4. Ordnungseigenschaften von R 45 Das Supremum und Infimum kann also im Gegensatz zum Maximum und Minimum der Menge X angehören oder nicht. Satz (Zusammenhang zwischen max, sup, min, inf ) Sei X ⊆ R. Dann gilt: (a) Existiert max(X), so gilt sup(X) = max(X). (b) Existiert sup(X) und gilt sup(X) P X, so gilt max(X) = sup(X). Analoge Implikationen gelten für Minimum und Infimum. Das Vollständigkeitsaxiom Die Begriffsbildungen „obere Schranke, untere Schranke, Supremum, Infimum“ können nicht nur für R, sondern für jede lineare Ordnung (M, <) formuliert werden. Insbesondere gilt dies für die rationalen Zahlen. So gilt etwa [ 0, 1 ]Q = { q P Q | 0 ≤ q ≤ 1 } ≤ 2, inf { 1/n | n ≥ 1 } = 0 in Q. Dagegen zeigt unsere Untersuchung zu den irrationalen Größen, dass beschränkte Mengen in Q im Allgemeinen kein Supremum in Q besitzen. Beispiel Die Menge X = { q P Q | q2 < 2 } ist beschränkt, besitzt aber kein Supremum in Q. Für jedes s P Q mit X ≤ s gibt es ein s′ P Q mit X < s′ < s. Die entscheidende Eigenschaft der reellen Ordnung, die sie von der rationalen Ordnung unterscheidet, ist in der Tat die Existenz von Suprema und Infima: (V) Jede nichtleere und beschränkte Teilmenge von R besitzt ein Infimum und ein Supremum. (Vollständigkeitsaxiom) Das Axiom besagt anschaulich, dass der Prozess des Vergrößerns bzw. Verkleinerns von Schranken s ≤ X bzw. s ≥ X stets bis zur Berührung der Menge X durchgeführt werden kann, es sei denn, X ist leer oder es existiert gar keine untere bzw. obere Schranke von X. Gilt (V) in einem angeordneten Körper (K, +, ⋅, <), so heißt der Körper vollständig angeordnet. Die Aussage (V) heißt auch das Vollständigkeitsaxiom. Die reellen Zahlen (R, +, ⋅, <) bilden einen vollständig angeordneten Körper. Im Gegensatz zu den bisherigen Axiomen ist im Vollständigkeitsaxiom nicht von Körperelementen die Rede, sondern von Teilmengen des Körpers. Das Axiom ist damit ganz verschieden von allen anderen. Der Leser, der die Dedekind-Peano-Axiome für N kennt, kann das Vollständigkeitsaxiom in dieser Hinsicht mit dem Induktionsaxiom vergleichen, das auch etwas für alle Teilmengen behauptet. © Oliver Deiser Analysis 1 46 1. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Konsequenzen des Vollständigkeitsaxioms Die Vollständigkeit der reellen Ordnung wird in der Analysis an vielen wichtigen Stellen benutzt. Als eine erste Anwendung zeigen wir: Satz (Archimedische Anordnung der reellen Zahlen) Für alle x P R mit x > 0 gilt: (a) Die Menge { n x | n P N } ist unbeschränkt. (b) inf { x/n | n ≥ 1 } = 0. Beweis zu (a): Sei x > 0, und sei X = { n x | n P N }. Annahme, s = sup(X) existiert. Dann ist s − x keine obere Schranke von X, also existiert ein n* mit s − x < n* x. Dann ist aber s < (n* + 1) x, im Widerspruch zu (n* + 1) x P X und s obere Schranke von X. Also ist X unbeschränkt. zu (b): Es genügt zu zeigen, dass für alle x > 0 und alle ε > 0 ein n ≥ 1 existiert mit x/n < ε. Seien also x > 0 und ε > 0 beliebig. Nach (a) ist { n ε | n ≥ 1 } unbeschränkt, also gibt es ein n ≥ 1 mit x < n ε, d. h., es gilt x/n < ε. Der Satz zeigt, dass es keine infinitesimalen Größen in R gibt, also Zahlen x > 0 mit x < 1/n für alle natürlichen n ≥ 1. Ein angeordneter Körper, der die Aussage des Satzes erfüllt, heißt Archimedisch angeordnet. Der Beweis zeigt, dass das Vollständigkeitsaxiom die Archimedische Anordnung impliziert. Eine Folgerung der Archimedischen Anordnung ist nun: Korollar (Q ist dicht in R) Die rationalen Zahlen sind dicht in den reellen Zahlen, d. h.: Für alle reellen Zahlen x, y gibt es eine rationale Zahl q zwischen x und y. Beweis Ohne Einschränkung ist 0 < x < y. Sei ε = y − x. Nach dem Satz gibt es ein n ≥ 1, mit 1/n < ε. Weiter gibt es nach dem Satz ein m mit m/n > x. Wir wählen zudem m kleinstmöglich, sodass m/n > x. Dann ist (m − 1)/n ≤ x, sodass m n ≤ x + 1 n < x + y − x = y. Also ist q = m/n wie gewünscht. Analysis 1 © Oliver Deiser 4. Ordnungseigenschaften von R 47 Etwas anschaulicher formuliert lautet das Argument: Die ganzzahligen Vielfachen von 1/n überdecken die reelle Achse mit der Feinheit 1/n. Damit fällt in jedes Intervall, das eine Länge größer als 1/n besitzt, ein derartiges Vielfaches. Wählen wir also n so groß, dass 1/n < y − x gilt, so liegt ein Vielfaches m/n zwischen x und y. Noch anschaulicher: Hüpfen wir startend bei 0 in Sprüngen der Länge 1/n, so fallen wir in jede Grube ] x, y [ mit x > 0, deren Länge y − x größer als unsere Sprungweite ist. Der Landepunkt p ist ein Vielfaches von 1/n und damit rational. 0 y−x 1/n x 2/n 3/n y p Angesichts der Überabzählbarkeit von R und der Abzählbarkeit von Q ist der Satz über die Dichtheit von Q vielleicht kontraintuitiv. Es ist aber, wie in den Einwänden zur Überabzählbarkeit von R schon diskutiert, kein Widerspruch festzustellen. Wir haben ein weiteres interessantes Phänomen des Unendlichen entdeckt und auf axiomatischer Grundlage bewiesen. Eine zweite wichtige Folgerung des Vollständigkeitsaxioms ist: Satz (Prinzip der Intervallschachtelung) Seien In = [ an , bn ] abgeschlossene Intervalle mit an ≤ bn für alle n P N. Weiter gelte I0 ⊇ I1 ⊇ … ⊇ In ⊇ …, d. h., es gelte (+) a0 ≤ a1 ≤ … ≤ an ≤ … ≤ bn ≤ … ≤ b1 ≤ b0 . Dann ist der Durchschnitt I = >n P N In = { x P R | x P In für alle n P N } der Intervalle nichtleer. Beweis Sei X = { an | n P N } die Menge der linken Intervallgrenzen. Dann ist X nichtleer und nach (+) beschränkt durch b0 . Nach dem Vollständigkeitsaxiom existiert also a = sup(X). Nach Definition von a und (+) gilt dann an ≤ a ≤ bn für alle n. Folglich ist a P In für alle n und damit a P I. © Oliver Deiser Analysis 1 48 1. Abschnitt Reelle und komplexe Zahlen Analog gilt b P I für b = inf { bn | n P N }, und hieraus folgt, dass I = [ a, b ] = [ sup { an | n P N }, inf { bn | n P N } ]. Die Intervalle ziehen sich also links auf das Supremum und rechts auf das Infimum ihrer Randpunkte zusammen. a0 b0 a1 b1 a2 >n [ an , bn ] b2 = [ a, b ] a b Wird die Länge bn − an der Intervalle In beliebig klein, d. h. gilt inf { bn − an | n P N } = 0, so gilt a = b und damit I = { a } = { b }. Dieser Fall tritt zum Beispiel ein, wenn In + 1 stets die linke oder rechte Hälfte des Intervalls In ist (Intervallhalbierung), d. h., für alle n gilt [ an + 1 , bn + 1 ] = [ an , (an + bn )/2 ] oder [ an + 1 , bn + 1 ] = [ (an + bn )/2, bn ]. a0 b0 a1 b1 a2 b2 >n [ an, bn ] a Analysis 1 = [ a, b ] = { a } = { b } b © Oliver Deiser 4. Ordnungseigenschaften von R 49 Die Axiome für die reellen Zahlen Wir stellen die Axiome der reellen Zahlen noch einmal tabellarisch zusammen. Man darf sie als mathematisches Weltkulturerbe bezeichnen. Die reellen Zahlen sind eine Struktur der Form (R, + , ⋅ , < ) mit zwei ausgezeichneten Elementen 0 P R und 1 P R derart, dass für alle x, y, z P R gilt: (K1) x + (y + z) = (x + y) + z, (K2) x + 0 = x, (K3) es gibt ein x′ mit x + x′ = 0, (K4) x + y = y + x, (K5) x ⋅ (y ⋅ z) = (x ⋅ y) ⋅ z, (K6) x ⋅ 1 = x, (K7) x ≠ 0 impliziert es gibt ein x′ mit x ⋅ x′ = 1, (Existenz multiplikativer Inverser) (K8) x ⋅ y = y ⋅ x, (K9) x ⋅ (y + z) = (x ⋅ y) + (x ⋅ z), (Assoziativgesetz für die Addition) (Neutralität der Null) (Existenz additiver Inverser) (Kommutativgesetz für die Addition) (Assoziativgesetz für die Multiplikation) (Neutralität der Eins) (Kommutativgesetz für die Multiplikation) (K10) 0 ≠ 1, (Distributivgesetz) (Verschiedenheit der neutralen Elemente) (O1) non (x < x), (Irreflexivität) (O2) x < y und y < z impliziert x < z, (Transitivität) (O3) x < y oder x = y oder y < x, (A1) x < y impliziert x + z < y + z, (A2) 0 < x, y impliziert 0 < x ⋅ y, (V) ist X ⊆ R nichtleer und beschränkt, so existieren das Supremum und das Infimum von X. (Vollständigkeitsaxiom) (Vergleichbarkeit) (erstes Anordnungsaxiom) (zweites Anordnungsaxiom) Die ersten zehn Aussagen sind die Körperaxiome, die die vier Grundrechenarten und ihre Rechenregeln etablieren. Es folgen drei Aussagen, die die reellen Zahlen linear ordnen, und zwei Aussagen, die die Ordnung und die Arithmetik verbinden. Die letzte Aussage schließlich ist ein „Power-Axiom“, das R von den Q oder A abhebt. Es sorgt dafür, dass die Lücken von Q geschlossen werden, dass keine infinitesimalen Größen existieren und dass Q dicht in R liegt. Damit bleibt der Übergang von Q zu R unter der Kontrolle von Q. © Oliver Deiser Analysis 1