Die molekularen Dirigenten der Neuroembryogenese

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Die molekularen Dirigenten der Neuroembryogenese
Die Entwicklung von Geweben wie dem Nervensystem ist ein Konzert. Entscheidend für die
Koordination der Melodieabfolgen sind genetische Schaltzentralen, die als Mastergene oder cisregulatorische Elemente bezeichnet werden und ganze genetische Programme an- oder
abschalten können. Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Uwe Strähle vom Karlsruher Institut für
Technologie (KIT) versucht am Zebrafisch zu entschlüsseln, wer in dem Durcheinander aus
Tausenden von Signalmolekülen etwas zu sagen hat, auf welche Weise gute Musik zustande
kommt und wie molekulare Störenfriede wie etwa Umweltgifte Sabotage betreiben.
Tausende von Molekülen interagieren miteinander im Embryo während der Entwicklung des
Nervensystems und anderer Gewebe. In zeitlich genau abgestimmten Mustern werden
genetische Programme aktiviert, Moleküle schalten die Funktion anderer Moleküle ein oder
aus, Gewebe kommunizieren untereinander, Zellen entwickeln und differenzieren sich,
wandern von einem Ort zu einem anderen oder stellen ihre Teilungsaktivität ein. In einem
systembiologischen Ansatz haben Prof. Dr. Uwe Strähle und sein Team vom Institut für
Toxikologie und Genetik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in den letzten Jahren alle
Gene im Zebrafisch identifiziert, die diese Abläufe regulieren. „Wir versuchen jetzt, die
funktionellen Hierarchien zwischen den molekularen Mitspielern zu identifizieren, die bei der
Entwicklung des Nervensystems und der Muskeln, aber auch etwa bei der Regeneration von
adultem Gehirngewebe eine Rolle spielen könnten“, sagt Strähle.
Extrem schnelle Regenerationsfähigkeit
Der Zebrafisch ist einer der wichtigsten Modellorganismen in der Entwicklungsbiologie. © Prof. Dr. Uwe Strähle
Die Entwicklung von Organen wie etwa dem Gehirn verläuft auf der Ebene der molekularen
Mechanismen beim Zebrafisch durchaus ähnlich wie beim Menschen. Forscher fanden in den
letzten Jahren eng verwandte Signalmoleküle, die auch bei unserer Entwicklung eine Rolle zu
spielen scheinen. Strähle und sein Team haben mit dem Organismus ein für das Labor extrem
praktisches Modellsystem. Die durchsichtigen Embryonen erlauben es zum Beispiel, dass
farblich markierte Gene und Moleküle im Mikroskop live beobachtet werden können. Und die
kurze Generationszeit sowie die leichte Kultivierbarkeit von Fischeiern ermöglichen
Experimente im Hochdurchsatz. In den letzten Jahren ist aber noch ein neuer Aspekt in den
Fokus geraten: Sticht man einem Menschen eine Nadel ins Gehirn oder durchtrennt man sein
Rückenmark, dann ist das tödlich, beim Fisch ist nach drei Wochen alles wieder beim Alten.
„Nervengewebe von Zebrafischen zeigt eine enorme Regenerationsfähigkeit, sowohl in
embryonalen als auch in adulten Stadien“, erklärt Strähle. „Wir konnten feststellen, dass im
Unterschied zum Menschen bei den Fischen keine Vernarbungen auftreten, was mit ein Grund
sein könnte für die schnelle Regeneration.“
Strähle und seine Mitarbeiter haben sogenannte Stammzellnischen im Gehirn ihrer Tiere
charakterisiert, also jene Orte, wo die zellulären Alleskönner sitzen und von wo aus sie neue
Zellen produzieren, um zum Beispiel Wunden zu schließen. Wie werden diese Prozesse
reguliert? Auch hier kann der von den Forschern durchgeführte Screen helfen, denn bei den
rund 2.500 gefundenen regulatorischen Genen handelt es sich in vielen Fällen um genetische
Elemente, die ganze molekulare Signalkaskaden unter ihrer Kontrolle haben. So konnten die
Karlsruher zum Beispiel zeigen, wie das Signalmolekül Sonic Hedgehog, das von spezialisierten
Zellen unterhalb des embryonalen Rückenmarks ausgeschüttet wird, auf sogenannte
Interneurone im Rückenmark trifft und dort über mehrere Zwischenstufen sogenannte NkxGene aktiviert. Die Produkte dieser Gene wiederum können die Expression von Genen erhöhen,
die für die Produktion von Neurotransmittern zuständig sind.
Schnappschüsse eines komplexen zeitlichen Geschehens
Bei dieser Aufsicht auf einen Ausschnitt des Rückenmarks eines Zebrafischembryos wurde ein Protein aus der Familie
der Neurogenine mit dem grün fluoreszierenden Protein (GFP) gefärbt. Das Protein kommt in Nervenzellen vor
(grüne runde Strukturen) und ist wichtig für ihre Entwicklung. © Prof. Dr. Uwe Strähle
„Bei den molekularen Prozessen, die die Entwicklung von Nervengewebe oder seine
Regeneration steuern, handelt es sich um hierarchisch organisierte Reaktionskaskaden. Ein
Gen kann viele andere unter seiner Kontrolle haben, und diese wiederum können weitere Gene
kontrollieren. Und alles zusammen ergibt dann extrem komplexe zeitliche und räumliche
Muster aus molekularer Aktivität“, sagt Strähle. „Wir wissen zum Beispiel, dass im
embryonalen Vorderhirn 152 regulatorische Gene angeschaltet sind, im adulten sind es sogar
über 1.000, die Frage ist, was genau sie tun und welches dieser Gene was reguliert.“
Momentan sind die Forscher dabei, Schnappschüsse dieser regulatorischen Prozesse zu
erstellen. Die durch Methoden der Systembiologie identifizierten Gene müssen zunächst einmal
auf ihre Funktion hin geprüft werden. Dazu schalten Strähle und Co. zum Beispiel einzelne
Mitspieler in verschiedenen Zelltypen des Nervensystems aus und prüfen, welche Defizite die
Tiere dann aufweisen oder welche Entwicklungen untypisch verlaufen. Unter anderem bauen
Strähle und sein Team in Karlsruhe zusammen mit Kooperationspartnern aus der ganzen Welt
gerade ein sogenanntes Zebrafisch-Ressourcenzentrum auf, in dem alle Mutanten des
Zebrafisches gehalten werden sollen, um Forschungsgruppen weltweit einen Zugriff auf Tiere
mit gezielt ausgeschalteten Genen zu ermöglichen. Schritt für Schritt soll aus einfachen
Knockout-Studien die Kenntnis über das zeitliche und räumliche Zusammenspiel in den
molekularen Netzwerken während der Embryogenese gewonnen werden. Zudem wollen
Strähle und sein Team die Regulatoren finden und charakterisieren, die Stammzellen unter
ihrer Kontrolle haben.
Die Umwelt kann das Konzert stören
In den letzten Jahren haben sie schließlich auch ein Themengebiet für sich entdeckt, das jeden
Menschen direkt etwas angeht. „Wir sind tagein tagaus mit Tausenden Umweltchemikalien
konfrontiert, im Essen, in Spülmitteln, in der Atemluft, überall“, sagt Strähle. Welche Wirkung
haben diese teilweise unbekannten Substanzen auf die molekularen Netzwerke in unseren
Zellen? Oder in den embryonalen Geweben von ungeborenen Kindern? Wie wirken sie sich auf
die embryonale Entwicklung aus? Wie solche Substanzen in die regulierenden Hierarchien in
Zellen eingreifen, ist ein weiterer Schwerpunkt in der Strähle-Gruppe. Unter anderem arbeiten
die Forscher daran, mit ihren Fischen ein Testsystem zu entwickeln für unbekannte
Umweltstoffe, die potenziell neurotoxisch sein können oder andere zelluläre Prozesse stören.
Mit einem solchen Testsystem könnte in Zukunft umgekehrt auch die Pharmaindustrie
potenzielle Medikamente im Hochdurchsatz screenen, die defekte molekulare
Kontrollmechanismen im Fall von Krebs und anderen Erkrankungen wieder ins Gleichgewicht
bringen können. Damit das molekulare Zusammenspiel wieder klappt und das Konzert gut
klingt.
Fachbeitrag
02.04.2012
mn
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Uwe Strähle
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Toxikologie und Genetik und Universität Heidelberg
Hermann-von-Helmholtz-Platz 1
76344 Eggenstein-Leopoldshafen
Tel.: 0721/ 608 - 23 291
Fax: 0721/ 608 - 23 354
E-Mail: uwe.straehle(at)kit.edu
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
Neurowissenschaften
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