6.12 Sequenz von therapeutischen Zielsetzungen und Interventionen

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6 Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie
6.12
Sequenz von therapeutischen Zielsetzungen
und Interventionen
Bekanntlich ist jede Psychotherapie, jede Patient-Therapeut-Beziehung und jeder
einzelne therapeutische Entwicklungsschritt individuell einmalig, so dass keine Behandlung wirklich mit der anderen übereinstimmt. Dennoch lässt sich strukturbezogene Psychotherapie als eine Sequenz von angestrebten Therapiezielen und dazu
verwendeten therapeutischen Interventionen darstellen. Die folgenden acht Punkte
spielen alle eine bedeutsame Rolle in der therapeutischen Entwicklung struktureller
Fähigkeiten. Je nach diagnostischem Schwerpunkt der strukturellen Störung werden unterschiedliche Fähigkeiten stärker geübt, wiederbelebt oder neu entwickelt
werden müssen.
1. Therapieziel: Das Verhalten und Erleben als Muster sehen lernen.
Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt seine Wahrnehmungen zur Verfügung und spiegelt dem Patienten ein Bild seines Verhaltens bzw. einen Eindruck seines Erlebens. („Ich nehme wahr, dass Sie etwas immer wieder so und so
tun/erleben.“)
2. Therapieziel: Das Verhaltensmuster als emotionale Antwort auf eine aktuelle
(äußere oder innere) Situation sehen lernen.
Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt seine Wahrnehmung und sein
emotionales Erleben zur Verfügung und spiegelt dem Patienten ein Bild von dessen emotionaler Situation. („Ich nehme wahr, dass Sie in einer bestimmten Situation einen bestimmten Affekt haben bzw. einen Affekt nicht haben, den man
dort erwarten könnte“; „wäre ich in Ihrer Situation, hätte ich wahrscheinlich das
Gefühl ...“; „wenn ich Ihnen zuhöre, geht es mir gefühlsmäßig so ...“)
3. Therapieziel: Herausarbeiten eines funktionellen Schemas.
Therapeutische Interventionen: Therapeut entwirft ein Modell, nach dem die inneren und äußeren Ereignisse beim Patienten ablaufen. („Es hat den Anschein,
immer wenn Sie sich in diese Situation gebracht fühlen, werden Sie von etwas
völlig überwältigt, in Erregung versetzt, gelähmt, gehen Ihre Gedanken nur noch
in eine Richtung …“)
4. Therapieziel: Das affektive Schema als etwas biographisch Gewachsenes akzeptieren, das auch Bewältigungsversuche beinhaltet.
Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt Überlegungen an oder gibt Informationen darüber, was kleine Kinder/größere Kinder/Jugendliche/Erwachsene an belastenden Lebenssituationen ertragen und bewältigen können bzw. was
sie stattdessen brauchen würden. („Wenn jemand schon als Schulkind mit einer
solchen Familienkatastrophe konfrontiert wird, ist er massiv überfordert, auch
wenn er alles ihm Mögliche tut, um die Situation zu ertragen oder zu meistern“;
„eine andere Reaktionsweise als die Ihrige stand Ihnen wahrscheinlich gar nicht
zur Verfügung.“)
6.12 Sequenz von therapeutischen Zielsetzungen und Interventionen
5. Therapieziel: Die heutige Funktionalität/Dysfunktionalität des Verhaltensmusters untersuchen: Was nutzt es, was schadet es?
Therapeutische Interventionen: Therapeut regt an zu bilanzieren, was mit diesem
Muster günstigenfalls erreicht werden kann bzw. welche selbstschädigenden Seiten/pathogenen Überzeugungen in ihm enthalten sind. („Vielleicht könnten Sie
die Kosten und Nutzen dieses Vorgehens abwägen; mein Eindruck ist, Sie zahlen
einen hohen Preis und gehen sehr lieblos mit sich um.“)
6. Therapieziel: Das Verhaltensmuster als etwas Eigenes akzeptieren und Verantwortung dafür übernehmen.
Therapeutische Interventionen: Therapeut macht Entlastungsangebote bezüglich
der vermeidbaren Selbstüberforderung. („Vielleicht müssten Sie in Ihrer Situation nicht unbedingt ...“). Therapeut benennt Belastungsforderungen bezüglich
unvermeidlicher Realitäten, z. B. der anstehenden Entwicklungsaufgaben.
(„Wahrscheinlich ist es unvermeidlich, dass Sie als Frau/Mann in Ihrem Alter, in
Ihrer Situation ...“)
7. Therapieziel: Alternative Möglichkeiten erproben.
Therapeutische Interventionen: Therapeut unterstützt den Patienten aktiv bei
der Suche nach oder dem Ausprobieren von neuen Möglichkeiten. Er stellt sich
als Mentor/Coach/Elternersatz zur Verfügung, äußert Anerkennung für unternommene Versuche, Ermutigung bei gescheiterten Ansätzen, Freude bei erfolgreichen Bemühungen. („Manche in Ihrem Alter würden wahrscheinlich auf die
Idee kommen ...“; „ich finde es erstaunlich, dass Sie den Versuch gewagt haben“;
„das ist leider schiefgegangen, aber es muss nicht der letzte Versuch gewesen
sein ...“; „vielleicht müssen wir uns gemeinsam überlegen, wie man diese Situation bewältigen könnte.“)
8. Therapieziel: Die therapeutische Situation nutzen lernen.
Therapeutische Interventionen: Therapeut fokussiert auf die therapeutische Situation, in der die interpersonellen strukturellen Probleme gerade so deutlich werden wie in anderen Beziehungen. Er äußert keine Vermutungen zu Übertragungsaspekten (bezüglich dessen, was der Patient „eigentlich“ will). Er fungiert
als Chronist für die erarbeiteten Schritte und stellt die Chronik bei Bedarf zur
Verfügung. Er sieht sich selbst und die Therapie nicht als aktuellen Mittelpunkt
im Leben des Patienten, sondern als Reflexionsort und Anlaufstelle, die der Patient bei Bedarf nutzen kann (speziell zu Therapiebeginn mit allen technischen
Mitteln wie Brief, Fax, Telefon, SMS, E-Mail etc.).
Am Anfang (1. Ziel) steht wahrscheinlich immer die Aufgabe der kognitiven Differenzierung in der Selbstreflexion und in der realistischen Wahrnehmung der Objektwelt. Es folgt (2. Ziel) das Vertrautwerden mit den eigenen Emotionen, das Verstehen und Verwörtern emotionaler Erfahrungen, die Herstellung von emotionalen
Kontexten für erlebte Situationen. Ziel 3 beinhaltet Auseinandersetzungen mit intrapsychischen Prozessen („ich tue etwas, weil ...“ oder „um zu ...“ oder „damit nicht
...“) wodurch auch symptomwertige Handlungen in einen Sinnzusammenhang ein-
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gewoben werden. Ziel 4 vertieft dieses Selbstverständnis darüber hinaus durch die
biographischen Erfahrungen.
Die Ziele 2, 3 und 4 enthalten die strukturelle Aufgabe der Integration, mit Ziel 5
und 6 beginnt die Verantwortungsübernahme für das eigene Wohlergehen, der Abwendung von Schaden von der eigenen Person. Schon diese Punkte und erst recht
7 und 8 beinhalten nicht nur die Verwirklichung des zunehmend konturierten
Selbst, sondern auch die emotionale Nutzung der therapeutischen Beziehung, d. h.
sie dienen der aktiven Hereinnahme neuer emotionaler Erfahrungen und der Internalisierung von positiven neuen oder wiederbelebten Beziehungserfahrungen.
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Strukturelle Therapiefoki
In der sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Praxisstudie analytische Langzeittherapie (Grande et al. 1997; Rudolf et al. 2002a) wurde die Logik der therapeutischen
Zielsetzung und Fokusformulierung auf der Grundlage der OPD verwendet. Dazu
wurden therapeutische Foki aus der Heidelberger Fokusliste ausgewählt und im
Therapieverlauf auf ihre therapeutische Veränderung hin untersucht.
Fokus: Als Foki kommen diejenigen Merkmale der Befunde in Betracht, welche die Störung
mit verursachen und aufrechterhalten und deshalb für die Psychodynamik des Krankheitsbildes und für die geplante Behandlung eine bestimmende Rolle spielen.
Therapieziel: Die diagnostische Fokusauswahl lässt sich zugleich als therapeutische Handlungsempfehlung verstehen. Sie legt fest, welche Aspekte von Beziehung, Konflikt und Struktur insbesondere therapeutisch bearbeitet werden sollen.
Die „Strukturbezogene Psychotherapie“, 1. Auflage, hatte dieses Prinzip aufgegriffen, dabei allerdings im Strukturbereich eine neue Systematik eingeführt, die jeweils den gleichen strukturellen Aspekt einmal auf das Selbst und dann auf das
Objekt bezogen darstellte. Diese Gliederung wiederum fand Eingang in OPD-2
(2006), wobei die Zuordnung einiger Strukturitems geringfügig verändert wurde.
Die „Strukturbezogene Psychotherapie“, 2. und 3. Auflage, ist bezüglich der strukturellen Fokusmerkmale identisch mit OPD-2.
Die Liste (Tab. 6-18) der strukturellen Fähigkeiten soll es dem Therapeuten erlauben,
• einen diagnostischen Überblick über mögliche strukturelle Probleme seiner Patienten zu gewinnen,
• jene Punkte herauszugreifen, die psychodynamisch als Foki der Störung verstanden werden können und die daher als Therapieziele für die psychotherapeutische Behandlung ins Auge gefasst werden können sowie
• zum Abschluss der Behandlung die Veränderungen in den Fokusthemen als
Kriterien der therapeutischen Besserung überprüfen zu können.
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Strukturelle Therapiefoki
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Tab. 6-18 Strukturelle Fähigkeiten: Foki und Therapieziele
I. Kognitive Ebene: Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung
Das Selbst wahrnehmen
Die Objekte realistisch wahrnehmen
1.1 Selbstbild reflektieren und ausdifferenzieren
1.4 Selbst-Objekt-Differenzierung: eigene Gedanken, Bedürfnisse, Impulse von denen anderer
unterscheiden
1.2 Eigene Affekte differenzieren
1.5 Andere in ihren verschiedenen Aspekten, d. h.
ganzheitlich wahrnehmen
1.3 Eigene Identität entwerfen und weiterentwickeln können
1.6 Ein realistisches Bild von anderen entwerfen
II. Regulative Ebene: Steuerung und Abwehr
Das Selbst steuern
Den Bezug zum Objekt steuern
2.1 Sich von Impulsen distanzieren, Impulse
steuern und integrieren
2.4 Die Beziehung vor eigenen störenden Impulsen schützen; intrapsychische statt interpersonelle Abwehr
2.2 Sich von Affekten distanzieren und Affekte regulieren
2.5 In Beziehungen die eigenen Interessen aufrechterhalten und die Interessen anderer angemessen berücksichtigen
2.3 Sich von Kränkungen distanzieren,
Selbstwert regulieren
2.6 Die Reaktionen anderer antizipieren
III. Emotionale Ebene: Fähigkeit zur Kommunikation
Das Selbst emotional erleben
Die Beziehung zu den anderen beleben
3.1 Eigene Affekte generieren und erleben
3.4 Emotionale Kontaktaufnahme: Gefühle anderen gegenüber zulassen, Besetzungen wagen
3.2 Eigene Fantasien entwerfen
3.5 Eigene Affekte zum Ausdruck bringen, sich
von den Affekten anderer erreichen lassen
3.3 Die eigene Körperwahrnehmung bzw. das
Körperselbst emotional beleben
3.6 Empathie erleben
IV. Bindungsebene: Innere Bindung und äußere Beziehung
Gute innere Objekte haben
Die anderen als gute Objekte nutzen
4.1 Internalisierung: emotional positive
Selbst- und Objektbesetzungen aufbauen
und erhalten können
4.4 Bindungsfähigkeit: sich emotional an andere
binden können (mit Dankbarkeit, Fürsorge,
Schuld, Trauer)
4.2 Positive Introjekte: für sich sorgen, sich
beruhigen, trösten, helfen, schützen, für sich
eintreten
4.5 Hilfe annehmen: Unterstützung, Versorgung,
Sorge, Anleitung, Entschuldigung von anderen
annehmen (oder ihnen geben können)
4.3 Variable und trianguläre Bindungen:
unterschiedliche innere Objektqualitäten;
Zuwendung zum einen ist nicht Abwendung
vom anderen
4.6 Sich aus Bindungen lösen und Abschied
nehmen können
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6 Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie
Für traditionelle Psychoanalytiker bedeutet dieses Vorgehen womöglich eine unzulässige Vereinfachung und nüchterne Versachlichung jener „inneren Welt“, der sie
sich möglichst unvoreingenommen nähern und auf die sie sich für lange bis sehr
lange Zeit teilnehmend einlassen wollen. Nach unseren Erfahrungen ist es durchaus
möglich, Foki und Therapieziele zu formulieren und dennoch eine den unbewussten Prozessen des Patienten zugewandte kreative Haltung einzunehmen. Eine sachlich funktionale Sicht auf die psychische Entwicklung des Patienten und auf sein
psychisches Erleben ist nicht zwangsläufig rein rationalistisch und behavioral, sondern durchaus psychodynamisch, wenn darunter verstanden wird, dass die unbewussten interpersonellen Angebote eines Patienten vom Therapeuten mit den verschiedenen Facetten seiner eigenen Gesamtpersönlichkeit – rational und emotional, bewusst und unbewusst – aufgenommen, prozessiert und in die Beziehung
zurückgegeben werden.
Die Liste beschreibt strukturelle Fähigkeiten, die dem Patienten möglicherweise nicht ausreichend zur Verfügung stehen (diagnostischer Befund), die den psychodynamischen Kern der aktuellen Störung ausmachen (Foki) und deren Stabilisierung/Wiedergewinnung/Neuentwicklung in der Behandlung erreicht werden
soll (Therapieziel), so dass damit auch Kriterien für das Behandlungsergebnis gegeben sind. Gemeint ist damit nicht das gesamte Ergebnis, sondern dessen strukturelle Aspekte; in der OPD-Logik können weitere Ergebniskriterien auf den übrigen
Achsen, z. B. Konflikt und Beziehung, verwendet werden.
Nachdem nun eine solche Differenzierung von strukturellen Aspekten vorgenommen wurde, kann es hilfreich sein, die darauf bezogenen Therapieziele noch
stärker mit dem praktischen therapeutischen Handeln zu verknüpfen. Hier ist
nun in keiner Weise eine Vollständigkeit angestrebt, denn an diesem Punkt kommt
die außerordentlich große individuelle Varianz der Therapeuten zur Geltung, die je
nach Alter und Geschlecht, nach Persönlichkeitsentwicklung und Vorbildung, nach
ihren therapeutischen Kompetenzen und Vorlieben dort unterschiedlich handeln,
wo des jeweiligen „Rätsels Lösung“ eine aus dem Moment geborene, auf die individuelle Patientenpersönlichkeit und Therapiesituation zugeschnittene Vorgehensweise erfordert. So könnte wahrscheinlich jede erfahrene Therapeutin und jeder
erfahrene Therapeut ergänzend zu dem Vorgelegten seine ganz eigene Antwort auf
die therapeutischen Aufgaben formulieren.
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