Essstörungen im Kindes- und Jugendalter

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Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie
im Kindes- und Jugendalter mit Poliklinik
Essstörungen
im Kindes- und Jugendalter
Wintersemester 2010/2011
2010 – Prof. Dr. med. Michael Günter
ESSSTÖRUNGEN BEI JUGENDLICHEN
Anorexia nervosa (ca. 0,2 - 1%;
:
Bulimia nervosa (ca. 1 - 2%;
:
20 : 1)
Adipositas (ca. 15 - 20%;
ca. 1 : 1,1-1,4)
:
10 : 1)
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
© 2010 Universität Tübingen
Anorexia nervosa
Symptome
Körperliche Symptome
Psychische Symptome
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Untergewicht
Amenorrhoe
Obstipation
Lanugobehaarung,
Haarausfall
trockene, marmorierte Haut
Karies
niedriger Blutdruck,
langsamer Herzschlag
kalte, zyanotische
Extremitäten
Ödeme
Elektrolytstörungen
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fehlende Krankheitseinsicht
Körperschemastörung
Überwertigkeit des Essens
Angst vor dem Dickwerden
oft sehr kontrollierte,
ängstlich- zwanghafte
Persönlichkeit
hohe Leistungsorientierung
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
© 2010 Universität Tübingen
Anorexia nervosa
Diagnostische Leitlinien
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Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten oder
Body Mass Index (BMI; Körpergewicht/Körpergröße2 in
Metern) < 17,5 (ab 15 J.)
Gewichtsverlust selbst herbeigeführt durch
- Vermeidung von Essen und/oder
- Erbrechen
- Abführmittel
- körperliche Aktivität
- Appetitzügler oder Diuretika
Körperschema-Störung mit überwertiger Idee, zu dick zu
werden
Amenorrhoe
Verzögerung der pubertären Entwicklungsschritte bei
frühem Beginn
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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Anorexia nervosa
Faktoren bei der Entstehung I
Soziokulturelle Faktoren
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Schlankheitsideal
Gruppendruck schlank zu sein
Risikogruppen z.B. Balletttänzerinnen, Eiskunstläuferinnen
sozialer Druck zu frühen Sexualkontakten
Sexualisierung des öffentlichen Raumes
Familiäre Faktoren
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Auffälliger Umgang mit Nahrung und Gewicht
Chronische somatische oder psychische Erkrankung,
Suchterkrankung der Eltern
Bindungs- und Beziehungsstörungen
leistungsbetontes Klima
Ehe- und Beziehungsprobleme der Eltern,
Ablösungsschwierigkeiten
Harmonie um jeden Preis
sexueller Missbrauch
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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Anorexia nervosa
Faktoren bei der Entstehung II
Individuelle Faktoren
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Autonomie- und Ablösungsängste
Ängste im Zusammenhang mit der körperlichen Reifung und
sexuellen Fantasien und Wünschen
Kontrolle aggressiver und sexueller Triebbedürfnisse
Persönlichkeit: Perfektionismus, Rigidität, Ängstlichkeit,
Anpassungsstreben, hohe Durchsetzungsfähigkeit und
Sthenizität, kindliche Züge
Triumph der Kontrolle
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Anorexia nervosa
Probleme im Umgang
– keine Krankheitseinsicht, Verleugnung
– versprechen, dass alles besser wird, dass sie essen
– kaschieren Abmagerung, körperlichen Zustand
– leistungsorientiert, brav, gute Schulleistungen
– still, zurückgezogen, Kontaktprobleme
– Normorientierung
– restriktive Familienatmosphäre, Abschottung von Problemen
häufig später Behandlungsbeginn
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Anorexia nervosa
Entwicklungsretardierung
Kognitive
Entwicklung bei A.Nn.
Normale
Entwicklung
BeziehungsEntwicklung bei A.n.
Körperliche und sexuelle
Entwicklung bei A.n.
Mit zunehmender Dauer immer größere relative Retardierung in
sozialen und sexuellen Erfahrungen und Kompetenzen.
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Anorexia nervosa
Elternberatung
- Aufklärung über Schwere der Erkrankung;
Mortalitätsrisiko
- Aufklärung über die für die betroffene Familie kaum
steuerbare Dynamik
- Aufklärung über Versprechungen
- Verstehen der Eltern
- Bedrohung durch Erkrankung
- Bedrohung durch Destabilisierung der Erscheinung der Familie
nach außen
- Bedrohung durch Schuldgefühle
- Bedrohung durch Autonomieentwicklung des Kindes
- Hilfe bei frühzeitiger, kompetenter Intervention
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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Anorexia nervosa
Prognostische Faktoren
Günstige Faktoren
Ungünstige Faktoren
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früher Beginn
hysterische Persönlichkeit
konfliktarmes
Beziehungsniveau
Beziehungsfähigkeit
kurzer Krankheitsverlauf
hoher Sozialstatus
stetige, nicht zu rasche
Gewichtszunahme unter
Behandlung
Erbrechen
bulimische Symptomatik
großer Gewichtsverlust
langer Krankheitsverlauf
prämorbide Auffälligkeiten
Persönlichkeitsstörung
rasche Gewichtszunahme unter
Therapie
Prognose
30-50% Heilung
30% gewisse Besserung
20% chronischer Verlauf
5-10% tödlicher Ausgang
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Bulimia nervosa
Symptome
Körperliche Symptome
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Durchfall im Wechsel mit
Obstipation
Zahnschmelzdestruktionen,
Karies
Elektrolytentgleisungen
Trommelschlegelfinger
Speicheldrüsenvergrößerung
Psychische Symptome
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depressive Verstimmung
Verheimlichung
suchtartiger Charakter
dissoziale Störungen
emotional instabile Persönlichkeit
vom Borderline-Typ
Suchterkrankung insbesondere
Alkoholabhängigkeit
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Bulimia nervosa
Diagnostische Leitlinien
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Andauernde Beschäftigung mit Essen bei Gier nach
Nahrungsmitteln; Essattacken mit Aufnahme großer
Mengen in kurzer Zeit (bis zu 50 000 kcal/Anfall)
Kontrolle des Gewichtes (i.d. Regel Normalgewicht) durch
- selbstinduziertes Erbrechen (bis zu mehrmals/Tag)
- Missbrauch von Abführmitteln
- Hungerperioden
- Appetitzügler, Diuretika u.ä.
häufiger anorektische Episode in der Vorgeschichte
Schwanken zwischen Gier nach Nahrungsaufnahme in
Zuständen innerer Leere und Schuldgefühlen und Ekel über
Völlegefühl und Kontrollverlust; im Zusammenhang damit
auch Schwanken zwischen depressiv gereizten
Verstimmungen und euphorischem Hochgefühl
Teufelskreis
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Bulimia nervosa
Psychodynamik
Keine einheitliche Genese und Konfliktstruktur, aber in typischen Fällen:
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konflikthafte Beziehungsstruktur zum „frühen“ „mütterlichen Objekt“
Ambivalenz der „frühen“ Mutter-Tochter-Beziehung
Wünsche nach oraler Versorgung und Angst vor zu großer Nähe und
Überschwemmung mit eindringenden, überwältigenden Wünschen
der Mutter
Wechsel von Projektion aggressiver Gefühle und bedrohlichen
Verfolgungsgefühlen
Gefühle mangelnder Versorgung, Gefühle von Verlassenheit und
resultierend Selbstwertproblematik, narzisstische Wut und
Depression
Unersättliche, unerfüllbare, intensivste Versorgungswünsche und
Angst vor Nähe und damit verbundenem Kontrollverlust
Diese schweren inneren Konflikte werden anhand des Umgangs mit dem Essen
in Szene gesetzt, im „Außenraum“ organisiert. Gleichzeitig findet ein Angriff
auf das Selbst und den eigenen Körper statt, der als Träger der bedrohlichen
Gefühle bekämpft wird.
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Bulimia nervosa
Prognostische Faktoren
Günstige Faktoren
Ungünstige Faktoren
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früher Beginn
hysterische Persönlichkeit
konfliktarmes Beziehungsniveau
Beziehungsfähigkeit
kurzer Krankheitsverlauf
hoher Sozialstatus
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begleitender Drogenabusus
Borderline-Persönlichkeit,
strukturelle Störung
große Gewichtsschwankungen
Anorexie in der Vorgeschichte
Soziale Isolation
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Adipositas
Klinisches Bild und Genese
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> 85. Perzentile der Hautfaltendicke
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psychopathologisch uneinheitlich, komplexe Pathophysiologie
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nur geringerer Teil durch Depression bedingt („Kummerspeck“)
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Essen als unspezifische „Konfliktlösungsstrategie“
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stark familiär bedingt: Essgewohnheiten
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mangelnde körperliche Bewegung
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Motivation zum Abnehmen häufig nur theoretisch vorhanden
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Adipositas
Prinzipien der Therapie I
Muskelaufbau geht vor Gewichtsabnahme!!
Denn: Muskelmasse verbrennt mehr Energie als Fettmasse
bei Gewichtsabnahme reduziert sich der Grundumsatz, was zum
Jojo-Effekt beiträgt, während sich bei Muskelaufbau der
Grundumsatz erhöht, wodurch mehr Kalorien „verbrannt“ werden
„Muckibude“: nach Möglichkeit Krafttraining ab dem späteren
Schulalter
„Einfache“ Einschränkungen:
keine Limonaden! (Limonaden/Säfte haben ca. 500 kcal/L,
Apfelschorle ca. 250 kcal/L, d.h. 4 Liter Limonade deckt den
gesamten Energiebedarf eines Grundschulkindes!)
nur eine warme Mahlzeit pro Tag
nur ein Snack pro Tag
Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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Adipositas
Prinzipien der Therapie II
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Diätassistenz, Ernährungsberatung der gesamten Familie
Veränderung des Essensverhaltens durch Stärkung der
Selbstwahrnehmung und Selbstkontrollfähigkeiten
detailliertes Erarbeiten von Essensplänen, Alternativen, Kontrolle der
Essgeschwindigkeit, Wegfall von Snacks etc.
Unterstützung der Wahrnehmung des eigenen Körpers durch
körperorientierte Therapie
körperliche Bewegung, Sport, Einschränkung übermäßigen
Fernsehkonsums etc.
Stärkung des Selbstwertgefühls
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intensive Einbindung und Beratung der Familie ist zentral
ohne Bereitschaft zur Diät bei adipösen Eltern wenig Erfolg beim Kind
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„Ermahnungen“ und „gute“ Ratschläge bringen wenig
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Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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Prof. Dr. med. Michael Günter
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Kindes- und Jugendalter
Ärztlicher Direktor (komm.)
Telefon: +49 7071 29-82292
Telefax: +49 7071 29-4098
www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj
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