“Logische Grundlagen der Mathematik”, WS 2014/15 Thomas Timmermann 8. Januar 2015 Die Konstruktion der reellen Zahlen Wie stellen wir reelle Zahlen dar? Ansatz: Durch (womöglich unendliche) Dezimalzahlentwicklung x = 0, d1 d2 d3 . . . mit di ∈ {0, . . . , 9} (1) Problem: Wie addiert und multipliziert man unendliche Dezimalzahlentwicklungen? “Von hinten anfangen” geht nicht. Idee von Dedekind: Man stellt jede reelle Zahl x durch das Paar der Mengen A := {y ∈ Q : y < x} und B := {z ∈ Q : x ≤ z} dar, beziehungsweise definiert: eine reelle Zahl ist ein Paar von Mengen (A, B) mit A ⊆ Q und B ⊆ Q und folgenden Eigenschaften: (i) A ∪ B = Q, A ∩ B = ∅, A 6= ∅, B 6= ∅ (ii) ∀y ∈ A∀z ∈ B : y < z (iii) A hat kein größtes Element: ∀y ∈ A∃y 0 ∈ A : y < y 0 So ein Paar (A, B) nennt man einen Dedekind’scher Schnitt. Die Addition definiert man durch (A, B) + (A0 , B 0 ) := ({y + y 0 : y ∈ A, y 0 ∈ A0 }, {z + z 0 : z ∈ B, z 0 ∈ B 0 }), 1 die Multiplikation ist (ein wenig) komplizierter. Approximation: Die Dezimalzahlentwicklung (??) stellt die Zahl x= ∞ X di 10−i i=1 dar, welche durch die rationalen Partialsummen xn := n X di 10−i i=1 beliebig genau approximiert werden kann. Definition. Eine Folge in Q ist eine Abbildung x : N → Q, die wir als (xn )n mit xn := x(n) schreiben. Sie heißt • Cauchy-Folge, falls ∀K ∈ N∃N ∈ N∀m, n ≥ N : |xn − xm | < 1/K; • Null-Folge, falls ∀K ∈ N∃N ∈ N∀n ≥ N : |xn | ≤ 1/K. Wir bezeichnen mit C bzw. N die Menge aller Cauchy-Folgen bzw. Nullfolgen in Q. Nun definieren wir (R1) zwei Cauchy-Folgen x = (xn )n und (yn )n sind äquivalent (d.h. approximieren dieselbe reelle Zahl), falls (xn − yn )n eine Nullfolge ist; (R2) die reellen Zahlen als Menge der Äquivalenzklassen, R := C/∼ ; (R3) die Addition und Multiplikation auf Cauchy-Folgen komponentenweise, x · y := (xn yn )n . x + y := (xn + yn )n , (R4) die Addition und Multiplikation auf R mittels Repräsentanten und erhalten (R5) für jedes q ∈ Q die konstante Cauchy-Folge (q)n und die reelle Zahl [(q)n ], die wir mit q identifzieren, sodass Q eine Teilmenge von R wird. Um zu beweisen, dass all das sinnvoll (wohldefiniert) ist, benötigen wir einige Aussagen aus der Analysis 1: 2 Lemma. (C1) Jede Cauchy-Folge ist beschränkt. (C2) Die Summe und das Produkt zweier Cauchy-Folgen ist eine Cauchy-Folge. (N1) Jede Nullfolge ist eine Cauchy-Folge. (N2) Die Summe zweier Nullfolgen ist eine Nullfolge und das Produkt einer CauchyFolge mit einer Nullfolge ist eine Nullfolge. Beweis-Auszug. Seien x, y ∈ C. (i) Zu K = 1 ex. ein N ∈ N mit |xN − xm | < 1/K = 1 für alle m ≥ N, also |xm | ≤ 1 + |xN | für alle m ≥ N. (ii) Summe: Einfach; Produkt: Nach (i) gibt es ein D ∈ N mit |xm | ≤ D und |ym | ≤ D für alle m ∈ N. Zu K ∈ N ex. dann N ∈ N mit |xn − xm | < 1/(2DK), |yn − ym | < 1/(2DK) für alle n, m ≥ N, und dann folgt für solche n, m |(xn yn − xm ym )| = |(xn yn − xn ym + xn ym − xm ym )| ≤ |xn ||yn − ym | + |xn − xm ||ym | ≤ D 1 1 1 +D = . 2DK 2DK K (iii) Einfach; (iv): Summe: Einfach; Produkt: benutzt (i). Damit können wir (R1)–(R5) abarbeiten: Lemma. Durch x ∼y :⇔ x − y ist eine Nullfolge wird eine Äquivalenzrelation auf C definiert. Beweis. Die Relation ist • reflexiv: x − x = (0)n ist eine Nullfolge; • symmetrisch: ist x − y eine Nullfolge, so auch y − x = (−1)n · (x − y ); • transitiv: sind x −y und y −z Nullfolgen, so auch x −z = (x −y )+(y −z). Definition. Die reellen Zahlen sind die Äquivalenzklassen R := C/∼ . 3 Lemma. Die komponentenweise Addition und Multiplikation auf C sind wohldefiniert, assoziativ, kommutativ, distributiv und verträglich mit der Äquivalenzrelation ∼. Beweis-Auszug. Zur Verträglichkeit: Seien x ∼ x 0 und y ∼ y 0 . Dann ist • x + y ∼ x 0 + y 0 , denn (x + y ) − (x 0 + y 0 ) = (x − x 0 ) + (y − y 0 ) ist als Summe von Nullfolgen eine Nullfolge; • x · y ∼ x 0 · y 0 , denn x · y − x 0 · y 0 = x(y − y 0 ) + (x − x 0 )y 0 ist als Summe von Produkten von Cauchy- und Nullfolgen wieder eine Nullfolge. Wir können nund die Addition und Multiplikation auf R definieren, [x] · [y ] := [x · y ], [x] + [y ] := [x + y ], und zeigen: Satz. R ist ein Körper. Bem. zum Beweis. Der Beweis ist nicht schwierig, abgesehen vielleicht von der Existenz inverser Elemente für die Multiplikation. Dazu zeigt man: Ist (xn )n eine Cauchy-Folge, aber keine Nullfolge, so bilden auch die ( 1/xn , xn 6= 0, yn := 1, xn = 0, eine Cauchy-Folge und [x] · [y ] = 1. In dieser Konstruktion von R = C/ ∼ verstecken sich folgende algebraische Strukturen: • C ist bezüglich der Addition und der Multiplikation mit Q ein Q-Vektorraum wegen (C2), • N ⊆ C ist ein Untervektorraum wegen (N1) und (N2), • R = C/ ∼= C/N ist der Quotientenraum, also selbst ein Q-Vektorraum. Darüber hinaus haben wir ja die Multiplikation auf C. Bezüglich derer ist • C ein Ring, genauer eine Algebra über Q, 4 • N ⊆ C ein Ideal, • R die Quotientenalgebra. Beispiel. Analog ist z.B. für jedes n ∈ N • Z ein Ring, • (n) := {k ∈ Z : n teilt k} ⊆ Z ein Ideal, • Z/(n) der Ring der Restklassen modulo n, mit Repräsentanten [0], . . . , [n−1]. Ist n eine Primzahl, so wird Z/(n) ein endlicher Körper. Emmy Noether — (Mit)Begründerin der abstrakten Algebra • 1903 Aufnahme des Studiums • 1907 Promotion (als 2. Mathematikerin in Deutschland) • Habilitation 1919 (als 1. Mathematikerin in Deutschland) Emmy Noether (1882–1935) • 1933 Emigration in die USA Algebren und Ideale Definition. Eine Algebra (mit Eins) über einem Körper K ist eine Menge A mit • einer Addition A × A → A und Skalarmultiplikation K × A → A, bezüglich derer A ein K-Vektorraum ist, • einer Multiplikation A × A → A, die assoziativ ist, distributiv ist und mit der Skalarmultiplikation verträglich ist, 5 • einem neutralen Element 1A für die Multiplikation. Ein Ideal in einer Algebra A ist eine Teilmenge I ⊆ A mit folgender Eigenschaft: ∀x, y ∈ I : x + y ∈ I, ∀a ∈ A, x ∈ I : ax, xa ∈ I. Wir wollen nun zeigen, dass R vollständig ist, also jede Cauchy-Folge in R konvergiert. Dazu definieren wir die Ordnung und den Betrag auf R. 6