G. Kraft, Schwere Geschütze gegen Krebs, Physik - Pro

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ÜBERBLICK
BIOPHYSIK
Schwere Geschütze gegen Krebs
Der Weg der Schwerionentherapie von den physikalischen Einsichten zur klinischen Anwendung
Gerhard Kraft
Krebs ist nach Kreislauferkrankungen die häufigste
Todesursache. Grund genug, neue Erfolg versprechende Therapien zu entwickeln. Dazu zählt die
Schwerionentherapie, insbesondere mit Kohlenstoffionen. Jahrzehntelange Grundlagenforschung,
erfolgreiche klinische Tests und das Interesse der
Industrie haben nun endlich den Weg dafür geebnet,
die Krebstherapie mit schweren Ionen im Klinikalltag
zu etablieren.
F
ast jeder dritte Mensch erkrankt im Laufe seines
Lebens an Krebs. Mehr als die Hälfte der jährlich
350 000 neuen Fälle in Deutschland lässt sich
leider nicht heilen. Dies betrifft meist Erkrankungen
im fortgeschrittenen Stadium, bei denen sich Tochtergeschwülste (Metastasen) gebildet haben [1]. Doch
auch ein erheblicher Teil anfangs nicht metastasierter
Tumoren − das betrifft ca. 70 000 Patienten pro Jahr −
ist nicht erfolgreich zu behandeln. Oft liegt der Tumor
zu nahe an lebenswichtigen Organen. Eine radikale
chirurgische Entfernung wäre damit zu risikoreich, und
eine Hochdosisbestrahlung würde wegen zu großer
Nebenwirkungen am gesunden Gewebe scheitern.
Mit der Identifizierung von Krebsgenen vor dreißig
Jahren glaubten viele Mediziner an eine molekularbiologische Lösung des Krebsproblems. Trotz vieler Fortschritte auf diesem Gebiet haben sich viele der hochgesteckten Hoffnungen leider nicht erfüllt und noch
konnte kein Patient auf diese Weise behandelt werden.
Derzeit sucht man daher nicht mehr generelle, sondern
tumorspezifische Lösungen.
Eine vielversprechende Fortsetzung der konventionellen Therapien ist die gezielte Bestrahlung von
Tumoren mit geladenen Teilchen, wie Protonen und
vor allem den schwereren Kohlenstoffionen. Mit
ihnen lassen sich Tumore mit größerer biologischer
Effektivität und mit einer Präzision bekämpfen, die
auf andere Weise nicht zu erreichen wäre. Der erste
medizinische Einsatz der Ionentherapie liegt bereits
fünf Jahrzehnte zurück und fand 1954 in Berkeley statt.
Weltweit wurden seitdem mehr als 40000 Patienten
mit Protonenstrahlen behandelt und 3000 Patienten
mit Kohlenstoffionen, die meisten am japanischen
National Institute of Radiological Sciences (NIRS) in
Chiba. Bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung
(GSI) in Darmstadt gelang es, die physikalischen und
strahlenbiologischen Strahleigenschaften mit moder-
Für eine hochpräzise Schwerionentherapie von Hirntumoren
muss der Kopf des Patienten fixiert werden. Links ist das Ende
des Strahlrohrs mit den Monitoreinheiten zu sehen.
ner Beschleuniger- und Strahlführungstechnik effektiv
zu kombinieren, was bis jetzt mehr als 300 Patienten
zugute kam. Während die ersten Ionentherapien noch
an alten kernphysikalischen Beschleunigern stattfinden
mussten, kommen nun mehr und mehr auf die Therapie zugeschnittene Einheiten in Kliniken zum Einsatz.
Von den ersten Vorschlägen, geladene Teilchen zur
Tumorbehandlung anzuwenden, bis zur erfolgreichen
Therapie war es jedoch ein langer Weg. Erst der amerikanische Physiker Robert Rathbun Wilson erkannte im
Jahre 1946 die medizinische Bedeutung der invertierten
Tiefendosisverteilung von Ionenstrahlen [2], nachdem
er Ionisationsmessungen von Protonen und Kohlenstoffstrahlen am Zyklotron in Berkeley durchgeführt
K O M PA K T
■
■
■
In der Tumor-Strahlentherapie haben schwere Ionen
gegenüber Photonen den Vorteil, dass sie erst am
Ende der Teilchenbahn die größte Energiedosis an das
Körpergewebe abgeben.
Deshalb lassen sich mit schweren Ionen bestimmte
Krebsarten präziser bekämpfen, ohne das umgebende
gesunde Gewebe zu stark zu schädigen.
Langjährige strahlenbiologische und technische Vorarbeiten und ein erfolgreiches Testprojekt mit mehr
als 300 Patienten an der GSI in Darmstadt haben
die Voraussetzungen geschaffen für erste klinische
Schwerionen-Therapieanlagen, wie sie in Heidelberg
und Marburg gebaut werden.
© 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9437/07/0202-29
Physik Journal 6 (2007) Nr. 2
29
Prof. Dr. Gerhard
Kraft, TU Darmstadt
und Gesellschaft für
Schwerionenforschung (GSI),
Bereich Biophysik,
Planckstraße 1,
64291 Darmstadt
ÜBERBLICK
hatte. Zu dieser Zeit war es dank der Untersuchungen
des Ionisationsverlaufs von Alphateilchen durch
William Henry Bragg (1905) längst bekannt, dass die
Ionisationsintensität am Ende der Teilchenbahn ein
scharfes Maximum, den so genannten Bragg-Peak,
besitzt. Wenn Ionenstrahlen einer bestimmten Energie
in Körpergewebe eindringen, werden sie vorwiegend
durch inelastische Stöße mit den Elektronen der Atomhüllen des „Stoppermaterials“ abgebremst. Dabei geben die Ionen zunächst wenig Energie an das Gewebe
ab. Je langsamer sie werden, umso größer wird jedoch
die abgegebene Energiedosis, die schließlich am Ende
des Weges ein Maximum erreicht.
Im Gegensatz dazu fällt die Energie-Deposition
für Photonen (Röntgen-, Kobalt-Gamma- oder Elektronen-Bremsstrahlung) nach einem kurzen Anstieg
exponentiell ab. Für Photonen ist deshalb bei einer einseitigen Bestrahlung die Dosis vor einem tiefliegenden
Tumor höher als im Tumor selbst. Eine höhere letale
Tumordosis ist nur mit einer „Vielfeldertechnik“ zu erreichen, bei der die Eingangsdosis über mehrere Felder
verteilt wird. Dagegen lässt sich mit Teilchenstrahlen
auch bei tiefliegenden Tumoren und einer einzigen
Einstrahlrichtung eine höhere Dosis im Zielvolumen
deponieren als im davor liegenden Gewebe (Abb. 1).
Eine Reaktion der Ärzteschaft auf Wilsons Erkenntnisse blieb damals jedoch aus. Schließlich trieben
Cornelius A. Tobias und John Lawrence, der Bruder
des Leiters des Lawrence Berkeley National Laboratory
(LBL) Ernest Lawrence, die Ionentherapie mit strahlenbiologischen und technischen Experimenten weiter
voran. Bis zur ersten Patientenbestrahlung mit Protonen in Berkeley und kurz darauf in Harvard vergin-
5
12C-Ionen
250 MeV/u
4
300 MeV/u
relative Dosis
3
2
18-MeVPhotonen
1
60Co-Gamma
120-keVRöntgen
0
0
5
10
Tiefe in Wasser in cm
15
20
Abb. 1 Für Photonen fällt die deponierte Energie-Dosis exponentiell mit der Tiefe im Gewebe ab. Bei Teilchenstrahlen liegt
das Dosismaximum dagegen am Ende der Reichweite. Eine
hohe Dosis kombiniert mit hoher Wirksamkeit führt mit hoher
Wahrscheinlichkeit zur Zerstörung der Tumorzellen, während
die Schäden im Eingangskanal meist zu reparieren sind.
30
Physik Journal 6 (2007) Nr. 2
gen allerdings fast zehn Jahre. Der Versuch, die erhöhte
biologische Wirksamkeit schwerer Ionen auszunutzen,
begann noch einmal 15 Jahre später [3]. Bei der GSI
habe ich die Tumortherapie mit schwereren Ionen zum
ersten Mal 1975 als mögliches Arbeitsgebiet für das
damals in Planung befindliche Schwerionen-Synchrotron SIS vorgeschlagen. Vom ersten Projektvorschlag
bis zum Abschluss der ersten erfolgreichen klinischen
Testreihe galt es, umfangreiche strahlenbiologische
und technische Vorarbeiten zu leisten. Hier lag deshalb
von 1982 bis 1992 auch der Schwerpunkt der Arbeitsgruppe Biophysik an der GSI, nicht zuletzt, weil bis zur
Inbetriebnahme von SIS 1988 kein Beschleuniger mit
klinisch relevanten Energien zur Verfügung stand. Daneben gab es aber auch Vorbehalte und Widerstände
zu überwinden, denn das Thema Krebs wurde von
einigen im Bereich der physikalischen Grundlagenforschung als belastend empfunden.
Treffsicher bestrahlen
Ziel einer Tumortherapie ist es, alle Tumorzellen zu
entfernen. Wenn ein chirurgischer Eingriff nicht möglich ist, dann muss man den Tumor durch Strahlung so
schädigen, dass er nicht mehr weiter wächst und sich
auflöst. Die Kunst der Kohlenstofftherapie besteht also
zunächst darin, das besonders wirksame Ende der Teilchenspur strikt auf das Zielvolumen zu beschränken
und gesundes Gewebe auszusparen. In der Anfangszeit
der Ionentherapie wurde der Strahl in enger Analogie
zur konventionellen Photonentherapie mit passiven
Elementen wie Streufolien, Kollimatoren, Absorbern
und Reichweitenmodulatoren an den Tumor angepasst
[4]. Mit diesen Hilfsmitteln lassen sich zylinderförmige Hochdosisbereiche erzeugen und durch gezielte
Absorption so verbiegen, dass kritische Strukturen
hinter dem Zielvolumen ausgespart bleiben. Dies geschieht jedoch auf Kosten des gesunden Gewebes vor
dem Zielvolumen. Da Tumore meist unregelmäßig
und nicht etwa zylinderförmig geformt sind, liegt bei
der passiven Strahlformungsmethode etwa ein Drittel
des Hochdosisbereichs im Normalgewebe und sorgt
dort für Nebeneffekte, welche die maximal mögliche
Tumordosis begrenzen.
Die an der GSI entwickelte Strahlformung ist dagegen eine aktive Methode: Das Zielvolumen wird in
Schichten gleicher Teilchenreichweite zerlegt und jede
Schicht mit einem Netz von Rasterpunkten (Pixel)
überzogen. Für jedes Pixel lässt sich die Teilchenbelegung berechnen. Anschließend werden die Pixel
nacheinander ohne Unterbrechung mit einem feinen
„Bleistift“-Strahl bestrahlt, von Pixel zu Pixel von
einem schnellen magnetischen Ablenksystem geführt.
Dieses Rasterverfahren gestattet es, jede Tiefenschicht
in ihren Konturen frei vorzugeben und damit das Zielvolumen insgesamt an das Tumorvolumen anzupassen
(Abb. 2). Wie alle konformen Bestrahlungsmethoden
ist die Rastermethode empfindlich gegen Bewegungen
des Zielvolumens. Die Bestrahlung lässt sich aber mit
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ÜBERBLICK
Tumor
Polschuhe der Dipolmagneten
vertikale
horizontale
Ablenkung
Abb. 2 Beim Rasterscan-Verfahren führen zwei schnelle Magneten den feinen
„Nadelstrahl“ von einigen Millimetern
Durchmesser senkrecht und waagrecht
über jede Schicht des Tumors. Durch
Variation der Teilchenenergie lassen
sich einzelne Schichten zu einem ausgedehnten Zielvolumen hintereinander
setzen [7].
letzte Schicht,
niedrigste Energie
erste Schicht,
höchste Energie
dem Atemzyklus synchronisieren, sodass z. B. nur in
der Phase nach dem Ausatmen bestrahlt wird. Mit
dieser „Gating“-Anpassung ist eine hohe Konformität
möglich, aber die Bestrahlungszeit verlängert sich
erheblich. Eine alternative, ebenfalls an der GSI entwickelte Methode erlaubt es aber, den Strahl zeitgleich
der Bewegung nachzuführen. Dabei wird der Strahl
mit dem Rastersystem lateral und mit einer schnellen,
passiven Energievariation in der Tiefe der Atembewegung angepasst. Diese schnelle Korrektur erlaubt
eine hohe Präzision bei der Bestrahlung, sie wurde bis
jetzt aber nur an Phantomen durchgeführt. In einigen
Jahren sollte sie jedoch klinisch einsatzfähig sein und
dann eine präzise Bestrahlung für alle Tumore, auch
im Brust- und Bauchraum, ermöglichen.
biologisches Optimum (Abb. 3) [6]. Das Dosismaximum
liegt im Bereich der höchsten relativen biologischen
Wirksamkeit.
Die RBW ist das Ergebnis eines Wechselspiels von
lokaler Dosis im Mikrometerbereich und biologischer
Reparaturkapazität. Die lokale Dosis in den einzelnen Teilchenspuren hängt von der Ordnungszahl des
Projektils und dessen Energie ab. Entscheidend ist die
biologische Reparaturkapazität des Gewebes: Langsam wachsende Gewebe haben viel Zeit zur Reparatur
und sind deshalb besonders strahlenresistent; schnell
wachsende Gewebe sind dagegen meist strahlenempfindlicher. Reparaturfähigkeit und Strahlenresistenz als
Grundlage der RBW lassen sich bis heute nicht durch
molekulare Theorien vorhersagen. Aber es ist mög-
Gewünschte Strahlenschäden
6
3
Dosis in Gy
4
2
2
1
Abb. 3 Ein tumorähnliches Volumen
wurde mit verschiedenen Dosen
(a) so bestrahlt,
dass sich eine
homogene Zellabtötung im Tumorbereich (ab 6 cm
Tiefe) erzielen lässt
(b). Aus dem gemessenen Zellüberleben wurde
die relative biologische Wirksamkeit
(RBW) bestimmt
(c). Die Ergebnisse
zeigen, dass die
RBW, also die biologische Wirksamkeit im Vergleich
zu Röntgenstrahlung gleicher
Dosis, generell mit
der Tiefe ansteigt
und für kleine
Kohlenstoffdosen
am größten ist.
Wahrscheinlichkeit für Zellüberleben
0
1
1
b
2
3
0,1
4
0,01
3
1
c
2
3
RBW
Da in jeder individuellen Teilchenspur die lokale Ionisationsdichte zum Ende hin ansteigt, nimmt auch
die so genannte relative biologische Wirksamkeit
(RBW, siehe Infokasten „Strahlenqualität …“) zu:
Bei dünn ionisierenden Strahlen wie Photonen- oder
hochenergetischen Protonen entstehen meist vereinzelte Ionisationen in dem wichtigsten Molekül der
Zelle, der DNA. Diese Schäden manifestieren sich in
Einzelstrangbrüchen oder bei zunehmender Dosis in
wenigen komplexen Doppelstrangbrüchen. Die komplexen Schäden sind für die Zelle häufig irreparabel.
Dicht ionisierende Strahlung deponiert die Dosis in
einer begrenzten Teilchenspur.
Kohlenstoffionen können am Ende ihrer Teilchenspur ein DNA-Molekül mehrfach lokal ionisieren,
sodass auch bei niedrigen makroskopischen Dosen
gehäufte DNA-Schäden entstehen, welche die Reparaturfähigkeit der Zelle übersteigen und diese deshalb
inaktivieren [5]. Dies zeichnet Kohlenstoffionen vor
anderen Ionen aus: Bei Protonen liegt das Maximum
der biologischen Wirksamkeit auf dem abfallenden
Ende des Bragg-Maximums, und eine Steigerung der
RBW spielt klinisch kaum eine Rolle. Bei Ionen, die
schwerer als Kohlenstoff sind, wie z. B. Neon, liegt die
größte biologische Wirksamkeit vor dem Dosismaximum. Das bewirkt zu viele irreparable Schäden im
gesunden Gewebe vor dem Tumor, während im Tumor
Sättigungseffekte (Overkill) die Wirkung reduzieren.
Der Kohlenstoffstrahl bietet in der Tiefen-Verteilung der biologischen Wirksamkeit ein strahlen-
4
a
4
2
1
0
2
4
6
Tiefe in Wasser in cm
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8
10
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31
ÜBERBLICK
lich, auf Grund der mit Röntgenstrahlen gemessenen
Reparaturkapazität die Wirkung von Ionenstrahlen zu
berechnen.
Vor dem Beginn der Therapie war von der Abteilung Biophysik an der GSI in vielen Experimentserien
die Abhängigkeit der biologischen Wirksamkeit von
physikalischen und biologischen Parametern über
einen extremen Energie- und Teilchenbereich untersucht und anschließend modelliert worden: Im „Local-Effect Model“ (LEM) lässt sich die Wirkung von
Ionenstrahlen berechnen, indem man das biologische
Ziel, den Zellkern, der inhomogenen Dosisverteilung
von Teilchenspuren aussetzt. Aus den gemessenen
Dosiseffektkurven dünn-ionisierender Strahlung für
das Zellüberleben ergibt sich die Wirkung für die unterschiedlichen Dosisanteile in den Teilchenspuren
zunächst stückweise und lässt sich dann aus den Teilergebnissen zusammensetzen [8]. Basisdaten für die
Rechnung sind auf der biologischen Seite die Größe
der Zellkerne und die Reparaturkapazität gegenüber
Röntgenstrahlen, wie sie sich in der Krümmung der
Dosiseffektkurven ausdrückt. Auf der physikalischen
Seite bestimmt die radiale Dosisverteilung in der Spur
die biologische Effizienz. Sie hängt von den Teilchenenergie und der Ordnungszahl ab.
Dem LEM-Formalismus, wie er von Michael
Scholz entwickelt wurde, liegt die Faltung einer nichtlinearen Ansprechfunktion über eine inhomogene
Dosisverteilung zugrunde. Dieser Formalismus gilt
allgemein und kann auch erfolgreich die Bestrahlung
nichtbiologischer Systeme wie Röntgenfilme und
andere Festkörperdetektoren beschreiben. In der
Bestrahlungsplanung der GSI wird die biologische
Wirksamkeit RBW punktweise mit LEM auf der Basis
S T R A H L E N Q UA L I TÄT U N D R E L AT I V E B I O L O G I S C H E W I R K S A M K E I T
Strahlen können bei gleicher Dosis je
nach Qualität unterschiedliche biologische Wirkung zeigen. Man unterscheidet zwischen dünn ionisierender
Strahlung wie Elektronen, Gammaund Röntgenstrahlen und dicht ionisierender Strahlung wie Neutronen,
Alphateilchen und niederenergetischen schweren Ionen.
Die gleiche Dosis von verschiedenen
dünn ionisierenden Strahlen produziert den gleichen biologischen Effekt.
Für schwere Ionen gilt diese Regel
nicht. Hier können bei gleicher Dosis –
abhängig von Energie und Ordnungszahl der Ionen – verschiedene biologische Effekte auftreten. Ionen produzieren längs ihrer Bahn eine Spur von
Elektronen und Ionisation von sehr hoher lokaler Energiedosis bis zu einigen
Tausend Gray (Gy, 1 Gray entspricht 1
Joule pro Kilogramm). Der Schaden in
einer solchen Spur ist dann kaum noch
reparabel und die biologische Wirkung
korreliert nicht mehr mit der makroskopischen Dosis, sondern hängt auch
32
von der „Qualität“ der Strahlung ab.
Um diese Unterschiede zu berücksichtigen, wurde die Relative Biologische
Wirksamkeit (RBW) eingeführt.
Die RBW ist zunächst ein empirischer Faktor und berechnet sich aus
gemessenen Daten als das Verhältnis
aus Röntgendosis und Ionendosis, die
jeweils nötig sind, um denselben biologischen Effekt zu produzieren. Die
Biologisch Effektive Dosis (BED) wird
von den Schwerionenzentren in Gray
equivalent (Gye) angegeben, obwohl
dafür noch keine DIN-Norm existiert.
BED = RBW × Dosis
Für die Therapie wurde bei der GSI
eine semi-empirische Methode entwickelt, um die RBW auf Grund der
Strahlenempfindlichkeit gegenüber
Photonen zu berechnen: Im LocalEffect-Model (LEM) wird die inhomogene Dosisverteilung mit der meist
nichtlinearen Dosiseffekt-Kurve gefaltet, um den Teilcheneffekt und damit
die RBW zu berechnen [8].
Physik Journal 6 (2007) Nr. 2
der Wirkungsdaten derselben Tumorart in der konventionellen Photonentherapie berechnet. Die Qualität
dieser Berechung bestätigt sich in dem Ausbleiben von
Gewebevergiftungen (Nekrosen) bei möglichen Überdosierungen und von wieder aufwachsenden Tumoren
(Rezidiven) bei Unterdosierungen.
Das Pilotprojekt der GSI
Von der Heidelberger Radiologie gab es seit Mitte der
80er-Jahre großes Interesse, am Schwerionen-Synchrotron SIS von Anfang an eine Tumortherapie aufzubauen. Ein hierzu 1987 eingereichter Vorschlag wurde
1988 vom BMBF nicht akzeptiert unter Verweis auf den
European Light Ion Medical Accelerator (EULIMA).
Diese europäische Initiative hatte sich zum Ziel gesetzt,
ein supraleitendes Zyklotron zu entwickeln, das auf
kleiner Fläche einen Kohlenstoff- und einen ProtonenStrahl für die Therapie produzieren sollte. Projektierter
EULIMA-Standort war das Zentrum Lacasagne in
Nizza. Das Projekt scheiterte aus lokalpolitischen
Gründen. Die Gerüchte, dass das Projekt von einer
lokalen Mafia als Geldwaschanlage benutzt worden
war, konnten nie restlos ausgeräumt werden. Deshalb
hinterließ EULIMA in Brüssel ein sehr schlechtes
Image, das ähnliche Anträge für die nächsten zehn
Jahre blockierte. Für unsere Gruppe aber brachte
EULIMA das erste Geld für einen Doktoranden und
einen Ingenieur, mit denen der Rastercan-Prototyp in
Betrieb genommen werden konnte.
Erst im Mai 1993 fiel der Beschluss, eine experimentelle Therapieeinheit an der GSI zu bauen. Am 31.
Dezember 1997 konnten die ersten Patienten bestrahlt
werden. Grundlegende Voraussetzung dafür, die neue
Strahlentherapie zu konzipieren, war die wissenschaftliche und technische Expertise an der GSI in
den unterschiedlichsten Bereichen: Strahlenbiologie,
Kern- und Atomphysik, Elektronik und natürlich
Detektor- und Beschleunigertechnik. Damit gelang
es, die nötigen Einrichtungen am Beschleuniger und
den Bestrahlungsraum zu bauen und eine biologischbasierte Planung zu entwickeln. Dies entspricht dem
klassischen Weg des Wissenstransfers aus der Forschung zur Anwendung. Es gab aber auch die umgekehrte Richtung: Von der Anwendungsseite aus ergaben sich präzise Fragen an die Grundlagenforschung.
Fast alle für die Therapie wichtigen kern- und atomphysikalischen Wirkungsquerschnitte waren nicht mit
der nötigen Präzision von ca. 1 % bekannt.
Es war ein außerordentlicher Glücksfall, dass es an
der GSI Experimentiergruppen gab – z. B. am Fragment-Separator oder in der Atomphysik –, die bereit
waren, diese Probleme in Zusammenarbeit mit der
Biophysik befriedigend zu lösen. Dagegen sind hier
Monte-Carlo-Programme, die „alles mit äußerster
Präzision berechnen können“, wenig hilfreich. Diese
Rechenprogramme sind meist sehr aufwändig und
kaum experimentell im Prozentbereich validiert. Für
die Therapie sollten die verwendeten Programme und
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ÜBERBLICK
Daten eine Präzision und einen Realitätsbezug haben,
die den Physiker auch dann noch ruhig lassen, wenn
seine eigenen Kinder betroffen wären. Die Planung
sollte auch eine CPU-Zeit benötigen, die mit Krankenkassenbudgets verträglich ist. Für die Therapieplanung
ist bis jetzt die Interpolation von gemessenen Daten
der einzig praktikable Weg, präzise physikalische
Grundlagen in vertretbarer Zeit zu erhalten. Außerdem ist es wichtig, die physikalischen Parameter der
Bestrahlungsplanung experimentell im Submillimeterbereich zu validieren, z. B. durch dosimetrische
Präzisionsmessungen in „Wasserphantomen“ und mit
anderen Detektoren.
Extrem wichtig für einen schnellen Start und die
Anwendung unkonventioneller Methoden war die in
Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum Rossendorf durchgeführte Qualitätskontrolle mit Hilfe
der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), mit
der sich der Teilchenstrahl während der Behandlung
im Patienten verfolgen lässt: Hochenergetische Kohlenstoffionen erzeugen in der Wechselwirkung mit dem
Gewebe des Patienten Positronenemitter (z. B. C) mit
fast gleicher Reichweite wie der primäre C-Strahl [9].
Der C-Zerfall lässt sich über die Vernichtungsquanten
der Positronen mit einer PET-Kamera nachweisen,
woraus sich die Reichweitenverteilung des Kohlenstoffstrahls im Patienten ergibt. Die PET-Aufnahmen
belasten den Patienten nicht zusätzlich, ermöglichen
aber, die Strahlreichweiten im Patienten mit einer Genauigkeit von ca. 2 mm zu messen. PET-Messungen
sind daher zunächst eine hervorragende Kontrolle der
Dosisapplikation. Darüber hinaus lassen sich damit
auch Gewebeveränderungen während der Therapie
erkennen und in die Planung miteinbeziehen.
Das 1997 gestartete GSI-Pilotprojekt hatte ganz klare Zielsetzungen und Rahmenbedingungen: Mit den
modernsten technischen Methoden der Beschleunigertechnik, der Strahlapplikation und -kontrolle sowie
einer biologisch basierten Bestrahlungsplanung sollte
eine Schwerionentherapie aufgebaut und fünf Jahre betrieben werden. In dieser Zeit stellte die GSI 20 % ihrer
Strahlzeit für die Therapie zur Verfügung. Sollten die
Ergebnisse zu einem klinischen Anschlussprojekt führen, würde das Pilotprojekt bis zum Patientenbetrieb
der neuen Anlage fortgeführt. Wären die Ergebnisse zu
schlecht für ein Nachfolgeprojekt gewesen, dann hätte
die GSI das Pilotprojekt nach fünf Jahren beendet.
ist zurzeit noch nicht möglich. Hierfür muss erst die
Bewegungskorrektur verwirklicht sein.
Für die ersten Bestrahlungen mit Kohlenstoff kamen vor allem strahlenresistente, langsam wachsende
Tumore wie Chordome oder Chondrosarkome in
Frage [10]. Diese Tumoren sind meist gut abgegrenzt
gegenüber dem Normalgewebe und außerdem recht
selten, sodass es möglich war, alle in Deutschland
auftretenden schwierigen Fälle trotz der geringen
Kapazität bei der GSI zu behandeln. Da die GSI für
die Tumortherapie nur dreimal pro Jahr für ca. 15
Patienten einen Strahl zur Verfügung stellt, müssen die
Patienten allerdings häufig warten. Dies ist bei einem
langsam wachsenden Tumor jedoch weniger problematisch. Weiter ist für diese Tumoren der Zuwachs an
klinischer Effektivität auf Grund der hohen RBWWerte des Kohlenstoffs besonders günstig.
In der konventionellen Standardtherapie werden
die Patienten in 6 Wochen an 30 Tagen mit jeweils
2 Gy – also insgesamt 60 Gy – bestrahlt. Schwerionenbestrahlung erlaubt eine verkürzte Bestrahlungszeit.
Bei der GSI werden Patienten mit jeweils 3 Gye an 20
Tagen in 3 Wochen ausschließlich mit Kohlenstoffionen bestrahlt. Daneben gibt es gemischte Bestrahlungen (sog. Boost-Bestrahlungen), bei denen
sechs Fraktionen Kohlenstoffionen mit je 3 Gye den
eigentlichen Tumor treffen [10].1) Die übrige Dosis mit
Photonen wird in einem breiten Saum auch auf das
Nachbargewebe appliziert, um dort verstreute Tumorzellen zu erreichen. Diese Bestrahlungsstrategie wurde
z. B. bei bösartigen Speicheldrüsenkarzinomen angewendet. Nach fünf Jahren Beobachtungszeit sind die
Tumorkontrollraten 50 % höher und zeigen den Erfolg
der Boost-Strategie für diese Tumorart (Abb. 5). Die
lokale Tumorkontrollrate beinhaltet, dass ein Tumor
erfolgreich am weiteren Wachstum gehindert werden
konnte. Das schließt jedoch nicht aus, dass an anderen
Stellen im Körper neue Tumore entstehen oder beim
Patienten andere medizinische Probleme auftreten.
1) Zu den Einheiten vgl.
Infokasten „Strahlenqualität und Relative Biologische Wirksamkeit“.
Hoffnungsvolle klinische Ergebnisse
Zunächst wurden an der GSI nur Patienten mit Tumoren im Kopf (Abb. 4) bestrahlt, weil mit einer äußeren
Fixierung des Kopfes der Tumor und das NormalGewebe ebenfalls örtlich fixiert sind. Später wurden
die Bestrahlungen auf Tumoren längs der Wirbelsäule
ausgedehnt, 2006 auch auf Prostata-Karzinome. Der
Beckenbereich lässt sich ebenfalls durch äußere Masken hinreichend fixieren. Eine Präzisionsbestrahlung
von bewegten Tumoren im Brust- und Bauchbereich
Abb. 4 Dreidimensionale Bestrahlungsplanung eines Tumors im Kopf. Mit Kohlenstoffstrahlen kann die Dosis exakt auf
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den Tumor konzentriert werden. Das
gesunde Gewebe bleibt weitgehend
ausgespart.
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33
ÜBERBLICK
Tumorkontrollraten im Vergleich
Behandlungsergebnisse mit
Indikation
Kriterium
Photonen
Ionen (NIRS)
(fortgeschrittene)
NasopharynxKarzinome
5y-S
45 − 50 %
63 %
Chordome
LCR
30 − 50 %
65 %
74 %
Chondrosarcome
LCR
33 %
88 %
87 %
Glioblastome
AST
12 Monate
16 Monate
AderhautMelanome
5y-S
95 %
96 %, Erhalt des
Augenlichts
Nasennebenhöhlentumoren
LCR
21 %
63 %
Bauchspeicheldrüsen-Karzinome
AST
6,5 Monate
7,8 Monate
Lebertumoren
5y-S
23 %
100 %
Speicheldrüsentumo ren
LCR
24 − 28 %
61 %
WeichteilKarzinome
5y-S
31 − 75 %
52 − 83 %
AST: Mittlere Überlebenszeit der
Patienten
34
Ionen (GSI)
67 %
5y-S: 5-Jahres-Überleben des Patienten
LCR: Lokale Tumorkontrollrate
Physik Journal 6 (2007) Nr. 2
100
90
80
Wahrscheinlichkeit in %
Auch für die reinen Kohlenstoffbestrahlungen
finden sich sehr gute Tumorkontrollraten. Sie sind
zusammen mit Ergebnissen aus dem japanischen NIRS
in der Tabelle zusammengestellt und mit den Resultaten
der Photonentherapie verglichen. Sowohl GSI als auch
NIRS verwenden akzelerierte Bestrahlungsschemata,
in Japan zum Teil mit noch kürzeren Fraktionierungen. Am NIRS wurden Lungenkarzinome in ein
oder drei Fraktionen mit großem Erfolg behandelt.
GSI und NIRS unterscheiden sich durch die aktive und
passive Strahlformungsmethode. Mit beiden Strahlformungssystemen lässt sich bei gleicher Dosis die
gleiche Tumorkontrollrate erzielen. Dies zeigt auch die
Übereinstimmung der NIRS- und GSI-Ergebnisse. Die
bessere Strahlkonformität beim aktiven System der GSI
führt aber zu deutlich weniger Nebenwirkungen.
Ein wichtiges Kriterium, um die Qualität einer
Strahlentherapie zu beurteilen, sind die Nebenwirkungen in Normalgewebe. Auch die Neutronentherapie früherer Jahre zeigte hervorragende
Tumorkontrollraten, allerdings bei nicht tolerablen
Nebenwirkungen. Die Kohlenstofftherapie der GSI
ergibt eine viel geringe Dosisbelastung des Normalgewebes. In vielen Fällen wurden keine oder nur
geringe Nebenwirkungen beobachtet wie Hautrötungen oder Haarausfall, die meist nicht behandelt
werden mussten. Nur in den Fällen, in denen auch
Schleimhaut im Hochdosisbereich lag, gab es stärkere
Nebenwirkungen. Zudem hängen Spätfolgen, wie z. B.
die Induktion von sekundären Tumoren, weniger von
der Dosis als vom Volumen des bestrahlten Normalgewebes ab. Die Schwerionentherapie hat von allen Tumortherapien die höchste Konformität und damit den
kleinsten Dosis-Anteil im Normalgewebe. Generell
zeigt die bisherige Erfahrung, dass neben der gesteigerten Heilungsrate vor allem die verringerten Nebenwirkungen und Spätfolgen ein wichtiger Erfolg sind.
Eine bessere Lebensqualität bei gleicher Heilungsrate
ist ein weiterer deutlicher Vorteil für eine Kohlenstoff-
70
60
50
40
30
20
10
0
0
12
24
36
48
60
Zeit in Monaten
72
84
96
108
Abb. 5 Lokale Tumorkontrollrate von Patienten mit einem fortgeschrittenen bösartigen Speicheldrüsenkarzinom. Die obere
Kurve zeigt das Ergebnis von 29 Patienten, die mit Photonen
und mit Kohlenstoffionen bestrahlt wurden. Die untere Kurve
zeigt die Resultate von 34 Patienten, die nur mit IMRT – Intensitätsmodulierter Radiotherapie, der besten konventionellen
Therapie mit hoch energetischen Photonen – bestrahlt wurden.
Therapie gegenüber einer konventionellen Therapie.
Von Anfang an plante und verwirklichte die GSI die
Tumortherapie in Abstimmung mit der Strahlentherapie der Heidelberger Universitätsklinik. Die Heidelberger Uniklinik hat mit ca. 3000 Patienten pro Jahr große
Erfahrung in konventioneller Therapie und entwickelt
mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ)
auch andere innovative Therapieformen. Auf Grund
ihrer experimentellen Erfahrung ist sie jetzt der Standort für die erste Ionentherapie in Europa. Eine ganz
hervorragende Zusammenarbeit entwickelte sich auch
mit dem Forschungszentrum Rossendorf, zunächst
über die schwierige innerdeutsche Grenze hinweg.
Von der Grundlagenforschung zum Produkt
Für eine allgemeine Verbreitung neuer medizinischer
Großtechnik über die experimentelle Phase hinaus ist
es entscheidend, einen Industriepartner zu gewinnen,
der die Serienproduktion und die Vermarktung übernimmt. Für eine weltweite Vermarktung kommen bei
einem Projekt mit einem Finanzvolumen zwischen 100
und 200 Millionen Euro nur Firmen in Frage, die ein
internationales Vertriebsnetz besitzen und den Übergang zum Industrieprodukt finanzieren konnten, wie
z. B. General Electric (USA), Mitsubishi (Japan) oder
Siemens in Deutschland. Versuche, die Firma Siemens
direkt zu gewinnen, scheiterten, nachdem sie den
Geschäftszweig Beschleuniger verlassen hatte. Eine
Wende ergab sich durch das Interesse der Rhön-Klinikum-AG (RKA). Eine industrielle Machbarkeitsstudie
der RKA, zusammen mit Siemens durch die Firma
ACCEL2), zeigte 2001/2002, dass sich die Kosten bei
der industriellen Fertigung von mehreren Therapieeinheiten deutlich senken lassen sollten. Das RKA
entschloss sich daraufhin 2003, eine solche Anlage
zu bauen, und Siemens Medical Solutions nahm die
Partikeltherapie in ihr Portfolio auf und bot eine Kom-
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ÜBERBLICK
Internationale Situation und Zukunft
Im europäischen Ausland bewirkte die 1995 ins Leben
gerufene Initiative PIMMS (Proton Ion Medical Machine Study) des CERN, mit Projektgruppen aus Italien,
Schweiz, Frankreich, Österreich und Beiträgen aus
der GSI, ein breites Interesse an der Teilchentherapie.
Der 1999 vorgelegte Entwurf enthält ein komplettes
Baukastensystem vieler verschiedener Komponenten
vom Beschleuniger bis zu einer beweglichen Strahlführung. Das PIMMS-Design ist derzeitig die technische
Grundlage von Projekten in Italien (TERA), Österreich
(Med-Austron) und Frankreich (Etoile). Zusammen
mit Heidelberg und Marburg ist damit der Bau und Betrieb von fünf Schwerionen-Therapieanlagen in Europa
in den nächsten Jahren gesichert.
Weitere Projekte sind an vielen Orten in Europa
wie Stockholm, Kopenhagen, Kiel, Berlin usw. im Gespräch, haben aber noch keine finanzielle Grundlage
oder klinischen Konsens. Ähnliches gilt für die USA,
wo an vielen führenden Kliniken die Vorteile von
Schwerionen-Protonen-Therapien diskutiert und intensive Verhandlungen mit Firmen geführt werden. In
Japan, dem Land, das durch die Kohlenstofftherapie in
Chiba die größte Schwerionenerfahrung besitzt, wurde
2002 in Hyogo eine zweite Anlage für die Therapie mit
Protonen- und Kohlenstoffionen in klinischen Betrieb
genommen. In Gumna ist seit Anfang 2007 eine weitere Anlage im Aufbau.
Die Schwerionentherapie erlebt weltweit eine
Renaissance. Dies ist sicher zum Teil auf die guten
klinischen Erfolge der Kohlenstofftherapie zurückzuführen, die wir in Darmstadt mit dem gemeinsamen
Projekt mit Heidelberg und Dresden erzielt haben. Wie
viele Ionentherapieanlagen letztendlich gebaut werden,
ist nicht absehbar. Verschiedene Schätzungen in Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich zeigen, dass
für 10 Millionen Einwohner eine Schwerionenanlage
vernünftig wäre, um Patienten mit strahlenresistenten
Tumoren erfolgreich behandeln zu können. Darüber
hinaus zeigt die Schwerionenbehandlung meist weniger Nebenwirkungen und wird deshalb dann vorgezogen werden, wenn sie finanziell tragbar ist. Gelingt
es in einer Serienfertigung, die Investitionskosten zu
senken, z. B. durch den Bau eines kompakten, lasergetriebenen Beschleunigers, dann wird sich die Ionentherapie auf eine Weise ausbreiten, wie es auch bei der
Computertomographie oder der bildgebenden Kernspinresonanz der Fall war.
*
Diesen Artikel zu schreiben fiel mir schwer, da er nicht
nur fachspezifiche Informationen enthalten sollte,
sondern auch über das Werden der Therapie bei der
GSI mit allen Schwierigkeiten und Umwegen berichten
sollte. Deshalb möchte ich mich bei allen, die mich
beim Schreiben unterstützten, bedanken, insbesondere
bei Daniela Schulz-Ernter (Radiologie, Heidelberg),
Hermann Requardt (Siemens), Johannes Nardi und
der Partikeltherapie Siemens Erlangen sowie Stephan
Kraft (Universität Freiburg) und Sebastian Kraft (Van
der Waals-Zeeman-Institut, Amsterdam)
2) ACCEL wurde mittlerweile vom amerikanischen Marktführer
in der Strahlentherapie
Verian gekauft
3) Der aktuelle Zustand
ist unter www.arge-sit.de
abrufbar.
Literatur
[1] V. T. De Vita, S. Hellmann., S. A. Rosenberg, Cancer: Principles
and Practice of Oncology, Lippincott-Raven, Philadelphia (1997)
[2] R. R. Wilson, Radiology 47, 487 (1946)
[3] J. Sisterson, Particle Newsletter 36 (2006)
[4] W. T. Chu, B. A. Ludewigt und T. R. Renner, Rev. Sci. Instr. 64,
2055 (1993)
[5] J. Heilmann et al., Int. J. Radiat. Oncol. Biol. Phys. 34, 599 (1996)
[6] W. K. Weyrather und G. Kraft, Radiother. Oncol. 73 (2), 161 (2004)
[7] G. Kraft, Progr. Part. Nucl. Phys. 45, 473 (2000)
[8] M. Scholz und G. Kraft, Cancer/Radiother. 83 (1), 50 (1996)
[9] W. Enghardt, Physikalische Blätter, September 1996, S. 874
[10] D. Schulz-Ertner et al., Int. J. Radiat. Oncol. Biol. Phys. 58 (2),
631 (2004)
DER AUTOR
Gerhard Kraft studierte von 1962 bis
1971 Physik in Heidelberg (Diplom) und
Köln (Promotion) mit dem Schwerpunkt Kernphysik. Seit 1973 ist er bei
der GSI Darmstadt tätig, zunächst in
der Atomphysik. Aufenthalte am LBL
Berkeley (Biomed Division) lenkten
sein Interesse dann auf die Anwendung von Ionenstrahlen in Biologie
und Medizin, ein Wechsel, den seine
Frau Wilma K. Weyrather bereits vorher
vollzogen hatte. Gemeinsam arbeiteten sie seit 1981 an strahlenbiologischen Problemen und
der Vorbereitung der Therapie. Dazu bauten sie den Bereich Biophysik bei der GSI auf, der die Therapie und die
zugehörigen Forschungsarbeiten trägt.
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Physik Journal 6 (2007) Nr. 2
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Katrin Binner
plettlösung an, die neben dem Beschleuniger auch die
medizinischen Geräte und die Bestrahlungsplanung
enthält.
Parallel zu dieser Entwicklung begann der Bau der
Heidelberger Ionen-Therapieanlage (HIT) für die
Therapie mit Protonen und Kohlenstoffionen. Die
Kosten dieser Anlage waren anfangs auf 72 Millionen
Euro veranschlagt und liegen jetzt knapp unter 100
Millionen Euro. Der Beschleuniger der HIT wird von
der GSI errichtet. Die Strahlapplikation, d. h. den
Rasterscan, ebenso wie die gesamte medizinische Ausrüstung liefert die Partikeltherapie von Siemens Medical Solutions. Anfang 2008 sollen bei HIT die ersten
Patienten behandelt werden.3)
Ein weiteres deutsches Projekt entsteht in Marburg:
Beim Kauf des Universitätsklinikums Gießen/Marburg
im Dezember 2005 umfasste das Angebot der RKA
auch den Bau einer Schwerionen-Therapieanlage. In
dieser Einheit sollen ca. 2000 Patienten jährlich behandelt werden bei Kosten von weniger als 20 000 Euro
pro Patient. Dies ist mit den Kosten der Chemotherapie oder einer normalen Operation vergleichbar. Die
Bestrahlung von Patienten soll hier 2010 beginnen.
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