170 r Der Mensch als Umweltfaktor – Populationsdynamik und Biodiversität 9 Populationsdynamik Die Anzahl der Organismen einer Art, die in einem Gebiet vorkommen, ist nicht starr festgelegt, sondern bestimmten Schwankungen unterworfen, die von den jeweils herrschenden Umweltfaktoren abhängen. Die zeitliche Veränderung der Individuenzahl zeigt meist eine charakteristische Populationsdynamik. Eine Population umfasst alle in einem relativ abgeschlossenen Gebiet vorkommenden Individuen einer Tier- oder Pflanzenart, die sich uneingeschränkt untereinander fortpflanzen können und daher einen gemeinsamen Genpool besitzen. 9.1 Wachstum von Populationen Das Wachstum einer Population kann (bei ungeschlechtlicher oder vegetativer Vermehrung) von einem einzelnen Individuum oder (bei geschlechtlicher bzw. sexueller Fortpflanzung) von einem Gründerpaar ausgehen. Beispiel Wachstum einer Bakterienkultur Werden Bakterien (z. B. E. coli ) in frisches, flüssiges Nährmedium übertragen, setzt nach einer Anlaufphase (lag-Phase) von etwa einer Stunde, in der sich die Bakterien auf die neuen Lebensbedingungen einstellen, exponentielles Wachstum (logarithmische Phase, log-Phase) ein. E. coliZellen teilen sich alle zwanzig Minuten. Nach einigen Stunden verlangsamt sich die Vermehrung infolge von Nahrungsmangel und einer Anhäufung von Stoffwechselabfallprodukten und kommt schließlich zum Stillstand (stationäre Phase). Nach einigen Tagen sterben immer mehr Bakterien ab (Absterbephase). Abb. 92: Phasen des Bakterienwachstums Der Mensch als Umweltfaktor – Populationsdynamik und Biodiversität r 171 Exponentielles Wachstum Die Geburtenrate b und die Sterberate d entscheiden darüber, ob eine Population wächst oder abnimmt. Die Wachstumsrate ergibt sich aus der Differenz zwischen Geburten- und Sterberate. Ein positives Populationswachstum liegt vor, wenn pro Zeiteinheit durchschnittlich mehr Individuen geboren werden als absterben. Die Geburtenrate (b) ist die Zahl durch Geburt hinzugekommener Individuen in einer Zeiteinheit. Die Sterberate (d) ist die Zahl an Individuen, die in einer bestimmten Zeit durch Tod ausscheiden. Die Wachstumsrate (r) ist die Differenz aus der Geburtenrate und der Sterberate: r = b – d. Beispiele Wenn auf 1 000 Tiere 500 Nachkommen und 100 Todesfälle kommen, beträgt die Wachstumsrate r = (500 – 100) : 1 000 = 0,4 40 %. Wenn aus 1 000 Bakterien durch Teilung 1 000 neue Bakterien entstehen, beträgt die Wachstumsrate r = 1 000 : 1 000 = 1 = 100 %. Unter optimalen Wachstumsbedingungen, wie sie für Bakterien in Kultur geschaffen werden oder wie sie Populationen bei der Besiedelung neuer Lebensräume vorfinden können, wächst eine Population für eine bestimmte Zeit exponentiell. Unbegrenztes Wachstum stößt sehr schnell an die KapazitätsgrenAbb. 93: Exponentielles Wachstum einer Population ze seiner Umwelt. Würde sich z. B. ein Bakterium, dass sich unter Optimalbedingungen alle 20 Minuten teilt, ca. zwei Tage lang ungehemmt exponentiell vermehren, hätte die daraus entstehende Bakterienpopulation die Erde an Volumen bereits mehrfach übertroffen. Logistisches Wachstum Bei den meisten Arten folgt das Wachstum einer Population unter natürlichen Bedingungen einer logistischen Wachstumskurve. Nur in der Anfangsphase des Populationswachstums tritt dann exponentielles Wachstum auf (siehe Abb. 94), da es bei einer Population mit wenigen Individuen noch genügend Nahrung für alle gibt und das Biotop meist groß genug ist, um weitere Artgenossen aufzunehmen. Schon bald verlangsamt sich jedoch das Wachstum, da 172 r Der Mensch als Umweltfaktor – Populationsdynamik und Biodiversität ein Umweltfaktor begrenzend auf die weitere Vermehrung – in den meisten Fällen ist dies das Nahrungsangebot – wirkt. Die Kurve flacht ab (logistische Phase, b) und nähert sich asymptotisch an die Kapazität der Umwelt an (c). Anschließend geht sie in eine stationäre Phase über, in der die Individuenzahl der Umweltkapazität (Biotopkapazität) K entspricht. Untersuchungen im Freiland haben ergeben, dass K mit natürlichen Populationsschwankungen erreicht und eingehalten wird (fluktuierendes Wachstum). Abb. 94: Logistische Wachstumskurve und fluktuierendes Wachstum 9.2 Bedeutung verschiedener Fortpflanzungsstrategien Die Wachstumsrate einer Population beruht auf genetisch festgelegten Eigenschaften, die wie andere Merkmale auch der Selektion unterliegen. Durch Selektionsvorgänge haben sich zwei gegensätzliche Strategien zur Populationsentwicklung herausgebildet. r-Strategen (Vermehrungsstrategie) Populationen solcher Arten sind an Lebensräume angepasst, in denen die Umweltfaktoren stark schwanken, z. B. Regenwasserpfützen, Tümpel, Brachflächen. Unter kurzzeitig sehr günstigen Lebensbedingungen vermehren sich die Populationen explosionsartig und überschreiten dabei die Umweltkapazität deutlich. Sind die Ressourcen verbraucht oder ändern sich die Umweltbedingungen, kommt es zu einem Populationszusammenbruch. Solche Arten mit stark schwankender Populationsdichte sind meist klein, haben eine kurze Lebensdauer und eine hohe Wachstumsrate. Dadurch gelingt es ihnen, große Bereiche eines Lebensraums ausgehend von nur wenigen Individuen schnell zu besiedeln und drastische Verschlechterungen der Umweltbedingungen zu überleben. Beispiele dafür sind: Planktonalgen, einjährige Gräser und Kräuter, Blattlaus, Wasserfloh, Heuschrecke, Grasfrosch und kleine Nagetiere.