INGRID L AUSUND Rafael Spregelburd Luzid Originaltitel: Lucido Deutsch von Sonja und Patrick Wengenroth Lucas wird 25 und zur Feier des Tages lädt er seine Mutter Tété und seine ältere Schwester Lucrèce in ein exquisites Restaurant ein. Die Speisekarte enthält Ausgewähltes, der Kellner ist höflich und die Familie ausgesprochen glücklich. Was zunächst wie eine Familienidylle anmutet, degeneriert mit jeder Wiederholung der Szene zu einem Albtraum. Mutter und Tochter streiten ums Erbe. Der Kellner versenkt den Personalausweis von Lucas aus Versehen in kochendem Wasser. Anstatt vor einem Geburtstagskuchen sitzt der junge Mann vor dem Scherbenhaufen seiner Identität. Rafael Spregelburd beschreibt in seiner schnellen, schwarzen Tragikomödie eine Familie im Ausnahmezustand. Denn während Lucas in seinen »Klarträumen«, deren Inhalt er selbst bestimmen kann, versucht, sich eine glückliche Familie zu imaginieren, kehrt seine Schwester Lucrèce in der Realität nach Jahren der Abwesenheit nach Hause zurück. Schließlich gibt es aber noch eine andere Wirklichkeit, und die hat mit Tété zu tun. (2 D, 2 H) Uraufführung: 2. Dezember 2006, Sala La Planeta, Girona (Festival de Temporada Alta 2006) Regie: Rafael Spregelburd Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Rafael Spregelburd, geboren 1970 in Buenos Aires, ist Dramatiker, Regisseur, Übersetzer und einer der wichtigsten Vertreter des zeitgenössischen argentinischen Theaters. Spregelburd hat in maßgeblichen Filmen mitgespielt und ist einer der bekanntesten Schauspieler des Landes. 2012 ist er künstlerischer Leiter der »École des Maîtres«, einer Theaterakademie in italienischer, französischer, portugiesischer und belgischer Kooperation. 1994 gründete Spregelburd als Regisseur seine eigene Theaterkompanie »El Patrón Vázquez«, mit der er vorwiegend eigene Stücke inszeniert und international tourt. Er erhielt über 40 argentinische und internationale Preise, zuletzt 2011 den Argentinischen Nationalpreis für sein Stück Die Sturheit (La terquedad). Es ist der höchste Preis, den das Land Argentinien an einen Autor vergibt. Spregelburds Stücke wurden im deutschsprachigen Raum u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Berliner Schaubühne, an den Münchner Kammerspielen, am Theater Basel, am Staatstheater Stuttgart, dem Nationaltheater Mannheim, am Schauspiel Frankfurt sowie am Badischen Staatstheater Karlsruhe aufgeführt. Call me God, eine Gemeinschaftsarbeit mit Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Gian Maria Cervo, wird am Bayerischen Staatstheater uraufgeführt (siehe Seite 17). Luzid wurde in Argentinien, Frankreich, Peru, Spanien und Italien erfolgreich inszeniert. »Man lacht viel in ›Luzid‹, und in dieser Inszenierung wird das pure Vergnügen deutlich, mit dem sich die Schauspieler diesem ›Schmierentheater‹ hingeben, das der Text zulässt. Gemeinsam mit den Zuschauern teilen sie das Vergnügen, sich auf eine intelligente Weise unterhalten zu lassen, denn genau das erlaubt Spregelburd.« ›art‹ anlässlich der Inszenierung von ›Luzid‹ am Pariser Théatre des Champs-Elysées im April 2012 80 Foto: Sebastián Freire 81 RAFAEL SPREGELBURD Katastrophengeschichten Rafael Spregelburd im Gespräch Als »Bewohner der Peripherie der Welt«, wie sich Rafael Spregelburd selbst beschreibt, ist der Argentinier ein scharfer Beobachter der Europäischen Union, deren politische und kulturelle Entwicklung der »fröhliche Pessimist« auch theatral reflektiert. Einige Fragen zu seinem viel gespielten Stück Die Dummheit, zu seiner Poetik und seinem bisher in Deutschland nicht aufgeführten Stück Luzid. Nina Peters: Das Stück ›Die Dummheit‹ war ein Teil deines siebenteiligen Werkkomplexes, der »Heptalogie des Hieronymus Bosch«. Du hast damit eine umfassende moderne menschliche Komödie geschrieben. Ist sie tatsächlich abgeschlossen? Rafael Spregelburd: Das Projekt der Heptalogie ist auf eine Art abgeschlossen mit den sieben Stücken über die Todsünden. Dennoch kommt es immer wieder dazu, dass dieses Schreiben von Zyklen an anderen Stellen meines Werkes zu Tage tritt. Mich interessiert die seltsame Intertextualität, die ein Autor zwischen den Welten seiner unterschiedlichen Stücke kreieren kann, als würde es sich um eine einzige Textfläche handeln. Alles, was ich entdeckt und gelernt habe im Verlauf der zwölf Jahre, die ich an diesem Zyklus geschrieben habe, ist auch in meinen zukünftigen noch ungeschriebenen Stücken gegenwärtig. Aber auch beispielsweise in Bizarra (einer theatralen Telenovela in zehn Episoden) oder in Alles, wo sich drei verschiedene Fabeln entspinnen. Oder bei dem, was ich gerade schreibe, eine lose Skizzenfolge über den Mythos vom Ende Europas. ›Die Dummheit‹ wurde weltweit nachgespielt und wird 82 in Deutschland auch in der Spielzeit 2012/2013 aufgeführt. Was ist das Besondere an diesem Stück? Die Dummheit ist der vierte Teil dieser Heptalogie und daher vielleicht, weil er sich genau im Zentrum dieses Projektes befindet, derjenige, der aus dem Komplex am höchsten herausragt. Sowohl aufgrund seiner Länge als auch wegen seiner Komplexität scheint es alle Forderungen dieser Heptalogie auf die Spitze zu treiben: eine bruchstückhafte Struktur, ein fehlgeleitetes symbolisches Wörterbuch (als ob die Chiffren der verloren gegangenen Moderne für uns schon nicht mehr zu entziffern sind), eine moralische Reflexion über die Intelligenz oder eher noch ihre Abwesenheit, eine politische Dimension (und zwar in der Art und Weise, in der gezeigt wird, dass die Realität eine künstliche Konstruktion im Dienste des »Status quo« ist und dass jeder Versuch, diese Konstruktion über den Haufen zu werfen, einen Versuch darstellt, die Realität zu verändern), eine kleinliche Kommunion zwischen unvereinbaren Ebenen der Sprache (die Hochkultur mit Elementen einer »niederen Kultur«: Fernsehserien treffen auf Theorien der Thermodynamik, komplexe mathematische Formeln auf das Melodrama), eine tiefgreifende Bastardisierung, ein gebündeltes Aufeinandertreffen von Humor und Melancholie und ein deliröser Geist von Freiheit: da es nun mal keinen Sinn macht, ein Stück zu machen, um den Zuschauern auf didaktische Art den Zuschauern zu zeigen, wie sie sich befreien sollen, kann man wenigstens versuchen, diese Freiheit im Schreiben selbst auszuüben und dann die Freude oder die Enttäuschung über das zu teilen, was diesem gesetzeswidrigen Akt entspringt. ›Die Dummheit‹ kreist um die Habgier von Menschen, auf hundert Seiten kommen, in Screwball-Geschwindigkeit, Menschen in Motels in mehreren Erzählsträngen zusammen. Das ist vor allem komisch, aber nicht nur. Die Einsamkeit der Menschen, ihre spirituelle Haltlosigkeit sind offensichtlich. Wie wichtig ist es für dich, dass die »Tragödie« der Figuren im Hintergrund sichtbar bleibt? Ich bin mir nicht sicher, ob wir die traurige, verzweifelte Komponente unbedingt »Tragödie« nennen müssen, die die 24 Figuren durchleben. Wir sollten uns vor Augen führen, dass die Tragödie nur eine Art ist, Fiktionales zu interpretieren. Angefangen bei Beckett, ist bis heute hinreichend bewiesen worden, dass das Schicksal des Menschen (der seine ganze Realität auf der Basiserfahrung seines eigenen Todes betrachtet) nicht nur tragisch ist, sondern auch zutiefst lächerlich. Ich habe mit Freuden gelernt, das Konzept der Tragödie gegen das Konzept der Katastrophe einzutauschen. Was genau meinst du damit? Wenn in der Tragödie eine kausale Verkettung von Ereignissen stattfindet, gibt es bei der Katastrophe Vorgänge, die in einer solchen Geschwindigkeit vonstattengehen, dass ihre Folgen den Ursachen voranzugehen scheinen. Die Aufgabe der Vernunft (also unsere Aufgabe) ist es, die Welt in Abfolgen von Ursache und Wirkung zu organisieren. Und genau dieser Imperativ der Vernunft lässt uns die Katastrophe als so verführerisch erscheinen: Es ist das pure Ereignis, der Wahnsinn der Vernunft, das Delirium der Geschehnisse. Und da lohnt es sich schon mal einen Blick darauf zu werfen, und sei es auch nur in dem Bereich, den wir »Fiktion« nennen. ›Luzid‹ ist ein konzentriertes, intimes Kammerspiel. Ein junger Mann hat Probleme mit seiner Identität, mit seiner Mutter … Und das ist zunächst einmal sehr komisch. Der Schluss bringt unerwartet eine neue Realitätsebene, auf die Komödie folgt die Tragödie. Wie ernst sollte man das Ende nehmen? So ernst, wie deine eigene Fähigkeit es dir erlaubt, Überraschungen zuzulassen. Ich glaube nicht, dass die melancholische Traurigkeit des Schlusses einen höheren Stellenwert hätte als der Humor, der ihm vorausgeht. Dennoch ist der Umstand, dass diese Traurigkeit uns völlig überraschend trifft, wesentlich, um in uns ein Gefühl der Verunsicherung hervorzurufen, das uns zwingt, die einzelnen Elemente der Handlung noch mal zu überdenken: Die Hinweise dieser Schilderung sind derart verborgen im Körper der Handlung von Luzid, dass sie uns im Moment ihres Erscheinens am Schluss des Stücks vorkommen, als kämen sie von einem anderen Planeten. Wie gesagt, die Tragödie ist nicht die Beschreibung eines unglücklichen Sachverhalts, sondern eine nichtkausale, in eine bestimmte Richtung verlaufende Organisation dieses Unglücks. Mir gefällt der Gedanke, dass meine Stück-Bastarde weder »Tragikomödien« noch »Komiktragödien« sind, sondern besser »Katastrophengeschichten«. Als du vor über zehn Jahren im deutschsprachigen Raum bekannt wurdest, warst du einer der erfolgreichsten Theatermacher in Argentinien, einem Land, dessen 83 RAFAEL SPREGELBURD Wirtschaftssystem gerade kollabiert war. Reizt es dich nicht, ein Stück über die Europäische Währungsunion zu schreiben? Ich versuche es. Mein neuestes Stück, Spam, behandelt auf periphere Weise die italienische Krise, aber es ist zugleich auch ein Stück über viele andere Sachen. In der École des Maîtres, in der ich derzeit in Italien Schauspieler aus verschiedenen Ländern unterrichte, reden wir über Strukturen von Katastrophen, Manierismen der Telenovelas und dem Mythos vom Ende Europas und unternehmen den Versuch, ein Stück über das zu entwickeln, was – genau genommen – der letzte Mythos ist, der in Europa erfunden wurde: der seines Verschwindens. Dieses Verschwinden ist in meinen Augen genauso mythisch wie seine Einheit. Europa verschwindet? In den Augen eines Fremden, eines Bewohners der Peripherie der Welt, eines Überlebenden der neolibe- ralen Modelle, die einem jetzt, augenscheinlich ohne Erfolg, die zentralen Länder beibringen, schien die Europäische Union einen unsichtbaren Pakt der Einheit und Harmonie mit einer einheitlichen Währung zu besiegeln. Aber das ist nur eine Illusion, ein monetäres Zeichen. Europa bedeutet viel mehr. Seine qualvollsten Epochen sind immer noch gegenwärtig im Blut der Kriege, mit denen seine Kartografie übersät ist, im unvermeidlichen Bumerang seines früheren Kolonialismus, in seiner fatalen Bestimmung einer Wirtschaft, die auf Konsum und Ausbeutung beruht. Und nichtsdestotrotz gibt es einen humanen Geist in diesem Integrationsplan eines geeinten Europa; einen Geist der Kooperation und Solidarität, einen Grad an Austausch von Erfahrungen, der – vielleicht – die Grenzen ausdehnen, die Verwünschungen Babels verlachen und das Zusammenleben der Völker veredeln könnte. Ich bin ein fröhlicher Pessimist, und aus diesem Widerspruch – vermute ich – speisen sich meine bastardisierten theatralen Reflexionen. Deutsch von Patrick Wengenroth Teté: Hallo, Doktor Rosso? … Können Sie mich zu ihm durchstellen? … Ja, ich weiß, dass er Sprechstunde hat, ich bin Teté, die Mama von seinem Klienten, von Lucas. … Gut, von seinem Patienten. Können Sie ihm sagen, dass es um Leben und Tod geht? … Hallo, Doktor Rosso. Sie kennen mich nicht, ich bin Teté. … Ja, die Mama von Lucas. … Ja, ich weiß schon, dass er da ist … und seine … Therapie macht. … Ja, und diese Sache mit den Klarträumen. … Ja, ja, dass er immer dasselbe träumt … das mit dem Restaurant ... Nein, nein, nein. Ich ziehe es vor, mit Ihnen zu sprechen. Ist er weit weg vom Telefon? Gut, hören Sie, was ich Ihnen sagen werde, machen Sie keine Gesten noch irgendetwas, denn Lucas wird sich erschrecken. Ich erzähle Ihnen, wie die Dinge sind, und Sie entscheiden, was wir ihm sagen und was nicht. 84 (aus: Luzid)