Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter mit Poliklinik Essstörungen im Kindes- und Jugendalter Wintersemester 2012/2013 2012 – Prof. Dr. med. Michael Günter ESSSTÖRUNGEN BEI JUGENDLICHEN Anorexia nervosa (ca. 0,2 - 1%; ♀:♂ 10 : 1) Bulimia nervosa (ca. 1 - 2%; ♀:♂ 20 : 1) Adipositas (ca. 15 - 20%; ♀:♂ ca. 1 : 1,1-1,4) Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Plakat der Anorexie Kampagne des italienischen Fotografen Olivieri Toscani und des italienischen Gesundheitsministeriums Isabelle Caro litt seit dem Alter von13 Jahren an einer Magersucht und wog noch 30 Kilogramm bei einer Größe von 1,65 m. Die Schweizer Zeitung Blick veröffentlichte im September 2007 das folgende Interview mit ihr. Isabelle Caro starb am 17. November 2010 an den Folgen ihrer Magersucht. Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Warum haben Sie nackt für diese Werbekampagne posiert? ISABELLE CARO: Die jungen Frauen und die Modewelt müssen erkennen, wohin der Schlankheitswahn führt: Magersucht kann tödlich enden. Darum sollen mich alle Menschen anschauen. Hatten Sie keine Angst, nackt zu posieren? Doch. Denn ich hasse meinen Körper. Es gibt nichts Schlimmeres für eine Magersüchtige, als sich nackt zu zeigen. Erst vor einigen Monaten habe ich realisiert, wie dünn ich war. Damals wog ich noch 25 Kilogramm. Wie konnte es so weit kommen? Ich hatte eine schwierige, traumatische Kindheit. Was war passiert? Es bereitet mir bis heute Mühe, darüber zu sprechen. Meine Mutter wollte, dass ich ihr kleines Mädchen bleibe. Also beschloss ich mit 13 Jahren, nicht mehr zu essen. Anfangs merkte ich nicht, was mit mir passierte. Ich war euphorisch. Mit der Zeit geriet ich aber immer mehr in einen Teufelskreis, ich nenne diesen Zustand die Todesspirale. Sie sind fast gestorben? Ich fiel schon mehrmals ins Koma. Einmal sah ich mich bereits auf der anderen Seite. Das war der Moment, als ich mich entschied, den Weg zurück ins Leben zu gehen. Publiziert: 29.09.2007, Aktualisiert: 02.01.2012, Quelle: http://www.blick.ch/people-tv/darum-sollen-michalle-anschauen-id143062.html am 30.10.2012 Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Sie ließen sich ins Spital einweisen? Ja. Aber dort werden meist nur die Symptome behandelt, nicht aber die seelische Krankheit. Eine Gewichtszunahme wird mit künstlicher Ernährung erzwungen. Ich fühlte mich dabei wie vergewaltigt. Die Leute haben Vorurteile: Viele glauben, dass man einfach nur ein komplizierter Mensch ist, wenn man Essen verweigert. Das gibt zusätzlich Schuldgefühle. Glauben Sie, dass Ihre Bilder eine vorbeugende Wirkung auf junge Frauen haben? Garantiert! Hätte ich als Teenager ein solches Bild gesehen, wäre ich schockiert gewesen. Sicher hätte ich gedacht: Eine junge Frau mit einem müden alten Körper – so will ich nicht aussehen. Die Kampagne wurde in Frankreich verboten. Verstehen Sie warum? Nein. Und ich bin darüber sehr enttäuscht. Die Kampagne zeigt die Realität der Modewelt. Ich trage die gleiche Kleidergrösse, wie die Designer von ihren Models verlangen: unter 34. Designer sind verantwortungslos. Sie beuten junge Frauen aus, die alles tun würden, um auf dem Laufsteg zu arbeiten. Es ist skandalös und kriminell, wenn junge Frauen dazu ermutigt werden, nicht mehr zu essen. Nur damit sie sich ihre Träume von extremer Dünnheit erfüllen können. Magersucht ist eine Krankheit, kein Lifestyle! Sind Sie immer noch krank? Ich esse bis heute sehr wenig. Aber es geht jeden Tag besser. Mittlerweile wiege ich schon 32 Kilo. Ich bin überzeugt, dass ich es schaffen werde. Wie gesagt, ich habe mich fürs Leben entschieden. (Interview: Gwenaelle Trillat) Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Symptome Körperliche Symptome Psychische Symptome • • • • • • • • • • • • • • • • Untergewicht Amenorrhoe Obstipation Lanugobehaarung, Haarausfall trockene, marmorierte Haut Karies niedriger Blutdruck, langsamer Herzschlag kalte, zyanotische Extremitäten Ödeme Elektrolytstörungen • fehlende Krankheitseinsicht Körperschemastörung Überwertigkeit des Essens Angst vor dem Dickwerden oft sehr kontrollierte, ängstlich-zwanghafte Persönlichkeit hohe Leistungsorientierung Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Diagnostische Leitlinien - - - Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten oder Body Mass Index (BMI; Körpergewicht/Körpergröße2 in Metern) < 17,5 (ab 15 J.) Gewichtsverlust selbst herbeigeführt durch - Vermeidung von Essen und/oder - Erbrechen - Abführmittel - körperliche Aktivität - Appetitzügler oder Diuretika Körperschema-Störung mit überwertiger Idee, zu dick zu werden Amenorrhoe Verzögerung der pubertären Entwicklungsschritte bei frühem Beginn Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Faktoren bei der Entstehung I Soziokulturelle Faktoren • • • • • Schlankheitsideal Gruppendruck schlank zu sein Risikogruppen z.B. Balletttänzerinnen, Eiskunstläuferinnen sozialer Druck zu frühen Sexualkontakten Sexualisierung des öffentlichen Raumes Familiäre Faktoren • • • • • • • Auffälliger Umgang mit Nahrung und Gewicht Chronische somatische oder psychische Erkrankung, Suchterkrankung der Eltern Bindungs- und Beziehungsstörungen leistungsbetontes Klima Ehe- und Beziehungsprobleme der Eltern, Ablösungsschwierigkeiten Harmonie um jeden Preis sexueller Missbrauch Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Faktoren bei der Entstehung II Individuelle Faktoren • • • • • Autonomie- und Ablösungsängste Ängste im Zusammenhang mit der körperlichen Reifung und sexuellen Fantasien und Wünschen Kontrolle aggressiver und sexueller Triebbedürfnisse Persönlichkeit: Perfektionismus, Rigidität, Ängstlichkeit, Anpassungsstreben, hohe Durchsetzungsfähigkeit und Sthenizität, kindliche Züge Triumph der Kontrolle Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Probleme im Umgang – keine Krankheitseinsicht, Verleugnung – versprechen, dass alles besser wird, dass sie essen – kaschieren Abmagerung, körperlichen Zustand – leistungsorientiert, brav, gute Schulleistungen – still, zurückgezogen, Kontaktprobleme – Normorientierung – restriktive Familienatmosphäre, Abschottung von Problemen → häufig später Behandlungsbeginn Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Entwicklungsretardierung Kognitive Entwicklung bei A.Nn. Normale Entwicklung BeziehungsEntwicklung bei A.n. Körperliche und sexuelle Entwicklung bei A.n. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Jahre Mit zunehmender Dauer immer größere relative Retardierung in sozialen und sexuellen Erfahrungen und Kompetenzen. Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Elternberatung - Aufklärung über Schwere der Erkrankung; Mortalitätsrisiko - Aufklärung über die für die betroffene Familie kaum steuerbare Dynamik - Aufklärung über Versprechungen - Verstehen der Eltern - Bedrohung durch Erkrankung - Bedrohung durch Destabilisierung der Erscheinung der Familie nach außen - Bedrohung durch Schuldgefühle - Bedrohung durch Autonomieentwicklung des Kindes - Hilfe bei frühzeitiger, kompetenter Intervention Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Anorexia nervosa Prognostische Faktoren Günstige Faktoren Ungünstige Faktoren - - - früher Beginn hysterische Persönlichkeit konfliktarmes Beziehungsniveau Beziehungsfähigkeit kurzer Krankheitsverlauf hoher Sozialstatus stetige, nicht zu rasche Gewichtszunahme unter Behandlung Erbrechen bulimische Symptomatik großer Gewichtsverlust langer Krankheitsverlauf prämorbide Auffälligkeiten Persönlichkeitsstörung rasche Gewichtszunahme unter Therapie Prognose 30-50% Heilung 30% gewisse Besserung 20% chronischer Verlauf 5-10% tödlicher Ausgang Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Bulimia nervosa Symptome Körperliche Symptome Psychische Symptome - - - Durchfall im Wechsel mit Obstipation Zahnschmelzdestruktionen, Karies Elektrolytentgleisungen Trommelschlegelfinger Speicheldrüsenvergrößerung - depressive Verstimmung Verheimlichung suchtartiger Charakter dissoziale Störungen emotional instabile Persönlichkeit vom Borderline-Typ Suchterkrankung insbesondere Alkoholabhängigkeit Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Bulimia nervosa Diagnostische Leitlinien - - - Andauernde Beschäftigung mit Essen bei Gier nach Nahrungsmitteln; Essattacken mit Aufnahme großer Mengen in kurzer Zeit (bis zu 50 000 kcal/Anfall) Kontrolle des Gewichtes (i.d. Regel Normalgewicht) durch - selbstinduziertes Erbrechen (bis zu mehrmals/Tag) - Missbrauch von Abführmitteln - Hungerperioden - Appetitzügler, Diuretika u.ä. häufiger anorektische Episode in der Vorgeschichte Schwanken zwischen Gier nach Nahrungsaufnahme in Zuständen innerer Leere und Schuldgefühlen und Ekel über Völlegefühl und Kontrollverlust; im Zusammenhang damit auch Schwanken zwischen depressiv gereizten Verstimmungen und euphorischem Hochgefühl → Teufelskreis Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Bulimia nervosa Psychodynamik Keine einheitliche Genese und Konfliktstruktur, aber in typischen Fällen: - - - konflikthafte Beziehungsstruktur zum „frühen“ „mütterlichen Objekt“ Ambivalenz der „frühen“ Mutter-Tochter-Beziehung Wünsche nach oraler Versorgung und Angst vor zu großer Nähe und Überschwemmung mit eindringenden, überwältigenden Wünschen der Mutter Wechsel von Projektion aggressiver Gefühle und bedrohlichen Verfolgungsgefühlen Gefühle mangelnder Versorgung, Gefühle von Verlassenheit und resultierend Selbstwertproblematik, narzisstische Wut und Depression Unersättliche, unerfüllbare, intensivste Versorgungswünsche und Angst vor Nähe und damit verbundenem Kontrollverlust Diese schweren inneren Konflikte werden anhand des Umgangs mit dem Essen in Szene gesetzt, im „Außenraum“ organisiert. Gleichzeitig findet ein Angriff auf das Selbst und den eigenen Körper statt, der als Träger der bedrohlichen Gefühle bekämpft wird. Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Bulimia nervosa Prognostische Faktoren Günstige Faktoren Ungünstige Faktoren - - früher Beginn hysterische Persönlichkeit konfliktarmes Beziehungsniveau Beziehungsfähigkeit kurzer Krankheitsverlauf hoher Sozialstatus - begleitender Drogenabusus Borderline-Persönlichkeit, strukturelle Störung große Gewichtsschwankungen Anorexie in der Vorgeschichte Soziale Isolation Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Adipositas Klinisches Bild und Genese - > 85. Perzentile der Hautfaltendicke - psychopathologisch uneinheitlich, komplexe Pathophysiologie - nur geringerer Teil durch Depression bedingt („Kummerspeck“) - Essen als unspezifische „Konfliktlösungsstrategie“ - stark familiär bedingt: Essgewohnheiten - mangelnde körperliche Bewegung - Motivation zum Abnehmen häufig nur theoretisch vorhanden Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Adipositas Junk food companies use loopholes to advertise to children Junk food companies are using loopholes in advertising rules to ‘swamp’ children with unhealthy food messages while they play online games, charities warn. http://www.telegraph.co.uk/health/healthnews/8964031/ Junk-food-companies-use-loopholes-to-advertise-tochildren.html publiziert 19.Dezember 2011 Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Adipositas Prinzipien der Therapie I Muskelaufbau geht vor Gewichtsabnahme!! Denn: Muskelmasse verbrennt mehr Energie als Fettmasse → bei Gewichtsabnahme reduziert sich der Grundumsatz, was zum Jojo-Effekt beiträgt, während sich bei Muskelaufbau der Grundumsatz erhöht, wodurch mehr Kalorien „verbrannt“ werden → „Muckibude“: nach Möglichkeit Krafttraining ab dem späteren Schulalter „Einfache“ Einschränkungen: → keine Limonaden! (Limonaden/Säfte haben ca. 500 kcal/L, Apfelschorle ca. 250 kcal/L, d.h. 4 Liter Limonade deckt den gesamten Energiebedarf eines Grundschulkindes!) → nur eine warme Mahlzeit pro Tag → nur ein Snack pro Tag Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Adipositas Prinzipien der Therapie II - - Diätassistenz, Ernährungsberatung der gesamten Familie Veränderung des Essensverhaltens durch Stärkung der Selbstwahrnehmung und Selbstkontrollfähigkeiten detailliertes Erarbeiten von Essensplänen, Alternativen, Kontrolle der Essgeschwindigkeit, Wegfall von Snacks etc. Unterstützung der Wahrnehmung des eigenen Körpers durch körperorientierte Therapie körperliche Bewegung, Sport, Einschränkung übermäßigen Fernsehkonsums etc. Stärkung des Selbstwertgefühls - intensive Einbindung und Beratung der Familie ist zentral ohne Bereitschaft zur Diät bei adipösen Eltern wenig Erfolg beim Kind - „Ermahnungen“ und „gute“ Ratschläge bringen wenig - Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen Prof. Dr. med. Michael Günter Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Ärztlicher Direktor (komm.) Telefon: +49 7071 29-82292 Telefax: +49 7071 29-4098 www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj Prof. Dr. med. M. Günter, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter © 2012 Universität Tübingen