Die
Schritte und Verästelungen sind nicht leserlich,
deuten aber an, wie detailliert solche
Verhaltensanalysen mit den Abfolgen der Kunden
erfasst sein müssen, um schliesslich die richtigen
Stellhebel für den erfolgreichen Weg zum Kauf zu
bestimmen.
Gesucht sind also jene Impulsketten, die (mit knappen
Ressourcen) Kaufhandlungen in grosser Zahl
herbeiführen. Die Micro-Verhaltensanalyse ist dazu
das wirksame Werkzeug.
Abbildung 2: Kundenprozess für die Buchung von Reisen – Muster mit quantitativer
Auswertung (Quelle: Dr. Marc Rutschmann AG, Zürich)
Analytisches CRM
7
CRM ist aber oft gierig
auf Zahlen und
vollständige
Auswertungen –das
verbaut den Blick für
inhaltlich geschickte
Interventionen und den
Tiefgang für
Kundenbegleitung.
CRM konzentriert sich
oft zu stark darauf bei
wem und wann zu
intervenieren und zu
wenig wie.
Kundendaten sind der
Rohstoff der Zukunft für
Unternehmen.
Ebenso wichtig sind die Möglichkeiten mit analytischem
Customer Relationship Management. CRM stützt sich auf
reale Kundentransaktionen. Auch daraus lassen sich Muster
erkennen; etwa welche Kunden gefährdet sind, welche
Produkte zusammen gekauft werden, welche Kunden
besonders gut reagieren und für das Unternehmen wertvoll
sind. Technologische Entwicklungen erlauben es, grosse
Datenmengen zu erfassen, zu speichern und auszuwerten.
Wichtige Quelle im Marketing sind die Spuren der Kunden,
wenn diese real-time-Social Media, Smartphones und
weitere Online-Anwendungen nutzen.
Während sich früher die Diskussion bei CRM Systemen
besonders auf die Kriterien zur Kundenerfassung
konzentrierten, legt sich das aktuelle Augenmerk auf die
möglichen Anreicherungen bestehender Datensätze mit
neuen Formen des Internet-Tracking oder mit externen
Datenbanken. Herausforderung sind dabei die hohe
Volatilität und die unterschiedlichen Formen (von Texten bis
Filmen) und Qualitäten von Informationen.
Voraussetzung bleibt aber eine eigene, qualifizierte
Datenbasis des Unternehmens. Für viele Anbieter bleibt das
immer noch eine grosse Aufgabe.
Zusammenspiel
Beide Ansätze sind nicht neu, werden aber von
Unternehmen zu wenig genutzt: Micro-Verhaltensanalysen
und Analytisches CRM sind ein wirksames Gespann für den
relevanten Einblick in das Kundenverhalten. Analytisches
CRM konzentriert sich auf Kundenwert, Zeitpunkte der
Kundenbereitschaft und verknüpfte Transaktionen. Die
Microanalyse des Kaufverhaltens betont Abläufe und führt
auf Inhalte der Marktbearbeitung.
Flankiert werden diese Hauptansätze durch Beobachtung,
Eye Tracking und weitere Methoden. Qualitative Workshops
mit Kunden oder Fokusgruppen können sich real
orientieren, aber ebenso in die Identifikationswelt der
Beteiligten abheben. Das ist eine Frage des Inhaltes, nicht
der Methode.
Schliesslich lassen sich Marketinglösungen oft nur
erproben. Deshalb sind reale Experimente und Tests der
richtige Zugang. Dabei beschränken sich solche
Experimente nicht auf Varianten von Direct Mails und den
Response, auch Konzepte oder neue Formen der
Marktbearbeitung lassen sich prüfen, indem sie für
ausgewählte Kunden, Leistungen oder geographische
8
Märkte erprobt werden.
3.3 Verhaltensforschung
Verhaltens- und Hirnforschungen wollen menschliches
Verhalten und Denken erklären; dazu gehören
Behaviorismus, Human-Ethologie (Verhaltensbiologie des
Menschen), Sozialpsychologie, verhaltensorientierte
Lerntheorien und die Neurobiologie. Der Bezug zum
Kaufverhalten spielt dabei nicht ausdrücklich eine Rolle.
Viele Erkenntnisse wurden über Jahrzehnte und aufwendig
entwickelt und sind heute gesichert. Leider werden sie
kaum vertieft studiert und sorgfältig auf das Marketing
übertragen, obschon beispielsweise das professionelle
Handwerk des Direktmarketing und des persönlichen
Verkaufs ähnliche Regeln entwickelte und nutzt. Kurz: Es
besteht ein Füllhorn von Erkenntnissen, welches sich gut
erschliessen liesse. Jenen, die aber immer sofort nach
direkten Umsetzungen suchen, wird dieser Weg leicht zu
mühsam. An dieser Stelle genügen wenige Hinweise dazu.
Neurobiologie
Bleiben Sie skeptisch
gegenüber vorschnellen
Folgerungen und
Anwendungen im
Neuromarketing.
Ein Hirnforscher
verwendete folgendes
Bild, das wir nicht mehr
zuordnen können:
Stellen Sie sich vor,
dass Sie in der Nacht
auf einem höheren Berg
über einer grossen Stadt
stehen. Aus den an- und
ausgehenden Lichtern
wollen Sie schliessen,
was in dieser Stadt
vorgeht. Auf diesem
Stand bewegt sich die
Hirnforschung heute.
Verhaltens-
Die neueren Ansätze der Hirnforschung klingen
erfolgsversprechend, sind aber in Bezug auf Aufwand und
Folgerungen recht weit vom relevanten, praktischen Einsatz
entfernt. Wichtig sind jedoch grundlegende Erkenntnisse.
Sie belegen beispielsweise, dass menschliches Verhalten in
der Regel durch intuitives und schnelles Denken bestimmt
ist, bevor ein langsames und bewusstes Denken einsetzt
(Kahnemann 2012, S. 25). Deshalb ist über das
Bewusstsein des Kunden in Befragungen auch wenig über
das konkrete Verhalten in Kaufsituationen zu erfahren.
Gleichzeitig lassen sich automatische, schnelle, weitgehend
mühelose und unwillentliche Mechanismen im Marketing
nutzen. Andererseits können sich Konsumenten mit
entsprechenden Kenntnissen auch teilweise selbst
schützen, falls sie das anstreben.
Verhaltensforschung und Techniken der Beeinflussung
Besonders deutlich zeigt Cialdini (2010) die Mechanismen
des Überzeugens. Ein Beispiel ist der Mechanismus der
Reziprozität: Menschen revanchieren sich für das, was sie
von anderen Menschen (auch ungebeten) bekommen (S.
43 ff.). Ein zweites Beispiel ist die Regel von Commitment
und Konsistenz: Menschen wollen in ihren Überzeugungen,
Worten und Taten konsistent sein und erscheinen (S. 91 ff.).
Ein drittes Beispiel ist der Mechanismus sozialer
Bewährtheit: Menschen schauen in einer gegeben Situation,
9
Mechanismen des
Menschen erleichtern
das Leben, führen aber
auch zu Fehlleistungen.
Oft werden diese im
Marketing genutzt, um
zu beeinflussen.
was andere glauben und tun und ahmen sie nach (S. S. 155
ff.). Diese Mechanismen laufen bei Menschen automatisch
ab, wenn es klick macht – so folgt surr, wie Cialdini das
bezeichnet (S. 21). Vielfältige Mechanismen bereitete auch
Dobelli in seinen 52 Denkfehlern und 52 Irrwegen auf (2011
und 2012). Auch sie sind Grundlage um wirksam zu
beeinflussen, oder sich nicht beeinflussen zu lassen.
Gefährliche Ich-Welt
Interpretationen der IchWelt sind kritisch.
Die Erkenntnisse über Kaufprozesse und
Verhaltensmechanismen widersprechen oft dem gedanklich
logischen und intuitiven Zugang des Menschen. Deshalb
braucht es die professionelle Distanz von Verantwortlichen
für Marketing, um nicht laufend in die Interpretationsfalle zu
tappen. Denn auch Entscheider versetzen sich in die
Kundensituation oder vergleichen mit ihren Erfahrungen.
Sie fallen damit in ihre eigene, trügerische
Interpretationswelt. Zwischen professioneller Welt und IchWelt gilt es zu trennen und das ist eine permanente
Anstrengung.
3.4 Anerkennung des Ansatzes
Die aufgezeigten Trends sind inzwischen breiter anerkannt.
So bezeichnet beispielsweise das Marketing Science
Institute (www.msi.org) für die Weiterentwicklung des
Marketing 2012-2014 folgende sieben Prioritäten
(übersetzt):
1. Erkenntnisse über Menschen und ihren Rollen als
Konsumenten
2. Neue Ansätze für Kaufprozesse in Form eines Funnels
oder als iterativer Prozess
3. Gestaltung von Erfahrungen, nicht von Produkten. Was
ist ausschlaggebend für Erfahrungen, die in Erinnerung
bleiben, interessant sind, wiederholt und geschätzt
werden?
4. Mobile Plattformen und ihre Wirkung darauf, wie
Menschen ihr Leben führen und ihr Einfluss auf die
Funktionsweise von Märkten
5. Vertrauen zwischen Menschen und Institutionen sowie in
sozialen Netzwerken
6. Big Data
7. Marketing Organisationen und Fähigkeiten
Damit entfernt sich Marketing von den angestrebten
Identifikationen des Kunden (etwa durch Markenführung)
und bewegt sich nahe an Kundenprozessen. Ein Ansatz,
den wir seit längerer Zeit verfolgen. Wir sind deshalb auch
10
in den Lösungen bereits weiter gekommen.
Auch in der Praxis zeichnen sich Veränderungen ab. Im
Internet ist erfolgsentscheidend, wie sich Kunden auf dem
Netz bewegen. Deshalb wurden mannigfaltige
Prozessoptimierungen durch erfolgreiche Anbieter
entwickelt. Manche Branchen und Unternehmen kürzen ihre
bisherigen Kommunikationsbudgets und verteilen
verbleibende Mittel neu. Oft scheint aber erst einsichtig,
dass bisherige Ansätze nicht mehr greifen und es fehlen
noch klare neue Lösungen.
Zudem: Manches in der aktuellen Diskussion klingt nur
ähnlich wie unsere Argumentation (vgl. Kapitel 4), etwa
Erlebniskette der Kunden, Touchpoints, Social Media, Cross
Channel Marketing. Die Interpretationen und Folgerungen
sind oft einseitig und werden zum bestehenden Arsenal des
Marketing addiert, ohne die Perspektive zu wechseln. Eine
intellektuelle Integration an der Oberfläche greift
ungenügend.
4. Marketinglösungen
Identifikationsmarketing stützt sich auf klassische
Befragungen und die Prädisposition des Kunden.
Handlungsorientiertes Marketing stützt sich auf das reale
Verhalten des Kunden. Beide Lösungswege werden kurz
beschrieben, wobei das Identifikationsmarketing bereits
kritisiert wird.
Plakativ lassen sich beide Welten mit folgenden Beispielen
der Werbung für verschiedene Produkte von Philips (und
andere) verdeutlichen (vgl. Abbildung 3). Links das schöne
Identifikationsmarketing. Rechts die Handlungswelt, hier am
Beispiel der Werbung von Fust (Händler für Heimelektronik,
CH). Der Einzelhandel bewegt sich seit jeher näher am
Kundenverhalten, weil sich die Wirkung der
Marktbearbeitung unmittelbar in Kundenfrequenz und
Verkäufen niederschlägt.
11
Abbildung 3: Marktbearbeitung in der Identifikations- und Handlungswelt des Kunden
4.1
Auch Führungskräfte
und Mitarbeitende
tummeln sich gerne in
der Welt des fein
ausgedachten
Marketing. Zwischen
Planung und
Realisierung, zwischen
Konzepten und
Verhalten, zwischen
Absicht und Tat,
zwischen Lehrbüchern
der Betriebswirtschaft
und Realität bestehen
viele Diskrepanzen!
Auch in Unternehmen,
die nach aussen ihre
Markenführung
inszenieren, werden die
Marketing in der Identifikationswelt
Die Argumentation des Identifikationsmarketing ist wie folgt:
Sei einzigartig und begehrenswert im Kopf des Kunden.
Dann wird sich der Kunde bewegen und kaufen. Die
Identifikation folgt den Regeln der Ästhetik und gefällt.
Viele aktuelle Diskussionen rund um Marken bis zu ‚Love
Brands‘, Positionierungen, Images, Einzigartigkeit,
Kundenbegeisterung, Bildkommunikation, Erlebnisse und
Emotionen, Inszenierung bis Story Telling folgen diesem
Ansatz. Bereits meinen Experten, in Marken eine
Ersatzreligion zu erkennen.
Marken folgen bisher weitgehend einem Top-down Ansatz.
Stichworte sind klare Positionierung, Integration und
Konsequenz. Auch wenn Marketingabteilungen inzwischen
ebenso ‚behavioral branding‘ als Thema erkannten, wird
auch hier Top-down das markenspezifische, persönliche
Verhalten der Mitarbeitenden definiert und gefördert.
Inzwischen werden auch Social Media mit ähnlicher
Argumentation genutzt. Zwar entwickeln sich damit streng
geführte Marken zu Mitmachmarken, aber die
Verantwortlichen sind überzeugt, dass eine breite
Diskussion in Social Media auf die Marke einzahlt. Das
pfiffige und tausendfach ausgetauschte YouTube Filmchen
12
entsprechenden
Budgets jährlich gekürzt
und verlagert.
beeinflusst irgendwie das positive Image des
Unternehmens. Auch dieser Austausch ist aber vom
konkreten Verhalten des Kunden weit entfernt und führt
kaum zum Kauf. Generell ist der Austausch in Social Media
weitgehend virtuell oder mindestens in einer eigenen Welt.
Wie weit sich das in der realen Welt auswirkt, bleibt offen.
Billiganbieter suchen Glamour
Übrigens beanspruchen bereits die Anbieter im
Volumengeschäft den Glamour, oft mit Prominenten. Etwa
Hennes & Mauritz mit David Beckham oder Versace,
Dosenbach Schuhe mit Halle Berry, Vögele mit Penelope
Cruz; selbst profane Produkte arbeiten mit Bilderwelten, die
der Luxusindustrie in nichts nachstehen.
Doch kein Schwan – die Kleiderfirma Charles Vögele
träumte von der grossen, weiten Modewelt und vergraulte
dabei ihre treue Kundschaft.
Vögele befriedigte das Bedürfnis, sich einzukleiden, ohne
daraus ein Ereignis zu machen. Zu Vögele ging, wer nicht im
Traum auf die Idee gekommen wäre, shoppen als sein Hobby
zu bezeichnen.
Im Jahr 2009 begann sich die Firma plötzlich für ihre
Provinzialität zu schämen. Der neue CEO André Maeder
verkündete, man wolle weniger bieder sein und bezeichnete
damit auch automatisch seine Kundschaft als bieder. Kurz:
Man wollte die Kunden, die bei H&M, Zara und Mango kauften.
Man wollte aufräumen bei Vögele und entsorgte die
Kundschaft gleich mit.
Dafür sollten die spanischen Schwestern Monica und Pénelope
Cruz internationales Flair, Sexyness und Glamour verströmen.
Bausteine waren Werbekampagne, eigene Kollektion der
Schwestern, coole Jungverkäuferinnen bis zu den Fashion
Days. Das Publikum kommentierte an den Fashion Days: Wer
soll denn das anziehen! Til Schweiger war dann dabei und
präsentierte seine Kollektion gleich selber.
13
Neue Werbekampagne
von Vögele
Dann plötzlich in der Not und nach nochmals steigenden roten
Zahlen erinnerte man sich wieder der bodenständigen und
treuen Kundschaft. In den besten Zeiten war Vögele 3 Mia.
SFR. wert, jetzt belief sich ihr Wert noch auf 132 Mio. SFR. Der
aktuelle CEO Markus Vögele will ‚back to the roots‘. Das zeigt
auch der aktuelle Fernseh-Spot deutlich.
Deutsche Bank
Es ist die Geschichte einer Firma, die unspektakuläre Kleider
an ein unspektakuläres Publikum verkaufte und dabei ganz
sympathisch war. Und unsympathisch wurde, als sie das nicht
mehr mit Stolz tat.
Quelle: Weber Bettina: Doch kein Schwan, in: NZZ FOLIO, Nr.
5, 2013, S. 30-32.
Wenn bereits Billiganbieter damit arbeiten, so bewegen sich
Inszenierung und Glamour am oberen Ende der
Fahnenstange und ihr Erfolg wird zur Ausnahme.
Attraktive Arbeitswelt im Marketing
Gelobte
Markenkampagnen
sind oft nur
Sparprogramme.
Marketingverantwortliche befassen sich lieber mit der
attraktiven Identifikationswelt, statt mit den Niederungen der
Realität. Unternehmen, Märkte und Kunden sind
kompliziert, deshalb braucht es die Abstraktion und
vereinende Orientierung; etwa den Slogan ‚Leistung aus
Leidenschaft‘ mit dem aufstrebenden Balken als Logo, um
den weltweit agierenden Konzern der Deutschen Bank
quasi auf den Punkt zu bringen.
Marketingleute plädieren auch lieber für schöne
Kampagnen und Spots als für Aktionsinserate oder sie
grenzen sich ab vom Vertrieb, wo sich offenbar irgendwo
zwei kleinliche Menschen zu einem banalen Gespräch
treffen. Sie verabschieden fein ausgedachte Konzepte im
Konferenzraum, statt zufällige Details mit den Kunden zu
diskutieren. Sie wissen wie es geht und was anzustreben
wäre. Natürlich erkennen sie eine Diskrepanz zwischen
ihren Vorstellungen und der Realität. Wer aber schöne
14
Bilder zeigt, wie es sein sollte, fühlt sich bereits als
Schrittmacher und als kleiner Weltverbesserer. Es braucht
doch Visionen und Idealismus, um nicht im Sumpf des
Alltags zu versinken. Es gilt dem Kunden eine schöne Welt
zu zeigen, denn seine eigenen Probleme erlebt er schon
genug. Hässliche, dicke, unzufriedene, faule, ängstliche
oder müde Menschen braucht man nicht in der Werbung zu
zeigen.
Verpackung
Erstaunlich beharrlich
beziehen sich
Marktverantwortliche auf
den HomoOeconomicus, selbst
wenn sie Emotionen als
Nutzen berücksichtigen.
Realität
Ohne Verfasser: Werbung contra Realität, Köln: Eichborn 2012
Homo Oeconomicus
Traditionell konzentrieren sich Marketing und Vertrieb auf
den Kaufakt. Verantwortliche gehen dabei meist von einem
ausgedachten Nutzenmodell des Kunden aus. Dieser wägt
zum Zeitpunkt des Kaufs alle Vor- und Nachteile ab und trifft
dann seinen Entscheid. Dabei ist der zeitliche Ablauf nicht
berücksichtigt. Allenfalls geht deshalb das Marketing einige
Schritte vor den Kaufakt zurück. Verbreitet sind
Vorstellungen der AIDA-Formel (Attention, Interest, Desire,
Action), sowie analoge Modelle des Sales Funnel oder
neuerdings von ‚Touch Points mit Kunden‘, die einen
einfachen Kundenprozess begleiten. Der Fokus bleibt dabei
aber auf dem Kaufakt, welcher alles einschliesst und über
Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Einem Anbieter muss es
gelingen, bei genügend Menschen ein Interesse zu wecken,
damit schliesslich auch viele Kunden kaufen. Denn bei jeder
gedachten Zwischenstufe fallen potenzielle Kunden weg.
Die verbleibenden Käufer im Prozess müssen genügen, um
die gesetzten Umsatzziele des Unternehmens zu erreichen.
(Übrigens ist das häufige Bild eines Trichters in diesem
Zusammenhang irreführend, einen Trichter verwendet man
ja gerade, um nichts auszuschütten.)
3-4 konzeptionell
differenzierte
Kundenphasen bilden
keine Kundenprozesse
ab.
Die geschilderten Konzepte sind nicht falsch, genügen aber
mindestens aus zwei Gründen nicht:
1. Gewichtung: Die Konzentration auf den Kaufakt
verhindert es, den Kundenprozess genügend intensiv zu
gewichten und Marketing und Vertrieb gemeinsam auf
den Weg des Kunden zum Kauf zu orientieren. Selektiv
15
Ist Identifikation die
Voraussetzung für eine
Handlung? In vielen
Fällen nicht. Der Kunde
braucht sich im
Wochenend-Einkauf
nicht mit Bananen,
Zucker, Joghurts zu
identifizieren, um sie in
seinen Einkaufswagen
zu legen.
Vorstufen-Marketing
bleibt auch oft in frühen
Phasen des Kunden
stecken.
Drei Faktoren machen
eine Handlung des
Kunden wahrscheinlich:
1. Reizsituation im
Umfeld
2. Gestimmtheit und
Appetenzen
3. Persönliche
Erfahrung
(nach M. Rutschmann).
gewählte Vorstufen mit Positionierung oder Image
verpuffen, weil sie nicht fortgeführt werden.
2. Tiefgang: Die verwendeten Modelle für Kaufprozesse mit
3-5 Phasen des Kunden sind weit von der Realität der
Kundenprozesse entfernt. Selbst für einfache Käufe
durchlaufen Kunden 20, 30 oder 60 Zwischenschritte,
meistens verteilt über eine lange Zeitdauer. Diese
Schritte entsprechen nicht folgerichtig einem Prozess
der Problemlösung, sondern sind vielschichtig, werden
oft mehrfach durchlaufen, wirken auf Anhieb chaotisch
angeordnet. Es gilt, diese Kundenprozesse gleichsam
unter dem Mikroskop zu betrachten und gemeinsame
Muster der Kunden zu erkennen, um die Stellhebel für
wirksame Eingriffe und inhaltliche Massnahmen sowie
Verhaltensmechanismen des Kunden einzusetzen.
Marketing scheint sich also häufig auf die Prädisposition
des Kunden im Kaufprozess zu kaprizieren.
Bekanntheit und Marken als Eintrittskarte bei Kunden?
Die verbreitete Meinung: Bekanntheit und Einzigartigkeit
schaffen erst die Voraussetzung, dass sich später ein
Kunde für den Urheber entscheiden kann und ein Angebot
kauft. Es gilt, sich im ‚evoked set‘ des Kunden zu verankern,
wie Fachleute betonen. Auch diese Zusammenhänge sind
nicht falsch, wirken aber nicht als Treiber für den Erfolg:
1. Immer mehr Anbieter und ihre Leistungen kommen für
den potenziellen Kunden in Frage und sie sind ihm auch
bekannt. Viele aufwendig ausgelobten Merkmale zur
Einzigartigkeit sind für den Kunden nicht relevant –
weder emotional, noch rational.
2. Der Anstoss mit starken Marken ist meist viel zu
schwach, damit sich der Kunde bewegt.
3. Kunden gefällt Vieles und sie beabsichtigen auch
Manches abzuklären und zu kaufen. Gleichsam stehen
sie in einem Handlungs- und Kaufstau. Gedankliche
Begehrlichkeiten und finanzielle Möglichkeiten sind nicht
der Engpass. Interessenten sollen sich bewegen und
dran bleiben. Hier liegt der Schlüssel.
4. Situative Bedingungen und Einflüsse oder
Gelegenheiten fördern oder hemmen Prozesse zum
Kauf intensiv. Im heutigen Umfeld der Multioptionen
lassen sich viele Kunden treiben, sind gesteuert durch
Gewohnheiten und entlasten sich intuitiv von
aufwendigen Schritten. (Die Erklärungen von high und
low involvement helfen hier wenig, weil sie sich zu stark
auf Subjekt und Objekt des Kaufs konzentrieren, es geht
aber um die Schritte zum Kauf).
5. Kaufprozesse werden überwiegend generisch getrieben.
Zentral ist der Kernnutzen eines Produktes, einer
16
Produktekategorie oder von Angeboten. Gesuchte
Unique Selling Proposition mögen einzigartig sein, aber
wirken kaum.
Rolle des Marketing
Marketing und Vertrieb
müssen eine
gemeinsame Aufgabe
verfolgen.
Was an Gesamtauftritten
des Unternehmens
bleibt, muss
selbstverständlich
professionell gemacht
werden.
Oft hat sich das Marketing mit den Aufgaben der Vorstufe
auch im Unternehmen positioniert und ist damit vermeintlich
langfristig orientiert. Den Kunden zum Kauf zu führen, wird
dann dem Vertrieb überlassen. Den Kunden zum Kauf zu
führen ist aber die gemeinsame Aufgabe von Marketing und
Vertrieb und könnte auch das chronisch beklagte
mangelhafte Zusammenspiel lösen helfen.
Verbleibender Gesamtauftritt
Natürlich treten Unternehmen häufig auch als Ganzes auf
und stützen sich dabei auf Logo, Corporate Identity,
Dokumentationen und Präsentationen. Selbstverständlich
sollen diese Auftritte professionell gestaltet werden.
Es gibt Teile der Kommunikation, die sich mindestens ohne
grosse Nachteile integrieren und damit kostengünstiger
bewältigen lassen: Markenprogramme fassen zusammen
und sparen den Anbietern damit auch viel Geld. Nur wird
über dieses Rationalisierungspotenzial als wirksame
Begründung für Marken und integrierte Kommunikation
selten gesprochen. Unternehmen tun lieber so, als würden
sie gewaltige Mittel einsetzen, obschon sie die Budgets still
kürzen.
Innovation für Substanz
Einen Top-down Ansatz erachten wir aber als zentral:
Unternehmen kümmern sich um die Substanz ihrer Leistung
und Innovation. Beispielsweise, wenn sich Autohersteller
nicht ängstlich auf Marktforschungen zur Form der
Top-down wird die
Stossstange stützen, sondern mit tragfähigen Entwürfen zur
(kundennahe) Innovation
zukünftigen Mobilität voran gehen (Rust 2011).
bestimmt. Ohne Zweifel
ist hier Steve Jobs mit
Apple ein wichtiges
Vorbild.
Zusammenspiel von
Identifikations- und
Handlungswelt des
Kunden.
Marken funktionieren
Es gibt die starken Marken doch!
Und: Es gibt die starken Marken, meist sind sie aber durch
Handlungen der Kunden entstanden und weniger durch
gewitzte Auftritte. Handlung bewirkt Marke und nicht Marke
bewirkt Handlung. Google und Amazon sind eindrückliche
Beispiele.
Marken sind nach diesem Verständnis das Ergebnis
unzähliger Aktivitäten der Unternehmen in der
Vergangenheit mit den entsprechenden Erlebnissen des
17
besser im Bereich der
sozialen Produkte
(Uhren, Autos, Luxus)
und auch in fernöstlichen Märkten.
Kunden. Starke Marken sind eine Erfolgsgrösse, ähnlich wie
Gesamtumsatz oder –ertrag eines Unternehmens. Nur
lassen sich die Erfolge nicht von den Ergebnissen her
steuern.
4.2 Reales Marketing in der Handlungswelt
Jede bewirkte Handlung
des Kunden ist
qualifizierter als nur ein
positiver Gedanke oder
ein schönes Gefühl.
Wir demontieren bereits etwas die schöne Welt des
Marketing, welche inzwischen auch die meisten
Universitäten, Fachhochschulen und Weiterbildungen im
Marketing prägt. Identifikationen und damit Marken sind im
Marketing überschätzt. Wir schlagen vor, dass sich
Marketing an konkreten Handlungen (und nicht nur
Gedanken) des Kunden orientiert und Kundenprozesse
begleitet. Zudem ist reales Marketing anspruchsvoll und
aufwendig zu realisieren. Mit einer Kampagne lässt sich
leicht viel Geld ausgeben. Das gleiche Budget mit realem
Marketing einzusetzen macht einfach viel Arbeit. Was lässt
sich mit dieser Demontage gewinnen? Die Antwort ist:
Wirksames Marketing. Und: Marketing wird in Unternehmen
wieder ernst genommen, weil es für den Erfolg
entscheidend ist.
Reales Marketing selektioniert Kunden mit hoher
Erfolgswahrscheinlichkeit und konzentriert sich auf wenige
Stellhebel im Prozess, um Kunden zum Kauf zu führen. Reales
Marketing beruht auf einem konsequenten Bottom-upVorgehen und nutzt bisherige Verhaltensmuster und –
mechanismen. Gegenpol ist das klassische Top-downIdentifikationsmarketing, allen voran die Markenführung.
Es genügt nicht schlecht
auszusehen, um
erfolgreich zu sein.
Veränderungen sind
eingeleitet, es genügt
aber nicht, bisherige
Massnahmen im
Marketing zu kürzen.
Reales Marketing wirkt eher plump, naheliegend, vielleicht
manipulativ und ist nicht besonders schön. Trotzdem ist es
hoch professionell.
Übrigens entwickelt sich das Marketing der Praxis längst in
die skizzierte Richtung der realen Kundenwelt. Budgets
wurden kräftig verschoben, um wirklich beim Kunden
präsent zu sein. Analytisches Customer Relationship
Management und Internet brauchen neue
Marketingfähigkeiten. Das Unbehagen der klassischen
Marketer steigt, weil sie im neuen Umfeld nicht mehr
genügen. Gedanklich und gefühlsmässig ist es aber
schwierig diesen Trends zu folgen, wenn Verantwortliche
dem alten Bild des schönen Marketing nachtrauern und
Aktuelles als Fehlentwicklung empfinden.
Prinzipien für reales Marketing
18
Reales Marketing beherzigt 10 verschiedene Prinzipien und
verlagert die Gewichte in den massgeblichen
Spannungsfeldern des Marketing:
Jedes einzelne Prinzip
kann in Unternehmen
viel bewirken.
Marketing schafft oft in
sich geschlossene
Kreisläufe. Es werden
Imageziele gesetzt,
Massnahmen ergriffen
1. Kundenhandlung vor Identifikation: Wann immer möglich
bewirkt Marketing konkrete Handlungen des Kunden und
löst nicht nur Gedanken aus.
2. Schlüsseltreiber vor Einzigartigkeit: Marketing
konzentriert sich auf die generischen Treiber, die den
Kunden zum Kauf bewegen. Es konzentriert sich auf den
Kern der Leistung und des Nutzens und kapriziert sich
nicht auf Nebenschauplätze möglicher Einzigartigkeit.
3. Ausrichtung am Kundenprozess vor Medien und
Instrumenten: Kundenprozesse sind der Schlüssel für
wirksames Marketing, alle weiteren Entscheide zu
Medien, Touch Points und Instrumenten folgen danach.
4. Schritte vor dem Kauf vor einer Fixierung auf den
Kaufakt: Die Schritte die zum Kauf führen sind wichtig,
im Prozess sind viele Handlungen, Annäherungen,
Commitments des Kunden nötig. Die Fixierung auf den
finalen Kaufakt verhindert den Aufbau von Beziehungen
oft systematisch.
5. Dialog vor Monolog: Reales Marketing folgt eher den
Prinzipien des Dialoges, des Stimulus und der Reaktion.
Der Dialog involviert den Kunden, besonders im Inbound
Marketing.
6. Bottom-up vor Top-down Marketing: Marketing wird von
der wirksamen Begleitung des Kunden geprägt. Es
entwickelt sich von unten nach oben, vom Einzelfall zum
Gesetz, vom zufälligen Erfolg zur Strategie. Damit
werden fein ausgedachte Konzepte, die dann doch
meistens nicht funktionieren, in die Schranken
verwiesen.
7. Moderation vor Invasion: Wirksames Marketing
moderiert die Kunden und Märkte und gestaltet
vorsichtig.
8. Differenzierung vor Integration: Marketing konzentriert
sich darauf, mit vielfältigen Situationen der Kunden
umzugehen. Integration und Abstraktion werden dann
genutzt, wenn sich Einsparungen erzielen lassen.
9. Zusammenarbeit vor Spezialisierung: Kundenprozesse
sind die Basis für ein Alignement von Marketing,
Produktmanagement, Vertrieb und Informatik.
10. Dezentrale Marketingarbeit vor zentralem Spass im
Marketing: Neues Marketing ist Knochenarbeit und
ersetzt das Cüpli im Art Directors Club. Die
kundennahen Aktivitäten lassen sich zudem schwieriger
an aussenstehende Dienstleister delegieren. Mindestens
steigt die eigene Leistung, was zusätzliche Ressourcen
erfordert.
19
und anschliessend die
Images der Kunden
abgefragt. Auch bei
erreichten Zielen,
braucht das aber nicht
positiv auf Umsatz und
Ertrag zu wirken.
Diese Prinzipien lassen sich unternehmensspezifisch
bereinigen, ergänzen und konkretisieren.
Grundsatz bleibt: Umsatz und Ertrag sind die Ziele für
Marketing und Vertrieb; nicht irgendwelche Wirkungen im
Kopf des Kunden oder fragwürdige Zwischenziele.
Vielfältige Lösungsansätze
Reales Marketing ist breiter als auf den ersten Blick
sichtbar. Die Ansätze und Zusammenhänge zeigt die
folgende Abbildung 4.
Abbildung 4: Ansätze des realen Marketing
20
Wir erkennen folgende Lösungen:
Reales Marketing ist
vielfältig.
Ist preisorientiertes
Marketing nicht
besonders real?
Preisermässigungen sind
attraktive Signale, zeitlich
beschränkt fördern sie
das sofortige Handeln der
Kunden. Sie sprechen
den Kaufentschlossenen
an, also auch jene die
besonders treu sind (und
ohnehin kaufen). Bei den
‚Noch-nicht-ganzEntschlossenen‘ oder den
Nicht-Abgeneigten
mobilisieren aber
Preisermässigungen
unzureichend. Marketing
müsste sich hier auf die
Vorstufen zum Kauf
richten (nach
Rutschmann).
Preisaktionen als reales
Marketing ist nicht zu
vernachlässigen, wir
suchen aber eher nach
Alternativen.
1. Customer Centricity: Top Management und
Management suchen die Nähe zum Kunden. Erstens
entsteht Customer Centricity nicht im Schonraum des
Sitzungszimmers, sondern in der Interaktion mit
Kunden. Zweitens ist die aktuelle Kundenorientierung
ergebnisorientiert und orientiert sich nicht an
illusionären Vorstellungen eines ‚alles für den Kunden‘.
2. Innovation und Logik: Das Angebot ist für Kunden
wichtig und substanziell und das Marketing verfolgt
eine klare Marketinglogik
3. Database: Database Marketing und E-Mining sind
professionelle Grundlage für den Learning Loop von
Unternehmen, aus jeder Aktion eines Unternehmens
lassen sich Ergebnisse in den Daten integrieren und
damit verbessern.
4. Micro-Verhalten: Micro-Verhaltensanalysen des
Kunden sind Basis für die Marketingaktivitäten, dazu
braucht es eine eigene Methodik.
5. Kundenprozess: Kundenprozess-orientiertes Marketing
ist etappiert und setzt an den Stellhebeln für
fortgesetzte Prozesse an, dabei spielen oft 40-60
Zwischenschritte des Kunden – aber nur wenige
Stellhebel eine Rolle.
6. Kundenlösungen: Kundenlösungen begleiten den
Kunden; Produkte sind einfach und intuitiv zu bedienen
und überraschen den Kunden positiv (vgl. z.B. Apple);
Lösungen für Kunden sind dabei zunehmend auf die
Kundenprozesse und verschiedene Interaktionsmodelle
bezogen (vgl. auch 7.).
7. Intensität der Zusammenarbeit: Interaktionsmodelle
lassen den Kunden aus verschiedenen Modellen der
Zusammenarbeit wählen, damit werden ungelöste
Probleme der Segmentierung aufgefangen
8. Inbound Marketing: Inbound Marketing fördert und nutzt
die Kundeninitiative und ist Volltreffermarketing,
Kunden und Kundenereignisse lösen Marketing aus
9. Kundenereignisse: Events, Erlebnis- und Fabrikzentren
bis zu verschiedenen Formen des Point of Sale oder
Messen schaffen ganzheitliche, nachhaltige und
‚käufige‘ Erlebnisse
10. Kommunikationsinhalte: Kommunikation bewegt sich
nahe am Kunden und akzentuiert den Kernnutzen;
Erfahrungs- und Mitmachermarken gewinnen, Social
Media ist ein möglicher, starker Verstärker. Der
persönliche Verkauf ist ein Schlüssel.
Es gilt, die Zusammenhänge zwischen diesen Vorschlägen
zu berücksichtigen; auch in der zukünftigen Forschung.
21
Widerstände in Unternehmen
Die Argumentation mag überzeugend klingen. Warum
widerstrebt es aber vielen Verantwortlichen, auf die
Vorschläge zum realen Marketing einzutreten?
Vier Gründe sind:
Widerstände kommen oft
von den Spezialisten im
Marketing. Jene
Führungskräfte, die in der
Linie für Umsatz und
Ertrag zuständig sind,
greifen die Argumentation
des realen Marketing
rasch auf.
Additives Marketing ist
‚out‘. Es braucht eine
Logik und den Fokus.
1. Akzeptierte Theorien: Bisherige Paradigmen des
Marketing und Erklärungen bauen intensiv auf der Kraft
von Images, Positionierungen, Marken und
Inszenierungen auf. Zahlreiche Manager wurden so
ausgebildet. Ihre Theorien beeinflussen, was sie
erkennen; das ist menschlich. Wirksame aber neue
Argumente haben einen schwierigen Stand.
2. Eingespieltes Marketing: Das Marketing in
Unternehmen ist eingespielt. Die Organisationen, die
Fähigkeiten der Verantwortlichen, die Budgets und die
Prozesse für Entscheide sind so ausgerichtet, dass
sich das Markenparadigma realisieren lässt. Marketing
hat seine Rolle vielerorts als Gegenpart zum Vertrieb
definiert. Offenbar geht es um langfristige
Positionierungen und das strategische Wachstum des
Unternehmens - nicht um den heutigen Umsatz und
Ertrag. Die Handlungswelt bedroht den mühsam
geschaffenen Raum des Marketing. Verantwortliche
befürchten bereits, in Aktionen und Verkaufsförderung
abzugleiten (vgl. oben).
3. Addition von Neuerungen: Marketing verändert sich
rasch, das beteuern alle. Deshalb werden neue
Instrumente möglichst tagesaktuell integriert. In der
Regel addiert das Marketing neue Ansätze. Auch
reales Kundenverhalten wird schon erforscht und
reales Marketing an manchen Orten bereits betrieben.
Tun wir schon, lautet der Hinweis. Nur lässt sich
Marketing, welches sich konsequent an
Kundenprozessen orientiert, nicht einfach ergänzend
nutzen. Kundenprozesse sind ein neues Paradigma,
ein Ordnungsprinzip oder eine Marketinglogik.
Unternehmen müssen nicht neue Instrumente und
Vorgehensweisen dazu zählen, sondern ihren
grundlegenden Marketingansatz verändern.
4. Attraktivität des Marketing: Warum wählen Studierende
und später Manager das Fachgebiet des Marketing?
Da spielen wohl witzige oder ergreifende Spots,
weltbekannte Marken, Glamour und Ästhetik von
Kampagnen eine grosse Rolle. Kurz: die schöne Welt
des Marketing. Die Meinung ist dabei: Erst der Geist
der Marketingmanager, ihre Bilder, Emotionen und
Geschichten schaffen den Unterschied für Kunden,
profane und auswechselbare Leistungen sind dazu
längst nicht mehr in der Lage.
22
Erwartet werden also die vermeintlich grossen Würfe
des Marketing mit entsprechendem Applaus. Und wir
fordern die Marketingverantwortlichen auf, sich intensiv
mit den verästelten Prozessen des Kunden zu
befassen, die kritischen Stellen und geeigneten
Vorgehensweisen in diesem Prozess zu erkennen. Es
geht um Details, Tiefgang, gezielte Massnahmen und
Differenzierung. Auch das flankierende analytische
CRM mit zahlreichen Iterationen einer quantitativen und
computergestützten Datenanalyse (im Raum von Big
Data), wirkt für viele Marketingleute nicht eben
berauschend.
Flankiert werden diese Gründe durch ein erwünschtes
Menschenbild, welches sich mit Stichworten wie Freiheit,
Spielräume, Einheit von Wunsch – Reflektion – Willen und
Handlungen andeuten lässt (umfassend Bieri 2011).
Menschen, die sich treiben lassen; situative Bedingungen ,
die Handlungen auslösen oder eingespielte
Verhaltensmechanismen wirken demgegenüber
bedrohlich. Ästhetik und Rationalität sind willkommener als
platte Wirksamkeit.
Erfolg ist der grösste
Motivator.
Die Verantwortlichen des Marketing können sich jedoch
langfristig nicht erfreuen, wenn sie erfolglos bleiben.
Erfolg beflügelt und die Spielräume im
prozessorientierten Marketing wirken zwar auf Anhieb
weniger spektakulär. Für jene, die sich aber einlassen,
sind die neuen Marketingaufgaben spannend, kreativ
und innovativ. Wirksamkeit schlägt die fein ausgedachte
Konzepte und Marketingkonzepte um Längen.
Change Management
Es gibt Unternehmen, die vom vorgeschlagenen Weg
überzeugt sind. Wie gelingt es ihnen aber, sich nachhaltig
am realen Marketing zu orientieren? Es genügt nicht, die
Ausrichtung am Kundenprozess bei einzelnen Aktionen im
Direktmarketing zu erproben. Die Anforderungen an das
Management greifen sehr viel weiter, wie folgende
Abbildung zeigt.
23
Abbildung 5: Management für reales Marketing
Change Management ist
der Anspruch.
Die Karte zum realen
Marketing lässt
verschiedene Wege zu.
Wie üblich bewegt sich
dieser Weg zwischen
schnellen Gewinnen und
dem langfristigen
Aufbau.
Die Ansätze fassen wir wie folgt zusammen:
1. Aufmerksamkeit und Engagement des Top
Management: Der Ansatz des realen Marketing ist
abteilungsübergreifend. Die Gewichte in den
Marketingaufgaben und den Budgets werden neu
gesetzt. Die Voraussetzungen der Informatik müssen
zentral entschieden werden. Zudem ist reales Marketing
eine grundsätzliche Haltung, wohlwollende Neutralität
genügt nicht. Auch oberste Manager brauchen den
Draht zum Kunden.
Das Top Management ist (einmal mehr) für eine
Umorientierung gefordert, diese wichtigen Neuerungen
ergeben sich nicht einfach aus dem internen Kräftespiel
zwischen Spezialisten.
Auch mit der Bekenntnis zur ‚Bottom-upVorgehensweise‘ braucht es in Unternehmen also
manche Voraussetzungen, die sich nur Top-down
schaffen lassen.
Wichtigste Top-down Funktion ist die
Leistungsinnovation, die dem Kunden vorausgeht. Das
Unternehmen und sein Angebot müssen für den Kunden
substanziell sein.
24
Die Ausbildung an
Fachschulen bis
Universitäten hat die
Schwerpunkte für das
neue Marketing bisher
ungenügend gesetzt.
Budgets müssen sich an
der Gesamtaufgabe
ausrichten. Der Kampf
um Budgets zwischen
den Spezialfunktionen
des Marketing und
Vertriebs führt zu
keinem wirkungsvollen
Ergebnis. Kunden zum
Kauf zu führen, ist diese
gemeinsame Aufgabe.
2. Neue Fähigkeiten der Verantwortlichen in Marketing und
Vertrieb: Ganze Heerscharen von klassischen
Marketingbeauftragten und ausgebildeten
Marketingfachleuten brauchen neue Ziele, Aufgaben und
damit Fähigkeiten im Marketing. Zukünftige
Marketingverantwortliche sind eher Ingenieure,
Informatiker, Prozess-Spezialisten. Sie verlassen den
Schutz der schlüssigen Markenargumentation.
Vertriebsleute suchen den Schulterschluss mit dem
Marketing. Gemeinsam führen Marketing und Vertrieb
den Kunden zum Kauf. Dazu brauchen wir gleichzeitig
mehr Generalisten.
3. Neue Allokation der Budgets: Der Druck auf Budgets der
klassischen Markenführung setzt sich fort. Ebenso gilt
es, die klassische Marktforschung in der
Identifikationswelt des Kunden drastisch zu kürzen.
Allerdings genügt es nicht zu sparen. Es gilt, die Mittel
wirksamer im Kundenprozess einzusetzen. Die
wirksame Budgetallokation stützt sich auch auf die
Ergebnisse von cleveren Pilotprojekten, Experimenten
und Tests.
4. Neue Erfolgsmessung: Die Messpunkte verlagern sich
vom Umsatz auf die relevanten Zwischenschritte im
Kaufprozess des Kunden. Nicht einzelne Instrumente
werden für sich allein optimiert, sondern
Gesamtergebnisse und Ergebnisse der Instrumente und
Aktionen werden kombiniert. Nur so lassen sich die
Querbeziehungen zwischen Aktivitäten (etwa Off- und
Online) angemessen abbilden.
5. Neue Rollen und Organisation (auch international):
Organisatorisch gilt es, Marketing und Vertrieb
zusammen zu führen - Marketing ist
Vertriebsunterstützung, bereitet neue Märkte vor und
positioniert das Unternehmen für die Kunden
substanziell. Unternehmen bewegen sich schrittweise
zur Kundenorganisation. Key Account Management ist
dabei ein Vorreiter. Es gilt, mehr Wertschöpfung des
Unternehmens auf Kunden zu spezialisieren. Weitere
Dimensionen, wie beispielsweise Produkte oder Länder
büssen an Gewicht ein.
International lässt sich Rollenteilung vereinfachen, wenn
sich das Headquarter auf eine massvolle Markenführung
konzentriert und sich die Länder auf
kundenprozessorientiertes Marketing fokussieren.
Kurz zusammengefasst: Der Weg zum realen Marketing
besteht in einem umfassenden Change Management.
25
Unterschiedliche Roadmaps oder Journeys zum Ziel des
realen Marketing gilt es zu erproben. Diese Umorientierung
ist langfristig, trotz der verbreiteten Kurzlebigkeit in der
heutigen Zeit.
Prozessorientiertes Marketing
Marketing ist bisher zu
wenig prozessorientiert,
obschon andere
Unternehmensdisziplinen vorangingen
und den Weg ebneten.
Nespresso veränderte
die Kundenprozesse
vielfältig. Beispielsweise
brauchen sich
Wohngemeinschaften
nicht mehr für
gemeinsame
Kaffeesorten zu
entscheiden, jeder wählt
sein eigenes Aroma mit
der Kapsel. Kaffee lässt
sich zubereiten, ohne
dass Pulver verschüttet
wird. Die Vorratshaltung
ist erleichtert.
Nachbestellungen per
Internet und Post sind
einfach. Systeme von
Maschine und
Kaffeekapseln sind
aufeinander abgestimmt
und binden den Kunden.
Der Kaffeegenuss wird
zelebriert. Weitere
Produkte lassen sich für
den Kunden im
Geschäftsmodell
integrieren.
Wir vermuten, dass
diese
Prozessinnovationen
weit stärker wirken, als
die längere Werbung mit
George Clooney.
Es ist ein Trend, sich vermehrt an Prozessen zu orientieren.
In der Produktion hat sich die Diskussion von der Produktzur Prozessinnovation verlagert. Auch die Diskussion von
umfassenden und innovativen Geschäftsmodellen ist häufig
durch Prozesse geprägt. Die Informatik orientiert sich an
Prozessen. Vorstellbare Vorteile für Kunden werden bereits
prognostiziert. Kunden erhalten mit informatikgestützten
Geschäftsmodellen everything (alles aus einer Hand),
everywhere (ortsunabhängig), anytime (7-mal-24 Stunden)
one stop (ohne Wartezeiten und Unterbrechungen);
individuell (Segment-of-One), mit einem Ansprechpartner
(One-Face-to-the-Customer) und anyhow (mit frei
gewählten Kommunikations- und Transaktionsmitteln).
Diesen ergiebigen Initiativen ist gemeinsam, dass Prozesse
des Unternehmens erneuert und optimiert werden:
schlanker, einfacher, billiger, schneller und besser. Richten
Unternehmen ihre Aktivitäten konsequent an wichtigen
Prozessen aus, so gelingt es auch, dass Abteilungen und
Spezialisten wirksam zusammen spielen.
Im Marketing ist die Diskussion um Prozesse
verhältnismassig wenig entwickelt, wenn auch bereits
eingeleitet. Hier besteht besonders die Chance, nicht nur
eigene Prozesse des Unternehmens zu gestalten, sondern
Marketing und Vertrieb konsequent an Prozessen des
Kunden zu orientieren.
Manche vielgelobten Best Practices im Marketing beruhen
auf veränderten Prozessen der Anbieter und Kunden. Nur
wird die Prozessperspektive oft als Erklärung für die Erfolge
nicht besonders berücksichtigt. Nespresso, Starbucks,
Easy.com, Google, Zalando, Digitec bis zum Apple iPhone
liessen sich unter dieser Perspektive erörtern. Hier liegen
auch Chancen für kleine Anbieter wie Black Socks oder
bebasic.ch.
Oft werden Prozesse der Anbieter und Kunden so stark
vereinfacht und verkürzt, dass sich auch preislich relevante
Vorteile erreichen lassen. Prozessorientierung schliesst
aber auch Premium-Angebote mit ein.
26
5. Erkennbarkeit des realen Marketing
Lässt sich Identifikationsmarketing und reales Marketing in der
Praxis unterscheiden? Eine erste Hilfe sind die vorstehenden
Prinzipien.
Um reales Marketing
zu erfassen, muss
auch umschrieben
werden, was es nicht
ist.
Viele aktuellen
Begriffe und Ansätze
der
Kundenorientierung
liegen in der Luft. Sie
klingen alle ähnlich.
Sie nähren häufig die
Erwartung, dass sich
die aktuellen
Herausforderungen
einfacher und
oberflächlicher
meistern lassen, als
wir das vorschlagen.
Reales Marketing
lässt sich nicht an
den eingesetzten
Instrumenten
festmachen.
Dilettanten
diskutieren
mehrheitlich über
Instrumente.
‘Darauf kommt es
nicht an’, begann
Luzia langsam.
‘Schlechte
Schneiderinnen reden
immer nur über ihre
Maschinen. Oder
über die Nadeln. Gute
nähen einfach. Ich
glaube, beim
Schiessen ist das
nicht anders. Zehn-
Reales Marketing ist ein übergeordneter Ansatz und lässt sich
nicht einfach festmachen. Einige Hinweise sind:
•
Sensibilisierung: Vergleichsweise rasch kann der
sensibilisierte Analytiker die abgehobenen und
unglaubwürdigen oder nur unterhaltenden Formen der
Marktbearbeitung erkennen. Demgegenüber trifft und
mobilisiert reales Marketing den Menschen und wirkt
plausibel und direkt. Reales Marketing nutzt den Reiz der
Handlung, Belohnungs- und Verstärkungsmechanismen
und die Gestaltungsprinzipien des Dialogmarketing.
•
Clichés oder vorhandene Schemen: Manche Hersteller
verlagerten ihre Marktbearbeitung auf
Handelsunterstützung und Aktionen. Aktionen und viele
Gags oder Kundenüberraschungen sind jedoch nicht
handlungsorientiert und führen den Kunden nicht zum
Kauf. Weniger Image und mehr Aktionitis kennzeichnet das
reale Marketing nicht. Auch die klassische Unterscheidung
von Pull-Marketing gegenüber Konsumenten und PushMarketing gegenüber dem Handel entspricht nicht der
angezielten Differenzierung zwischen Identifikation und
Handlung.
•
Instrumente oder Medien: Zwar nutzt
Identifikationsmarketing eher TV-Spots, Dokumentationen
oder Werbekampagnen. Reales Marketing ist eher im
Telefonmarketing, im Verkaufsgespräch und
Direktmarketing anzutreffen. Medien machen aber nicht
den Unterschied, denn jedes Medium und jedes Instrument
lässt sich prozess- und handlungsorientiert einsetzen.
•
Umfassender Markenanspruch: Vertreter eines
umfassenden Verständnisses von Marken schliessen alle
Marketingaktivitäten und Erlebnisse des Kunden ein und
könnte demgemäss auch die ganze Orientierung an
Kundenprozessen einverleiben. Die Marke wird zur
Quintessenz im Kopf des Kunden über Unternehmen,
Sparten und Produkteinheiten. Auch Initiativen der
Markenmanager zu Erlebnissen des Kunden, zum Brand
Behavior der Mitarbeitenden oder zur Mitmachmarke im
Internet belegen, dass sich das Markenverständnis
mindestens in der Konzeption verändert. Allerdings ist den
Markeninitiativen der Top-down Ansatz gemeinsam, die
Marke wird bis zum markenspezifischen
27
oder zwölfschüssige,
darüber diskutieren
nur schlechte
Schützen.’
De Pontes Peebles,
Frances (2010): Die
Schneiderin von
Pernambuco, Berlin:
Berliner Taschenbuch
Verlag, 3. A., S. 212
(eine Schwester
Luzia brennt mit dem
‘Falken’ mit einer
Bande Cangaceiros
in Nordbrasilien
durch, für die sie
aufwändig bestickte
Kleider näht).
Eine Entwarnung für
das bestehende
Direktmarketing ist
leider nicht möglich.
Begrüssungslächeln des Bankmitarbeiters definiert.
Einseitige Ansätze von oben nach unten zielen an der
Realität vorbei. Zudem überwiegt ein gelebtes
Markenverständnis, welches sich auf Corporate Identity
und Werbung konzentriert. Wenn umfassende
Markenführung gleichsam als das gesamte Marketing
interpretiert wird, verliert sie zudem die Berechtigung, weil
ihr Zugang nicht mehr abgegrenzt werden kann.
Marketingmassnahmen beruhen auf Customer Insight oder
Innovation. Mit einer konkreten, vorgelegten Werbung lassen
sich die Grundlagen und Wirkungen nur vermuten.
Die vorgelegten Argumente zum realen Marketing mögen die
Verantwortlichen für CRM, Direktmarketing, Call Centers oder
den Verkauf entlasten. Endlich fühlen sie sich in ihren
Ansätzen auch im Marketing bestärkt. Wollen Unternehmen
jedoch die Kunden in ihren etappierten Prozessen zum Kauf
führen, so sind auch diese Disziplinen herausgefordert. Auch
hier ist es noch nicht üblich, nahe am Kundenprozess
vorzugehen und die Kunden in ihrer Sprache zu treffen. Vieles
verpufft und bewegt sich entfernt vom Kaufprozess. Es ist also
weit mehr nötig, als ‚business as usual‘ im klassischen
Dialogmarketing. Manche Vertreter des Direktmarketing sind
zudem selbst überzeugt, dass vorerst die Markenführung ihre
Vorbereitungsaufgabe bei Kunden erfüllen muss, damit diese
mit ihren Massnahmen folgen können. Gleichzeitig versuchen
diese Spezialisten inzwischen ihre ungenügenden
Responsequoten mit zusätzlichen Imagewirkungen ihrer Mails
zu rechtfertigen. Weder Verständnis des realen Marketing
noch Nutzung sind verbreitet.
Nicht alles ist abgehoben, was im TV-Spot verkündet wird.
Nicht alles ist reales Marketing, was aggressiv und
verkaufsorientiert daherkommt. Voreilige Bewertungen nützen
dem Ansatz nicht.
Best Practices?
Reales Marketing ist
schon verbreitet.
Gibt es Unternehmen, die bereits reales Marketing kraftvoll
nutzen? Ja, die Beispiele sind vielfältig. Zara verzichtet auf
Werbung und konzentriert sich auf den Point of Sales – dort
wo Modeprodukte und Kunden sich treffen. Google ist nur
durch die Handlungen der Kunden stark geworden. Konkrete
Suchprozesse und –ergebnisse auf dem Internet machten die
Marke Google für Kunden stark. Ähnlich ist die Argumentation
für Amazon. Offensichtlich eignet sich E-Marketing besonders
für handlungsauslösendes Vorgehen. Das iPhone von Apple
setzte den Erfolgszug nicht durch die Werbung mit
Schattenprofilen in Gang, sondern die Produkte sind
nutzerfreundlich, wertig und liegen gut in der Hand. Kunden
28
erleben das Produkt positiv und damit wird die Marke stark.
Interessant auch eine Begegnung mit Verantwortlichen für die
Marken von Estée Lauder (Marktführer in der Schweiz). Wir
vermuteten, dass im Marketing für Kosmetik die klassische
Werbung, die Welt der Schönheit und Ästhetik dominieren
muss. Offensichtlich betrachtet jedoch das Unternehmen den
Verkaufspunkt und die Interaktion mit Kunden als eindeutigen
Schwerpunkt, klassische Werbung ist lediglich flankierend und
weniger gewichtet.
Kaum geht es
Unternehmen besser,
so sind sie versucht
die Fehler der
Wettbewerber
nachzuahmen.
KMU’s sollten sich
vor der
Verschwendungsfalle
mit vermeintlicher
MarketingProfessionalität hüten
Manche Unternehmen verlagerten ihre Budgets still von
abgehobener Imagewerbung zu ‚below the line‘ Massnahmen.
Mindestens ist das ein erster Schritt, um näher an
Kundenprozessen vorzugehen, wenn auch die überbordende
Aktionitis oft noch wenig dazu beiträgt. Manche Branchen
haben sich nahezu von TV- und Zeitschriftenwerbung
verabschiedet oder übergeordnete Markenaktivitäten massiv
vermindert. Wenn jedoch Budgets gesenkt werden, so
empfiehlt es sich in der Regel, nicht auch noch laut darüber zu
sprechen. Wohl deshalb werden diese Veränderungen kaum
erörtert.
Schliesslich betreiben kleine und mittlere Unternehmen oft
schon naturgemäss ein reales Marketing: nahe am Kunden,
direkt, bezogen auf individuelle Kundenprozesse. Sie scheuen
Übertreibungen und ihr Marketing ist mit Augenmass gestaltet.
So auch viele Industrieunternehmen, wie beispielsweise SFS
(CH-Heerbrugg) mit Befestigungstechnik, Werkzeugen usw. Im
Vordergrund stehen Fragen wie: Versteht der Kunde das? Wo
können Kunden in ihrem Erfolg unterstützt werden? Wie
reagieren Kunden?
6. Folgerungen
Sie brauchen unserer
Argumentation nicht
zu folgen. Vielleicht
ist es aber nützlich zu
bemerken, dass wir
recht haben.
Manche Unternehmen kürzen ihre Budgets im Marketing
massgeblich und schrittweise. Parallel entdeckt Marketing
laufend neue Instrumente und verteilt die kleineren Budgets
auf noch mehr Schauplätze. Diese Situation ist kaum
ermutigend. Marketing braucht eine kraftvolle Logik und klare
Erfolge. Reales Marketing leistet das.
Reales Marketing steht näher an der Denkweise von
Verantwortlichen für Direktmarketing, E-Marketing oder
Vertrieb. Wenn sich aber Marketing auf diese Entwicklungen
einlässt, verstärkt es (wieder)
seine Position und seinen Einfluss.
Wir stehen mit praktischen Lösungen am Anfang. Stichworte
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sind beispielsweise: Experimentierkultur und –management in
Unternehmen, Spielregeln für reales Customer Insight,
relevante Verhaltensmuster aus dem CRM,
Verhaltensprinzipien der Kunden, vertiefte Ansätze des realen
Marketing (z.B. Inbound Marketing, Zusammenspiel von
Kundenprozess-Marketing und CRM), reales Marketing und
Social Media – Zusammenspiel von on- und offline, Gestaltung
als Schlüssel für Kundenhandlungen oder neue
Anforderungen an Marketingverantwortliche. Die Liste liesse
sich leicht erweitern und gemeinsame Prioritäten sind nötig.
(Hausfassade in St.
Gallen)
Der Entwicklungsbedarf ist gross, wie beispielsweise auch die
CMO-Studien von IBM 2012 zeigen. 50-70% der befragten
Marketing-Verantwortlichen fühlen sich ungeeignet vorbereitet
für Datenexplosion, Social Media, wachsende Zahl von
Kommunikationskanälen und –geräten, Änderungen im
Verbraucherverhalten, finanzielle Einschränkungen,
abnehmende Markentreue, Chancen auf Wachstumsmärkten,
Verantwortung für den ROI, Zusammenarbeit mit Kunden und
Einfluss von Kunden, Datenschutzaspekte und globales
Outsourcing (in der Reihenfolge der gewichteten Defizite). Die
Verunsicherung ist gross und es bleibt viel zu tun.
Quellen
Belz, Christian et al. (2011): Innovationen im Kundendialog,
Wiesbaden: Gabler.
Bieri, Peter (2011): Das Handwerk der Freiheit, 10.A.,
Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Cialdini, Robert B. (2010): Die Psychologie des Überzeugens,
6. Auflage, Bern: Huber.
Dobelli, Rolf (2011): Die Kunst des klaren Denkens, München:
Hanser.
Dobelli, Rolf (2012): Die Kunst des klugen Handelns,
München: Hanser.
IBM (Hrsg.): CMO-Studie 2012.
Kahnemann, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames
Denken, München: Siedler.
Noelle-Neumann, Elisabeth (1982): Umfragen in der
Massengesellschaft. Einführung in die Methoden der
Demoskopie, Hamburg: Rohwolt Tachenbuch.
Ohne Verfasser (2012): Werbung contra Realität, Köln:
30
Eichborn.
Rust, Holger (2011): Das kleine Schwarze – Jugendliche
Autoträume als Herausforderung für das
Zukunftsmanagement, Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Rutschmann, Marc (2005): Kaufprozesse von Konsumenten
erkennen und lenken, Wiesbaden: Gabler.
Rutschmann, Marc (2013): Abschied vom Branding, 2.A.,
Wiesbaden: Gabler.
Autor
Prof. Dr. oec. Christian Belz (Jahrgang 1953) ist Ordinarius für
Marketing an der Universität St. Gallen (HSG) und leitet seit
1991 das Institut für Marketing. Seine Aufgaben umfassen
Lehre, Forschung und Praxisprojekte. Er ist Aufsichtsrat in
mehreren Unternehmen und Mitbegründer sowie –
herausgeber der Marketing Review St. Gallen.
Mit einer Gruppe von Fachexperten befasst sich Ch. Belz
auch seit vielen Jahren mit Dialogmarketing, neuen Formen
der Marktbearbeitung und Vertrieb.
Einige neueren Bücher von Ch. Belz sind (oft in
Zusammenarbeit mit weiteren Autoren): Stark im Vertrieb
(2013), Marketing gegen den Strom (2.A.; 2012)
Internationaler Vertrieb (2012), Einfluss des Marketing (2011),
Innovationen im Kundendialog (2011), Marketing in einer
neuen Welt (2010), Interaktives Marketing (2008), Smart
Account Management - Erfolg mit kleinen Geschäften im B-toB-Marketing (2008), Innovation driven Marketing (2007) und
Spannung Marke (2006).
[email protected]
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