Fortbildung Psychische Erkrankungen Kindliche Angststörungen haben viele Gesichter Gerhard Nissen Ä Foto: Nissen Malerei eines 6-Jährigen: „Wovor ich so schrecklich Angst hab.“ Was steckt dahinter, wenn ein 4-Jähriger seiner Mutter nicht von der Stelle weicht und sogar nachts den Vater aus dem Bett vertreibt? Oder wenn eine 12-Jährige sich weigert, in die Schule zu gehen? Im folgenden Beitrag lesen Sie, wann Kinderängste als pathologisch eingestuft werden müssen, wie überängstliche Eltern zur Entstehung einer Angststörung beitragen können und welche Therapiemöglichkeiten es gibt. Tabelle: Angstsymptomatik bei KIndern und Jugendlichen Psychische Symptome Kleinkinder Psychosomatische Symptome Trennungsängste, z. B. vor dem Einschlafen; gestörtes Bindungsverhalten; Pavor nocturnus; Kindergartenverweigerung Regulationsstörungen: exzessives Schreien, Schlafstörungen, Fütterund Gedeihstörungen Schulkinder Schulverweigerung, Schulphobie, Schulangst; generalisierte Angststörung; emotionale Störungen mit Trennungsangst Enkopresis; Enuresis; genitale Manipulationen; Erbrechen; Übelkeit; Bauchschmerzen Jugendliche Schulverweigerung; Angst vor Krankheit und Tod; Verlustangst; Leistungsangst; Pubertätskrisen; Panikstörungen Suizidalität pädiatrie hautnah 5·2004 Klagen über Schmerzen; psychosomatische Störungen (Anorexia nervosa u. a.) Ängstliche Persönlichkeitsstruktur ngste sind im Kindesalter weit verbreitet. Ausgeprägte Angststörungen werden bei 10–15% der Grundschulkinder und bei 5–10% der Jugendlichen angetroffen. Die Angst spielt für die Entstehung von fast allen emotionalen Störungen eine maßgebliche Rolle und gilt daher als „Motor der Neurose“. Von einer Angststörung sprechen wir erst dann, wenn ihre Intenstität und Dauer in grobem Missverhältnis zur auslösenden Ursache stehen. Angststörungen manifestieren sich bei Kleinkindern überwiegend im psychosomatischen Bereich. Im Schulalter dominieren gemischte psychische und somatische Symptome, während bei Jugendlichen psychische Symptome im Vordergrund stehen. Hier häufen sich erstmalig aber auch schwere psychosomatische Erkrankungen (Anorexie, Bulimie). Die Symptome bei Kindern und Jugendlichen ist in der Tabelle zusammengefasst. Angst bei Kleinkindern Im Kleinkindalter handelt es sich meist um Ängste vor Trennungen von der Mutter oder der gewohnten Umgebung, vor Fremden, Tieren oder Märchenfiguren und um nächtliche Unruhe. Aus der ständigen Anwesenheitskontrolle der Mutter kann sich ein Terrorregime entwickeln, dem sich u. U. die ganze Familie unterwerfen muss. Auch in einer gestörten Ehe können Angstattacken eines Kindes für die Mutter dann von besonderer Bedeutung sein, wenn das Kind im Elternschlafzimmer einzieht und der Vater ins Kinderzimmer verbannt wird. Solche „Schutz-und-Trutz“-Bündnisse sind prognostisch ungünstig. Schulverweigerung Bei den Schulverweigerungen unterscheiden wir die Schulphobie, die Schul263 Fortbildung Fall 1: Schulangst Ein 12-jähriges lernschwaches Mädchen entwickelte eine massive Schulangst. Sie fürchtete nicht nur Demütigungen durch die Mitschüler, sondern auch, von den Adoptiveltern wieder ins Heim zurückgeschickt zu werden. Wegen eines im Alter von 9 Jahren auftretenden Ulcus duodeni und wegen heftiger Kopfschmerzen wurde sie mehrfach in Kliniken eingewiesen. Das letzte Jahr vor der Schulentlassung verbrachte sie überwiegend mit somatoformen Beschwerden im Bett. Eine Nachuntersuchung nach 13 Jahren ergab, dass die seelische und körperliche Symptomatik mit der Schulentlassung „wie weggeblasen“ gewesen waren. angst und das Schulschwänzen. Sie alle sind von Angst begleitet, erfordern aber unterschiedliche Behandlungen. Schulphobie: Bei der Schulphobie wird die Schule fälschlich als Angstursache beschuldigt. Das zeigt sich deutlich bei durchschnittlich oder überdurchschnittlich begabten Kindern, die lernbereit sind und keine Leistungsdefizite aufweisen. Bereits im Kindergarten trennen sie sich schwer von ihren Müttern. Hinter diesen Angstanfällen steht die Furcht, von der Mutter verlassen zu werden. Diese Separationsängste werden durch unbewusste mütterliche Signale unterstützt und verstärkt. Aus diesem Circulus vitiosus heraus entwickeln sich gelegentlich panische Angstattacken und Erschöpfungszustände sowohl bei der Mutter als auch beim Kind. Schulangst: Bei der eigentlichen Schul- angst möchte das Kind aus verständlichen Gründen die Schulsituation meiden. Es fürchtet sich vor Demütigungen und Kränkungen. Zugrunde liegen Leistungsdefizite, körperliche Erkrankungen oder Missbildungen. Solche Kinder fühlen sich seelisch, körperlich oder intellektuel überfordert, ausgegrenzt und diskriminiert (Fall 1). Durch ihr Vermeidungsverhalten erleben sie zunächst eine Entlastung, zusätzlich aber leiden sie unter Schuldgefühlen gegenüber Eltern, weil sie deren Erwartungen nicht entsprechen. 264 Psychische Erkrankungen Schulschwänzen: Bei älteren Kindern ist das Schulschwänzen die häufigste Form der Schulverweigerung. Diese Kinder vermeiden die unlustgetönte Schulsituation und wechseln in lustbetonte Verhaltensweisen, aber sie leben ständig in Angst, entdeckt zu werden. Nicht selten versuchen Eltern, durch nachträglich ausgestellte ärztliche Atteste ihre vermeindliche Schande zu verbergen, machen sich aber dadurch zu Komplizen ihres Kindes. Chronische Schulschwänzer sind verwahrlosungsgefährdet oder bereits manifest verwahrlost. Zum Gammeln und Weglaufen treten zunächst delinquente und später kriminelle Übertretungen hinzu. Ihre Prognose ist deshalb eher ungünstig Angstanfälle Im Jugendalter manifestieren sich zunehmend reale und existenzielle Ängste, die sich zu Angstanfällen verdichten oder in psychosomatischen Erkrankungen manifestieren (Fall 2). Fall 2: Angstanfälle Ein 16-jähriges Mädchen mit Angstanfällen wuchs als Einzelkind auf. Ihr Vater begleitete sie überall hin, sogar in die Disko. Bei einem allein unternommenen Spaziergang wurde sie von drei Jugendlichen sexuell bedroht. Danach entwickelte sich eine schwere Angstneurose. Sie fühlte sich ständig bedroht, durchsuchte die Wohnung, alle Zimmer mussten nachts beleuchtet bleiben. Schließlich verlobte sie sich, um sagen zu können, „Lassen Sie mich zufrieden, ich bin verlobt.“ Nach längerer Psychotherapie besserte sich ihr Beschwerdebild und trat auch nach Aufhebung dieser Notverlobung nicht wieder auf. Depressionen In der Depression steht bei Kindern Angst an erster Stelle ihres Erlebens: Angst vor der Schule, vor der Trennung von den Eltern oder vor Krankheit und Tod. Angst beherrscht die moralischen Instanzen und führt zu quälerischen Selbstzweifeln (Fall 3). Zwangssyndrom Das Zwangssyndrom wird beherrscht von der Angst, Entscheidungen treffen zu müssen. Aufsteigende Ängste wer- Fall 3: Depression Ein 7-jähriger depressiver Junge wird von der verzweifelten Mutter wegen therapieresistenter Wein- und Schreikrämpfe vorgestellt. Das Kind der berufstätigen Mutter war bis zum 5. Lebensjahr in Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Kindergärten untergebracht. Die Schreianfälle traten seit dem 3. Lebensjahr bei jeder Trennung von der Mutter auf. Ein Schulbesuch war nach kurzer Zeit nicht mehr möglich. Die Symptomatik verschwand erst, als es gelang, die Mutter in dem von ihrem Jungen besuchten Schulkindergarten als Hilfskraft anzustellen. den durch automatisierte Denkzwänge, durch Stereotypen und Rituale abgebunden oder in kleine Angstpakete verpackt, die ständig kontrolliert werden müssen. Histrionisches Syndrom Hier droht eine immanente Angst, „nur“ ein durchschnittlicher Mensch zu sein und nicht permanent im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Die somatoformen und dissoziativen Störungen und der daraus gezogene Krankheitsgewinn sind ein Ausdruck dieser Angst. Aggressivität Schließlich stehen auch hinter der Aggressivität von Kindern nicht selten massive Ängste, von denen sich „Angstbeißer“ durch scheinbar unmotivierte aggressive Präventivschläge zu befreien versuchen. Panikattacken Diese manifestieren sich einmalig gehäuft in der Pubertät vor der anstehenden Neuorientierung, vor einer selbstständigen Existenz und der drohenden Auseinandersetzung mit der Welt. Angst erzeugendes Milieu Die Ursachenforschung über Entstehung der Angst, der Angststörungen und der Phobien konzentriert sich auf genetische, entwicklungspsychologische, psychodynamische und lerntheoretische Faktoren. Auf genetische Kodierungen weisen frühe individuelle Differenzen der Reaktionen von Säuglingen auf akute Schmerzreize oder auf Schreckerlebnisse hin. pädiatrie hautnah 5·2004 Anzeige Ausgeglichene Kleinkinder mit sicherem Bindungsverhalten entwickeln nur selten pathologische Ängste oder Phobien. In der Regel stammen angstkranke Kinder aus einem angsterzeugenden Milieu, in dem sie von ihren Eltern ständig überwacht werden. In Extremfällen werden nicht nur die Nahrungsmenge und der Stuhlgang kontrolliert, sondern auch der Puls und die Zahl der Atemzüge gezählt. Therapie Pathologische Ängste: Für die Be- handlungen pathologischer Ängste kommen je nach Schwere, Form und Dauer der Störung und Alter des Patienten in Betracht: — Elternberatung oder Elterntherapie, — Psychotherapie, — medikamentöse Behandlung. Nach bisherigen Untersuchungen sind kognitiv-behaviourale Verfahren v. a. für die Behandlung von Angstneurosen und die verschiedenen Formen generalisierter Angststörungen. Chronische, schwere und therapieresistente Angststörungen können u. U. nur durch eine zeitlich befristete Herausnahme des Kindes aus der Familie überwunden werden. Schulangst: Bei der Schulangst besteht eine reale Furcht vor Leistungsversagen, Kränkungen, Demütigungen und Misshandlungen oder vor den Anforderungen des Lehrers. Wenn schwer wiegende kognitive oder andere Störungen vorliegen, ist neben einer entsprechenden Behandlung eine Umschulung einzuleiten. Phobische Störungen: Bei phobischen Störungen reagiert das ängstliche Kind oft nur als Agent seiner Mutter. In solchen Fällen ist die Behandlung der überängstlichen Mutter vordringlich. Schulschwänzen ist manchmal das erste Zeichen für eine beginnende dissoziale Störung. Eine gründliche Analyse der familiären Situation und Einleitung psychotherapeutischer Maßnahmen unter Einbeziehung der Familie ist erforderlich, in schweren Fällen in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. pädiatrie hautnah 5·2004 Psychopharmakologische Behandlung Eine psychopharmakologische Behandlung kann indiziert sein, wenn eine Psychotherapie aus Mangel an Kindertherapeuten nicht möglich ist oder eine schwere Angsterkrankung vorliegt. Für die medikamentöse Behandlung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter gibt es nur wenige verlässliche Studien; dabei handelt es sich oft um individuelle Heilversuche. Bei schweren und chronischen Angststörungen kann bei älteren Kindern und Jugendlichen, auch bei einer Schulphobie und der Schulangst, ein Versuch mit Johanniskraut oder mit SSRI-Substanzen und in schweren Fällen evtl. mit kleinen Imipramin-Dosen unternommen werden. Beim Vorliegen von Teilleistungsschwächen, eines hyperkinetschen Syndroms oder einer gesteigerten Aggressivität sind entsprechende therapeutische Erwägungen anzustellen. Prävention Durch Vermeiden angstauslösender Situationen lässt sich die Entwicklung von pathologischen Ängsten nicht verhindern. Lehrpläne, die z. B. die Anzahl der Klassenarbeiten drastisch vermindern, erhöhen die Angstschwelle vor der einen und anderen entscheidenden Arbeit dramatisch. Eltern haben zwar die Möglichkeit, das Leben ihrer Kinder so weit wie möglich glücklich zu gestalten, aber nur solange diese noch Kinder sind. Erwachsene werden aber nicht danach gefragt, wo ihre individuelle Angstschwelle liegt. Manches spricht dafür, dass eine Befreiung der Angst nur durch das Gegenteil erreicht werden kann. Viele Kinder testen ihre Ängste durch Mutproben aus und versuchen, sie dadurch zu kontrollieren. Ängste und Phobien lassen sich offenbar nur durch ein ansteigendes Trainig der Angstbewältigung relativieren und beseitigen. Anschrift des Verfassers: Prof. em. Dr. Gerhard Nissen Julius-Maximilians-Universität Würzburg c/o Anne-Frank-Str. 9 97082 Würzburg 265