Komorbidität – ein Dinosaurier der Psychopathologie Reiner Bastine, 2012 ÜBERARBEITETER VORTRAG ZUR FEIER DES 65. GEBURTSTAGS VON PROF. DR. PETER FIEDLER AUSFÜHRLICHE PUBLIKATION: BASTINE, R. (2012). KOMORBIDITÄT: EIN ANACHRONISMUS UND EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE PSYCHOTHERAPIE. IN: FIEDLER, P. (HRSG.). DIE ZUKUNFT DER PSYCHOTHERAPIE. HEIDELBERG: SPRINGER. E-MAIL: [email protected] WWW.BASTINE.UNI-HD.DE Komorbidität 2 = das gemeinsame Auftreten verschiedener, voneinander abgrenzbarer psychischer und/oder somatischer Störungen in einem definiertem Zeitraum (z.B. Wittchen und Hoyer, 2006, 955) Basierend auf dem Krankheitsmodell: „morbus“ (lat. Krankheit) Grundannahme klar voneinander abgegrenzter Krankheitseinheiten mit eigenständigem und charakteristischem (intrinsischen) Verlauf Reiner Bastine Komorbidität 2012 Komorbidität im ICD-10 3 Einerseits: „So ersetzt der Begriff ‚Störung‘ den der psychischen Krankheit weitgehend“…. Andererseits: „…dem Prinzip der Komorbidität wird Rechnung getragen“ Weltgesundheitsorganisation/ Dilling, Mombour & Schmidt, 1993, s. 9 Ganz offensichtlich ist das ein klares Bekenntnis zum wissenschaftlich begründeten Einerseits und Andererseits! Reiner Bastine Komorbidität 2012 Nachdenken über das „Prinzip Komorbidität“ 4 Themen: die empirische Befundlage zur Komorbidität psychischer Störungen Schlussfolgerungen zum „Prinzip der Komorbidität“ Komorbidität und Psychotherapie: eine Re-Vision der Grundannahmen der Psychotherapie Reiner Bastine Komorbidität 2012 Komorbidität in epidemiologischen Untersuchungen 5 US National Comorbidity Survey (Kessler et al., 2005) Unter den „Fällen“ erhielten 55 % die Diagnose einer Störung, 45 % Diagnosen für zwei oder mehr Störungen; darunter 23% Diagnosen mit drei oder mehr Störungen Bundesgesundheitssurvey (Jacobi & Wittchen, 2004) Unter den „Fällen“ erhielten 60,5 % die Diagnose einer Störung („pure“ Störung), 39,5 % Diagnosen mit zwei oder mehr Störungen 10,3 % Diagnosen mit vier oder mehr Störungen („hoch komorbid“) Komorbiditätsrate bei einzelnen Störungen: zwischen 44 – 94 % 1301 „identifizierte Fälle“ erhielten 2.321 Diagnosen für psychische Störungen: = im Durchschnitt erhielt jeder „klinische Fall“ 1,8 Diagnosen ! Reiner Bastine Komorbidität 2012 Komorbidität bei 5 Hauptdiagnosen Bundesgesundheitssurvey (ohne Persönlichkeitsstörungen!) 6 62,1 % der Angststörungen sind komorbid 61,2 % der affektiven Störungen sind komorbid 54,3 % der 44,9 % der Substanzstörungen somatoformen Störungen sind sind komorbid komorbid 65,2 % der Essstörungen sind komorbid Jacobi et al., 2004 Reiner Bastine Komorbidität 2012 Psychotherapeutische Ambulanzen der Universität Mainz: aus dem Jahresbericht 2009 7 Im Jahr 2009 wurden 990 Patienten psychotherapeutisch behandelt, die (bis auf 4 Personen) mindestens eine Diagnose einer psychischen Störung erhielten Insgesamt wurden für diese 986 Personen 1.946 Diagnosen vergeben = im Durchschnitt erfüllte jeder Patient in vollem Maß die diagnostischen Kriterien für zwei psychische Störungen Reiner Bastine Komorbidität 2012 „Schwer zu finden“ 8 „In vielen klinischen Einrichtungen mag es schwierig sein, reine diagnostische Fälle zu finden, die nicht auch unter anderen Arten von Psychopathologie leiden.“ Clark, Watson & Reynolds, 1995, 128 Reiner Bastine Komorbidität 2012 Schlussfolgerungen 1 und 2 9 (1) Komorbidität ist bei psychischen Störungen kein randständiges Phänomen, kein seltenes Ereignis, sondern eher die Regel als die Ausnahme – ein alarmierender Befund! (2) Diese empirischen Befunde unterschätzen die Koinzidenz psychischer Störungen noch gravierend, weil nur Volldiagnosen und keine Störungen unterhalb der Kriteriumsschwelle berücksichtigt sind nur wenige übergeordnete Diagnosekategorien erfasst und untergeordnete Kategorien vernachlässigt wurden die Beobachtungszeiträume in Anbetracht der tatsächlichen klinischen Verläufe psychischer Störungen zu kurz sind Reiner Bastine Komorbidität 2012 Schlussfolgerungen 3 und 4 10 (3) Das wissenschaftstheoretische Problem: das „Prinzip der Komorbidität“ erklärt nichts …es ist lediglich deskriptiv („gemeinsames Auftreten“), keine kausale und/oder funktionale Zusammenhänge, keine inhaltliche Begründung des „Prinzips“ Dagegen steht die klinische Realität: verschiedene psychische Auffälligkeiten treten in der Regel nicht zufällig gemeinsam auf, sondern systematisch und erklärbar (4) Wie mache ich aus der Not eine Tugend – oder: wie rette ich den Dinosaurier der Psychopathologie? „Komorbidität ist ein Charakteristikum psychischer Störungen und hat wichtige Implikationen für die Aufklärung der Ätiologie und Pathogenese sowie die Therapieplanung“ (Wittchen & Hoyer, 2006, 49) wohl eher eine Sackgasse! Reiner Bastine Komorbidität 2012 Schlussfolgerung 5 11 (5) Es ist offensichtlich, dass die Annahme distinkter, voneinander klar unterscheidbarer Einheiten bei psychischen Störungen wissenschaftlich ein kategorialer Fehler ist und mit der Realität dieser Störungen nicht in Einklang steht (vgl. schon Bastine, 1998). Das „Prinzip Komorbidität“ ist ein Artefakt des Krankheitsmodells und des darauf basierenden diagnostischen Systems, eine vergebene Chance und ein gravierendes Problem für die psychotherapeutische Behandlung . Sachgerechter wäre eine systemische Sichtweise von psychischen Störungen, die von vielfältigen kausalen, funktionalen und miteinander interagierenden Zusammenhängen ausgeht. Reiner Bastine Komorbidität 2012 Komorbidität und Psychotherapie 12 Was tragen störungsspezifische und störungsunspezifische Faktoren zum Ergebnis der Psychotherapie bei? Ein Resümee von Lambert & Barley, 2002: Störungsspezifische psychotherapeutische Methoden / Techniken Beziehungsfaktoren (Common Factors) Erwartungseffekte (Placebo-Effekte) Außertherapeutische Veränderungen Reiner Bastine Komorbidität 2012 „Eine gewissenhaft abgeleitete, dennoch grobe Schätzung des relativen Beitrags verschiedener Variablen zum Psychotherapie-Ergebnis…“ 13 Common Factors 30% Expectancy (placebo effect) 15% Reiner Bastine Extratherapeutic Change 40% Techniques 15% Lambert & Barley, 2002, 18 Komorbidität 2012 Konsequenzen für das psychotherapeutische Handeln 14 Erforderlich sind die stärkere Berücksichtigung des Lebenskontextes der Patienten störungsübergreifender psychotherapeutischer Handlungsstrategien Reiner Bastine Komorbidität 2012 Das Dilemma zwischen störungsspezifischer Ausrichtung und psychotherapeutischer Praxis 15 Die dominante störungsspezifische Ausrichtung in Forschung Versorgungsplanung und –entscheidungen Ausbildung Dagegen steht die unübersehbare Kluft zur klinisch – psychotherapeutischen Realität, dokumentiert durch die deutlich begrenzte externe Validität der Behandlungsforschung die massiven Übertragungsprobleme auf die psychotherapeutische Praxis Reiner Bastine Komorbidität 2012 Plädoyer für eine fällige Revision der Grundannahmen für die Psychotherapie 16 PT ist nicht die Behandlung einer isolierten psychischen Störung, sondern sie greift ein in ein komplexes und dynamisches System psychischer Beeinträchtigungen Psychische Probleme stehen in vielfältigen Verbindungen und Wechselwirkungen mit den persönlichen Merkmalen und Eigenschaften des Patienten, mit seiner individuellen Biographie und Entwicklung sowie mit seinem vergangenen und gegenwärtigen Lebensumständen (Bastine, 1992) Reiner Bastine Komorbidität 2012 Was brauchen wir in der Psychotherapie? 17 Es hilft nichts: Störungsspezifische Vorgehensweisen sind nur für einen kleinen Teil der Anforderungen hilfreich, die die psychotherapeutische Praxis an die handelnden Psychotherapeuten stellt Eine sehr viel größere Bedeutung für die vielfältigen Zusammenhänge und Entwicklungen der psychischen Problematik des Patienten haben generelle (störungsübergreifende) therapeutische Handlungsstrategien und muster Diese Handlungsstrategien sind komplex, zielbestimmt, prozessorientiert (und damit adaptiv auf die Konditionen des Patienten und dessen Entwicklung abgestimmt), und sie schließen die Gestaltung der therapeutischen Beziehung mit ein Reiner Bastine Komorbidität 2012 Literatur 18 Bastine, R. 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