6 1.2 Strukturen der Nozizeption und der Schmerzverarbeitung

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Van den Berg. Angewandte Physiologie (ISBN 3131311118) © 2003 Georg Thieme Verlag
6
1 Physiologie des Schmerzes und der Nozizeption
1.2
Strukturen der Nozizeption und
der Schmerzverarbeitung
Thomas Weiß und
Hans-Georg Schaible
1.2.1
Übersicht über das nozizeptive System
Wie oben dargestellt, bilden Nervenfasern und Nervenzellen, die ausschließlich oder vorwiegend der
Aufnahme und der Verarbeitung noxischer Reize
dienen, das nozizeptive System. Abb. 1.3 zeigt schematisch und stark vereinfacht eine Übersicht über
das nozizeptive System. Auf der linken Seite ist das
aszendierende System dargestellt. Hierzu gehören
als erste Neurone die nozizeptiven Primärafferenzen, auch Nozizeptoren genannt. Sie dienen der
Aufnahme noxischer Reize in den Organen, z. B. in
der Haut. Nozizeptoren projizieren zum Rückenmark bzw., Nozizeptoren des Kopfbereichs projizieren zum Trigeminuskern im Hirnstamm. Im Rückenmark bzw. Trigeminuskern werden synaptisch
nozizeptive Neurone erregt. Solche Neurone sind
entweder Interneurone mit kurzer Projektion oder
Neurone mit aszendierenden Axonen (sie bilden die
diversen Schmerzbahnen) oder Neurone, die in motorische bzw. vegetative Reflexbögen eingebunden
sind. Aszendierende Rückenmarkneurone aktivieren über die Schmerzbahn das nozizeptive thalamokortikale System. Letzteres ist erforderlich, um
bewusste Schmerzempfindungen zu erzeugen.
Neben dem aszendierenden System gibt es ein
absteigendes (deszendierendes) System, das vom
Hirnstamm seinen Ausgang nimmt (Abb. 1.3, rechte
Seite). Deszendierende Bahnen sind entweder inhibitorisch oder exzitatorisch. Die nächsten Abschnitte werden die nozizeptiven Neurone in den einzelnen Ebenen des Nervensystems beschreiben.
1.2.2
Nozizeptive Primärafferenzen
Nozizeptive Primärafferenzen, Nozizeptoren, sind
Nervenzellen des peripheren Nervensystems, die
auf die Detektion von potentiell oder aktuell gewebeschädigenden Reizen spezialisiert sind. Die meisten Organe bzw. Körperstrukturen sind mit Nozizeptoren versorgt. Die Dichte der Innervation ist allerdings für die verschiedenen Organe unterschiedlich. Reich innerviert mit Nozizeptoren ist die Haut,
die Viszeralorgane besitzen dagegen weniger Nozizeptoren, und bei manchen Organen (Leber, Niere)
scheint vor allem die Kapsel mit Nozizeptoren versorgt zu sein.
Struktur der Nozizeptoren
Nozizeptoren sind Primärafferenzen mit freien Nervenendigungen und langsam leitenden Axonen
(Abb. 1.3). Eine freie Nervenendigung ist eine dünne
unmyelinisierte Faserendigung, die anders als die
Endigung niederschwelliger Mechanorezeptoren
keine spezialisierte korpuskuläre Struktur aufweist.
Teilweise sind diese Faserendigungen von
Schwannzellen bedeckt, und teilweise grenzt die
Membran der Nervenfaser direkt an das umgebende Gewebe. Es wird vermutet, dass an diesen Membranabschnitten die Transduktion der noxischen
Reize erfolgt. Transduktion ist die Umwandlung mechanischer, thermischer und chemischer Reize in
ein Rezeptorpotential oder Generatorpotential (siehe auch Bd. 2, Kap. 9). Dieses führt durch den Vorgang der Transformation zur Bildung von Aktionspotentialen. Neben der Aufnahme von Reizen haben freie Nervenendigungen eine weitere Funktion,
nämlich die Freisetzung von Mediatoren aus der
Nervenfaser (siehe unten). Diese Mediatoren beeinflussen Vorgänge im Gewebe.
Während niederschwellige Mechanorezeptoren
der Haut (z. B. Berührungsrezeptoren) und anderer
Organe schnellleitende, myelinisierte Axone besitzen, haben Nozizeptoren entweder dünn myelinisierte oder unmyelinisierte Axone. Die dünn myelinisierten Nervenfasern sind Aδ-Fasern, die Leitungsgeschwindigkeiten von 2,5 – 30 m/sec aufweisen. In den Aδ-Fasern entsteht das Aktionspotential
(Transformation) am ersten Schnürring. Die meisten Nozizeptoren besitzen unmyelinisierte Fasern,
also C-Fasern. Diese haben Leitungsgeschwindigkeiten ⬍ 2,5 m/sec, die meisten im Bereich von etwa
1 m/sec. Es ist bis heute nicht bekannt, an welcher
Stelle der C-Fasern die Transformation stattfindet,
also die Umwandlung des Rezeptorpotentials in das
Aktionspotential.
Der Zellkörper eines Nozizeptors liegt im Spinalganglion (Abb. 1.3). Er steht über den axoplasmatischen Transport im Stoffaustausch mit den peripheren und spinalen Endigungen der Nervenfaser. Der
axoplasmatische Transport wird durch ein intrazelluläres System bewerkstelligt, das Substanzen vom
Zellkörper zu den Endigungen und umgekehrt
transportiert. Auf diesem Weg werden Mediatoren
und Moleküle für Ionenkanäle und Rezeptoren in
die sensorischen Endigungen transportiert und
dort in die Membran eingebaut. Interessanterweise
werden viele Ionenkanäle und Rezeptoren auch in
die Membran des Zellkörpers im Spinalganglion
selbst integriert. Dies führt dazu, dass der Zellkörper ähnliche Rezeptoreigenschaften aufweisen
kann wie die sensorische Endigung im Gewebe.
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