b) Probleme bei der Ausgestaltung von Verträgen im Gesundheitswesen. Ergebnis der vorherigen Überlegungen: Staatliche “Produktion“ der medizinischen Versorgung nicht erforderlich, es reichen zunächst staatliche Maßnahmen in Bezug auf Krankenversicherung. Unabhängig von der konkreten Form der staatlichen Eingriffe ist jedes Gesundheitssystem mit spezifischen kostentreibenden und effizienzmindernden Faktoren konfrontiert. Zentrale Frage bei Gestaltung bzw. Reform des Gesundheitswesens: Wie lassen sich – durch entsprechende organisatorische Gestaltung – die Wirkungen dieser Faktoren in Grenzen halten ? → Problem des “Institutional and Contractual Design“ 182 b1) Moral Hazard als erster kostentreibender Faktor b1a) Die beiden Typen von Moral Hazard Durch Krankenversicherung kommt es zu “Third Party Payment“. Versicherte erhalten Anreiz zur Ausweitung ihrer Nachfrage und verlieren Eigeninteresse an Kostenkontrolle. (→ Trittbrettfahren gegenüber Versicherten-Gemeinschaft). Zwei Arten des “Moralischen Risikos“ • Ex Ante: Keine ausreichenden Vorkehrungen zur Vermeidung von Erkrankungen und Unfällen. 183 • Ex post: Kein Interesse an kostengünstiger Behandlung und rascher Wiederaufnahme der Arbeit nach einer Erkrankung. Mögliche Maßnahme gegen diese Arten von Moral Hazard: • Ex Ante Prämienzuschläge bei gesundheitsgefährdenden Verhalten (Rauchen, fettes Essen,…). Allerdings schwierige Kontrolle. Dabei auch Konflikt mit Recht auf Privatsphäre Bei Entdeckung ungesunden Lebenswandels nach Erkrankung: Verweigerung der Leistung durch Krankenversicherung problematisch. Auch Konflikt mit Nicht-DiskriminierungsGebot, etwa bei Dicken. 184 Sozial akzeptiertere Maßnahmen: → Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens durch Versicherungen. Z. B. Subvention von Abmagerungskuren (“Carrot“ statt “Stick“ bzw. “Steak“) → Besteuerung gesundheitsschädlicher Güter (Zigaretten, Alkohol) durch Staat. • Ex post Wg. hohem Sicherheitsbedürfnis der Individuen ist im medizinischen Bereich Neigung zur Ausdehnung der Nachfrage sehr groß. Besonders bei schweren Erkrankungen liegt “Sättigungsniveau“ bei Behandlung hoch. Leistungsbegrenzungen werden aus dem gleichen Grund nur wenig akzeptiert. 185 “Rationierungsklauseln“ bedeuten für Versicherungen und Versicherte auch rechtliche Unsicherheiten mit Gefahr der Aushöhlung des Versicherungsschutzes. Leistungsbegrenzung führt auch in ethische Zwickmühle, insbesondere bei Lebensgefahr eines Patienten (“Letzte Chance“). Auch besteht Gefahr, dass bei privatem Krankenversicherungssystem Behandlungskosten – bei Nicht-Finanzierung durch private Versicherer – auf den Staat in diesen Fällen auf den Staat abgewälzt werden Fazit: Alle Beteiligten haben kein großes Interesse an weitgehenden transparenten Leistungsbegrenzungen. Konsequenz: Heimliche Rationierung wird begünstigt. 186 Ist das vernünftig? Ökonomisch nahe liegendes Instrument zur Dämpfung von Moral Hazard ex post → b1b) Kostenbeteiligung der Patienten p : Preis für ein medizinisches Gut h( p ) : Nachfragefunktion für dieses Gut Verschiedene Formen der Kostenbeteiligung Indemnitätstarif Fester Zuschuss (Festbetrag) pro Leistung (“Zahnkrone“) Neue Nachfragekurve ist h( p − d ) , d.h. durch fixen Zuschuss verschiebt sich Nachfragekurve parallel nach oben. 187 Preis D B h( p − d ) h( p ) 0 A C Menge Es besteht Überwälzungsproblem z.B. bei völlig preisunelastischem Angebot (→ senkrechte Angebotsfunktion) fließt der Zuschuss an die Anbieter und die Nachfrage haben nichts davon. Proportionale Selbstbeteilung Die Versicherten zahlen den α -ten, die Versicherung den (1 − α )-ten Teil der Kosten. 188 Neue Nachfragefunktion ist h(α p) , d.h. die Nachfragekurve dreht sich nach oben. Preis D B h( p ) 0 h(αp ) A Menge Im statischen Modell (s.o.) sind beide Formen der Selbstbeteiligung äquivalent, nicht jedoch in dynamischer Betrachtung. Hier besteht aus ökonomischer Sicht eine tendenzielle Überlegenheit von Festbetragsregelungen. 189 Erklärung an einem Beispiel: Im Ausgangszustand seien d = 10 € und α = 20 % äquivalent. Neues Medikament mit Zusatzkosten von 100 € wird entwickelt Individuelle Zahlungsbereitschaft für diese Innovation ist 50 €. → Einsatz also unwirtschaftlich. Bei proportionaler Selbstbeteiligung wird neues Medikament aber gekauft 0.2 ⋅100 € < 50 €, bei Indemnitätstarif aber nicht 100 € − 10 € > 50 €! 190 Selbstbehaltregelung (Abzugsfranchise) Individuen zahlen alle Ausgaben für ein medizinisches Gut bis zum Betrag F . Darüber hinausgehende Kosten übernimmt die Versicherung. Zwei Alternativen für Individuum: → Keine Inanspruchnahme der Versicherung: Konsum von h( p ) → Inanspruchnahme der Versicherung: Konsum der Sättigungsmenge h Welche Alternative ist (in Abhängigkeit vom Preis p ) für Individuum vorteilhaft? Wie sieht die effektive Nachfragefunktion eines Individuums bei Franchise F aus? 191 Grafische Herleitung: Preis B p E D H I C h( p ) G A h Menge Bei 1. Alternative: Nettonutzen = EDB = OCDB − OCDE Bruttokonsumentenrente − Ausgaben Bei 2. Alternative: Nettonutzen = OAB − OGHE = EDB + GAI − IHD 192 Beachte bei Konstruktion: H liegt auf Hyperbel aller Mengen-Preis- Kombinationen mit h ⋅ p = F . Nettonutzen bei 2. Alternative − Nettonutzen bei 1. Alternative = GAI − IHD >0 , wenn p hoch → 2. Alternative <0 , wenn p klein → 1. Alternative =0 , Preisschwelle p̂ → Indifferenz ˆ ˆ. Effektive Nachfragekurve dann ADK 193 Preis B p̂ 0 D̂ K̂ A Menge Bei Preisschwelle p̂ springt Nachfrage von Sättigungsniveau auf h( pˆ ) . Konsequenz (M Pauly) “…., a deductible either has no effect on an individual's usage or induces him to consume that amount of cure he would have purchased if he had no insurance.“ → Ko-Finanzierungseffekt, aber kein wirkliche Lenkungseffekt 194 Wünschenswert wäre deshalb echt positive Grenzbelastung der Patienten. Dilemma: Bei hohen Behandlungskosten würde Versicherungsschutz dann stark entwertet. Lenkungswirkung teilweise auch fragwürdig: Gefahr des “Verschleppens“ von Krankheiten. b) Anbieterinduzierte Nachfrage Wg. Uniformiertheit und damit Abhängigkeit der Patienten vom ärztlichen Ratschlag bestimmen Ärzte den Behandlungsumfang (und damit die Kosten) zum großen Teil selbst → anbieterinduzierte Nachfrage (ähnlich tw. bei Kfz-Werkstätten) Unwirtschaftliches Verhalten wird begünstigt (bis hin zum Betrug) 195 Gefahr besonders groß • bei Zwang zur Amortisation teurer medizinischer Geräte (Ultraschall) • bei hoher Ärztedichte (ein einzelner Arzt hat viel Zeit) • wenn Ärzte Praxis gerade eröffnet haben • wenn Entlohnung der Ärzte sinkt (Mögliches Hindernis für Erfolg von Kostendämpfungsmaßnahmen) Eindämmung schwierig: • Kontrollkosten (Nachuntersuchungen) im medizinischen Bereich sehr teuer 196 • Therapierichtlinien stehen teilweise in Widerspruch zu ärztlichem Ethos und Selbstbild. (Bei angestellten Ärzten evt. andere Interessenlage.) • Verbindliche Diagnose und Behandlungsstandards werden komplexen. Einzelfällen evt. nicht gerecht → Risiko für Patienten steigt. Deshalb ist Erhöhung des Eigeninteresses der Patienten und Ärzten an wirksame Kostenkontrolle wichtig. 197 b3) Ökonomische Anreize durch verschiedene Honorierungsformen für medizinische Leistungen Verschiedene Formen der Entlohnung im Gesundheitsbereich: • Honorierung nach Faktoreinsatzkosten Kein Anreiz zur Beschränkung der Leistung und zur effizienten Verwendung der Mittel • Honorierung nach Einzelleistung Anreiz zur Leistungsausdehnung bleibt bestehen, aber Anreiz zur sparsamen Leistungserstellung wird geschaffen. Bei integrierten Leistungen (Krankenhaus) aber kaum anwendbar. 198 • Honorierung nach Behandlungsdauer Im Krankenhaus: “tagegleiche Pflegesätze“ Prinzipiell zwar Anreiz zur kostengünstigen Behandlung, aber Anreiz zur Erhöhung der Verweildauer. Gefahr: Keine transparente Kostenrechnung. “Niemand weiß, was wie viel kostet.“ → Fehlen einer Planungsgrundlage für effiziente Mittelverwendung • Pauschale Honorierung nach Krankheitstypen: Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG’s) Im Ausland tw. schon gebräuchlich. In Deutschland in der Einführungsphase. 199 Regelung: Pro Krankheitsfall erhalten Leistungsanbieter (v.a. Krankenhäuser) einen Festbetrag. Leistungsanbieter muss mögliche Zusatzkosten selber tragen Erwartete Vorteile: → Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten bei Umfang und Form der Leistung: Verkürzung der Verweildauer, Abbau von Überkapazitäten bei KrankenhausBetten. → Intensivierung des Wettbewerbs zwischen Krankenhäuser, weil Höhe der Fallpauschale transparenter Wettbe- werbsparameter ist. 200 → Kostendämpfende Strukturänderungen werden wahrscheinlich kleiner ineffizienter (Schließung Krankenhäuser, bessere Verzahnung des ambulanten Bereichs mit Kliniken) → Förderung ökonomischen Denkens bei Leistungsanbietern: – Aussagekräftigere Kostenrechnung – Anreize zur Organisationsverbesserung und Prozessoptimierung. Bessere Abstimmung und Vernetzung innerhalb des Krankenhauses. → Anreiz für Kliniken, Kostendruck an Lieferanten (z.B. Pharmafirmen) und Arbeitnehmer weiterzugeben. 201 Probleme: → Gefahr der unzureichenden Versorgung der Patienten, kostspielige Qualitätskontrolle wird nötig. → Anreiz zur strategischen Manipulation der Diagnose (Upcoding). Dabei evt. sogar Übermaß an Untersuchungen. → Schwierigkeiten bei Einstufung komplizierter Krankheitsbilder: mehrere Krankheiten zugleich, “Komorbiditäten“. → Anreiz zur Abschiebung bzw. NichtAufnahme von Problemfällen. → “Drehtüreffekt“ bei (zu) früher Entlassung von Patienten. 202 → Hohes Risiko bei Leistungsanbietern. Konkursgefahr führt evt. zu höheren Risikoprämien in den Preisen für medizinische Versorgung → Kostendämpfender Effekt wird abge- schwächt. → Hoher (Bürokratie)Aufwand bei Leistungsanbietern, höhere Verwaltungskosten. Ablenkung der Ärzte von ihrer eigentlichen Aufgabe. → Gefahr für Krankenhausversorgung auf dem Land, Versorgungsengpässe in dünn besiedelten Regionen → Einschränkung der Forschungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zur Erhöhung der kurzfristigen Konkurrenzfähigkeit (insbes. an Uni-Kliniken). 203 • Honorierung nach Zahl der potenziellen Patienten Bezahlung erfolgt pro eingeschriebenem Patienten im Quartal – unabhängig von Leistungserbringung. Vorteile: → Anreiz zu Überdiagnose wird auch vermieden → Anbieter haben Interesse an längerfristigem Erfolg ihrer Behandlung. → Kontrolle durch Patienten leicht möglich: Bei Unzufriedenheit mit Anbieter erfolgt Wechsel zu anderem Anbieter in der nächsten Periode → Gute Vorhersehbarkeit der Kosten für die Versicherer 204 Nachteile: → Gefahr der Unterdiagnose und Unterversorgung. → Hohes Risiko bei Leistungsanbietern durch komplizierte Fälle → Gefahr der Risikoselektion zu Lasten von Alten und Schwerkranken → “Werbemaßnahmen“ etwa durch lockeres Verfahren bei Krankschreibungen möglich (zu Lasten der Arbeitgeber) • Bei seltenen medizinischen Maßnahmen (Spezialklinikum, Fachärzte) kaum anwendbar. • Begünstigung großer, integrierter Anbieter. 205 c) Die Finanzierung der Krankenversicherung: Kopfpauschalen als Alternative? Idee: Höhe der Beiträge soll nicht mehr vom Lohn abhängig, sondern fix sein (Flat-RatePremium). Modell: Das Gesundheitssystem in der Schweiz. Dort können die Pro-Kopf-Prämien für die einzelnen Versicherten aber nach bestimmten Kriterien differenziert werden. In diesem Punkt gibt es auch zwischen den einzelnen Vorschlägen in Deutschland erhebliche Unterschiede. Grundsätzliche Argumente pro Kopfpauschale: • Ordnungspolitische Grundeinschätzung: Private Krankenversicherungen (PKVs) beruhen auf Prinzip der Kopfpauschale: 206 Gleiche Leistung – gleicher Preis. Warum sollte dies bei staatlichem System unbedingt anders sein? In diesem Sinne bedeutet Kopfpauschale Annäherung an PKV-System. Gewisse Staatseingriffe bleiben aber erforderlich → Einführung einer Krankenversicherungspflicht, weil ansonsten − viele Individuen bei Krankheit zahlungsunfähig würden − die Individuen sich auf die Sozialhilfe verlassen − zu wenig sparen. 207 → Staatliche Regulierung der Prämienfestsetzung (wie schon jetzt bei privaten Krankenversicherungen in Deutschland) Völlig freier Markt würde zu Differenzierung der Prämienhöhe nach aktuellem bzw. zu erwartendem Gesundheitszustand führen. Dies ist unerwünscht wg. − Prämienrisiko im Zeitablauf, d.h. auf Dauer unzureichendem Versicherungsschutz − Benachteiligung gesundheitlich ungünstig disponierter Individuen (z. B. bei Erbkrankheiten) 208 Regulierung kann allerdings unterschiedlich intensiv sein. Sollen etwa Prämienunterschiede zwischen Mann und Frau erlaubt sein? • Hoffnung auf Verminderung der verzerrenden Effekte durch lohnbezogene Beiträge → bei Arbeitsangebotsentscheidung (Excess Burdens wie bei Lohnsteuer im Standardmodell der Haushaltstheorie) → bei Schaffung von Arbeitsplätzen Entlastung des Faktors Arbeit macht Einsatz von Arbeit für Unternehmen attraktiver. Bei Lohnerhöhungen steigen Beiträge auch nicht automatisch mit. 209 → durch Entlastung von Unternehmen (insbesondere vom Arbeitgeberbeitrag) soll höhere internationale Konkurrenzfähigkeit erreicht werden. → Eindämmung der Schwarzarbeit • Höhere Transparenz im Kopfprämienmodell erhöht Wettbewerbsdruck auf Versicherungen. Dadurch sind höhere Effizienzanreize bei Krankenversicherungen zu erwarten. Grund: Pro-Kopf-Prämien sind leichter vergleichbar als Beitragssätze, von denen man sowieso nur annähernd die Hälfte bezahlt. → Zunehmendes Angebot von Verträgen mit wirksameren Selbstbehalten für Versicherte 210 → Stärkere Verbreitung effizienzorientierter Honorierungsformen für Leistungsanbieter. → Anreiz zu intensiverer Kontrolle der Leistungsanbieter → Förderung der vertikalen Integration zwischen Versicherern und Leistungsanbietern (integrierte Versorgungsformen mit eingeschränkter Arztwahl) Insgesamt: Hoffnung auf effektivere Kostenkontrolle durch Versicherer wg. höheren Wettbewerbs und wg. prinzipiell höherer Vertragsfreiheit bzw. besserem “Durchgriff“ auf Leistungsanbieter 211 • Bessere Chance zur Bildung von “Altersrückstellungen“, d.h. Prämienrücklagen für höhere Gesundheitsausgaben im Alter (Ziel: Prämien– “Smoothing“) Faktisch wird dann kapitalgedeckte Säule ins Krankenversicherungssystem eingebaut → Erwartung einer höheren “Demografieresistenz“. • Die unerwünschten Verteilungseffekte des Kopfprämienmodells (rel. starke Belastung der Einkommensschwachen) können/sollen durch ergänzendes System des Sozialausgleichs kompensiert werden. Auch dadurch höhere Transparenz: 212 Versicherungsleistung (allokative Aufgabe) wird von Umverteilung (redistributive Aufgabe) abgekoppelt. Klarere Trennung: Was kostet Gesundheit – was kostet Unterstützung ärmerer Individuen? 213