Grundlagen der Maßtheorie

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Kapitel 4
Grundlagen der Maßtheorie
4.1
Das Maßproblem
Das vielleicht ursprünglichste Problem der Geometrie ist das sogenannten Maßproblem. Dessen Behandlung steht im Zentrum dieses vierten Kapitels. Unsere hauptsächliche Quelle ist dabei, ohne es im Text durchgängig zu erwähnen, das hervorragende
Lehrbuch
◦ Burk, F.E.: A garden of integrals. The Mathematical Association of America.
Ferner benutzen wir
◦ Elstrodt, J.: Maß- und Integrationstheorie. Springer-Verlag.
◦ Kurtz, D.S.; Swartz, C.W: Theories of integration. World Scientific Publication.
Linear begrenzten geometrischen Figuren kann man durch geeignetes Zerlegen oder
durch geeignetes Anfügen von Dreiecken oder Rechtecken einen Inhalt bzw. ein Maß
zuordnen, wenn man nur dieses Maß für Dreiecke und Rechtecke kennt. Den Inhalt
krummlinig begrenzter Figuren, wie z.B. eines Kreises, kann man durch Ein- bzw.
Umschreiben geeigneter n-Ecke ermitteln.
Um eine erste Idee zu vermitteln, welche Schwierigkeiten uns bei der Suche nach einer
solchen Maßfunktion entgegentreten, wollen wir folgender Idee nachgehen, wobei wir
uns zunächst auf eindimensionale Mengen beschränken.
Definition 4.1. Es bezeichne Ω ⊂ R eine beschränkte Menge. Dann heißt
�
1� falls x ∈ Ω
χ �x) :=
0� falls x �∈ Ω
ihre charakteristische Funktion.
35
36
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
Nun kommen wir sogleich auf das Riemannsche Integral zurück, dessen Konstruktion
wir uns im vorigen Kapitel in Erinnerung gerufen haben. Könnte die Abbildung
µ �Ω) :=
�
χ �x) dx
Ω
ein guter Kandidat für eine Maßfunktion sein? Beispielsweise ermitteln wir für das
kompakte Intervall [a� b] ⊂ R
µ �[a� b]) = b − a�
was genau dem erwarten Inhalt entspricht.
Aber nicht jeder Menge können wir auf diese Art sinnvoll einen Inhalt zuordnen. Als
Gegenbeispiel“ betrachten wir die beschränkte Menge Ω := Q ∩ [0� 1]� also alle ratio”
nalen Zahlen im kompakten Intervall [0� 1]. Die zu Ω gehörige charakteristische Funktion lautet
�
1� falls x ∈ Q
χ �x) =
.
0� falls x ∈ [0� 1] � Q
Diese heißt auch die Dirichletsche Sprungfunktion. Sie ist aber nicht Riemannintegrierbar, denn auf Grund der Dichtheit der rationalen Zahlen berechnen wir für ihr unteres
Riemannsches Integral
�
I
∗
χ �x) dx = 0�
und zwar unabhängig von der Zerlegung des Intervalls [0� 1]� während ebenso stets
� ∗
χ �x) dx = 1
I
für ihr oberes Riemannsches Integral gilt.
Ungeachtet dieses negativen Resultats wollen wir das Inhaltsproblem unter Benutzung
des Riemannschen Integrals aus einer anderen Sichtweise diskutieren.
4.2
Jordaninhalt und Riemannintegral
Es sei
Q = [a1 � b1 ] × [a2� b2 ] × . . . × [an � bn ] ⊂ Rn
ein kompakter, n-dimensionaler Würfel mit dem elementargeometrischen Inhalt
|Q| = �b1 − a1 ) · �b2 − a2 ) · . . . · �bn − an )�
und es sei ferner Ω ⊂ Rn eine beliebige beschränkte Menge.
4.2. JORDANINHALT UND RIEMANNINTEGRAL
37
Definition 4.2. Die beschränkte Menge Ω ⊂ Rn heißt Jordanmessbar, falls ihr innerer
Jordaninhalt
�
�
λ∗ �Ω) := sup |ΣI | : Ω ⊃ ΣI =
n
�
Qi
i=1
und ihr äußerer Jordaninhalt
�
λ �Ω) := inf |ΣA | : Ω ⊂ ΣA =
∗
n
�
i=1
Qi
�
gleich sind: λ∗ �Ω) = λ ∗ �Ω). Supremum und Infimum werden dabei über alle möglichen, endlich vielen Vereinigungen von n-dimensionalen Würfeln gebildet, die im ersten Fall Ω von innen, im zweiten Ω von außen approximieren.
Für unseren Aufbau einer allgemeinen Maß- und Integrationstheorie notieren wir einige wichtige Punkte, die das Jordansche Maß erfüllt.
Satz 4.1. Der Jordaninhalt genügt den folgenden Eigenschaften.
1. Es gilt
0 ≤ λ∗ �Ω) ≤ λ ∗ �Ω) < ∞
für alle beschränkten Mengen Ω ⊂ Rn .
2. Jeder offene, halboffene, . . . und beschränkte Würfel Q ⊂ Rn ist Jordanmessbar
mit dem Produkt der Seitenlängen als Jordaninhalt.
3. Ist Ω ⊂ Rn Jordanmessbar, so gibt es für jedes ε > 0 eine innere und eine äußere
Würfelapproximation ΣI bzw. ΣA mit
|ΣA | − |ΣI | < ε .
4. Eine Menge Ω ⊂ Rn mit λ ∗ �Ω) = 0 ist Jordanmessbar. Eine solche Menge heißt
Jordansche Nullmenge.
5. Es gelten
λ∗ �Ω) ≤ λ∗ �Θ) sowie
λ ∗ �Ω) ≤ λ ∗ �Θ) für alle Mengen Ω ⊂ Θ ⊂ Rn .
Beweis. Übungsaufgabe.
Eine besonders wichtige Eigenschaft sei, ebenfalls ohne Beweis, mit dem folgenden
Resultat hervorgehoben.
Satz 4.2. Seien Ω1 � . . . � Ωn ⊂ Rn endlich viele und beschränkte Jordanmessbare Mengen. Dann ist auch deren Vereinigung Jordanmessbar, und es gilt die folgende Monotonieformel
n
λ �Ω1 ∪ . . . ∪ Ωn ) ≤ ∑ λ �Ωi ).
i=1
Gleichheit gilt genau dann, wenn alle Ωi bis auf Nullmengen voneinander disjunkt sind,
und in diesem Fall spricht man von endlicher Additivität.
38
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
Ein isolierter Punkt im Rn ist offenbar eine Jordansche Nullmenge. Eine endliche Vereinigung voneinander isolierter Punkte ist nach diesem Satz ebenso von verschwindendem Jordaninhalt. Aber wie sieht es mit einer abzählbaren Vereinigung voneinander
isolierter Punkte aus?
Beispiel 1. Es sei Ω ⊂ R2 die Menge aller Punkte mit rationalen Koordinaten innerhalb
des abgeschlossenen Rechtecks Q = [0� 1] × [0� 1]. Dann sind
λ ∗ �Ω) = 1 und λ∗ �Q) = 0.
Also ist Ω nicht Jordanmessbar.
Dieses Beispiel kennen wir natürlich schon aus dem vorigen Abschnitt, als wir uns
von der Nicht-Riemannintegrierbarkeit der Dirichletschen Sprungfunktion überzeugt
haben. Tatsächlich gilt folgender
Satz 4.3. Die nichtnegative Funktion f : Ω → R ist genau dann Riemannintegrierbar,
wenn ihre Ordinatenmenge
�
�
O� f ) := �x� y) ∈ Rn+1 : x ∈ Ω� 0 ≤ y ≤ f �x)
im Rn+1 Jordanmessbar ist. In diesem Falle gilt
λ �O� f )) =
�
f �x) dx.
Ω
Beweis. Als Übungsaufgabe soll die Jordanmessbarkeit von O� f ) unter der Annahme
der Riemannintegrierbarkeit gezeigt werden.
Abschließend erwähnen wir den
Satz 4.4. Eine beschränkte Teilmenge Ω ⊂ Rn ist genau dann Jordanmessbar, wenn
ihr Rand eine Jordansche Nullmenge bildet.
Auch dieses Ergebnis bleibt in unserer Vorlesung ohne Beweis, da es wesentlich von
den Methoden der Riemannschen Integrationstheorie in mehreren Veränderlichen Gebrauch macht, die uns in ihrer Vollständigkeit nicht zur Verfügung stehen.
4.3
Was soll ein Maß leisten?
Die beschriebenen Schwierigkeiten bez. der Messbarkeit beschränkter Mengen von rationalen Zahlen unter Benutzung des Riemannschen Integrals zwingen uns, tiefgründiger über die Konstruktion geeigneter Maße nachzudenken.
Welche Eigenschaften sollte eine solche Funktion eigentlich vorweisen? Wir beschränken uns aus Gründen der Einfachheit auf den eindimensionalen Fall.
4.4. LEBESGUEMASS I: DEFINITION
39
Hier nun eine vorläufige Wunschliste“:
”
(W1) Wir wollen alle Mengen von reellen Zahlen messen.
(W2) Das Maß einer Teilmenge einer Menge darf nicht größer sein als das Maß der
umfassenden Menge.
(W3) Ein Punkt soll verschwindendes Maß besitzen.
(W4) Das Maß eines Intervalls soll mit dessen Länge übereinstimmen.
(W5) Translation eines Intervalls reeller Zahl soll dessen Maß nicht ändern.
(W6) Das Maß eines Ganzen soll die Summe der Maße seiner Teile sein.
Leider kann es eine solche Abbildung nicht geben: Der dritte Wunsch (W3) und der
sechste Wunsch (W6) implizieren, dass das Maß einer beliebigen Menge reeller Zahlen
verschwindet, was dem Wunsch (W4) widerspricht!
Wunsch (W6) spiegelt andererseits die Linearität und Additivität des Integralbegriffs
wieder und soll deswegen nicht so einfach gestrichen werden.
Ein Ausweg wäre, auf Linearität und Additivität zwar zu bestehen, dafür aber den
Wunsch aufzugeben, wirklich alle Mengen messen zu können. Das führt uns gerade
zum Lebesgueschen Maßbegriff.
4.4
Lebesguemaß I: Definition
Jede Menge reeller Zahlen kann überdeckt werden durch eine abzählbare Vereinigung
offener Intervalle Ik . Das Maß |Ik | eines jeden solchen Intervalls lässt sich dabei elementargeometrisch verstehen.
Eine solche Vereinigung ist auch nicht eindeutig, vielmehr können wir praktisch beliebig viele solcher Überdeckungen angeben. Von allen diesen wählen wir nun die
kleinste mögliche Überdeckung“ und setzen
”
�
�
�∗ �Ω) := inf
∞
∑ |Ik | : Ω ⊂
k=1
∞
�
Ik � Ik offenes Intervall .
k=1
Die Summation bzw. Vereinigung hierin werden über abzählbar viele Summanden bzw.
Intervalle gebildet.
Definition 4.3. Es heißt �∗ �Ω) ∈ [0� ∞] das äußere Lebesguesche Maß der Menge Ω.
Dieser Maßbegriff wird im Zentrum unserer folgenden Untersuchungen stehen.
Wie steht es zunächst mit unseren vorläufigen Wunschanforderungen an ein Maß?
Satz 4.5. Das äußere Lebesguemaß besitzt die folgenden Eigenschaften.
1. Für jede Menge Ω reeller Zahl existiert �∗ �Ω).
2. Da eine beliebige Überdeckung einer Menge auch gleichzeitig Überdeckung einer Teilmenge ist, ist das Lebesguemaß monoton.
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
40
3. Die leere Menge 0/ ist Teilmenge jeder Menge. Da außerdem
{x} ⊂ �x − ε � x + ε )
für jeden isolierten Punkt x ∈ R� schließen wir �∗ �{x}) = 0 sowie nach der Mo/ = 0.
notonieeigenschaft �∗ �0)
4. Da jedes offene und beschränkte Intervall �a� b) sich selbst überdeckt, gilt nach
Definition �∗ ��a� b)) ≤ b − a. Tatsächlich ist sogar �∗ ��a� b)) = b − a.
5. Das Lebesguemaß ist translationsinvariant.
Beweis. Wir zeigen nur die vierte Eigenschaft, und hiervon �∗ ��a� b)) = b − a. Ist
nämlich ∪∞
k=1 Ik eine offene Überdeckung des offenen Intervalls �a� b)� so ist auch
∞
�
Ik ∪ �a − ε � a + ε ) ∪ �b − ε � b + ε )
k=1
mit beliebig kleinem ε > 0 eine offene Überdeckung des kompakten Intervalls [a� b].
Nach dem Überdeckungssatz von Heine und Borel können wir hieraus eine endlich
Teilüberdeckung auswählen mit endlich vielen offenen Intervallen
�an1 � bn1 )� . . . � �ank � bnk )
mit der Eigenschaft
a n1 < a < b n1 �
a n2 < b n1 < b n2 � . . . � a nk < b < b nk �
die ebenfalls [a� b] überdeckt. Damit berechnen wir
b − a = �b − ank ) + �ank − ank−1 ) + . . . + �an2 − a)
≤ �bnk − ank ) + �bnk−1 − ank−1 ) + . . . + �bn1 − an1 )
∞
≤
∑ |Ik | + 4ε �
k=1
denn die mittlere Summe in der zweiten Zeile kann wegen der Teilüberdeckungseigenschaft durch die unendliche, aber konvergente Summe aller |Ik | nach oben abgeschätzt
werden. Also ist |b − a| = b − a auch eine untere Schranke für jede mögliche offene
Überdeckung des offenen Intervalls �a� b)� und da das Lebesguesche äußere Maß nach
Definition als die größte aller unteren Schranken definiert ist, folgern wir
�∗ ��a� b)) ≥ b − a.
Insgesamt folgt �∗ ��a� b)) = b − a.
4.5. LEBESGUEMASS II: ADDITIVITÄT
4.5
41
Lebesguemaß II: Additivität
Offen bleibt aber noch der Wunsch (W6) nach der Additivität:
→ Ist Ω1 � Ω2 � . . . eine abzählbare (oder eine endliche) Folge von Mengen, so fordern
wir abzählbare Subadditivität
�
�
∞
�
�∗
∞
Ωk
≤
∑ �∗ �Ωk )�
k=1
k=1
und falls die Ωk paarweise disjunkt sind, dann sogar abzählbare Additivität
�
∗
�
∞
�
Ωk
k=1
�
∞
=
∑ �∗ �Ωk ).
k=1
Tatsächlich existieren, wie G. Vitali im Jahre 1905 unter Verwendung des sogenannten
Auswahlaxioms zeigen konnte, Teilmengen der reellen Zahlen, die sich unter dem Lebesguemaß nicht additiv verhalten. Für detaillierte Diskussionen hierzu verweisen wir
auf Elstrodts Lehrbuch der Maß- und Integrationstheorie.
Wir können aber stets folgendes zeigen:
Satz 4.6. Es gilt Subadditivität.
Beweis. Betrachte dazu Mengen Ωk ∈ R mit �∗ �Ωk ) < ∞ für alle k = 1� 2� . . . � sonst ist
nämlich nichts zu beweisen. Auf Grund der Minimaleigenschaft des Lebesguemaßes
finden wir dann zu vorgelegtem ε > 0 eine offene Überdeckung der einzelnen Ωk mit
offenen Intervallen Ik � d.h.
Ωk ⊂
∞
�
Ikn �
k = 1� 2� . . . �
n=1
so dass
�∗ �Ωk ) ≤
∞
ε
∑ |Ikn | < �∗ �Ωk ) + 2k �
n=1
und zwar für alle k = 1� 2� . . . Jetzt betrachten wir wieder die gesamte Überdeckung
∞
∪∞
k�n=1 Ikn von ∪k=1 Ωk und erhalten mit demselben Argument
�
∗
�
∞
�
k=1
Ωk
�
∞
≤
∞
∞
∞
k=1
k=1
1
∞
∑ ∑ |Ikn | < ∑ �∗ �Ωk ) + ε ∑ 2k = ∑ �∗�Ωk ) + ε .
k=1 n=1
Hieraus folgt mit ε → 0 sofort die behauptete Subadditivität.
k=1
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
42
4.6
Lebesguemaß III: Lebesguemessbare Mengen
Diejenigen Mengen reeller Zahlen zu charakterisierien, für welche sich das äußere Lebesguemaß abzählbar additiv verhält, ist 1914 dem griechischen Mathematiker Caratheodory gelungen. Die Idee ist, dass jede Menge C ⊂ R bez. einer Menge Ω in die
Mengendurchschnitte C ∩ Ω und C ∩ Ωc zerlegt werden kann,
C = �C ∩ Ω) ∪ �C ∩ Ωc )�
was Caratheodory zum die gesamte Theorie tragenden Prinzip machte.
Definition 4.4. (Caratheodorysches Messbarkeitskriterium)
Eine Menge Ω reeller Zahlen heißt Lebesguemessbar genau dann, falls
�∗ �C) = �∗ �C ∩ Ω) + �∗�C ∩ Ωc )
für jede Menge C ⊂ R richtig ist.
Beachten Sie, dass wegen C = �C ∩ Ω) ∪ �C ∩ Ωc ) die bereits nachgewiesene Subadditivität folgende Ungleichung liefert
�∗ �C) ≤ �∗ �C ∩ Ω) + �∗�C ∩ Ωc ).
Zum Nachweis des Caratheodoryschen Kriteriums genügt es also i.A., sich von der
inversen Ungleichung �∗ �C) ≥ �∗ �C ∩ Ω) + �∗�C ∩ Ωc ) zu überzeugen.
Satz 4.7. Folgende Mengen sind Lebesguemessbar
◦ die leere Menge 0�
/
◦ die Menge R aller reellen Zahlen.
Ist ferner die Menge Ω ⊂ R Lebesguemessbar, so auch ihr Komplement Ωc .
Beweis. Wir berechnen nämlich mit der Subadditivität
/ + �∗�C ∩ 0/ c ) = �∗ �0)
/ + �∗�C) = �∗ �C)
�∗ �C) ≤ �∗ �C ∩ 0)
sowie
/ = �∗ �C)�
�∗ �C) ≤ �∗ �C ∩ R) + �∗�C ∩ Rc ) = �∗ �C) + �∗ �0)
woraus die Lebesguemessbarkeit von 0/ und R folgen. Die Lebesguemessbarkeit des
Komplements Ωc einer messbaren Menge Ω entnehmen wir sofort der Definition:
�∗ �C) = �∗ �C ∩ Ω) + �∗�C ∩ Ωc ) = �∗ �C ∩ Ωc ) + �∗�C ∩ Ω).
Damit ist der Satz bewiesen.
4.6. LEBESGUEMASS III: LEBESGUEMESSBARE MENGEN
43
Wir wollen nun zeigen, dass auch nichtleere, beschränkte, offene Intervalle �a� b) ∈ R
im Caratheodoryschen Sinne Lebesguemessbar sind. Dazu beachten wir
�a� b) = �a� ∞) ∩ �−∞� b)
und konzentrieren uns mit den folgenden Betrachtungen darauf, die Lebesguemessbarkeit von �a� ∞) nachzuweisen. Dann verifiziert man analog diese Eigenschaft für
�−∞� b)� und schließlich folgt die Messbarkeit von �a� b).
Wir zeigen, dass
�∗ �C) ≥ �∗ �C ∩ �a� ∞)) + �∗�C ∩ �−∞� a])
erfüllt ist. Die umgekehrte Ungleichung ist, wie oben festgestellt, nichts anderes als die
Subadditivität des Lebesguemaßes.
Wähle zu diesem Zweck eine offene Überdeckung ∪∞
k=1 Ik von C� so dass zu vorgegebenem ε > 0 gilt
�∗ �C) ≤
∞
∑ |Ik | ≤ �∗ �C) + ε ;
k=1
hier steht wieder die Infimumeigenschaft des Lebesguemaßes im Hintergrund. Unter
Beachtung der Monotonie (erste Ungleichung) und der Subadditivität (zweite Ungleichung) schätzen wir nun wie folgt ab
�∗ �C ∩ �a� ∞)) + �∗�C ∩ �−∞� a])
��
�
�
≤�
∗
∞
�
Ik ∩ �a� ∞) + �
k=1
∞
≤
∞
�
k=1
�
�
Ik ∩ �−∞� a]
k=1
∞
∑ |Ik ∩ �a� ∞)| + ∑ |Ik ∩ �−∞� a]|
k=1
∞
=
��
∑ �∗�Ik ∩ �a� ∞)) + ∑ �∗�Ik ∩ �−∞� a])
k=1
∞
=
∞
∗
k=1
∑ |Ik | < �∗ �C) + ε .
k=1
Führen wir den Grenzwert ε → 0 aus, wird die Gültigkeit der gesuchten Ungleichung
ersichtlich.
Wir fassen zusammen: Als Lebesguemessbare Mengen im Caratheodoryschen Sinn haben wir bislang erkannt
→ die leere Menge, die Menge R� offene, beschränkte Intervalle und ihre Komplemente.
Was können wir über die Lebesguemessbarkeit von Vereinigungen und Durchschnitte
dieser Mengen aussagen?
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
44
4.7
Lebesguemaß IV: σ -Algebren
Um dieser Frage näher zu kommen, benötigen wir die
Definition 4.5. Es sei V ein beliebiger Raum. Ein System � von Teilmengen von V
heißt eine σ -Algebra, falls folgende Eigenschaften richtig sind:
1. Die leere Menge 0/ gehört zu diesem System.
2. Mit einer zu � gehörenden Menge Ω ist auch Ωc ∈ � .
3. Sind endlich viele oder abzählbar unendlich viele Ω1 � Ω2 � . . . ∈ � � so ist auch
Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . ∈ � .
Auf Caratheodory geht nun folgender entscheidende Satz zurück.
Satz 4.8. Das System aller Mengen Ω ⊂ R� welche das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen, bildet eine σ -Algebra � . Auf dieser ist das Lebesguesche äußere Maß �∗ additiv.
Beweis. ∗ Wir gehen in mehreren Schritten vor.
1. Seien Ω1 und Ω2 zwei Lebesguemessbare Mengen. Dann berechnen wir unter Benutzung
der Identitäten
C ∩ �Ω1 ∪ Ω2 ) = �C ∩ Ω1 ) ∪ �C ∩ Ωc1 ∩ Ω2 )�
C ∩ �Ωc1 ∩ Ωc2 ) = C ∩ �Ω1 ∪ Ω2 )c
sowie der Subadditivität des äußeren Lebesguemaßes
�∗ �C) =
=
≥
=
≥
�∗ �C ∩ Ω1 ) + �∗ �C ∩ Ωc1 )
�∗ �C ∩ Ω1 ) + �∗ ��C ∩ Ωc1 ) ∩ Ω2 ) + �∗ ��C ∩ Ωc1 ) ∩ Ωc2 )
�∗ ��C ∩ Ω1 ) ∪ �C ∩ Ωc1 ) ∩ Ω2 ) + �∗ ��C ∩ Ωc1 ) ∩ Ωc2 )
�∗ �C ∩ �Ω1 ∪ Ω2 )) + �∗ �C ∩ �Ω1 ∪ Ω2 )c )
�∗ �C).
Also ist Ω1 ∪ Ω2 Lebesguemessbar. Da mit Ω1 und Ω2 aber auch Ωc1 sowie Ωc2 Lebesguemessbar sind, schließen wir wegen
Ω1 ∩ Ω2 = �Ωc1 ∪ Ωc2 )c
auf die Lebesguemessbarkeit des Durchschnitts Ω1 ∩ Ω2 . Endliche Durchschnitte und
endliche Vereinigungen sind also Lebesguemessbar.
2. Wir betrachten nun den Fall abzählbare Vereinigungen Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . und setzen voraus,
dass die Ωk paarweise untereinander disjunkt sind. Wir beginnen mit
�∗ �Ω1 ∪ Ω2 ) = �∗ ��Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ω2 ) + �∗ ��Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ωc2 )
= �∗ �Ω2 ) + �∗ �Ω1 )�
denn wegen der Disjunktheit von Ω1 und Ω2 gelten
�Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ω2 = Ω2
als auch
Ω1 ∪ Ω2 ) ∩ Ωc2 = Ω1 .
4.8. LEBESGUEMASS V: BORELMENGEN
Induktiv finden wir daher
�
�
∗
�
C∩
n
�
Ωk
∗
= �
k=1
�
C∩
�
n
�
Da nun
�
�∗ �C) = �∗ C ∩
n
≥
∑�
∗
k=1
�
�
n
�
�
Ωk ∩ Ωn + �
k=1
= �∗ �C ∩ Ωn ) +
45
∗
∞
≥
∑�
∗
k=1
n
k=1
k=1
�
Ωk
k=1
��
�
�
�
�
C∩
�A ∩ Ωk ) + �
∗
∞
�
Ωk
k=1
C∩
��
n
�
�
+ �∗ C ∩
�
∗
�
�
n
�
Ωk
k=1
�
∩ Ωcn
�
∑ �∗ �C ∩ Ωk ) = ∑ �∗ �C ∩ Ωk ).
�C ∩ Ωk ) + �
≥ �∗ C ∩
C∩
n−1
für alle n ∈ �� folgern wir
�∗ �C)
�
∞
�
k=1
Ωk
k=1
∞
�
Ωk
k=1
�
+ �∗ C ∩
�
Ωk
�c �
�c �
�c �
∞
�
Ωk
k=1
�c �
�
womit die Lebesguemessbarkeit von Ω1 ∪ Ω2 ∪ . . . nachgewiesen ist.
3. Wir wollen nur die Additivität zeigen. Seien dazu Ik � k = 1� 2� . . . paarweise disjunkt, so
gilt offenbar für fest gewähltes n ∈ � endliche Additivität, und der Subadditivität des
Lebesguemaßes entnehmen wir
�
�
�
�
n
∑ �∗ �Ik ) = �∗
k=1
n
�
Ik
≤ �∗
k=1
∞
�
Ik
∞
≤
k=1
∑ �∗ �Ik )�
k=1
und zwar für alle n ∈ �. Die Behauptung folgt mit n → ∞.
4.8
Lebesguemaß V: Borelmengen
Das äußere Lebesguemaß ist additiv auf Mengen aus der σ -Algebra � aller der Mengen, die das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen. Für eine solche besondere Menge Ω ⊂ � wollen wir in Zukunft das äußere Lebesguemaß einfach als
��Ω) := �∗ �Ω)�
Ω∈��
schreiben.
Insbesondere beschränkte, offene Intervalle und ihre Komplemente sind in unserer σ Algebra � enthalten.
Definition 4.6. Der Durchschnitt aller σ -Algebren, die alle offenen Mengen enthalten,
heißt die Borelsche σ -Algebra B� und ihre Elemente bezeichnen wir als Borelmengen.
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
46
Unter der hier unbewiesenen Eigenschaft, dass ein solcher Schnitt wieder eine σ Algebra ist, schließen wir mit
B⊂�
auf die zweite wichtige Charakterisierung Lebesguemessbarer Mengen.
Satz 4.9. Borelmengen reeller Zahlen sind Lebesguemessbar.
Alle Borelmengen in R sind also Lebesguemessbar. Zu ihnen gehören beispielsweise
→ alle beschränkten offenen und alle beschränkten abgeschlossenen Teilmengen
Ω ⊂ R; im Falle der Unbeschränktheit muss mit einem Ausschöpfungsprozess
argumentiert werden;
→ ebenfalls ist jede Menge Borelmenge, die man als Vereinigung oder Durchschnitt
von höchstens abzählbar vielen Borelmengen (z.B. offenen oder abgeschlossenen Mengen) darstellen kann.
Beispiel 2. Wegen
{x0 } =
∞
�
�
�
1
1
x0 − � x0 +
k
k
k=1
sind Punkte {x0 } Lebesguemessbar mit Maß ��{x0 }) = 0.
4.9
Approximation messbarer Mengen
Messbare Mengen können von außen bzw. innen von offenen bzw. abgeschlossenen
Mengen approximiert werden.
Satz 4.10. Sei Ω ⊂ R eine beliebige Menge. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.
(A1) Ω ist Lebesguemessbar im Caratheodoryschen Sinn.
(A2) Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine offene Menge Σ ⊃ Ω mit
�∗ �Σ � Ω) = ε .
(A3) Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine abgeschlossene Menge Θ ⊂ Ω mit
�∗ �Ω � Θ) < ε .
Beweis. Wir zeigen nur die Richtung �A1) → �A2) : Die Lebesguemessbare Menge
Ω ⊂ R kann von außen durch eine offene Menge Σ ⊂ R approximiert werden. Sei dazu
��Ω) < ∞ vorausgesetzt.1 Zu vorgelegtem ε > 0 existiert zunächst eine Überdeckung
Ω ⊂ I1 ∪ I2 ∪ . . . mit offenen Intervallen Ik ⊂ R� so dass
�
�
��Ω) ≤ �
∞
�
Ik
< ��Ω) + ε
k=1
gemäß dem Infimumcharakter des äußeren Lebesguemaßes.
1 Andernfalls
führen wir die Argumentation für die ausschöpfenden Mengen Ωn := Ω ∩ [−n� n] durch.
4.10. EINE NICHT-LEBESGUEMESSBARE MENGE
47
Die abzählbare Vereinigung der Ik nehmen wir als Vergleichsmenge im Caratheodoryschen Messbarkeitskriterium, so dass wegen der Messbarkeit von Ω folgt
�
�
��
�
�
��
�
�
��
�
�
�
∞
�
k=1
Ik
=�
∞
�
Ik ∩ Ω + �
k=1
Ik � Ω
= ��Ω) + �
k=1
Subtraktion von ��Ω) bringt
��
�
∞
�
∞
�
�
Ik � Ω
k=1
und das zeigt die Behauptung.
�
=�
�
∞
�
Ik � Ω .
k=1
∞
�
k=1
�
Ik − ��Ω) < ε �
4.10 Eine Nicht-Lebesguemessbare Menge
Im Jahre 1905 konstruierte der italienische Mathematiker G. Vitali folgende nicht Lebesguemessbare Menge.2
Satz 4.11. Es sei vermöge
x ∼ y ⇔ x−y ∈ Q
eine Äquivalenzrelation in den reellen Zahlen R erklärt. Diejenige Menge Ω ⊂ [0� 1]�
die aus jeder solchen Äquivalenzklasse genau einen Vertreter enthält, ist nicht Lebesguemessbar.
Beweis. Den Nachweis, dass ∼ tatsächlich eine Äquivalenzrelation darstellt, belassen
wir als Übung. Für den Beweis der Nichtmessbarkeit gehen wir desweiteren in mehreren Schritten vor.
1. Wir zeigen, dass [0� 1] aus jeder Äquivalenzklasse von ∼ abzählbar unendlich
viele Elemente enthält. Sei nämlich [x] = x + Q die Äquivalenzklasse eines beliebigen x ∈ R. Dann enthält die Menge
[0� 1] − x = [−x� 1 − x]
abzählbar viele Elemente q j ∈ Q. Für diese gilt
q j + x ∈ [0� 1] ∩ [x].
2. Wir zeigen, dass für alle r� s ∈ Q mit r �= s gilt
�r + Ω) ∩ �s + Ω) = 0.
/
Angenommen nämlich, es gibt ein Element x ∈ �r +Ω)∩�s+Ω). Dann existieren
auch a� b ∈ Ω mit
x = r + a und x = s + b.
Es folgt a − b = s − r ∈ Q� also a ∼ b. Da aber Ω aus jeder Äquivalenzklasse
genau ein Element enthält, schließen wir a = b und damit r = s.
2 Wir
halten uns an die Ausführungen aus Timmann, S.: Repetitorium der Analysis 2.
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
48
3. Wir führen die abzählbare Menge ein
Θ :=
r + Ω : |r| ≤ 1� r ∈ Q
��
r
�
und zeigen [0� 1] ⊂ Θ ⊂ [−1� 2]. Sei nämlich x ∈ [0� 1] beliebig gewählt. Sei ferner
a ∈ Ω ∩ [x]. Dann ist a ∼ x� also auch x − a =: r ∈ Q. Wegen x� a ∈ [0� 1] folgt
−1 ≤ r = x − a ≤ 1� also x = r + a ∈ Θ. Mit |r| ≤ 1 und a ∈ [0� 1] schließen wir
−1 ≤ r + a ≤ 2� damit aber auch Θ ⊂ [−1� 2].
4. Wäre nun Ω Lebesguemessbar, so hätten wegen der Translationsinvarianz des
Lebesguemaßes alle Mengen r +Ω das gleiche Maß. Angenommen, es ist ��Ω) =
0� so würde aus der abzählbaren Additivität folgen ��Θ) = 0� was aber im Widerspruch zu [0� 1] ⊂ Θ steht. Also muss ��Ω) > 0 sein. Dann hat aber wegen
der abzählbaren Additivität die Menge Θ kein endliches Lebesguemaß im Widerspruch zu Θ ⊂ [−1� 2].
Damit ist gezeigt, dass Ω ⊂ [0� 1] nicht Lebesguemessbar ist.
Um einen Vertreter jeder der im Beweis konstruierten Äquivalenzklassen auswählen
zu können, verweist man auf das sogenannte Auswahlaxiom von Zermelo 1902, welches besagt, dass es zu jeder Kollektion von nichtleeren Mengen eine Auswahlfunktion
gibt, die jeder dieser nichtleeren Mengen ein Element derselben Menge zuordnet, also
auswählt.
Es gibt tatsächlich Mengenkollektionen, für welche eine solche Auswahlfunktion nicht
offensichtlich angebbar ist. Ihre Existenz wird dann durch das Auswahlaxiom postuliert.
4.11
Lebesguemessbare Funktionen
Wir übertragen nun die Lebesguemessbarkeit von Mengen auf die Lebesguemessbarkeit von Funktionen als Erweiterung der Stetigkeit.
Vielleicht war Lebesgues Motivation in etwa wie folgt: Ist f : Ω → R stetig, so ist das
Urbild offener Mengen unter der inversen Abbildung f −1 wieder offen. Andererseits
lassen sich offene Intervalle als Vereinigung abzählbar vieler offener Intervalle Ik darstellen, und für die inversen Bilder gilt wieder
f
−1
�
∞
�
k=1
Ik
�
=
∞
�
f −1 �Ik ).
k=1
Die für uns interessanten Eigenschaften werden also von f −1 realisiert. Sollte man also
den neuen Begriff der Messbarkeit von Funktionen ebenfalls über die Bilder unter der
inversen Abbildung f −1 verstehen?
4.12. APPROXIMATION MESSBARER FUNKTIONEN
49
Definition 4.7. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} heißt
Lebesguemessbar, falls für alle c ∈ R die Menge
{x ∈ Ω : f �x) > c}
Lebesguemessbar ist.
Tatsächlich gilt der
Satz 4.12. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} ist Lebesguemessbar genau dann, wenn
◦ {x ∈ Ω : f �x) ≥ c} Lebesguemessbar ist für alle c� oder
◦ {x ∈ Ω : f �x) < c} Lebesguemessbar ist für alle c� oder
◦ {x ∈ Ω : f �x) ≤ c} Lebesguemessbar ist für alle c.
Beweis. Betrachte folgende Mengen
Ω1 := {x ∈ Ω : f �x) ≥ c} =
∞
�
�
�
1
�
x ∈ Ω : f �x) > c −
k
k=1
Ω2 := {x ∈ Ω : f �x) < c} = Ω � {x ∈ Ω : f �x) ≥ c}�
�
∞ �
�
1
Ω3 := {x ∈ Ω : f �x) ≤ c} =
x ∈ Ω : f �x) < c +
�
k
k=1
Ω4 := {x ∈ Ω : f �x) > c} = Ω � {x ∈ Ω : f �x) ≤ x}.
Die Messbarkeit von Ω impliziert die Messbarkeit von Ω1 als Durchschnitt abzählbar
vieler offener Mengen, die Messbarkeit von Ω1 impliziert die der Komplementmenge
Ω2 � die Messbarkeit von Ω2 impliziert die Messbarkeit von Ω3 als Durchschnitt abzählbar vieler offener Mengen, daraus folgt die Messbarkeit von Ω4 als Komplement von
Ω3 � und das ist aber wieder die Definition der Messbarkeit der Funktion f .
4.12 Approximation messbarer Funktionen
Satz 4.13. Folgende Funktionen sind Lebesguemessbar:
(i) stetige Funktionen auf Lebesguemessbaren Mengen;
(ii) Riemannintegrierbare Funktionen auf Lebesguemessbaren Mengen.
Beweis. Wir zeigen nur die Aussage (i) und das am Beispiel einer stetigen Funktion
f : R → R. Es ist nämlich {x ∈ R : f �x) > c} das Urbild der offenen Menge �c� ∞)� und
wegen der Stetigkeit von f ist dieses Urbild offen und somit Lebesguemessbar.
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
50
Satz 4.14. Es gelten die folgenden Aussagen.
◦ Ist f Lebesguemessbar, so auch | f |. Die Umkehrung dieser Aussage ist i.A.
falsch.
◦ Sind f und g Lebesguemessbar, so auch
max { f � g}�
min { f � g}�
insbesondere also auch f + := max { f � 0} und f − := min { f � 0}.
◦ Sind f �1) � f �2) � . . . Lebesguemessbar, so auch
sup f �k) �
lim inf f �k) �
k→∞
k=1�2�...
inf
k=1�2�...
f �k) �
lim inf f �k) .
k→∞
◦ Sind f und g Lebesguemessbar, und ist F : R2 → R stetig, so ist auch die Komposition F� f � g) Lebesguemessbar. Insbesondere sind f + g� f · g usw. Lebesguemessbar.
Beweis. Wir geben nur eine Idee zum dritten Punkt: Man überlege sich zunächst
∞
� �
�
x ∈ Ω : sup f �k) �x) > c =
{x ∈ Ω : f �k) �x) > c} .
k=1�2�...
k=1
Die rechte Seite dieser Mengenidentität ist aber Lebesguemessbar als abzählbarer Durchschnitt Lebesguemessbarer Mengen. Also ist die Funktion
sup f �k) �x)
k=1�2�...
Lebesguemessbar. Aus (wieder Übung!)
inf
k=1�2�...
f �k) �x) = − sup
k=1�2�...
�
�
− f �k) �x)
entnehmen wir die Lebesguemessbarkeit des Infimums, und wegen
lim sup f �k) �x) =
k→∞
inf sup f � j)
und
k=1�2�... j≥k
lim inf f �k) �x) = sup inf f � j)
k→∞
k=1�2�... j≥k
folgern wir die Lebesguemessbarkeit des Limes superior und Limes inferior.
Konvergiert eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen f �k) : Ω → R gegen ein f : Ω →
R� d.h. existiert der punktweise Grenzwert
f �x) = lim f �k) �x)�
k→∞
so ist dieser natürlich gleich dem
lim sup f �k) �x).
k→∞
4.12. APPROXIMATION MESSBARER FUNKTIONEN
51
Also gilt der folgende
Satz 4.15. Ist { f �k) }k=1�2�... eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen auf einer Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ R� die punktweise gegen ein f : Ω → R konvergiert, so
ist auch f Lebesguemessbar.
Solche Eigenschaften besitzen Riemannintegrierbare Funktionen in der Regel nicht!
Hier unser bekanntes Gegenbeispiel: Bezeichnet q1 � q2 � . . . eine Abzählung der rationalen Zahlen in �0� 1)� so setzen wir
�
1 für x = q1 � q2 � . . . � qk
f �k) �x) :=
0 sonst
Für jedes k = 1� 2� . . . gilt dann
�1
f �k) �x) dx = 0�
0
aber die Grenzfunktion, d.h. die Dirichletsche Sprungfunktion, ist nicht mehr Riemannintegrierbar.
Nach Lebesgue lassen sich messbare Funktionen auch durch sogenannte einfache Funktionen approximieren.
Definition 4.8. Sei Ω ⊂ R Lebesguemessbar und durch endlich viele, paarweise disjunkte Mengen Ωk wie folgt ausgeschöpft
Ω=
n
�
Ωk .
k=1
Unter einer einfachen Funktion verstehen wir einen Ausdruck der Form
Φ�x) =
n
∑ ck χΩk �x)
k=1
mit reellen Zahlen ck und den charakteristischen Funktionen
�
1� falls x ∈ Ωk
χΩk �x) =
.
0� falls x �∈ Ωk
Aufgabe 1. Einfache Funktionen sind Lebesguemessbar.
Neben dieser Eigenschaft einfacher Funktionen, die wir als Übungsaufgabe belassen,
gilt nun der folgende
Satz 4.16. Sei f : Ω → R eine Lebesguemessbare Funktion auf einer Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ R. Dann existiert eine Folge {Φ�k) }k=1�2�... einfacher Funktionen auf
Ω mit der Eigenschaft
lim Φ�k) �x) = f �x)
k→∞
für alle x ∈ Ω.
52
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
Ist ferner f beschränkt auf Ω� so ist die Konvergenz gleichmäßig. Und ist f nichtnegativ, so kann die approximierende Folge einfacher Funktionen monoton wachsend
gewählt werden.
Beweis. Wir geben nur eine Beweisidee. Sei o.B.d.A. f �x) ≥ 0 für alle x ∈ Ω. Andernfalls betrachten wir die Zerlegung
f �x) =
| f �x)| + f �x) | f �x)| − f
−
2
2
einer beliebigen Funktion f in zwei positive Anteile, die jeweils Lebesguemessbar sind.
Lebesgues ursprüngliche Approximation sieht nun wie folgt aus: Zerlege den Bildraum
[0� ∞) der nichtnegativen Funktion f in halboffene Intervalle
[0� ∞) = [0� 1) ∪ [1� 2) ∪ . . . ∪ [n − 1� n) ∪ [n� ∞)�
und betrachte hierauf eine verfeinerte Zerleung in 2n + 2n + . . . + 2n + 1 = n · 2n disjunkte Teilintervalle. Setze dann
Φ�n) :=
n·2n
k−1
χΩn�k �x) + nχΘn �x)
n
k=1 2
∑
mit den Lebesguemessbaren Teilmengen
�
�
k−1
k
Ωn�k := x ∈ Ω :
≤
f
�x)
≤
2n
2n
und
Θn := [n� ∞).
Also sind auch alle Φ�n) Lebesguemessbar. Nun überlege man sich
| f �x) − Φ�n) �x)| ≤
1
2n
für alle x ∈ Ω � Θn
woraus die behauptete punktweise Approximation folgt.
4.13
Die Sätze von Egoroff und Lusin
Wir wollen ohne Beweis zwei wichtige Resultate vorbringen, welche für das Verständnis messbarer Funktionen unerlässlich sind. Das erste Resultat geht auf den den Mathematiker D.F. Egoroff zurück und besagt, dass punktweise Konvergenz messbarer
Funktionen fast gleichmäßige“ Konvergenz bedeutet.
”
Satz 4.17. Sei { f �k) }k=1�2�... eine Folge messbarer Funktionen, die auf Ω ⊂ R mit
��Ω) < ∞ fast überall gegen eine Funktion f : Ω → R konvergiert, die endlich fast
überall auf Ω ist. Für jedes ε > 0 existiert dann eine messbare Teilmenge Θ ⊂ Ω mit
Lebesguemaß
��Θ) < ε �
so dass die Folge { f �k) }k=1�2�... auf Ω � Θ gleichmäßig gegen f konvergiert.
4.14. LITTLEWOODS DREI PRINZIPIEN
53
Die beiden Voraussetzungen ��Ω) < ∞“ und | f �x| < ∞“ fast überall in diesem Satz
”
”
können nicht abgeschwächt werden, wie folgende Gegenbeispiele zeigen.
Beispiel 3. Sei Ω = R� und sei { f �k) }k=1�2�... die Folge charakteristischer Funktionen
auf Intervallen Ik = [− 2k � 2k ] mit ��Ik ) = k. Dann ist f �k) �x) → 1 für alle x ∈ R� aber die
Konvergenz ist nicht gleichmäßig auf Mengen, deren Komplemente endliches Lebesguemaß besitzen. Also ist die Voraussetzung ��Ω) < ∞ fast überall notwendig.
Beispiel 4. Es seien Ω = [0� 1] und f �k) �x) ≡ k auf Ω. Dann konvergiert diese Folge gegen ∞ auf [0� 1]� und die Konvergenz kann nicht gleichmäßig sein. Also ist die
Voraussetzung der Endlichkeit fast überall von f notwendig.
Das zweite wichtige Resultat ist benannt nach N.N. Lusin.
Satz 4.18. Seien Ω ⊂ R Lebesguemessbar und f : Ω → R eine in Ω fast überall endliche Funktion. Dann gibt es zu jedem ε > 0 eine abgeschlossene Teilmenge Θ ⊂ Ω
mit
��Ω � Θ) < ε �
so dass die Einschränkung g := f |Θ von f auf Θ stetig ist.
Diese Aussage bedarf einer Erklärung: Es wird nicht behauptet, dass f stetig auf Θ ist,
sondern dass die Einschränkung f |Θ von f auf Θ stetig ist. Dazu folgendes Beispiel.
Beispiel 5. Es sei f die Dirichletsche Sprungfunktion auf ganz R. Sei ferner Σ eine offene Menge, welche die rationalen Zahlen Q enthält und die das Maß ��Σ) < ε besitzt.
Wir setzen Θ := Σc . Dann ist
��R � Θ) = ��Σ) < ε �
und da g := f |Θ ≡ 0� ist f |Θ auch stetig. Betrachten wir f jedoch als Funktion auf ganz
R� so ist f sicher nicht stetig auf Θ.
4.14 Littlewoods drei Prinzipien
Der britische Mathematiker J.E. Littlewood fasste die in den vorigen Paragraphen vorgestellten Eigenschaften Lebesguemessbarer Funktionen in drei Prinzipien“ fest:
”
1. Jede messbare Menge ist fast eine endliche Vereinigung von Intervallen.
2. Jede messbare Funktion ist fast stetig.
3. Jede konvergente Folge messbarer Funktionen ist fast gleichmäßig konvergent.
Das erste Prinzip ist Aussage (A2) aus dem obigen Abschnitt zur Approximation von
Mengen: Zu vorgegebenem ε > 0 existiert eine offene Menge Σ ⊃ Ω mit �∗ �Σ � Ω) < ε .
Ein solches Ω ⊂ R kann man nun durch abzählbar viele, paarweise durchschnittsfremder halboffener Intervalle [a� b) überdecken.
Das zweite Prinzip ist der Satz von Lusin, das dritte Prinzip der Satz von Egoroff.
Damit wollen wir unsere Untersuchungen zu Lebesguemessbaren Mengen und Funktionen abschließen und uns der Konstruktion des Lebesgueschen Integrals widmen.
54
KAPITEL 4. GRUNDLAGEN DER MASSTHEORIE
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