148 6 Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie 6.12 Sequenz von therapeutischen Zielsetzungen und Interventionen Bekanntlich ist jede Psychotherapie, jede Patient-Therapeut-Beziehung und jeder einzelne therapeutische Entwicklungsschritt individuell einmalig, so dass keine Behandlung wirklich mit der anderen übereinstimmt. Dennoch lässt sich strukturbezogene Psychotherapie als eine Sequenz von angestrebten Therapiezielen und dazu verwendeten therapeutischen Interventionen darstellen. Die folgenden acht Punkte spielen alle eine bedeutsame Rolle in der therapeutischen Entwicklung struktureller Fähigkeiten. Je nach diagnostischem Schwerpunkt der strukturellen Störung werden unterschiedliche Fähigkeiten stärker geübt, wiederbelebt oder neu entwickelt werden müssen. 1. Therapieziel: Das Verhalten und Erleben als Muster sehen lernen. Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt seine Wahrnehmungen zur Verfügung und spiegelt dem Patienten ein Bild seines Verhaltens bzw. einen Eindruck seines Erlebens. („Ich nehme wahr, dass Sie etwas immer wieder so und so tun/erleben.“) 2. Therapieziel: Das Verhaltensmuster als emotionale Antwort auf eine aktuelle (äußere oder innere) Situation sehen lernen. Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt seine Wahrnehmung und sein emotionales Erleben zur Verfügung und spiegelt dem Patienten ein Bild von dessen emotionaler Situation. („Ich nehme wahr, dass Sie in einer bestimmten Situation einen bestimmten Affekt haben bzw. einen Affekt nicht haben, den man dort erwarten könnte“; „wäre ich in Ihrer Situation, hätte ich wahrscheinlich das Gefühl ...“; „wenn ich Ihnen zuhöre, geht es mir gefühlsmäßig so ...“) 3. Therapieziel: Herausarbeiten eines funktionellen Schemas. Therapeutische Interventionen: Therapeut entwirft ein Modell, nach dem die inneren und äußeren Ereignisse beim Patienten ablaufen. („Es hat den Anschein, immer wenn Sie sich in diese Situation gebracht fühlen, werden Sie von etwas völlig überwältigt, in Erregung versetzt, gelähmt, gehen Ihre Gedanken nur noch in eine Richtung …“) 4. Therapieziel: Das affektive Schema als etwas biographisch Gewachsenes akzeptieren, das auch Bewältigungsversuche beinhaltet. Therapeutische Interventionen: Therapeut stellt Überlegungen an oder gibt Informationen darüber, was kleine Kinder/größere Kinder/Jugendliche/Erwachsene an belastenden Lebenssituationen ertragen und bewältigen können bzw. was sie stattdessen brauchen würden. („Wenn jemand schon als Schulkind mit einer solchen Familienkatastrophe konfrontiert wird, ist er massiv überfordert, auch wenn er alles ihm Mögliche tut, um die Situation zu ertragen oder zu meistern“; „eine andere Reaktionsweise als die Ihrige stand Ihnen wahrscheinlich gar nicht zur Verfügung.“) 6.12 Sequenz von therapeutischen Zielsetzungen und Interventionen 5. Therapieziel: Die heutige Funktionalität/Dysfunktionalität des Verhaltensmusters untersuchen: Was nutzt es, was schadet es? Therapeutische Interventionen: Therapeut regt an zu bilanzieren, was mit diesem Muster günstigenfalls erreicht werden kann bzw. welche selbstschädigenden Seiten/pathogenen Überzeugungen in ihm enthalten sind. („Vielleicht könnten Sie die Kosten und Nutzen dieses Vorgehens abwägen; mein Eindruck ist, Sie zahlen einen hohen Preis und gehen sehr lieblos mit sich um.“) 6. Therapieziel: Das Verhaltensmuster als etwas Eigenes akzeptieren und Verantwortung dafür übernehmen. Therapeutische Interventionen: Therapeut macht Entlastungsangebote bezüglich der vermeidbaren Selbstüberforderung. („Vielleicht müssten Sie in Ihrer Situation nicht unbedingt ...“). Therapeut benennt Belastungsforderungen bezüglich unvermeidlicher Realitäten, z. B. der anstehenden Entwicklungsaufgaben. („Wahrscheinlich ist es unvermeidlich, dass Sie als Frau/Mann in Ihrem Alter, in Ihrer Situation ...“) 7. Therapieziel: Alternative Möglichkeiten erproben. Therapeutische Interventionen: Therapeut unterstützt den Patienten aktiv bei der Suche nach oder dem Ausprobieren von neuen Möglichkeiten. Er stellt sich als Mentor/Coach/Elternersatz zur Verfügung, äußert Anerkennung für unternommene Versuche, Ermutigung bei gescheiterten Ansätzen, Freude bei erfolgreichen Bemühungen. („Manche in Ihrem Alter würden wahrscheinlich auf die Idee kommen ...“; „ich finde es erstaunlich, dass Sie den Versuch gewagt haben“; „das ist leider schiefgegangen, aber es muss nicht der letzte Versuch gewesen sein ...“; „vielleicht müssen wir uns gemeinsam überlegen, wie man diese Situation bewältigen könnte.“) 8. Therapieziel: Die therapeutische Situation nutzen lernen. Therapeutische Interventionen: Therapeut fokussiert auf die therapeutische Situation, in der die interpersonellen strukturellen Probleme gerade so deutlich werden wie in anderen Beziehungen. Er äußert keine Vermutungen zu Übertragungsaspekten (bezüglich dessen, was der Patient „eigentlich“ will). Er fungiert als Chronist für die erarbeiteten Schritte und stellt die Chronik bei Bedarf zur Verfügung. Er sieht sich selbst und die Therapie nicht als aktuellen Mittelpunkt im Leben des Patienten, sondern als Reflexionsort und Anlaufstelle, die der Patient bei Bedarf nutzen kann (speziell zu Therapiebeginn mit allen technischen Mitteln wie Brief, Fax, Telefon, SMS, E-Mail etc.). Am Anfang (1. Ziel) steht wahrscheinlich immer die Aufgabe der kognitiven Differenzierung in der Selbstreflexion und in der realistischen Wahrnehmung der Objektwelt. Es folgt (2. Ziel) das Vertrautwerden mit den eigenen Emotionen, das Verstehen und Verwörtern emotionaler Erfahrungen, die Herstellung von emotionalen Kontexten für erlebte Situationen. Ziel 3 beinhaltet Auseinandersetzungen mit intrapsychischen Prozessen („ich tue etwas, weil ...“ oder „um zu ...“ oder „damit nicht ...“) wodurch auch symptomwertige Handlungen in einen Sinnzusammenhang ein- 149 150 6 Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie gewoben werden. Ziel 4 vertieft dieses Selbstverständnis darüber hinaus durch die biographischen Erfahrungen. Die Ziele 2, 3 und 4 enthalten die strukturelle Aufgabe der Integration, mit Ziel 5 und 6 beginnt die Verantwortungsübernahme für das eigene Wohlergehen, der Abwendung von Schaden von der eigenen Person. Schon diese Punkte und erst recht 7 und 8 beinhalten nicht nur die Verwirklichung des zunehmend konturierten Selbst, sondern auch die emotionale Nutzung der therapeutischen Beziehung, d. h. sie dienen der aktiven Hereinnahme neuer emotionaler Erfahrungen und der Internalisierung von positiven neuen oder wiederbelebten Beziehungserfahrungen. 6.13 Strukturelle Therapiefoki In der sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Praxisstudie analytische Langzeittherapie (Grande et al. 1997; Rudolf et al. 2002a) wurde die Logik der therapeutischen Zielsetzung und Fokusformulierung auf der Grundlage der OPD verwendet. Dazu wurden therapeutische Foki aus der Heidelberger Fokusliste ausgewählt und im Therapieverlauf auf ihre therapeutische Veränderung hin untersucht. Fokus: Als Foki kommen diejenigen Merkmale der Befunde in Betracht, welche die Störung mit verursachen und aufrechterhalten und deshalb für die Psychodynamik des Krankheitsbildes und für die geplante Behandlung eine bestimmende Rolle spielen. Therapieziel: Die diagnostische Fokusauswahl lässt sich zugleich als therapeutische Handlungsempfehlung verstehen. Sie legt fest, welche Aspekte von Beziehung, Konflikt und Struktur insbesondere therapeutisch bearbeitet werden sollen. Die „Strukturbezogene Psychotherapie“, 1. Auflage, hatte dieses Prinzip aufgegriffen, dabei allerdings im Strukturbereich eine neue Systematik eingeführt, die jeweils den gleichen strukturellen Aspekt einmal auf das Selbst und dann auf das Objekt bezogen darstellte. Diese Gliederung wiederum fand Eingang in OPD-2 (2006), wobei die Zuordnung einiger Strukturitems geringfügig verändert wurde. Die „Strukturbezogene Psychotherapie“, 2. und 3. Auflage, ist bezüglich der strukturellen Fokusmerkmale identisch mit OPD-2. Die Liste (Tab. 6-18) der strukturellen Fähigkeiten soll es dem Therapeuten erlauben, • einen diagnostischen Überblick über mögliche strukturelle Probleme seiner Patienten zu gewinnen, • jene Punkte herauszugreifen, die psychodynamisch als Foki der Störung verstanden werden können und die daher als Therapieziele für die psychotherapeutische Behandlung ins Auge gefasst werden können sowie • zum Abschluss der Behandlung die Veränderungen in den Fokusthemen als Kriterien der therapeutischen Besserung überprüfen zu können. 6.13 Strukturelle Therapiefoki 151 Tab. 6-18 Strukturelle Fähigkeiten: Foki und Therapieziele I. Kognitive Ebene: Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung Das Selbst wahrnehmen Die Objekte realistisch wahrnehmen 1.1 Selbstbild reflektieren und ausdifferenzieren 1.4 Selbst-Objekt-Differenzierung: eigene Gedanken, Bedürfnisse, Impulse von denen anderer unterscheiden 1.2 Eigene Affekte differenzieren 1.5 Andere in ihren verschiedenen Aspekten, d. h. ganzheitlich wahrnehmen 1.3 Eigene Identität entwerfen und weiterentwickeln können 1.6 Ein realistisches Bild von anderen entwerfen II. Regulative Ebene: Steuerung und Abwehr Das Selbst steuern Den Bezug zum Objekt steuern 2.1 Sich von Impulsen distanzieren, Impulse steuern und integrieren 2.4 Die Beziehung vor eigenen störenden Impulsen schützen; intrapsychische statt interpersonelle Abwehr 2.2 Sich von Affekten distanzieren und Affekte regulieren 2.5 In Beziehungen die eigenen Interessen aufrechterhalten und die Interessen anderer angemessen berücksichtigen 2.3 Sich von Kränkungen distanzieren, Selbstwert regulieren 2.6 Die Reaktionen anderer antizipieren III. Emotionale Ebene: Fähigkeit zur Kommunikation Das Selbst emotional erleben Die Beziehung zu den anderen beleben 3.1 Eigene Affekte generieren und erleben 3.4 Emotionale Kontaktaufnahme: Gefühle anderen gegenüber zulassen, Besetzungen wagen 3.2 Eigene Fantasien entwerfen 3.5 Eigene Affekte zum Ausdruck bringen, sich von den Affekten anderer erreichen lassen 3.3 Die eigene Körperwahrnehmung bzw. das Körperselbst emotional beleben 3.6 Empathie erleben IV. Bindungsebene: Innere Bindung und äußere Beziehung Gute innere Objekte haben Die anderen als gute Objekte nutzen 4.1 Internalisierung: emotional positive Selbst- und Objektbesetzungen aufbauen und erhalten können 4.4 Bindungsfähigkeit: sich emotional an andere binden können (mit Dankbarkeit, Fürsorge, Schuld, Trauer) 4.2 Positive Introjekte: für sich sorgen, sich beruhigen, trösten, helfen, schützen, für sich eintreten 4.5 Hilfe annehmen: Unterstützung, Versorgung, Sorge, Anleitung, Entschuldigung von anderen annehmen (oder ihnen geben können) 4.3 Variable und trianguläre Bindungen: unterschiedliche innere Objektqualitäten; Zuwendung zum einen ist nicht Abwendung vom anderen 4.6 Sich aus Bindungen lösen und Abschied nehmen können 152 6 Manual zur strukturbezogenen psychodynamischen Therapie Für traditionelle Psychoanalytiker bedeutet dieses Vorgehen womöglich eine unzulässige Vereinfachung und nüchterne Versachlichung jener „inneren Welt“, der sie sich möglichst unvoreingenommen nähern und auf die sie sich für lange bis sehr lange Zeit teilnehmend einlassen wollen. Nach unseren Erfahrungen ist es durchaus möglich, Foki und Therapieziele zu formulieren und dennoch eine den unbewussten Prozessen des Patienten zugewandte kreative Haltung einzunehmen. Eine sachlich funktionale Sicht auf die psychische Entwicklung des Patienten und auf sein psychisches Erleben ist nicht zwangsläufig rein rationalistisch und behavioral, sondern durchaus psychodynamisch, wenn darunter verstanden wird, dass die unbewussten interpersonellen Angebote eines Patienten vom Therapeuten mit den verschiedenen Facetten seiner eigenen Gesamtpersönlichkeit – rational und emotional, bewusst und unbewusst – aufgenommen, prozessiert und in die Beziehung zurückgegeben werden. Die Liste beschreibt strukturelle Fähigkeiten, die dem Patienten möglicherweise nicht ausreichend zur Verfügung stehen (diagnostischer Befund), die den psychodynamischen Kern der aktuellen Störung ausmachen (Foki) und deren Stabilisierung/Wiedergewinnung/Neuentwicklung in der Behandlung erreicht werden soll (Therapieziel), so dass damit auch Kriterien für das Behandlungsergebnis gegeben sind. Gemeint ist damit nicht das gesamte Ergebnis, sondern dessen strukturelle Aspekte; in der OPD-Logik können weitere Ergebniskriterien auf den übrigen Achsen, z. B. Konflikt und Beziehung, verwendet werden. Nachdem nun eine solche Differenzierung von strukturellen Aspekten vorgenommen wurde, kann es hilfreich sein, die darauf bezogenen Therapieziele noch stärker mit dem praktischen therapeutischen Handeln zu verknüpfen. Hier ist nun in keiner Weise eine Vollständigkeit angestrebt, denn an diesem Punkt kommt die außerordentlich große individuelle Varianz der Therapeuten zur Geltung, die je nach Alter und Geschlecht, nach Persönlichkeitsentwicklung und Vorbildung, nach ihren therapeutischen Kompetenzen und Vorlieben dort unterschiedlich handeln, wo des jeweiligen „Rätsels Lösung“ eine aus dem Moment geborene, auf die individuelle Patientenpersönlichkeit und Therapiesituation zugeschnittene Vorgehensweise erfordert. So könnte wahrscheinlich jede erfahrene Therapeutin und jeder erfahrene Therapeut ergänzend zu dem Vorgelegten seine ganz eigene Antwort auf die therapeutischen Aufgaben formulieren.