Rudolph, U. (2003) Motivationspsychologie Kapitel 6 Die Theorie der Leistungsmotivation von John Atkinson 1. Wert und Wahrscheinlichkeit 1.1. Pascal und die Konzepte von Wert und Wahrscheinlichkeit Blaise Pascals Schriften, die für ein christliches Leben plädieren, enthalten zur Abwägung von verschiedenen Verhaltensalternativen (christliches Leben führen vs. nicht) Abwägungen von Erwartung und Wert 1.2. Erwartungs-x-Wert-Ansätze in der Psychologie Lewins Theorie zum Ersten: Konzepte der psychologischen Entfernung und der Valenz Lewins Theorie zum Zweiten (Theorie der resultierenden Valenz): Wahrscheinlichkeit und Valenz Allgemein: Der Wert, die Valenz eines Zieles oder einer Handlungsalternative und die Warhscheinlichkeit, dass dieses Ziel erreicht wird, determinieren gemeinsam die Wahl dieser Handlungsalternative (nämlich multiplikativ verknüpft) o Die der Entscheidung zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeiten und Werte können auch nur unterbewusst repräsentiert sein o Erwartung = subjektive Einschätzung von objektiven Wahrscheinlichkeiten durch eine Person 2. Individuelle Unterschiede in der Leistungsmotivation 2.1. Das Leistungsmotiv Henry Murray (1938): „Explorations in Personality“ Neben anderen Bedürfnissen wird auch ein Bedürfnis nach Leistung postuliert = das Bedürfnis nach dem Bewältigen von Aufgaben, die als herausfordernd erlebt werden Motive/Bedürfnisse im Sinne von überdauernden Dispositionen werden anhand bestimmter Indikatoren sichtbar: o Typische Verhaltenstrends (welche Situationen werden aufgesucht oder gemieden) o Typische Handlungsweisen ( wie ist das Verhalten in entsprechenden Situationen) o Die Suche nach, die Vermeidung oder Auswahl von, die Beachtung und die Reaktion auf bestimmte Objekte o Äußerung einer bestimmten Emotion oder eines Gefühls o Äußerung der Befriedigung nach Erreichen eines bestimmten Effektes, oder Äußerung von Unzufriedenheit, wenn dieser Effekt nicht erreicht werden kann Motivationspsychologen möchten diese komplexen Verhaltensweisen gerne vorhersagen, dazu braucht es ein gutes Verfahren In Anlehnung an Freuds Projektionen (= Abwehrmechanismen des Ichs), d.h. der Übertragung von eigenen Gedanken und Gefühlen auf andere Personen: Thematischer Apperzeptionstest (TAT) Probanden sollen zu unklaren Bildern Geschichten erfinden und Leitfragen beantworten. Der TAT wird als projektives Testverfahren bezeichnet, da die Probanden verborgene und unbewusste Bedürfnisse in ihre Geschichten projizieren sollen. Der TAT ist das am meisten genutzte Messinstrument zur Diagnose des Leistungsmotivs. 1 2.2. Die Kontroverse um den TAT McClelland, Atkinson, Clark & Lowell (1953) verbesserten die ursprüngliche Version des TAT o Einführung eines standardisierten Inhaltsschlüssels, so können Punktwerte für die Leistungsmotivation berechnet werden Schmalt (1976): Leistungsmotiv-Gitter (den Probanden werden Aussagen aus dem Auswertungsschlüssel des TAT von McClelland et al. vorgegeben und die skalierten Antworten erlauben direkte Berechnungen der Leistungsmotiv-Kennwerte) Kritik 1) Innerhalb des Tests sind die Antworten nicht homogen geringe Split-halfReliabilität o Aber: Eine Person muss nicht zwingend in allen Situationen gleichermaßen leistungsorientiert sein, das führt zu unterschiedlichen Reaktionen auf verschiedene Bilder; der Gesamtwert des TAT zeichnet trotzdem ein angemessenes Bild der Leistungsmotivation 2) Geringe Retest-Reliabilität o Aber: Probanden wiederholen absichtlich wenig, um möglichst kreativ zu erscheinen 3) Auswertung ist kompliziert und aufwendig und kann nur von gut geschulten Personen durchgeführt werden 3. Atkinsons Risikowahlmodell der Leistungsmotivation 3.1. Zentrale Annahmen des Risikowahlmodells Merkmale der Person (emotionale Disposition = das Leistungsmotiv nach Murray) und der Situation (Erwartung und Wert) bestimmen das Verhalten, also die Wahl einer bestimmten Handlungsalternative Eine Leistungssituation wird in Anlehnung an Lewin als Annäherungs-VermeidungsKonflikt aufgefasst, dabei werden die Tendenz, Erfolg aufzusuchen und die Tendenz, Misserfolg zuvermeiden, additiv zusammengeführt Wenn Te > Tm wird eine Leistungssituation aufgesucht, bei Tm > Te wird eine Leistungssituation vermieden Ausschlaggebend für das Verhältnis zwischen diesen beiden ist die Höhe des Erfolgsmotivs und die Höhe des Misserfolgmotivs Zusätzlich werden extrinsische Tendenzen (Tex) (materielle Belohnungen, Vermeiden von Bestrafung, Streben nach Macht), zurückgehend auf Feather, postuliert, so dass sich ergibt: Leistungshandeln Ist durch die resultierende Leistungstendenz Tr und durch extrinsische Motivationen determiniert, es ergibt sich die Formel Leistungshandeln = Tr + Tex 2 3.2. Die Tendenz, Erfolg aufzusuchen Tendenz, Erfolg anzustreben (Te) = Erfolgsmotiv (Me) x Erfolgserwartung (We) x Anreiz von Erfolg (Ae) Das Motiv, Erfolg anzustreben, entspricht Murrays Konzept des Leistungsmotivs Erfolgserwartung ist eine situative Variable, die von einer Person aufgrund von eigenen Erfahrungen gelernt wird, sie kann anhand von Prozentwerten angegeben werden Da nach Atkinson der Stolz auf eine erfolgreiche Aufgabenbearbeitung umso größer ist, je schwieriger diese ist, ergibt sich für den Anreiz von Erfolg: Ae = 1 – We (es gibt empirische Bestätigungen für diese inverse Art der Beziehung) Das tatsächliche Erleben von Erfolg nach erfolgreicher Aufgabenbearbeitung ist einerseits vom Erfolgsmotiv (Me), andererseits von der Schwierigkeit der Aufgabe abhängig (We) Implikationen o 1) Das Streben nach Erfolg sollte für Aufgaben mittlerer Schwierigkeit höher sein als für leichte oder schwierige Aufgaben, da hier das Produkt aus We und Ae besonders hoch ist o 2) Das Streben nach Erfolg ist für Personen mit hohem Erfolgsmotiv durchweg für alle Aufgabenschwierigkeiten höher als für Personen mit mit niedrigem Erfolgsmotiv o 3) Das Streben nach Erfolg zeigt sich im Falle eines niedrigen Erfolgsmotivs nur geringe Unterschiede für Aufgaben verschiedenen Schwierigkeitsgrades, es variiert stärker, je höher das Erfolgsmotiv ist o 4) Die Unterschiede in der Tendenz, Erfolg anzustreben, sind für niedrige und hoch motivierte Personen bei mittleren Aufgabenschwierigkeiten am deutlichsten o 5) Unterschiede im Leistungshandeln zwischen hoch und niedrig erfolgsmotivierten Personen sollten sich am stärksten bei Aufgaben mit mittlerer Schwierigkeit zeigen 3.3. Die Tendenz, Misserfolg zu vermeiden Tendenz, Misserfolg zu vermeiden (Tm) = Misserfolgsmotiv (Mm) x subj. Erwartung von Misserfolg (Wm) x negativer Anreiz von Misserfolg (Am) Misserfolgsmotiv = Fähigkeit zum Erleben bzw. zur Antizipation von Scham oder Betroffenheit oder Ähnlichem, es wird gemessen durch den Test Anxiety Questionnaire (TAQ) von Mandler & Sarason Die Wahrscheinlichkeit von Misserfolg resultiert direkt aus der Erfolgserwartung Wm = 1-We Der „Anreiz“ von Misserfolg ergibt sich aus der Misserfolgserwartung, bei einer Aufgabe, die viele Personen lösen können (hohe Erfolgserwartung, geringe Misserfolgserwartung) ist der negative Anreiz von Misserfolg sehr groß Am = 1-Wm Implikationen sind zu den oben genannten analog 3.4. Die Bedeutung der Erfolgserwartung innerhalb des Risikowahlmodells 3 Der Erfolgserwartung kommt in diesem Modell eine herausragende Rolle zu, sie wird in Experimenten meist gegeben, sie bestimmt den Anreiz von Erfolg, die Wahrscheinlichkeit von Erfolg sowie den negativen Anreiz von Misserfolg → es wird ein objektiver Wert vorgegeben, persönliche Fähigkeitskonzepte bleiben so unberücksichtigt (Bsp. Guter Schachspieler) 3.5. Hull, Skinner, Lewin und Atkinson im Vergleich Alle Theorien besitzen Konzepte der Person, der Umwelt und des Lernens Atkinsons Ansatz ist der einzige, der stabile Personfaktoren (Motive) und überdauernde Unterschiede zwischen Personen postuliert Die Person hat hedonistische Bestrebungen, mehr ist hier auch immer besser (im Gegensatz zu einem homöostatischem Modell bei Hull und Lewin) Die Situationsvariable (Anreiz) ist vollständig von der Lernvariable (Erfolgserwartung) abhängig Sowohl bei Lewins als auch bei Atkinsons Lernkonstrukt wird gelernt, wie schwierig es ist, ein gegebenes Ziel zu erreichen, dies erfordert eine kognitive Repräsentation der Umwelt 4. Empirische Befunde zur Theorie der Leistungsmotivation 4.1. Aufgabenwahl Atkinson und Litwin (1960): Ringwurfaufgabe UV: Motivausprägungen der Probanden (TAT und TAQ) AV: gewählte Distanzen zum Stab (= Aufgabenschwierigkeit) Aufgabenschwierigkeit Geringes Erfolgsmotiv, Hohes Erfolgsmotiv, hohes Misserfolgsmotiv geringes Misserfolgsmotiv Häufigkeit der Aufgabenwahl in Prozent 01 – 03 04 – 06 07 – 09 10 – 12 13 - 15 16 11 25 29 19 9 2 37 44 8 Atkinsons Theorie sagt voraus, dass Personen mit überwiegender Erfolgsmotivation eher mittelschwere Aufgaben bevorzugen, die Ergebnisse bestätigen das Atkinsons Theorie sagt aber auch, dass Personen mit überwiegender Misserfolgsmotivation insbesondere sehr leichte und sehr schwere Aufgaben wählen sollten, diese Personen wählten aber alle Aufgabenschwierigkeiten ungefähr gleich oft 4.2. Anspruchsniveau Moulton (1960): Anagramm-Aufgaben (leichte 75%, mittelschwere und schwere 15%) UV: Erfolgsrückmeldung, Motivdisposition AV: Wird die leichte oder schwere Aufgabe gewählt? Vorhersage Atkinson: Motivgruppe Erfolgsmotivierte Erfolgsmotivierte Misserfolgsmotivierte Misserfolgsmotivierte Leistungsergebnis Erfolg Misserfolg Erfolg Misserfolg We .85 oder .35 .65 oder .15 .85 oder .35 .65 oder .15 Anspruchsniveausetzung Schwere Aufgabe (We=.35) Leichte Aufgabe (We = .65) Leichte Aufgabe (We = .85) Schwere Aufgabe (We=.15) 4 Erklärung: Erfolgsmotivierte wählen eher Aufgaben mittleren Schwierigkeitsgrades, Misserfolgsmotiverte wählen eher sehr schwere oder sehr leichte Aufgaben Ergebnisse Motivgruppe Leistungsmotivation Me > Mm Mm > Me Erfolg aufsuchend Misserfolg meidend Anspruchsniveausetzung Typisch Atypisch 30 1 20 11 4.3. Ausdauer Feather (1961): Lösbare und unlösbare Aufgaben UV: leichte 75% oder schwere 5% Aufgaben, Motivdisposition AV: Anzahl der Versuche, dieselbe Aufgabe zu lösen Vorhersage: die Erfolgserwartung sinkt mit jedem Misserfolg sukzessive, die schwere Aufgabe nähert sich so immer mehr in Richtung .50 an, die schwere wird extrem schwer Erfolgsmotivierte sollten also bei der leichteren Aufgabe länger verweilen, Misserfolgsmotivierte bei der schierigen; die Ergebnisse bestätigen dies recht gut 4.4. Diagnositizität von Aufgaben: Eine Alternativerklärung Trope und Brickman: Leistungshandeln ist nicht, wie nach Atkinson, hedonistisch motiviert, sondern durch den jeweiligen Informationsgewinn, der sich aus der Bearbeitung von unterschiedlich schwierigen Aufgaben für die Fähigkeiten der eigenene Person ergibt Leichte und schwere Aufgaben ergeben wenig Information, mittelschwere Aufgaben sind informativ Vorhersage Trope: Misserfolgsmotivierte bevorzugen sehr leichte und sehr schwere Aufgaben, weil das mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartende Handlungsergebnis nichts über die Fähigkeiten der Person aussagt; Erfolgsmotiverte bevorzugen mittelschwere Aufgaben, gerade weil sie etwas über sich erfahren wollen Experiment Trope 1975: UV: Aufgabenschwierigkeit (leicht – mittel – schwer), Diagnostizität der Aufgabe AV: Anzahl der jeweiligen Aufgabenwahl Ergebnisse: o Für alle Arten von Aufgaben werden hoch diagnostische gegenüber weniger diagnostischen bevorzugt Informationsgewinn ist eine wichtigere Determinante als Erfolgserwartung o Bei hoch leistungsmotivierten Personen ist diese Präferenz weitaus deutlicher ausgeprägt als bei niedrig leistungsmotivierten Personen 5. Leistungsmotiv und Wirtschaftsentwicklung: Die Arbeiten von David McClelland 1961: „The achieving society“, Ausgangspunkt waren die Arbeiten von Max Weber (Analyse der protestantischen Auflehnung gegen den Katholizismus, Protestantismus betont Eigenverantwortlichkeit, protestantische Persönlichkeit ist ähnlich einer hoch erfolgsmotivierten) untersuchte die Beziehungen zwischen Leistungsmotiv und Wirtschaftswachstum sowie zwischen Protestantismus und Wirtschaftswachstum Studie 1: von 25 Staaten nahmen die katholischen einen mittleren Rangplatz von 16, die protestantischen einen Rangplatz von 10 in der Pro-Kopf-Energieproduktion ein Studie 2: Staaten mit hohem nationalem Motivindex (= viele Hinweise auf leistungsthematische Inhalte) hatten größere Zuwachsraten im Stromverbrauch 5