Kritische Überprüfung des Behaviorismus

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Prof. Dr. Eckart Leiser
Studiengang Psychologie
der
Freien Universität Berlin
Schritte in Richtung auf eine
kritische Überprüfung des Behaviorismus
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Die Skinner-Box als behavioristische Welt
2
Wie Skinner sein Konzept und seine Ansprüche
begründet
11
Die Defizite und Widersprüche im Ansatz Skinners
20
Der utopische Entwurf Skinners als Versuch, die
inneren Widersprüche seines Konzepts auf militante
Weise zu lösen
32
Versuche zur Rettung des behavioristischen
Paradigmas: der Ansatz von Tolman
41
Die Wiederentdeckung der menschlichen Komplexität:
der Behaviorismus von Albert Bandura
51
Ein scholastischer Ausweg aus den Defiziten des
Behaviorismus: das System von J.R. Kantor
62
Der Zugang der Kritischen Psychologie zum Problem
des Lernens: eine Skizze
74
Bibliographie
83
_____________________________________________________________________
An der UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) im Sommer 1988
gehaltene Vortragsreihe
(Übersetzung aus dem Spanischen)
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Kapitel 1:
Die Skinner-Box als behavioristische Welt
Im Zusammenhang meiner ersten Vortragsreihe über die methodologischen Grundlagen der
Kritischen Psychologie (Leiser 1987) haben wir einige zentrale Wesenszüge des Behaviorismus
kennengelernt, und zwar anläßlich unserer Untersuchung des abstrakten Denkens und seiner
spezifischen Funktionen innerhalb der etablierten Psychologie. Damals befand sich der Ansatz von
Byrrhus F. Skinner im Mittelpunkt unseres Interesses. Und das nicht zufällig, denn Skinner als
herausragender Vertreter des Behaviorismus war in besonderem Maß geeignet, diese besagten
Wesenszüge des Behaviorismus zu verdeutlichen.
Diesmal zielt unsere Analyse auf eine systematischere Herausarbeitung des Verständnisses vom
psychologischen Gegenstand, wie es sich in der Terminologie des Behaviorismus manifestiert,
seines Modells vom Lernprozeß und seiner erkenntnistheoretischen und philosophischen
Voraussetzungen. Und wiederum soll unser Ausgangspunkt der Ansatz von Skinner sein.
Gemäß dem Anspruch von Skinner kann die Psychologie auf einer streng objektiven und
empirischen Grundlage aufgebaut werden, nach Maßgabe der Prinzipien der klassischen Physik.
Ein solches Programm verlangt die Beschränkung auf beobachtbare Ereignisse und Daten und die
Ausschaltung jedes Bezugs auf innere Zustände der untersuchten "Organismen". Entsprechend dem
Verständnis von Skinner verdanken sich solche Bezüge einer langen Tradition des "Mentalismus",
des Hauptfeindes von wissenschaftlichem Fortschritt. Eine wichtige Stütze des Mentalismus bildet
der Glaube an eine Sonderstellung des Menschen im System der Lebewesen. Dagegen setzt Skinner
als seine Überzeugung, daß es sehr allgemeine Mechanismen gibt, die das Funktionieren des
Verhaltens bestimmen. Wenn Skinner Experimente mit Ratten und Tauben bevorzugt, dann nicht,
weil es ihm wirklich um eine besondere Psychologie dieser Arten ginge, sondern um eine
vorteilhaftere und ökonomischere Technik zur Erkenntnisgewinnung über die Psychologie des
Menschen. Es sind einzig und allein solche ökonomischen, praktischen und darüber hinaus
rechtlichen Gesichtspunkte, die für solche Tiere sprechen.
Ein Zitat: "Der Experimentator muß mit einem Organismus arbeiten, der leicht zu beschaffen und
billig zu erhalten ist. Er muß ihn, oft über lange Perioden hinweg, einer täglichen Diät aussetzen, er
muß ihn in einer leicht kontrollierbaren Umwelt gefangenhalten und er muß ihn komplexen Verstärkungskontingenzen exponieren. Ein derartiger Organismus ist notgedrungen einfacher als der des
Menschen. Trotzdem aber befassen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Fachleute, die
solche Organismen untersuchen, primär mit menschlichem Verhalten. Nur sehr wenige Forscher
interessieren sich für die Ratte oder Taube an sich." (Skinner: Die Funktion des Verstärkers in den
Verhaltenswissenschaften, München 1974, S. 92).
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Die Ratte in der Skinner-Box stellt die nahezu ideale Erfüllung aller im Zitat aufgeführten
Forderungen dar. Und für Skinner sind die Mechanismen, die sich in dieser Situation manifestieren,
in einem solchen Grad augenfällig, daß es völlig ausreicht, sie zu beschreiben, ohne auf irgendeinen
theoretischen Rahmen der Interpretation Bezug zu nehmen. Nebenbei bemerkt: dieser Glaube an die
Evidenz empirischer Daten entspricht dem Traum des frühen Empirismus. Wie es scheint, hat
Skinner einen Zugang zur Humanpsychologie gefunden, der die Zurückführung der komplexesten
Probleme der menschlichen Psychologie auf die Probleme der Ratten und Tauben in der SkinnerBox ermöglicht und gleichzeitig Schluß macht mit allen erkenntnistheoretischen und
methodologischen Komplikationen, mit denen es die Psychologie bisher zu tun hatte. Und wie es
scheint, hat Skinner den Beweis erbracht, daß das Verhalten von Organismen einschließlich des
Menschen auf der Grundlage einiger sehr allgemeiner und elementarer Prinzipien erklärbar und
kontrollierbar ist. Zieht man die Konsequenzen daraus, eröffnen sich völlig neue Perspektiven der
Humanpsychologie, und zwar nicht nur wissenschaftlicher sondern auch praktischer Art. Skinner
selbst hat diese Konsequenzen für das menschliche Individuum und die menschliche Gesellschaft
insgesamt in verschiedenen Büchern herausgearbeitet, z.B. in seinem Buch "Futurum II" und in
seinen Essays "Jenseits von Freiheit und Würde".
Aber werfen wir zunächst einen Blick auf das, was in der Skinner-Box vorgeht, und wie sich das
Geschehen dort in der Terminologie von Skinner darstellt. Die Skinner-Box (s. folgende Abbildung
- Friedrich S. 205) besteht aus einer hermetisch abgeschlossenen Umgebung, mit einer künstlichen
und vollständig standardisierten Ausstattung. Zu den obligatorischen Elementen der Konstruktion
gehört irgendein Mechanismus, der durch eine
wohldefinierte Tätigkeit der Ratte aktiviert wird (um hier bei
dieser Spezies zu bleiben).
Die Auslösung des Mechanismus führt seinerseits zu in
Bezug auf die Ratte wohl definierten Effekten wie etwa die
Darbietung von Futter oder die Beendigung eines
Elektroschocks. In der Terminologie von Skinner ist die zur
Auslösung des Mechanismus geeignete Tätigkeit ein
Operant, der durch diese Tätigkeit herbeigeführte Effekt ist
die Konsequenz, und soweit es sich um eine angenehme
oder mit Erleichterung verbundene Konsequenz handelt,
spricht man von einem Verstärker. Die Darbietung von Futter stellt einen positiven Verstärker dar,
während die Beendigung eines Elektroschocks in der Terminologie von Skinner einen negativen
Verstärker darstellt. Die Verknüpfung zwischen einem speziellen Operanten und einem Verstärker
heißt eine Verstärker-Kontingenz. Noch allgemeiner, schließt man außerdem noch die negativen
Effekte eines definierten Verhaltens ein, die sogenannten Bestrafungen, ergibt sich das folgende
Schema:
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Allerdings geht es im größten Teil seiner Arbeiten und seiner Experimente um Verstärker,
ausgehend davon, daß die Verwendung von Strafen in der Praxis wenig Nutzen bringt.
Nach Skinner besteht der Lernprozeß, also die Ausbildung und Veränderung von Verhalten,
letztlich in derartigen Kontingenzen, oder genauer gesagt in der Ausarbeitung der Operanten, die
die Kontingenzen einer vorhandenen Umwelt erfordern. Im Fall der Skinner-Box, auf die sich
unsere Darstellung des Skinnerschen Ansatzes bisher beschränkt hat, ist es unerläßlich, die Rolle
des Forschers innerhalb des angedeuteten Prozesses in Rechnung zu stellen: Der Forscher ist es
hier, der die Kontingenzen einrichtet, der die geforderten Tätigkeiten der Verhaltensausstattung
anpaßt, über die die Ratte anfangs verfügt, und der im weiteren ihr Verhalten gemäß einer
ausgetüftelten Strategie modelliert.
Aber wie dem auch sei: Skinner geht davon aus, daß die Ratte sowie alle Organismen über eine
Verhaltensausstattung verfügen und außerdem von dieser Ausstattung spontan Gebrauch machen.
Ich unterstreiche diesen Punkt, weil es im Gegensatz zu den klassischen Konzepten des
Behaviorismus ein aktiver und nicht nur reaktiver Organismus ist, der in Skinners Ansatz den
Ausgangspunkt bildet. Andererseits ist Skinner damit zufrieden, diesen Typ des aktiven Lernens,
das in seiner Terminologie "operantes Konditionieren" heißt, neben das "klassische Konditionieren"
zu stellen, statt insgesamt den passiven Organismus des klassischen Behaviorismus durch den
aktiven Organismus zu ersetzen. Bestimmt durch vorangehende Reize ("Stimuli" in Englisch), liegt
dem klassischen Konditionieren gemäß Skinner ein Lernen des Typs "S" zugrunde, zu unterscheiden vom Lernen des Typs "R", auf dem nach Skinner das operante Konditionieren beruht, und
das durch spontane Reaktionen des Organismus (in Englisch: "Responses") in Gang gesetzt wird.
Wie die Bezeichnung "spontane Reaktion" zeigt, eine etwas widersprüchliche Kombination oder
eine Art "contradictio in adjecto", hat Spontaneität im Sinn von Skinner einen ziemlich unklaren
Charakter. Wir werden zu diesem Punkt im Verlauf dieser Vortragsreihe zurückkehren.
Um unsere Skizze des Skinnerschen Ansatzes zu vervollständigen: Die Ratte kann, soweit vom
Forscher arrangiert, gewisse Signale auswerten, die mit den Kontingenzen in Beziehung stehen,
beispielsweise ein vorangehendes Licht bestimmter Farbe, von dem abhängt, ob eine Tätigkeit
angemessen ist oder nicht. In der Terminologie Skinners spricht man hier von einer Diskrimination
von Operanten, womit klargestellt wird, daß ein Operant unter die Kontrolle von Reizen gerät. Eine
solche Kontrolle durch Reize, die nachträglich wirksam wird, ist nach Skinner aber vom oben
erwähnten Typ "S" des Lernens zu unterscheiden.
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Auf den ersten Blick und soweit bisher dargelegt scheinen die Experimente von Skinner keine
besonderen Probleme aufzuwerfen: Was die Skinner-Box betrifft, handelt es sich um eine
interessante Versuchsanordnung, und die Phantasie Skinners beim Konstruieren immer
ausgeklügelterer Kontingenzen sowie beim Variieren von Verstärkungsplänen verdient zweifellos
unser aller Bewunderung. Insbesondere seine Erfolge beim Modellieren des Verhaltens von Ratten
und Tauben stehen in nichts der großen Kunst des Zirkus nach. Und die Terminologie von Skinner,
obwohl für die Welt des Zirkus etwas ungewöhnlich und angesichts so lebendiger Experimente
etwas verfremdet, bewegt sich im Spielraum der unter Wissenschaftlern üblichen Eigenwilligkeiten
(und geht darüber hinaus zumindest teilweise auf die terminologische Tradition innerhalb des
Behaviorismus zurück).
Aber wie schafft es Skinner, auf der Grundlage derart spezifischer Experimente zu
verallgemeinerten Erkenntnissen zu kommen, ohne Hilfe einer Theorie, die das Ordnen der Ergebnisse und die Vermittlung zwischen diesen ermöglichen könnte, gestützt auf nichts weiter als die
Beschreibung der einzelnen Ereignisse?
Ein Beispiel: Mikroskopisch betrachtet, wird kein Auftreten eines Operanten mit einem anderen
Auftreten identisch sein. Somit: wie kann man einen Operanten auf streng deskriptiver Grundlage
definieren?
Ein anderes Beispiel: Abermals mikroskopisch betrachtet, wird kein Akt, die Verstärkung zu
erleben, mit einem anderen Akt identisch sein. Somit: wie kann man eine Verstärkung auf streng
deskriptiver Basis definieren?
Noch ein Beispiel: Wiederum mikroskopisch betrachtet, wird keine Ratte mit einer anderen Ratte
identisch sein, aufgrund von genetischen und erworbenen Besonderheiten. Somit: wie kann man
eine Ratte auf streng deskriptiver Basis definieren?
Ein letztes Beispiel: Wenn man die Operanten und die Verstärker variiert mit dem Ziel,
verallgemeinerte Kontingenzen zu schaffen: wie ist es möglich, auf streng deskriptiver Basis die
Ähnlichkeiten und Invarianten zu bestimmen, die über alle Variationen hinweg gelten?
Begeben wir uns jetzt an die Untersuchung des Problems, wie Skinner derartige Fragestellungen
behandelt, und nehmen wir als Beispiel seine Lösung für die Identifikation eines Operanten (das
erste obige Beispiel): Der erste Schritt Skinners besteht darin, die Definition eines Operanten
auszuweiten: er bezeichnet nicht mehr eine einzelne Aktivität, sondern umfaßt die Klasse ähnlicher
Aktivitäten, deren Häufigkeit sich im Verlauf einer Serie von Experimenten der gleichen
Versuchsanordnung erhöht. Im Hinblick auf diese derart definierte Klasse spricht Skinner von einer
"Verhaltenseinheit". Und die Verstärkung wird schließlich definiert als Klasse der mit diesen
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Aktivitäten verknüpften Konsequenzen. Vertraut man dem guten Willen der Ratte, sich die in die
Versuchsanordnung eingeführte Logik zu eigen zu machen, und auf die Bereitschaft des Forschers,
die genannte Klasse anhand der gleichen Logik zu suchen, könnte das Ergebnis sein, daß die Klasse
der Tätigkeiten, die den besagten Operanten konstituiert, alle Varianten, einen Hebel zu drücken,
einschließt. Und alle Varianten des Aktes, eine Futterkugel zu verzehren, würden in die Klasse der
entsprechenden Konsequenzen aufgenommen, die als solche den Verstärker konstituiert. Aber was
passiert, wenn die verrückte Versuchsanordnung und die Skinner-Box insgesamt die Ratte nervös
macht, was zu einer Vermehrung von Wutäußerungen führt wie etwa gegen die Wände der Box
treten? Als Verhaltenseinheit ergäbe sich dann hier die Klasse der Varianten von "Gegen-dieWand-treten", und als Verstärker die Klasse der Effekte von "Gegen-die-Wand-treten": vielleicht
der Lärm oder die Erschütterung. Und was ist, wenn der Forscher am Ende nicht den erwarteten
Operanten und die erwartete Verstärkung findet, sondern fortfährt, die Klasse der Aktivitäten
auszuweiten, bis daß er schließlich beim Ergebnis endet, daß eine Vermehrung von Aktivitäten
überhaupt vorliegt, ein Operant, dem als Klasse von Konsequenzen die allgemeine Erfahrung von
Sich-Verhalten entspricht? Was ich mit diesen zugespitzten Beispielen verdeutlichen will: eine
strikt formale Suche ohne Bezug auf die in der Situation angelegte Logik, also eine diesbezüglich
blinde Suche auf streng deskriptiver Grundlage, ist gar nicht möglich. Mit Sicherheit würde eine
solche Suche zu keiner eindeutigen Verhaltenseinheit führen. Man könnte das mit Hilfe von
Mitteln der Mengenlehre noch weiter veranschaulichen: Wie man in der Abbildung angedeutet
findet, kann man zu verschiedenen Beziehungen zwischen Klassen von Tätigkeiten und Klassen
von Konsequenzen gelangen. Aus diesen Beziehungen wiederum resultiert eine Menge statistischer
Korrelationen, denen eine Menge von Verhaltenseinheiten entspricht.
Eine Vielzahl weiterer verwickelter Fragen verbergen sich hinter Skinners Schritt von seinen
einzelnen Experimenten zu seinen wissenschaftlichen Schlußfolgerungen. Als Beispiel ein Zitat, in
dem ein angeblich unwiderlegbares Gesetz behauptet wird: "Wenn die Zahl der verstärkten
Antworten nach einem festen oder veränderlichen Zeitplan allmählich reduziert wird, läßt sich ein
Stadium erreichen, in dem man ein bestimmtes Verhalten durch eine erstaunlich niedrige Anzahl
von Verstärkungen auf unbegrenzte Zeit erhalten kann." (Skinner: Erziehung als
Verhaltensformung. München 1971, S. 145 f.). Sehen wir zunächst einmal von der Verallgemeinerung auf alle möglichen Organismen und Lernsituationen ab, die das Gesetz zu umfassen vorgibt
- ein Problem auf das wir später zurückkommen werden, und schränken wir es auf Ratten und die
Versuchsanordnung in der Skinner-Box ein. Ohne weiter auf die Besonderheiten des Gesetzes
bezüglich seines Inhalts einzugehen, stellen sich sofort zwei Fragen:
Eckart Leiser
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Erstens: Wie kann Skinner so sicher sein, daß das Verhalten der nächsten Ratte das Gesetz nicht
außer Geltung setzt, ohne auf bestimmte allgemeine Strukturen und Funktionen in der psychischen
Ausstattung von Ratten zurückzugreifen, die sich in jedem Exemplar dieser Art mit Notwendigkeit
manifestieren, oder ohne zumindest auf ein logisches Prinzip der Induktion Bezug zu nehmen, das
sich auf erkenntnistheoretische oder philosophische Gründe stützen könnte?
Wir erinnern an das Beispiel von Francis Bacon, das verdeutlicht, daß die Gültigkeit induktiver
Schlüsse keineswegs evident ist, ja daß diese sogar gefährlich sein können: Es handelt von einem
Huhn, das über eine lange Zeit hinweg und aufgrund seiner täglichen empirischen Erfahrungen zur
Überzeugung kam, daß das Geräusch des Schlüssels im Türschloß des Stalls der Versorgung mit
Futter vorausgeht, bis zu seinem letzten Tag, als der Bauer kam, um das Huhn zu schlachten.
Zweitens: Wie ist die Aufrechterhaltung eines bestimmten Verhaltens über unbegrenzte Zeit hinweg
möglich ohne die Vermittlung irgendeiner Struktur von Gedächtnis, die die früheren Erfahrungen
der Ratte festhält und ohne die entsprechende Bereitschaft, den Operanten einzusetzen? Oder sollen
wir hier irgendein magisches Kausalitätsprinzip einführen, das mit den rationalen Ansprüchen
Skinners kaum verträglich sein dürfte?
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun den praktischen Aspekten des Skinnerschen Ansatzes zu.
Der zentrale praktische Aspekt wird aus dem folgenden Zitat deutlich: "Die externen Variablen, von
denen das Verhalten eine Funktion ist, ermöglichen, was man eine kausale oder funktionale
Analyse nennen kann. Wir möchten das Verhalten des einzelnen Organismus vorhersagen und
kontrollieren. Das ist unsere "abhängige Variable" - die Wirkung, für die wir die Ursache finden
müssen. Unsere "unabhängigen Variablen" - die Ursachen des Verhaltens - sind die äußeren
Bedingungen, von denen das Verhalten eine Funktion ist. Relationen zwischen den beiden ... sind
die Gesetze einer Wissenschaft. Eine Synthese dieser Gesetze, formuliert in quantitativen Begriffen,
ergibt ein umfassendes Bild des Organismus als eines sich verhaltenden Systems." (Skinner:
Wissenschaft und menschliches Verhalten. München 1973, S. 42). Und im Hinblick auf den
praktischen Wert eines solchen Systems: "Wenn wir die Gesetze entdeckt haben, die in einem Teil
unserer Umwelt wirksam sind, und wenn wir diese Gesetze in einem System geordnet haben,
können wir diesen Teil der Welt wirksam kontrollieren. Dadurch, daß wir einen Vorgang
vorhersagen können, können wir uns auf ihn einstellen. Indem wir Bedingungen schaffen, die durch
die Regeln eines Systems bestimmt sind, sagen wir nicht nur voraus - wir steuern auch: Wir
"verursachen" einen Vorgang oder bewirken, daß er bestimmte Charakteristika annimmt." (a.a.O. S.
23). Gemäß diesem mechanischen Prozeßverständnis setzt eine Bedingungsanalyse, die die Vorhersage und Kontrolle von Ereignissen zum Ziel hat, den totalen Zugang zu allen relevanten
Variablen voraus, die auf das System Einfluß haben, und eine Vorrichtung, um diese zu erfassen.
Es ist angebracht, einige Argumente gegen eine solche Forschungsstrategie zusammenzufassen, wie
ich sie im einzelnen in meinen methodologischen Untersuchungen (Leiser 1987) herausgearbeitet
Eckart Leiser
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habe:
- Eine erste Vorbedingung für eine solche Strategie ist die Möglichkeit, den Forschungsgegenstand
von seiner Umgebung abzugrenzen oder zu isolieren (Stichwort: geschlossenes System).
- Eine zweite Vorbedingung ist die Begrenztheit der Anzahl von Variablen innerhalb dieses
geschlossenen Systems und außerdem ihre Zugänglichkeit.
- Eine dritte Vorbedingung ist die sogenannte Linearität, gemäß der sich unabhängige Variable in
ihren Effekten kombinieren. Wir haben ein sehr einfaches Beispiel im 2.Kapitel meiner
methodologischen Untersuchungen kennengelernt, das Stress-Experiment, in dem diese
Voraussetzung widerlegt wurde: derselbe Stressfaktor hatte, vormittags wirksam, einen positiven
Effekt, nachmittags dagegen einen negativen.
Sehen wir uns diese Vorbedingungen für die Voraussage und Kontrolle von Ereignissen im Fall der
Ratten in der Skinner-Box genauer an (wiederum sehen wir zunächst von den Problemen ab, die
hinzukommen, wenn man das Programm auf das natürliche Verhalten von Ratten oder gar auf
menschliches Verhalten ausdehnt):
Erstens: Weil die relevanten Variablen vorweg unbekannt sind, umsomehr im Rahmen eines
Ansatzes, der jede Theorie ausschließt und der sich strikt auf die deskriptive Ebene verpflichtet,
müssen wir davon ausgehen, daß sehr viel mehr Variablen bedeutsam sind als die in der Box selbst
wirksamen. Und unter diesen gibt es Variable, die sich grundsätzlich der Kontrolle entziehen: die
Tageszeit, die Jahreszeit, all die Rückwirkungen des Geschehens in der Umgebung der SkinnerBox.
Zweitens: Selbst innerhalb der Box reicht es nicht, das von außen beobachtbare Verhalten der Ratte
zu erfassen und die durch die Mechanismen der Box festgelegten Konsequenzen. Denn wie steht es
mit den Prozessen der Reifung und des Alterns der Ratte, deren Existenz Skinner nicht bestreitet?
Seine Antwort: "besteht nicht darin, daß diese etwa nicht existierten, sondern darin, daß sie für eine
funktionale Analyse nicht relevant sind. Wir können uns mit dem Verhalten eines Systems nicht
auseinandersetzen, wenn wir uns ganz in ihm aufhalten; wir müssen uns schließlich und endlich den
Kräften zuwenden, die auf den Organismus von außen her einwirken." (a.a.O. S. 41). Mir erscheint
diese Antwort wenig überzeugend, wie ich in Kürze darlegen werde.
Drittens: Es wäre vollkommen willkürlich, die Linearität von Effekten in der Skinner-Box
anzunehmen, d.h. also die Möglichkeit, eine Vorhersage des Verhaltens der Ratte stückweise
zusammenzusetzen auf der Grundlage der isolierten "Gesetze", die von Skinner eins nach dem
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anderen erforscht worden sind.
Darüber hinaus stellt sich als weitere Frage die Durchführbarkeit des zitierten Skinnerschen
Programms: Was geschieht mit den vielen Konsequenzen von Tätigkeiten, die nicht zur Logik der
entsprechenden Versuchsanordnung gehören? Einige ausgewählte Kenngrößen eines Systems
kontrollieren, die von anderen ausgewählten Kenngrößen seiner Umwelt abhängen, ist weit davon
entfernt, das System insgesamt zu kontrollieren. Und selbst dieser Erfolg könnte sich mit der
extremen Reduktion und Abstraktion erklären, die die Umwelt der Skinner-Box kennzeichnen.
Und ein letzter Grund, dieses Programm in Zweifel zu ziehen: Da nach Skinner das Verhalten der
Ratte, eines Organismus, nicht nur durch aktuelle Bedingungen determiniert ist, sondern außerdem
durch zurückliegende Bedingungen, nämlich in der Skinnerschen Terminologie durch ihre
Kontingenz-Geschichte, genügt es nicht, die Erfassung und Kontrolle während der experimentellen
Sitzungen durchzuführen, sondern es wäre nötig, sie in Richtung auf eine lückenlose Erfassung und
Kontrolle auszudehnen, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod, 24 Stunden am Tag. Da eine solche
Erfassung und Kontrolle nicht ohne weiteres durchführbar ist, nicht einmal im Fall von Ratten, muß
man schon aus diesem Grund allein dem Skinnerschen Versprechen bezüglich des praktischen
Nutzens des "operanten Konditionierens" ein wenig mißtrauen, behauptet er doch, "die operante
Konditionierung formt Verhalten, wie ein Bildhauer einen Klumpen Lehm formt." (a.a.O. S. 93).
Es versteht sich, daß eine Bewertung der Skinnerschen Ansprüche eine sehr viel tiefergehende
Analyse erfordert, zu deren Zweck wir uns auf seine Grundlagen, den kategorialen Rahmen, die
Logik seiner Argumentation und auf sein historisches Umfeld einlassen müssen. Das Ziel dieses
ersten Schritts war, uns dem Skinnerschen Ansatz zunächst auf möglichst konkrete Weise zu
nähern: indem wir die Skinner-Box betrachten, die den Ausgangspunkt und Kernpunkt seiner
experimentellen Praxis bildet, verfügen wir über ein Muster seiner Grundbegriffe und über den
Kontext, von dem viele seiner konzeptuellen Verallgemeinerungen ausgehen. Alles das haben wir
in einem bewußt naiven Zustand unternommen, ohne die Behinderungen und Befangenheiten, die
ein schon ausgearbeitetes Schema mit sich bringt, mit dem die zur Diskussion stehenden
Phänomene wahrgenommen und interpretiert werden. Aber schon dieser naive Blick erbrachte
einige Ergebnisse, die es sich für das Folgende festzuhalten lohnt:
- Bisher bleibt eine erhebliche Lücke zwischen dem konkreten Geschehen in der Skinner-Box und
den konzeptuellen Verallgemeinerungen Skinners
- Es ist ziemlich zweifelhaft, daß man zu diesen Verallgemeinerungen auf einer streng deskriptiven
Grundlage gelangen kann.
- Es bleibt bisher wenig einleuchtend, wie Willkürlichkeiten beim Definieren der Verhaltenseinheit
vermieden werden können.
- Es bleibt ziemlich uneinsichtig, wie man ohne die Berücksichtigung innerer Zustände des
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Organismus auskommen kann, insbesondere wenn es um langfristige Effekte des Lernprozesses
geht.
- Es ist selbst im Fall der Ratte ziemlich zweifelhaft, daß eine totale Erfassung und Kontrolle aller
relevanten Variablen durchführbar ist, wie sie das Vorhersagen, Kontrollieren und Verändern von
Verhalten in einem nicht nur oberflächlichen Sinn erfordert.
Im nächsten Kapitel werden wir uns mit einigen Argumenten beschäftigen, die Skinner beim
Begründen seines Konzepts und seiner Ansprüche vorbringt.
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Kapitel 2:
Wie Skinner sein Konzept und seine Ansprüche begründet
Skinner beklagt sich in seinem Buch "Jenseits von Freiheit und Würde" (1973) darüber, daß die
westliche Kultur sich selbst Fesseln angelegt hat, indem sie sich bezüglich ihres Umgangs mit dem
Menschen an ein Tabu klammert. Das liegt an einem Menschenbild, das in einer mentalistischen
Tradition verwurzelt ist. Aufgrund dieser Tradition konnten bisher die in den Naturwissenschaften
liegenden Möglichkeiten nicht für die Lösung sozialer Probleme genutzt werden, die sich in unserer
westlichen Welt ständig verschärfen. Nach Skinner schließt diese mentalistische Tradition einen
Kult über die Sonderstellung des Menschen in der Welt ein, insbesondere über seine Freiheit und
Würde. Indem er auf die Auffassung vom Leben im allgemeinen ausstrahlt, schreibt der
Mentalismus den Organismen insgesamt bestimmte Eigenschaften zu, die die physikalische Welt
überschreiten: das Psychische. Auf diese Weise ist die konsequente Anwendung der Kategorien und
Methoden der klassischen Physik auf soziale Probleme bis heute durch den Mentalismus verhindert
worden, so erfolgreich diese in den Naturwissenschaften sind und so viele Fortschritte bei der
Organisierung unseres modernen Lebens sie auch gebracht haben. Die erste Aufgabe einer
modernen Psychologie besteht nach Ansicht Skinners darin, mit dem Mentalismus ein für alle mal
Schluß zu machen und eine Technologie des menschlichen Verhaltens zu entwickeln, die den von
den Ingenieurwissenschaften entwickelten Technologien entspricht. Seine Experimente mit der
Skinner-Box haben unter Beweis gestellt, daß eine solche Technologie des Verhaltens erreichbar
ist. Alles das wohlgemerkt nach der Interpretation Skinners.
Im Gegensatz zu anderen Kritikern des Mentalismus innerhalb der Wissenschaften wie etwa den
Repräsentanten des Funktionalismus (James, Dewey, Angell), des Operationalismus (Bridgman,
Hempel), des vom "Wiener Kreis" vertretenen logischen Empirismus (Carnap, Hahn, Wittgenstein,
Reichenbach, Schlick) und des Behaviorismus allgemein (Watson, Thorndike, Tolman, Hull), ist
Skinner nicht damit zufrieden, die mentalen Phänomene und Konstrukte in beobachtbaren Daten
der von außen zugänglichen Realität zu verankern. Vielmehr fordert er die Abschaffung mentaler
Phänomene als zulässige Gegenstände von Wissenschaft und die Abschaffung aller
wissenschaftlichen Begriffe, die irgendeinen Bezug auf mentale Gegebenheiten nehmen. Indem er
diesen Gedanken in Richtung auf Systeme überhaupt verallgemeinert, kommt Skinner zu dem
Vorschlag, daß jede wissenschaftliche Untersuchung sich auf das Beschreiben derartiger Systeme
beschränken sollte, und zwar mittels Beziehungen zwischen äußeren Variablen ihres "Verhaltens"
und den äußeren Bedingungen ihrer Umgebung. Die Beschreibung derartiger Beziehungen sollte
lediglich von physikalischen Begriffen Gebrauch machen wie Zeit, Länge, Masse und Häufigkeit
von Ereignissen. Vielleicht erkennt der eine oder andere, daß es sich hier um die Betrachtungsweise
des "black box" -Konzepts handelt.
Wohlgemerkt folgt dieses "black box"-Konzept nicht zwingend aus der Kritik des Mentalismus.
Denn auch das Bestreiten des Psychischen rechtfertigt noch keineswegs die Abschaffung "innerer
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Zustände" überhaupt. Umgekehrt wird niemand leugnen können, daß es "innere Zustände" sehr
realer, ja sogar physikalischer Natur, gibt. Nehmen wir als Beispiel ein Auto! Als System betrachtet
und unter dem Gesichtspunkt des strengen "black box"-Konzepts dürfte das Innere eines Autos insbesondere sein Motor und die übrige technische Ausstattung - bei einer Untersuchung seines
Verhaltens kein legitimer Gegenstand sein. Nimmt man noch den Fahrer als weiteren Teil des
Inneren hinzu, springen die absurden Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise ins Auge:
Eine Untersuchung im strengen Sinn des "black box"-Konzepts müßte von allen wesentlichen
Charakteristiken des Systems absehen: von den Manipulationen des Fahrers, die mit seiner
Fahrtechnik zu tun haben, aber selbst wenn man den Fahrer ausklammert, also feste Einstellungen
bezüglich des Gashebels, des eingelegten Gangs usw. unterstellt, von der Kenntnis all dieser
Faktoren. Es wird nicht einfach sein, das Verhalten eines Autos unter solchen Bedingungen
vorherzusagen oder zu kontrollieren. Man stelle sich etwa vor, daß man ein solches Auto
untersucht, bei dem einmal der erste, ein anderes Mal der zweite Gang eingelegt ist: Man würde zu
vollständig verschiedenen Beschreibungen hinsichtlich des gleichen Systems gelangen.
Die Notwendigkeit, innere Zustände im Fall von Organismen einzubeziehen, ist ebenfalls
offensichtlich, insoweit es sich um ihr vegetatives Verhalten handelt: etwa um ihre Reaktion auf
Veränderungen der Außentemperatur, auf Verabreichungen von Pharmaka usw. Auf die
Humanmedizin übertragen: Wie absurd, sich eine solche Medizin in den Händen von Anhängern
der "black box" vorzustellen, die es ablehnen, die inneren Funktionen und Strukturen zu
untersuchen, die für die von außen zugänglichen Variablen verantwortlich sind, und damit etwa
außer acht zu lassen, daß das von außen gemessene Fieber auf eine innere Reaktion des Organismus
z.B. bei der Abwehr von Infektionen zurückgeht, usw. usf.!
Leider erschwert die Abschaffung innerer Zustände überhaupt, auf die die Vorstellung von "black
box" nach der Art von Skinner hinausläuft, erheblich die Abgrenzung des speziellen Problems
"mentaler Zustände" und die Bewertung seiner Argumente gegen den "Mentalismus". Jedenfalls ist
Skinner in seiner Abneigung gegen "mentale Zustände" wirklich radikal bis zu dem Punkt, daß er
auch noch gleich mit den "mentalen Zuständen" des Wissenschaftlers selbst aufräumt, d.h. mit
dessen theoriebildenden Tätigkeiten. Nach seiner Ansicht sind diese Tätigkeiten ebenfalls unnütz
und lenken darüber hinaus lediglich von den praktischen Zielen ab, nämlich die Beziehungen
zwischen den äußeren Reizen und den Reaktionen des Systems herauszuarbeiten, die die
Vorhersage und Kontrolle von dessen Verhalten ermöglichen. Auf die Psychologie angewendet
bedeutet sein "Anti-Theorismus", daß selbst eine Theorie, die sich auf die äußeren Variablen
beschränkt und auf ein Ordnen und Systematisieren etwa von Lernkurven zielt (zwischen der Reaktionshäufigkeit einerseits und Verstärkungsplänen andererseits), mit seinem Konzept nicht zu vereinbaren wäre. Erst recht weist er die Einführung von sogenannten "intervenierenden Variablen"
zurück, also von vermittelnden Variablen, die formal theoretische Konstrukte bezüglich "innerer
Zustände" ersetzen könnten, die das "black box"-Konzept ja ausschließt.
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Aus mathematischer Sicht ist ein solcher Rigorismus erstaunlich, denn selbst auf rein abstrakter
Ebene kann das Zurückführen einer verwickelten Formel auf eine Kette von Komponenten, von
denen eine auf der anderen aufbaut, oft einen ökonomischen Wert haben. Nehmen wir
beispielsweise die Formel für die statistische Korrelation:
als Substitutionen ist ökonomischer als die direkte Formel:
und hat außerdem einen heuristischen Aussagewert. Aber ein heuristisches Moment, so formal es
auch sei, könnte zu theoretischen Betrachtungen anregen und diese ihrerseits Überlegungen zur
Existenz "mentaler Zustände". Und die Besessenheit Skinners angesichts der Gefahr, die von
"mentalen Zuständen" ausgeht, scheint so tief zu gehen, daß er sich lieber in ein endgültiges Verbot
"intervenierender Variablen" flüchtet.
Allgemeiner betrachtet bleibt auch für einen Anhänger der "black box" das Problem, zumindest
formal gewisse Übertragungsstationen in der zwischen Ursachen und Wirkungen liegenden Kette,
die man sich nach diesem mechanischen Prozeßverständnis vorzustellen hat, in Betracht zu ziehen.
Denn selbst wenn ich es ablehne, mich auf das Innere eines Organismus einzulassen, ändert das
nichts daran, daß der Organismus ein Transformationsglied auf dem Weg von den Reizen zu den
Reaktionen ist. Nimmt man für diese Station das Symbol "O", für den Reiz das Symbol "S" und für
die Reaktion das Symbol "R", so haben wir die dreigliedrige Kette S -» O -» R. Deuten wir die
Transformationen in jeder Station dieser Kette mittels mathematischer Funktionen an, hätten wir in
einem ersten Schritt die Umformung des Reizes S in eine Empfindungsvariable E des Organismus:
E = f1(S), und in einem zweiten Schritt die Umformung der Empfindungsvariablen E in die
Reaktion des Organismus: R = f2(E). Selbstverständlich ergibt sich, setzt man die eine Funktion in
die andere ein, eine direkte Beziehung zwischen dem Reiz und der Reaktion:
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R = f2(E) = f2(f1(S)) = f(S)
Wie man aus dieser sehr vereinfachten Andeutung der besagten Kette entnehmen kann, ist es in
erster Linie eine praktische Frage, ob man diese direkte Beziehung in solche Komponenten zerlegt
und dabei vielleicht in diesen Komponenten liegende ökonomische und heuristische Vorteile
ausnutzt, oder ob man eine Gesamtformel bevorzugt.
Aber an diesem Punkt spricht Skinner sein definitives Verbot aus: Eine solche Zerlegung ist nicht
zulässig. Prinzipiell und in allen Fällen sind direkte Beziehungen aufzustellen. Wie es scheint, ist
dieses Verbot selbst eine behavioristische Maßnahme, nur leider eine Verbotsmaßnahme, die auf
der Angst vor den Konsequenzen gründet, und nicht eine mit Belohnung arbeitende Maßnahme, die
auf überzeugenden Argumenten bezüglich ihrer Vorteile gründet. Und im übrigen steht eine solche
Verbotsmaßnahme im Widerspruch zu den behavioristischen Regeln Skinners. Anscheinend hat
seine Angst mit der Dynamik zu tun, die sich entfesseln könnte, wenn man erst einmal die Existenz
des Organismus und seine konkreten Strukturen und Funktionen zur Kenntnis nimmt, als eigenständiges Glied auf dem Weg von den Ursachen zu den Wirkungen, eine Dynamik, die unversehens zu
einer Aufweichung der Postulate seines radikalen Behaviorismus führen könnte.
Noch konkreter könnte jemandem einfallen, über den Mangel an Übereinstimmung zwischen den
obengenannten Formeln und dem wirklichen Verhalten des Organismus nachzugrübeln. Beim
Untersuchen der Komponenten E = f1(S) und R = f2(E) könnte er in Betracht ziehen, daß die
Funktionen f1 und f2 keinen unveränderlichen Charakter haben müssen, sondern außerdem von
inneren Variablen abhängen, die von außen nicht kontrollierbar sind: beispielsweise physiologische
oder Stoffwechselrhythmen, der Hormonspiegel oder, näher an der Psychologie: die Triebintensität,
der motivationale oder emotionale Zustand usw. In wenigen Worten: jemand könnte schließlich und
endlich akzeptieren, daß der Organismus Eigenschaften hat, die nicht auf die aktuellen äußeren
Bedingungen zurückführbar sind, ja daß es möglicherweise sogar einen Spielraum autonomer
Prozesse gibt. Wieder mit Hilfe der Funktionen f 1 und f2 angedeutet, könnte der Gedanke zur
Einführung zusätzlicher innerer Variablen I1, I2, I3, I4, I5 usw. führen, zu physiologischen,
stoffwechselspezifischen, hormonalen, motivationalen, emotionalen usw. Variablen, was vielleicht
schließlich bei zwei revidierten Funktionen enden würde:
E = f1(S,I1,I2,I3,I4,I5)
sowie
R = f2(E,I1,I2,I3,I4,I5) .
Es ist dies eine Dynamik, die geradewegs zu den Konzepten des "Neo-Behaviorismus", etwa dem
von Hull, führt, in denen die intervenierenden Variablen I1,I2,I3,I4,I5 nicht mehr lediglich eine
Eckart Leiser
Behaviorismus
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formale, sondern eine theoretische Rolle spielen. Und diese Gefahr, daß die Dynamik der
intervenierenden Variablen sein antitheoretisches Konzept aus den Angeln hebt, beunruhigt Skinner
offensichtlich.
Nebenbei bemerkt, unterscheidet sich Skinner hinsichtlich dieser Angst eindeutig von den
Schöpfern des "black box"-Konzepts. Für diese war der Versuch, die Funktionsweise von Systemen
von außen zu beschreiben, unter der Annahme, daß das Innere solcher Systeme nicht zugänglich ist,
mehr ein erkenntnistheoretisches oder methodologisches Spiel. Das besagt, daß das "black box"Konzept keinesfalls die dogmatische Leugnung eines Inneren, wie sie Skinner vornimmt, einschließt, sondern lediglich die Ablehnung, sich mit diesem zu beschäftigen. Vielmehr bestand die
Idee darin, die Funktionen in diesem Inneren durch mathematische Funktionen zu ersetzen, ja sogar
soweit nützlich verschiedene innere Umformungsglieder mittels entsprechender mathematischer
Module darzustellen, womit wir geradewegs bei den sogenannten "intervenierenden Variablen"
sind.
Zusammengefaßt, stellt nach Ansicht Skinners der Organismus einen Hohlkörper dar, der alle seine
Eigenschaften auf seiner Oberfläche trägt. Psychologisch betrachtet bestehen diese Eigenschaften
im wesentlichen aus mehr oder weniger direkten mechanischen Schaltungen, die Reize in
Reaktionen übersetzen. Rätselhafterweise erfordert die Geschichte des Organismus, insbesondere
die Geschichte seiner Kontingenzen, die ja sein aktuelles Verhalten bestimmt und sich in den
Lernkurven darstellt, auf dieser Körperoberfläche keine eigene Repräsentanz, um sich auf diese
Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen auszuwirken. Eine derartige Repräsentanz würde
ja auf so etwas wie ein Gedächtnis hinauslaufen, das unter die intervenierenden Variablen fallen
würde, gegen die Skinner das besagte Verbot verhängt hat. Mithin scheint es so etwas wie eine
unmittelbare Wirkung der Geschichte des Organismus auf sein aktuelles Verhalten zu geben.
Während die Geschichte der Verstärkungen zumindest diese Art von Wirkung hat, nämlich einen
Zunahmeeffekt auf die Häufigkeit eines Operanten auf dem Weg gewisser unmittelbarer
Rückwirkungen, bleibt für die Geschichte der Bestrafungen nicht einmal diese Art von Wirkungen:
Eine Strafe bewirkt nach Ansicht Skinners im wesentlichen eine vorübergehende Blockierung einer
Tätigkeit, die von unangenehmen Zuständen begleitet ist. Nebenbei bemerkt sind diese fehlenden
langfristiger Wirkungen auf das Verhalten das Hauptargument Skinners für eine Bevorzugung von
Verstärkungen, die auf gewünschte Verhaltensäußerungen zielen, und keineswegs die ethischen
Aspekte.
Wohlgemerkt haben alle bisher angestellten Überlegungen nicht viel mit den wirklichen Beiträgen
des Behaviorismus bei der Entwicklung von Formeln zu tun, die funktionale Beziehungen zwischen
irgendwelchen Umweltvariablen und Verhaltensvariablen des Organismus beschreiben. Denn
weder Skinner noch Hull (und genauso wenig Tolman, mit dem wir uns später beschäftigen
werden) sind schließlich zu solchen Formeln von einem gewissen Erklärungswert gelangt. Skinner
hat das, wie schon früher gesagt, nicht einmal versucht.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 15
Was Skinner angeht, hängt seine Polemik gegen die intervenierenden Variablen wie es scheint mit
einer Verteidigung seines Programms des "Physikalismus" zu tun, dem er sich zu Beginn seiner
wissenschaftlichen Laufbahn verschrieben hatte. Der "Physikalismus" ging vom obengenannten
"Wiener Kreis" aus, einer Strömung der Wissenschaftstheorie, die sich die Reinigung der
Wissenschaften von metaphysischen Argumenten und Begriffen zum Ziel gesetzt hatte, und diese
statt dessen auf einer möglichst logischen und empirischen Basis aufbauen wollte. Ihr Ziel war
allerdings nicht die Abschaffung theoretischer Begriffe, sondern die eindeutige Bestimmung,
Klärung und Kommunikation solcher theoretischen Begriffe. Ein Vorschlag in diesem
Zusammenhang, von Carnap und Neurath formuliert, lief auf die Verankerung solcher Begriffe in
physikalischen Tatsachen hinaus. Im Hinblick auf den wissenschaftlichen Diskurs war es die Idee
einer physikalistischen Sprache, in die man jeden theoretischen Streit nötigenfalls übersetzen
könnte. Dieser "Physikalismus" hatte als mehr oder weniger naive psychologische Voraussetzung,
daß die Welt der Erfahrungen in letzte physikalische Tatsachen zerlegbar ist, die eine
unumstößliche Evidenz und Überzeugungskraft haben. Diese psychologische Naivität bei den
Physikalisten des "Wiener Kreises" ist nicht weiter verwunderlich, kamen sie doch aus den
klassischen Wissenschaften, für die ihr Vorschlag auch in erster Linie gedacht war. Angesichts der
heute vorliegenden empirischen Evidenz und theoretischen Konzepte (genannt sei nur Piaget oder
die Gestaltpsychologie) ist eine solche Vorstellung von der Zerlegbarkeit kognitiver Prozesse
allerdings nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Das Neue des Skinnerschen Programms bestand darin, sich nicht nur - wie andere Behavioristen
auch - den Vorschlag des Physikalismus im Hinblick auf sein Konzept von Psychologie zu eigen zu
machen, sondern gleichzeitig das eigentliche Ziel des Physikalismus zu liquidieren, nämlich
Fortschritte bei der Konstruktion und Bewertung von Theorien zu ermöglichen. Zu diesem
Standpunkt Skinners ein Zitat: "Sobald wir die praktische Kontrolle über den Organismus erreicht
haben, werden Theorien über Verhalten ohne Daseinsberechtigung sein. Wenn wir die relevanten
Variablen darstellen und steuern, erweist sich ein theoretisches Modell als unnütz, statt dessen
haben wir uns mit dem Verhalten selbst zu befassen. Sofern sich eine Ordnung und Konsistenz des
Verhaltens zeigt, werden wir es mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit weiterhin mit physiologischen
oder mentalistischen Ursachen zu tun haben. Eine Tatsache kommt ans Licht, die an die Stelle eines
theoretischen Hirngespinstes tritt." (Skinner: A case history in scientific method. In: S. Koch (Hsg.):
Psychology: a study of a science II. 1959, S. 375). Und was seine eigene Methode betrifft: "... kann
man das formulierte System auf folgende Weise kennzeichnen. Es ist positivistisch. Es ist mehr der
Beschreibung als der Erklärung verpflichtet. Seine Begriffe sind durch Ausdrücke der unmittelbaren
Beobachtung definiert, und ihnen werden keine lokalen oder physiologischen Charakteristiken
zugeschrieben ... Mit solchen Begriffen werden lediglich Gruppen von Beobachtungen
zusammengefaßt, Regelmäßigkeiten festgestellt und Eigenschaften des Verhaltens ausgedrückt. Es
handelt sich nicht um Hypothesen im Sinn von Dingen, die man beweisen oder widerlegen muß,
sondern um handhabbare Darstellungen schon bekannter Dinge. Was Hypothesen betrifft, benötigt
man sie nicht mehr in diesem System - jedenfalls nicht mehr im gewohnten Sinn." (Skinner: The
Eckart Leiser
Behaviorismus
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behavior of organisms. 1938, S. 44).
Zusammengefaßt, ist es wohl so, daß Skinner sich einiger Gedanken des Physikalismus bedient,
ohne allerdings dessen ursprüngliche theoretische Ziele beizubehalten. An dessen Stelle führt er
einen besonderen Empirismus ein, der eine etwas paradoxe Einfärbung hat: einerseits besteht seine
Realität aus vollständig erfahrbaren und handhabbaren Gegebenheiten, andererseits hat sie einen
vollständig abstrakten, entleerten und oberflächlichen Charakter, indem sie sich sauber in Reize,
Reaktionen, Kontingenzen, Häufigkeiten von Operanten usw. aufteilt. Der hinter seinem
Empirismus stehende Realismus ist ein subjektiver Realismus, gerichtet auf eine Wirklichkeit, die
durch die Wahrnehmungsempfindungen, die Operationen und die Versuchsanordnungen des
Forschers bestimmt ist. Diese Wirklichkeitsauffassung geht auf Ernst Mach (1838-1916) zurück,
einen Philosophen, der den Versuch machte, die Philosophie und Erkenntnistheorie auf den unmittelbaren Empfindungen und Erfahrungen des Subjekts aufzubauen. Skinner stellt sogar einen
ausdrücklichen Bezug zu Mach her, wie ein Zitat verdeutlicht, in dem er betont, daß er
übereinstimmt mit "jener bescheideneren Auffassung von Erklärung und Verursachung, die wie es
scheint zum ersten Mal von Mach vorgeschlagen worden ist ... (nach der, E.L.) Erklärung sich auf
Beschreibung beschränkt und der Begriff der Funktion den der Verursachung ersetzt. Von einer
vollständigen Beschreibung eines Ereignisses ist zu erwarten, daß sie eine Beschreibung seiner
funktionalen Beziehung zu vorangehenden Ereignissen einschließt." (Skinner: The concept of the
reflex in the description of behavior. In: J. Gen. Psychology 5, 1931, S. 440). Nebenbei bemerkt hat
Lenin, in seinem Werk "Materialismus und Empiriokritizismus", eine sehr detaillierte Untersuchung
der Position Machs durchgeführt.
Der "Deskriptivismus" und "Physikalismus" Skinners führt auf zumindest zwei Probleme.
Das erste schon erwähnte Problem ist die klassische Frage, wie ich zu irgendeiner
Verallgemeinerung beispielsweise in der Form funktionaler Beziehungen auf der Grundlage reiner
Beschreibungen gelangen will, wenn ich nicht ein vollkommen unempirisches Prinzip einführe, das
Prinzip nämlich, daß die ganze Welt von allgemeinen Gesetzen beherrscht wird, die unmittelbar in
den empirischen Phänomenen in Erscheinung treten und sich direkt auf der Ebene von
Empfindungen und Beobachtungen widerspiegeln. Mit Sicherheit ist dieses Prinzip selbst nicht
beobachtbar. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es sich bei diesem Prinzip nicht um einen
inneren Zustand größter Reichweite handelt. Leider sagt Skinner nichts, was geeignet sein könnte,
seine diesbezügliche Position zu erhellen.
Das zweite Problem, den Skinnerschen "Physikalismus" betreffend, läuft auf die Frage hinaus, wie
man eine mit seinen Abstraktionen in Form von Reizen, Reaktionen, Kontingenzen usw.
verträgliche Realität modellieren kann, eine Realität, an deren Oberfläche alles offenliegt, die
vollständig manipulierbar und kontrollierbar ist. Skinner kommt das Verdienst zu, das mit Hilfe
seiner Skinner-Box erreicht zu haben. Etwas vorsichtiger formuliert ist es Skinner zumindest
Eckart Leiser
Behaviorismus
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gelungen, eine Welt zu schaffen, die alle seine physikalistischen Interpretationen in bezug auf einen
Organismus zuläßt (und teilweise gegen ihn durchsetzt) ohne auf Widrigkeiten zu stoßen. Hierzu
trägt zumindest teilweise seine Wahrnehmung und abstrakte Begrifflichkeit bei, die es erlauben, alle
Anzeichen zu verdrängen, die gegen seine Interpretationen sprechen (wie als Beispiel für die
Lernkurven in Abschnitt 5
meiner methodologischen Untersuchungen [Leiser 1987] vorgeführt). Wir wollen deshalb hier
zunächst offenlassen, in welchem Maß dieser Erfolg auf Willkürlichkeiten der Interpretation zurückgeht, in welchem Maß auf den Spielraum beim Deformieren eines Organismus, und in
welchem Maß gar auf eine strategische Anpassung des Organismus an die Skinnerschen
Versuchsanordnungen.
Wie dem auch sei: aus pragmatischer Sicht kann man die Skinner-Box als eine Materialisation
seines Physikalismus-Verständnisses bezeichnen. Damit haben sein wissenschaftliches Programm
und im weiteren sein spezieller Behaviorismus eine materielle Basis. Auf diese Basis kann sich zum
einen seine allgemeine Überzeugung der Manipulierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Wirklichkeit
stützen. Zum andern bietet diese Basis eine unerschöpfliche Quelle von Verallgemeinerungen in
bezug auf das Verhalten von Organismen. Denn schon allein die Technologie der Skinner-Box
ermöglicht unzählige Versuchsanordnungen und Variationen:
Unmittelbare Verstärkungen, verzögerte Verstärkungen, regelmäßige Verstärkungen, periodische
Verstärkungen, zufällig verteilte Verstärkungen, positive Verstärkungen, negative Verstärkungen,
und das Gleiche in bezug auf Bestrafungen usw. usf. Und jede Kurve entspricht einer
gesetzmäßigen Beziehung. Es liegt wahrscheinlich an diesem Überfluß an Ergebnissen, auch wenn
sie nur von Ratten und Tauben stammen, allesamt geradewegs verallgemeinert und interpretiert,
ohne die Widrigkeiten, die beim Vermitteln der Ergebnisse mit einer Theorie entstehen, daß der
Skinnersche Ansatz eine solche Popularität erreicht hat, im Unterschied zu anderen theorieorientierten Ansätzen wie dem von Hull, der an seinen theoretischen Ansprüchen gescheitert ist.
Darüber hinaus begünstigt das Fehlen theoretischer Ansprüche im Fall Skinners eine Extrapolation
der mit der Skinner-Box gewonnenen Ergebnisse auf das menschliche Individuum und sogar auf die
menschliche Gesellschaft hin. Denn als Hohlkörper betrachtet, der an seiner Oberfläche mit
mechanischen Schaltungen ausgestattet ist, hört der Unterschied zwischen einem Menschen und
einer Ratte auf, ein qualitativer zu sein und nimmt einen hochgradig quantitativen Charakter an: der
Mensch hat einige Schaltungen mehr, die aus etwas komplizierteren Mechanismen bestehen.
Bleibt das Problem, eine Umwelt zu konstruieren, die der der Skinner-Box entspricht, und dieses
stellt sich als etwas verwickelt dar, weil dieses Mal der Konstrukteur bzw. Manipulator der SkinnerBox und deren Insasse zur gleichen Spezies gehören, und die Zuweisung der beiden Rollen als
zunächst ziemlich willkürlich erscheint. Hier gibt es zwei Lösungen des Problems. Entweder man
nutzt die natürliche Hierarchie unter den Menschen aus, überträgt also die Rolle des Konstrukteurs
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 18
bzw. Manipulators den für Verhaltensprobleme zuständigen Personen, somit also den Psychologen,
oder aber man bringt die Betroffenen dazu, freiwillig die Rolle des "Insassen" zu übernehmen. Aber
da auch nach dieser Rollenzuweisung die Welt der betroffenen "Insassen" nicht aufhört, sich vom
physikalistischen Modell sehr zu unterscheiden und voll von nicht kontrollierbaren Bedingungen
bleibt, setzt das Skinnersche Konzept letztlich die Bereitschaft des Menschen voraus, seine
behavioristische Welt selbst zu organisieren oder zumindest an deren Organisation teilzunehmen.
Ein Beispiel dafür ist die therapeutische Technik der Selbstkontrolle, ein anderes Beispiel die
Übernahme der Verhaltensregeln beim Eintritt in eine behavioristisch verfaßte Gemeinschaft, wie
sie von Skinner in seinem Roman "Futurum II" skizziert wird. Natürlich stellt uns diese Fähigkeit
des Menschen, sich einerseits freiwillig einem Regime der Selbstkontrolle zu unterwerfen,
andererseits für seine Mitmenschen nach seinem Geschmack Systeme zu deren Kontrolle zu konstruieren, und alles das im Rahmen eines physikalistischen Konzepts, vor einige Rätsel, auf die wir
im folgenden zurückkommen werden.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Kapitel 3:
Die Defizite und Widersprüche im Ansatz Skinners
Als Einführung ins Thema soll das Phänomen dienen, daß Skinner Bücher produziert, voll mit
Argumentationen, Reflexionen und Schlußfolgerungen, und daß sich diese Bücher an Leser richten,
die fähig sind, alles das in sich aufzunehmen. Die Frage drängt sich uns auf, wie die Existenz und
die Funktion derartiger Texte innerhalb der behavioristischen Logik faßbar sein soll. Scheint es
doch ein großer Schritt zu sein von der Situation einer Skinner-Box, in der die Ratte einen Knopf zu
drücken lernt mittels Verabreichung von Futter, zu einer Situation, in der Herr Skinner einen
wissenschaftlichen Text schreibt mit dem Ziel, daß andere Leute ihn später lesen.
Lassen wir zunächst einmal die Frage beiseite, aufgrund welcher Kontingenzen sich diese
Gewohnheit gebildet hat, wissenschaftliche Texte zu schreiben, und beschränken wir uns auf die
anscheinend einfachere Frage nach der Funktion solcher Texte innerhalb einer durch die
behavioristischen Prinzipien bestimmten Welt. Um welches Ziel auch immer im Hinblick auf seine
Zeitgenossen es sich bei Skinner handeln mag: es muß sich wohl darum handeln, irgendeinen
Einfluß auf deren Verhalten auszuüben. Aber wieso vertraut Skinner auf so dunkle Vorgänge wie
ein Buch lesen, statt daß er direktere Kontingenzen und greifbarere Verstärker einsetzt, um seine
Vorstellungen durchzusetzen, in Übereinstimmung mit seiner antimentalistischen Position und
seiner Betonung unmittelbarer Beziehungen? Nun gut, Skinner hat sich hier anders entschieden
ohne das zu erklären. Aber selbst das einmal gegeben, ist die Mühe nicht überflüssig, die besagte
Situation, nämlich das Lesen eines behavioristischen Buchs, in die behavioristische Terminologie
zu übersetzen.
Ein Versuch in dieser Richtung stammt von Noam Chomsky. Seine Argumentation ist zwar ein
wenig verwickelt, aber strikt auf der Logik von Skinner aufgebaut. In seinem Aufsatz "Psychologie
und Ideologie " (Cognition 1, 1972, S. 11-46) untersucht er die Funktion des Buches "Jenseits von
Freiheit und Würde". Zunächst gelangt er zu dem Schluß, daß der plausibelste Grund, ein
behavioristisches Buch zu schreiben, eigentlich in seiner Verstärkungswirkung im Hinblick auf ein
gewünschtes Verhalten bestehen müßte: "Ein Buch lesen kann also das Verhalten nicht ändern, es
sei denn, daß es sich um einen Verstärker handelt, d.h. also, wenn "das Buch lesen" die
Wahrscheinlichkeit des Verhaltens erhöht, die zum Lesen des Buchs geführt hat (einen geeigneten
Zustand des Mangels unterstellt). Sicher würde Skinner argumentieren, daß "das Buch lesen" oder
vielleicht das Buch selbst einen Verstärker in irgendeinem anderen Sinn darstellt. Er will uns mit
dem Buch zu etwas überreden oder von etwas überzeugen, und es überrascht nicht, daß er auf die
Überredung als eine wenn auch schwache und weniger wirksame Form der Verhaltenskontrolle
Bezug nimmt. Skinner hofft also, uns zu überreden, um für die Verhaltenstechnologen einen
erweiterten Spielraum zu schaffen, und offensichtlich glaubt er, daß "das Buch lesen" die
Wahrscheinlichkeit erhöhen wird, daß wir uns auf eine Weise verhalten, die jenen einen erweiterten
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 20
Spielraum (oder Freiheit?) einräumt. Auf diese Weise verstärkt "das Buch lesen" dieses Verhalten,
wird er behaupten. Es wird unser Verhalten bezüglich der Verhaltenswissenschaft verändern. Wir
werden jetzt das Problem untersuchen, wie die Redeweise "das Verhalten, das zu einem erweiterten
Spielraum für die Verhaltenstechnologen führt", etwas genauer spezifiziert werden kann, eine
innerhalb seiner Terminologie nicht durchführbare Aufgabe, und den Anspruch untersuchen, daß
"das Buch lesen" ein solches Verhalten verstärkt. Unglücklicherweise ist dieser Anspruch falsch,
wenn wir den Begriff "Verstärker" in irgendeiner seinem technischen Sinn entsprechenden Weise
verwenden. Wenn wir uns daran erinnern, daß "das Buch lesen" das gewünschte Verhalten nur dann
verstärkt, wenn jenes seine Konsequenz von ebendiesen ist, so ist offensichtlich das Verhalten, das
zum Lesen des Skinnerschen Buchs führt (und durch dieses also verstärkt werden kann), nicht
damit identisch, sein Schicksal in die Hände der Technologen zu legen. Wenn wir diese
Feststellungen zusammenfügen, sehen wir, daß "das Buch lesen" oder "das Buch schreiben" wie
Skinner erst dann einen Sinn macht, wenn wir das Anliegen des Buchs von der
"Verhaltenswissenschaft" trennen, in der es angeblich seine Grundlage hat." (a.a.O. S. 21-22).
Chomsky fährt fort damit zu zeigen, daß die von Skinner unterstellte "Überredung", mit der er den
Sinn seiner Bücher rechtfertigen kann, in keinerlei Zusammenhang steht mit seinem Konzept von
Kontingenzen, Verstärkern und Operanten, das das ständige Thema der gleichen Bücher bildet, es
sei denn, daß man seine Begriffe zu reinen Metaphern hin aufweicht. Verfährt man aber derart,
müßte man sich andererseits damit abfinden, daß seine Bücher den letzten Rest an Überzeugungskraft/ Überredungswert verlieren würden, denn dieselben Metaphern wären auf ein
gegenteiliges Buch anwendbar: eine Konsequenz, die zu einer weiteren Widerlegung der Skinnerschen Position führen würde. Bedeutet doch dieses Argument konkret, daß auf der Grundlage der
gleichen behavioristischen Metaphern die Lektüre der so vielfältigen Populärliteratur über
Psychoanalyse oder sogar die heutzutage so in Mode stehende Astrologie das Verhalten der
Menschen ebenso beeinflussen würde, und zwar im Sinn dieser dem Behaviorismus
entgegengesetzten Positionen.
Die gerade angestellte Analyse stellt mehr als ein logisches Spiel dar, führt sie doch zu wichtigen
Fragen bezüglich anderer Medien, die es außer dem Schreiben wissenschaftlicher Bücher gibt, und
über die Skinner und seine Anhänger verfügen, um ihre Ideen durchzusetzen. Wir werden auf ein
solches anderes Medium, seinen Roman "Futurum II", im nächsten Kapitel zurückkommen.
Zunächst werden wir uns etwas detaillierter mit dem metaphorischen Gebrauch seiner Terminologie
und den falschen Evidenzen beschäftigen, mit denen die Argumentation Skinners arbeitet. Als
Beispiel für einen metaphorischen Gebrauch einer der unzähligen Vorschläge Skinners bezüglich
der Fähigkeit der behavioristischen Terminologie, die Umgangssprache zu präzisieren: Nach
Skinner ist die Bemerkung "Du solltest David Copperfield lesen (ein Roman von Charles Dickens,
E.L.)" übersetzbar in "Du wirst verstärkt werden, wenn Du David Copperfield liest", wohlgemerkt
verbunden mit einem Gewinn an Präzision und einer Ausschaltung mentalistischer
Verunreinigungen. Aber was soll dieser Satz bedeuten, im genauen Sinn der Begriffe, wie sie
beispielsweise auf die Rattenexperimente mit der Skinner-Box angewendet werden? Anstelle eines
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 21
Gewinns an Präzision stoßen wir nämlich auf einen Präzisionsverlust:
Ein erstes Defizit betrifft die Frage, ob das Lesen von David Copperfield einen Operanten oder
schon den Akt der Verstärkung darstellt. Wählen wir die erste Alternative, versuchen wir also,
"David Copperfield lesen" als Operanten zu behandeln, so haben wir als Ergebnis die Interpretation:
Das Buch lesen führt als Konsequenz zu einem Zustand der Verstärkung, der die
Wahrscheinlichkeit erhöht, die Lektüre zu wiederholen. Was gegen diese Interpretation spricht ist
der Suchtcharakter, den damit die Lektüre dieses Romans annimmt. Ich kenne keinen in meinem
Umkreis, der das gleiche Buch immer wieder unermüdlich liest, nicht einmal für eine äußerst
imponierende Verstärkung und nicht einmal bei einem extrem spannenden Buch (da auch diese
Spannung sich spätestens nach dem zehnten Mal abnutzt).
Wählen wir also die zweite Alternative aus, versuchen wir also "David Copperfield lesen" als Akt
der Verstärkung zu behandeln, so ergibt sich als Interpretation: Es gibt ein - nicht spezifiziertes Verhalten, das die Lektüre von David Copperfield zur Konsequenz hat, und dieses nicht spezifizierte Verhalten - der Operant - tritt nach der Lektüre mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf. Auch
diese Interpretation befriedigt nicht: Denn welche mysteriöse Tätigkeit könnte sich hinter dem
besagten nicht spezifizierten Verhalten verbergen, das der Lektüre direkt vorausgeht: Sich vor sein
Bücherregal stellen? Sich ins Bett legen? Sein Kopfkissen richten?
Wahrscheinlich hat Skinner hier eine etwas bescheidenere Bedeutung seines Begriffs "Verstärker"
im Sinn: Daß es dem Leser zu lesen gefallen wird und punktum. Es würde sich dann allerdings um
einen vollständig metaphorischen Gebrauch eines technischen Begriffs handeln. Wie dem auch sei:
die Übersetzung führt insgesamt nicht zu einer Präzisierung der Botschaft sondern statt dessen zu
deren Verfremdung und darüber hinaus zu einer Auslöschung von Informationen. Denn man kann
sich andere Bedeutungen der Botschaft vorstellen, die durch die Skinnersche Interpretation
ausgeschlossen werden. Beispielsweise: "Dieser Roman beweist endgültig, daß es nicht der Mühe
wert ist, Charles Dickens zu lesen" oder "Um meine Wertschätzung für Charles Dickens zu
verstehen, empfiehlt es sich, seinen David Copperfield zu lesen", Bedeutungen, die nicht einmal
unter einen metaphorischen Gebrauch des Begriffs "Verstärker" fallen.
Das Beispiel verdeutlicht ein typisches Muster in den Argumentationen Skinners: Auf den ersten
Blick erscheinen seine Argumente schlüssig. Wenn man sie aber genauer untersucht, verdunkelt
sich ihr Sinn immer mehr, mit dem Ergebnis, daß deren wörtliche Interpretation uns auf puren
Unsinn führt. Übrig bleibt eine metaphorische Interpretation, die in der Mehrzahl der Fälle auf eine
Trivialität hinausläuft und zudem andere relevantere Bedeutungen ausschließt. Faßt man zusammen, so endet der Anspruch Skinners, die Skinner-Box als seine eigentliche Domäne seines
Konzepts zu verlassen und dieses auf einen Erklärungsansatz der Welt insgesamt hin auszuweiten,
in einer Verfremdung und Trivialisierung der entsprechenden Gegenstände.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Chomsky unterzieht sich im besagten Aufsatz der Mühe, dieses Muster anhand vieler Beispiele
herauszuarbeiten. Aber es gibt andere argumentative Defizite, die nicht einmal durch metaphorische
Interpretationen zu heilen sind: die obengenannten falschen Evidenzen. Als Beispiel kritisiert
Skinner eine Auffassung der Aufmerksamkeit, derzufolge ein plötzlich auftretender Reiz jeden
Wahrnehmungsfilter durchbricht und die Aufmerksamkeit absorbiert. Nach Skinner dagegen ist die
Beziehung in Wirklichkeit umgekehrt. Die Reize, zumindest die physikalisch weniger starken Reize
"fesseln die Aufmerksamkeit nur insoweit, als sie in Kontingenzen der Verstärkung eine Rolle
gespielt haben." (Skinner: Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 191).
Und wie steht es mit den vielen erstmaligen oder einmaligen Erfahrungen, die wir mit
außerordentlichen Reizen haben, wie etwa einem phantastischen Sonnenuntergang, einer
Sternschnuppe, dem ersten Schnee in unserem Leben oder, um Chomsky noch einmal zu zitieren,
"einer Katze mit zwei Köpfen"?
Zum Abschluß unserer Untersuchung zum wissenschaftlichen Nutzen der Skinnerschen
Terminologie möchte ich allerdings darauf hinweisen, daß ich im Gegensatz zu Chomsky nicht
meine, daß die Bücher Skinners lediglich irgendwelche Versuche eines wissenschaftlichen
Dilettanten und Schwindlers darstellen. Gegen diese Bewertung spricht der enorme Einfluß dieser
Strömung zeitgenössischer Psychologie sowie die Verbreitung und Publizität seines Werks.
Chomskys Problem scheint eine Überschätzung logischer Konsistenz als Kriterium für die Macht
einer wissenschaftlichen Position zu sein und gleichzeitig eine Unterschätzung der strategischen
Aspekte bei den Schlachten um die Köpfe der Menschen, im gegebenen Fall auf
wissenschaftlichem Feld. Bezieht man das auf die Frage nach der Funktion der Skinnerschen
Bücher, so könnte es sein, daß es nicht die logische Konsistenz und die begriffliche Genauigkeit ist,
die zählt, sondern genau die in jenen Büchern erfahrbare Verfremdung und Trivialisierung. Läßt
man von dem naiven Glauben ab, daß die einzige Funktion eines Buchs über den Behaviorismus
nach Skinnerschem Muster die Übermittlung der behavioristischen Botschaft ist - eine in sich
widersprüchliche Funktion, wie Chomsky gezeigt hat -, könnten solche Bücher genau auf das
Einüben der Verfremdungen und Trivialisierungen zielen, die die zukünftigen Bewohner einer von
Skinner und seinen Anhängern herbeigesehnten weltweiten Skinner-Box aushalten müssen. Und
dieses Projekt, die Menschen dazu zu überreden, die Rolle von Bewohnern einer Skinner-Box
anzunehmen, hängt nicht primär vom wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt und der logischen
Konsistenz seines Konzepts ab, sondern vor allem von den Bedürfnissen der Betroffenen.
Wie es scheint, kann Skinner hier von einem tiefgreifenden und ziemlich verbreiteten Bedürfnis
nach einer vereinfachten und nach mechanischen Regeln ablaufenden Welt ausgehen, die ein
sichereres und angstfreies Leben ermöglichen, zumindest in den USA, wie das dort verbreitete
Sektenwesen zeigt. Gemäß dieser Interpretation sollte man ein Buch wie "Jenseits von Freiheit und
Würde" nicht so sehr als wissenschaftlichen Text, sondern eher als Sammlung von Übungen
betrachten.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Auf der anderen Seite leidet die Kritik Chomskys an einer Unterschätzung der strategischen
Aspekte: Wie die Reaktionen Skinners und seiner Anhänger beweisen, kommt die Kritik
Chomskys, so konkret sie auch sein mag, zu sehr von außen, weshalb sie als spitzfindig
zurückgewiesen werden kann. Es gelingt Chomsky deshalb nicht, das eigentliche Fundament des
Skinnerschen Konzepts zu erschüttern: seine experimentelle Methodologie, seine mit derartigen
Experimenten gewonnenen Ergebnisse und seine auf diesem Werk gegründeten terminologischen
und erkenntnistheoretischen Vorschläge.
Wie dem auch sei: Jetzt wo die Überzeugungskraft seines Konzepts erschüttert ist und wir seiner
argumentativen Konsistenz aufgrund der bisher untersuchten Fehler und Ungereimtheiten
mißtrauen, wollen wir im folgenden etwas genauer und systematischer die terminologischen und
erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Position untersuchen.
Ein erster Punkt betrifft den Anspruch Skinners, beim Ausarbeiten und bei der methodologischen
Begründung seines Behaviorismus ohne irgendwelche theoretischen Begriffe auszukommen. Wie er
vorgibt, gelingt ihm das, indem er sein Konzept auf strikt empirischen Begriffen aufbaut, die in von
außen beobachtbaren Ereignissen verankert sind. Wir haben dieses Problem bereits im letzten
Kapitel berührt, haben es aber auf mehr allgemeine Weise behandelt, im Zusammenhang mit
seinem impliziten "black box"-Konzept. Wir wollen das Problem jetzt detaillierter untersuchen und
uns dabei auf seine eigentliche Begrifflichkeit beziehen. Der elementarste und allgemeinste Begriff
in diesem Zusammenhang ist die Reaktionshäufigkeit. Ich denke nicht, daß es nötig ist, darauf
hinzuweisen, daß der Erklärungswert einer Häufigkeit für sich genommen sehr beschränkt ist:
Wenn man herausfindet, daß eine Ratte eine bestimmte Reaktion in der ersten Minute 5 mal
produziert hat und 8 mal in der zweiten Minute, kann das sicher als Grundlage dienen, um ihren
Akkordlohn auszurechnen (für den Fall, daß es sich um eine nützliche Tätigkeit handeln sollte),
irgendwelche wissenschaftlichen Schlußfolgerungen erlaubt ein solches Ergebnis aber nicht. Das
Problem hängt zusammen mit dem sehr begrenzten Wert der deskriptiven Statistik, ein Problem, zu
dem es eine breite Diskussion gibt, zu der ich selbst, nebenbei gesagt, einige Aufsätze beigetragen
habe.
Die gesamte schließende Statistik würde es nicht geben, wenn wissenschaftliche Schlüsse möglich
wären, die direkt aus Häufigkeiten gezogen werden. Die schließende Statistik stellt klar, daß jeder
wissenschaftliche Schluß, d.h. jede auf empirischen Häufigkeiten gegründete Verallgemeinerung,
den Rückgriff auf einen theoretischen Begriff, nämlich die Wahrscheinlichkeit, erfordert. Erst unter
dem Gesichtspunkt dieses theoretischen Begriffs kann argumentiert werden, daß sich in den
empirischen Häufigkeiten mehr oder weniger deutlich eine Wahrscheinlichkeit manifestiert, die den
entsprechenden Prozeß allgemein, d.h. über die einzelnen Ereignisse hinaus, charakterisiert. Und
erst mit diesen Verallgemeinerungen beginnt die Relevanz derartiger Statistiken. Die Beziehung
zwischen der Wahrscheinlichkeit als allgemeine Charakteristik eines Prozesses und der in einer
Zufallsstichprobe gefundenen empirischen Häufigkeit, ob eng oder lose, ist der zentrale Gegenstand
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 24
der mathematischen Statistik.
Diesen Hintergrund der empirischen Häufigkeit gegeben, läßt sich besser einschätzen, was der
naive Umgang mit empirischen Häufigkeiten und anderen deskriptiven Statistiken in den
Wissenschaften bedeutet. Häufig läuft er auf Ungereimtheiten oder auf den berühmten Mißbrauch
der Statistik hinaus. Immer aber läuft er auf die heimliche Einführung von Voraussetzungen hinaus,
insbesondere die Voraussetzung, daß der Prozeß stabile Strukturen hat, die eine Extrapolation der in
der Vergangenheit gefundenen Ergebnisse auf die Zukunft hin rechtfertigen. Auf einen Würfel
bezogen, führt eine solche Voraussetzung etwa zu der Erwartung, daß eine Augenzahl wie
beispielsweise die "Eins" in der Zukunft mit mehr oder weniger der gleichen Häufigkeit auftreten
wird wie in der Vergangenheit, wegen der unveränderlichen Struktur des Würfels und des
Prozesses, in dem er geworfen wird. Selbstverständlich kann die Struktur auch einen Mechanismus
einschließen, der die Wahrscheinlichkeiten gemäß irgendeiner Funktion verändert, wie es bei den
sogenannten stochastischen Prozessen oder den sogenannten Zeitreihen der Fall ist. Zu diesem Typ
von Struktur gehören die Lernprozesse mit ihren entsprechenden von Skinner untersuchten Kurven.
Analog unserem obengenannten Würfelbeispiel schließt hier jeder wissenschaftliche Schluß, etwa
der Skinnersche Schluß von größter Allgemeinheit, nach dem Verstärkungen die entsprechende
Reaktionshäufigkeit vergrößern, einige sehr substantielle Voraussetzungen ein, die die verborgene
Struktur des Prozesses betreffen. So ist als eine erste Voraussetzung der Prozeß insgesamt in
irgendeinem Moment des Lernverlaufs durch eine bestimmte Tendenz gekennzeichnet, die besagte
Reaktion hervorzubringen, die sogenannte Reaktionswahrscheinlichkeit. Darüber hinaus und als
zweite Voraussetzung ist der Prozeß insgesamt durch einen verborgenen Mechanismus bestimmt,
der die Wahrscheinlichkeit der besagten Reaktion in Abhängigkeit vom Zeitverlauf und der
Verstärkungsgeschichte vergrößert. Erst auf diese Voraussetzung gestützt, ist im obengenannten
Beispiel die Erwartung gerechtfertigt, daß aus der dritten Minute mit ihren weiteren Verstärkungen
schließlich noch mehr Reaktionen hervorgehen.
Und schließlich und endlich gibt es eine dritte Voraussetzung, die substantiell ist und die die gerade
behandelte Problematik überschreitet: daß die Artgenossen der gleichen Spezies, im gegebenen Fall
die Ratten, gemeinsame Strukturen und Funktionen haben, die eine Verallgemeinerung der Ergebnisse in Richtung auf die gesamte Spezies rechtfertigen (ganz zu schweigen von den universalen
Verallgemeinerungen Skinners, denen gemäß sogar jede Spezies, da sie den gleichen Gesetzen
gehorcht, eigentlich die gleichen Strukturen und Funktionen besitzen müßte).
Um an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren: die "Reaktionshäufigkeiten" Skinners machen nur
Sinn, wenn man sich auf ein theoretisches Konstrukt, die Wahrscheinlichkeit, beruft. Skinner selbst
scheint dieses Problem zu sehen, jedoch ohne die Konsequenzen zu ziehen, wie sich aus dem
folgenden Zitat ergibt: "Um den Kern von Thorndikes Effektgesetz zu verstehen (das Konzept in
seiner allgemeineren Form, das die Erhöhung der "Reaktionshäufigkeiten" behauptet, E.L.), müssen
wir eine klare Vorstellung von dem Begriff der "Reaktionswahrscheinlichkeit" gewinnen. Dieser
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Begriff ist ungemein wichtig, doch leider auch sehr schwierig. In der Erörterung des menschlichen
Verhaltens sprechen wir häufig von "Tendenzen" oder "Prädispositionen", zu besonderen
Verhaltensweisen. Fast jede Verhaltenstheorie bedient sich bestimmter Begriffe wie zum Beispiel
"Erregungspotential", "Habitstärke" oder "determinierende Tendenz". Doch wie läßt sich eine
Tendenz beobachten? ... Wir beobachten nie eine Wahrscheinlichkeit als solche." Und dann findet
Skinner die Lösung des Problems: "Wir behaupten von jemandem, er sei vom Bridgespiel "begeistert", wenn wir beobachten, daß er häufig Bridge spielt ... Eine "stark sexueller" Mensch ist jemand,
der oft sexuell verkehrt ..." (Skinner: Wissenschaft und menschliches Verhalten. S. 66 f.). Dank
dieser Entdeckung der Häufigkeit wird die Beschäftigung mit solchen Konstrukten wie der Wahrscheinlichkeit mit ihrem Geruch des Mentalismus für die Zukunft überflüssig. Was Skinner uns hier
als Fortschritt verkauft, die Ersetzung der Wahrscheinlichkeit durch die empirische Häufigkeit,
erweist sich als ein Schritt zurück um mindestens fünfzig Jahre statistischer, methodologischer und
erkenntnistheoretischer Diskussionen über den Unterschied zwischen allgemeinen Strukturen und
empirischen Daten, wie er sich sehr konkret im Zusammenhang des statistischen Zufalls manifestiert. In Wahrheit stellt seine Entdeckung einen Rückfall in einen naiven Empirismus dar, wie er
das vorige Jahrhundert gekennzeichnet hat. Es scheint Skinner nicht zu stören, daß ausgerechnet
Karl Popper, ähnlich wie Skinner ein Kämpfer gegen die Metaphysik in den Wissenschaften, sich
der Notwendigkeit bewußt wurde, die empiristische Auffassung von Wahrscheinlichkeit zu
überwinden, woraus sein Konzept der "propensity" entstanden ist, eine Auffassung von
Wahrscheinlichkeit, die der oben gekennzeichneten Auffassung ähnelt (Popper: The propensity
interpretation of probability. Br. J. Phil. Science 10, 1959/60, S. 25-42).
Ein zweiter Punkt betrifft den Anspruch Skinners, beim Darstellen und Begründen von
Lernprozessen ohne jede innere Zustände auszukommen. Genau betrachtet widerlegt schon das
gerade bezüglich der Wahrscheinlichkeit entwickelte Argument die Möglichkeit, das zu erreichen.
Denn die besagten Strukturen, die die Reaktionswahrscheinlichkeit innerhalb eines Lernprozesses
bestimmen, befinden sich zwar teilweise in der Umgebung des Organismus, aber auch im
Organismus selbst. Skinner ist sich über diese Konsequenz des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" sehr
wohl im klaren, wie sein Sprechen von "determinierenden Tendenzen" und der "Stärke von
Gewohnheiten" im Kontext seines Zitats zeigt. Es gibt jedoch Argumente, die die zentraleren
Aspekte dieser Angelegenheit treffen.
Ein erstes Argument stammt aus der Automatentheorie. Diese Theorie hat auf ihrer allgemeinsten
Ebene zum Ziel, die verschiedenen Funktionen und Fähigkeiten von Systemen der Selbstregulation
so abstrakt und allgemein wie möglich darzustellen. Der herausragendste Vertreter der
Automatentheorie ist A.M. Turing, andere bekanntere Vertreter sind N. Wiener und J. v. Neumann.
In dieser Theorie werden die einfachstmöglichen Modelle formuliert, um die verschiedenen Typen
der Selbstregulation darzustellen. Was nun bestimmte Theorien zu konkreten Systemen betrifft, so
ist die allgemeinste und logisch ableitbare Forderung, daß die Erklärungen einer Theorie, soweit sie
die Fähigkeiten zur Selbstregulation eines Systems betreffen, in die Sprache der Automaten
übersetzbar sein müssen. Mit anderen Worten: eine notwendige Bedingung für die Adäquatheit
Eckart Leiser
Behaviorismus
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einer derartigen Theorie ist, daß man ihre die Selbstregulierung betreffenden Konstrukte in Form
eines Automaten des entsprechenden Niveaus modellieren kann. Umgekehrt: Die Fähigkeit einer
bestimmten Theorie, Prozesse der Selbstregulierung darzustellen hat als Grenze das Niveau der
Automaten, die aufgrund der Konstrukte dieser Theorie modellierbar sind. Das heißt, daß eine
Theorie zumindest die Strukturelemente enthalten sollte, über die ein Automat verfügt, der die
entsprechenden Funktionen erfüllt.
Bezieht man das auf den Skinnerschen Behaviorismus, so entspricht seine Auffassung vom
Organismus als eines Hohlkörpers, der alle seine Eigenschaften auf seiner Oberfläche trägt Eigenschaften, die aus unmittelbaren Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen bestehen einem System ohne jegliche Fähigkeit zur Selbstregulation. Denn schon allein die primitivsten
Funktionen der Selbstregulation erfordern zumindest zwei verschiedene innere Zustände: einen
Zustand der Sensibilität in Bezug auf Reize, und einen anderen Zustand, in dem die Verarbeitung
und Auswertung der gerade empfangenen Reize stattfindet. Das heißt, daß die von Skinner
vorgestellten Organismen nicht über die Fähigkeit verfügen, sich zu verhalten, und erst recht nicht,
zu lernen. Denn was die Fähigkeit zum Lernen betrifft, so schließen Lernprozesse, in die
Automatentheorie übersetzt, zumindest eine Komponente ein, die die Erfahrungen des Systems
speichert und den aktuellen "Input" vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen auswertet. Es gibt eine
genauer ausgearbeitete Kritik von R.J. Nelson, die auf der Automatentheorie gründet (Behaviorism
is false. The journal of philosophy LXVI, 14, 1969).
Die Verteidigung einiger Anhänger Skinners wie etwa R. Schnaitter (Illinois Wesleyan University),
der von der Möglichkeit spricht, auf eine solche Komponente zu verzichten, und stattdessen die
Ereignisse selbst zu nehmen, so wie sie in der Umgebung des Organismus beobachtbar sind zum
Zeitpunkt, wenn sie in die Geschichte des Organismus eintreten, bleibt für mich ziemlich rätselhaft,
es sei denn, daß man den Ereignissen auch noch gleich die Verarbeitung ihrer eigenen Wirkungen
auf den Organismus überträgt (woraus sich die noch absurdere Vorstellung einer Art Gedächtnis auf
Seiten der Ereignisse selbst ergeben würde).
Genaugenommen ist das Verlegen der Verarbeitung von Erfahrungen des Organismus in die
Ereignisse selbst nicht die einzige Konsequenz, die aus dem Argument Schnaitters ableitbar ist.
K.P. Noack (Leipzig, DDR), ein deutscher Kritiker Skinners, hat eine sehr interessante Analyse der
Kategorien und Argumente Skinners vorgenommen, und ist dabei zum Schluß gelangt, daß das
Denken Skinners so etwas wie ein "Fernwirkungsprinzip" einschließt, das seit einigen
Jahrhunderten aus den Wissenschaften verbannt worden ist. An einem Beispiel der
Humanpsychologie vorgeführt, wegen des größeren Anschauungswerts, bliebe diesem Prinzip
gemäß die gesamte Geschichte eines Menschen in ausgebreitetem Zustand erhalten, in Form eines
chronologischen Flusses von äußeren Ereignissen, der sich von seiner Geburt bis zur Gegenwart
erstreckt. Und jedes Ereignis in diesem Fluß hat seine unmittelbare Wirkung auf das aktuelle
Verhalten. Als Beispiel würden es nach dieser Ansicht und im Gegensatz zur Psychoanalyse nicht
Eckart Leiser
Behaviorismus
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innere, durch eine während der Kindheit erlittene traumatische Erfahrung gebildete, Mechanismen
sein, die ein neurotisches Verhalten hervorrufen, sondern das Ereignis selbst würde über all die
Jahrzehnte hinweg auf unmittelbare Weise wirken (s. K.P. Noack: Zur Kritik der Methodologie des
Behaviorismus. In: W. Friedrich (Hrsg.): Zur Kritik des Behaviorismus. Köln 1979, S. 177). Es ist
etwas schwierig zu entscheiden, welche Implikation des Skinnerschen Behaviorismus die
irrationalere ist: die Fähigkeit von Ereignissen, für ihre eigene Verarbeitung zu sorgen oder das
"Fernwirkungsprinzip".
Ein zweites Argument gegen den Anspruch Skinners, ohne irgendwelche inneren Zustände
auszukommen, betrifft seine Abschaffung von Dispositionsbegriffen wie "durstig sein", "hungrig
sein", "traurig sein" usw. Solche Begriffe beziehen sich auf innere Zustände von Organismen, die
von ihrem manifesten Verhalten unterschieden werden. Nach Skinner sind solche
Dispositionsbegriffe Überbleibsel der mentalistischen Tradition und haben in einer rationalen
Wissenschaft keinerlei Funktion. Zur Verdeutlichung seiner Argumentation ein Zitat: "Die zwei
Feststellungen "er ißt" und "er ist hungrig" beschreiben den gleichen Sachverhalt.”Er raucht viel"
und "er ist Gewohnheitsraucher" beschreibt den gleichen Sachverhalt... Die Gewohnheit, eine
Feststellung durch eine andere zu erklären, ist gefährlich, insoweit sie den Eindruck hervorruft, wir
wären dabei, die Ursache zu entdecken, und brauchten deshalb nicht weiter zu suchen. Darüber
hinaus verwandeln solche Begriffe wie "Hunger", "Gewohnheit", "Intelligenz" etwas, was Merkmal
eines Prozesses oder einer Beziehung ist, in etwas, was ein Ding zu sein scheint. Als Folge davon
sind wir nicht auf die Merkmale vorbereitet, die schließlich im Verhalten selbst aufgedeckt werden
müssen und warten weiterhin gespannt auf etwas, was vielleicht gar nicht existiert" (Skinner:
Science and Human Behavior. S. 31). Für Skinner haben solche Dispositionsbegriffe einen "fiktiven
Charakter" und taugen daher nur für Scheinerklärungen.
Wie man sehen kann, ist Skinner wirklich entschlossen, mit allen Spuren des Mentalismus
aufzuräumen. Die Frage ist jedoch, was auf dem Schlachtfeld nach der Schlacht übrigbleibt. Nähern
wir uns dem Problem der Scheinerklärungen etwas ernsthafter an! Es gibt tatsächlich eine Tradition
derartiger Erklärungen in der westlichen Welt, die man bis auf ihre Ursprünge in der Antike
zurückverfolgen kann. Ich denke zum Beispiel an die Zweckursachen von Aristoteles, der als
Erklärung für die Fähigkeit eines Vogels zu fliegen anführte, daß das auf seine Natur zurückgehe.
Oder an die etablierte Psychologie, die festlegt, daß sich in der Summe von Punkten, die sich aus
einer Sammlung von Items ergibt, die Intelligenz des Menschen ausdrückt. Oder an die Praktik der
klassischen Psychiatrie, die das politische Engagement eines Menschen in das klinische Bild des
"aktiven Reformers" verwandelt (wie das Tramer tut). Und vielleicht kann man auch noch die
Meinung vertreten, daß es keinerlei Erklärungswert hat, einen Menschen, der viel raucht, der
Gruppe der Gewohnheitsraucher zuzuordnen. In einer historischen Analyse, die ich im Rahmen
meiner Untersuchung zum Entstehen von Logik und Mathematik durchgeführt habe, bin ich zum
Ergebnis gekommen, daß solche Scheinerklärungen auf das Bedürfnis der antiken Gesellschaften,
d.h. ihrer herrschenden Klassen, zurückgehen, eine Ordnung um jeden Preis zu errichten, nicht nur
bezogen auf das staatliche System, sondern die ganze Welt umfassend. Paradoxerweise verbindet
diese Besessenheit, die Welt unter die Kontrolle dafür erwählter Menschen zu bringen, Skinner mit
Eckart Leiser
Behaviorismus
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den Erfindern der Zweckursachen.
Betrachten wir nun, im Vergleich mit den genannten Beispielen, die Beziehung zwischen
Feststellungen wie "er ißt" und "er ist hungrig" oder "er trinkt" und "er ist durstig". Was das zweite
Beispiel betrifft, ist es offensichtlich, daß es viele Situationen gibt, die die Gleichwertigkeit beider
Feststellungen widerlegen. Man trinkt bei gesellschaftlichen Anlässen und Ritualen, ohne durstig zu
sein, und umgekehrt ist man durstig ohne zu trinken, sei es wegen Mangel an Getränken oder sei es
wiederum aus gesellschaftlichen Gründen. "Durstig sein" als Dispositionsbegriff hat somit durchaus
einen Erklärungswert: einmal um zwischen verschiedenen Gründen zu trinken zu unterscheiden,
und zum andern, um den sehr konkreten Zustand eines Bedürfnisses zu beschreiben, das sich zwar
aktuell nicht realisieren kann, aber durchaus ein sehr spezifisches Verhalten auslösen kann (z.B.
heimlich in einem Seminar zu trinken oder in der Wüste Wasser zu suchen). Was das erste Beispiel
betrifft, erweist es sich als ziemlich zynisch, den Zustand "essen" und den Zustand "hungrig sein"
für gleichwertig zu erklären angesichts einer Welt, in der die Hälfte der Bevölkerung an Hunger
leidet, weil sie nicht über ausreichende Nahrungsmittel verfügt.
Was die Konsequenzen dieses Arguments für das Skinnersche Konzept betrifft, selbst im engeren
Sinn seiner experimentellen Ergebnisse und deren Interpretationen, so kommt auch Skinner nicht
ohne wenn auch verborgene Annahmen in Bezug auf Zustände aus, die den klassischen
Dispositionsbegriffen entsprechen, um etwa das Verhalten einer Ratte bei der Nahrungssuche zu
erklären, wenn wir nicht wieder auf magische Vorstellungen wie das "Fernwirkungsprinzip"
zurückgreifen wollen. Denn um Tätigkeiten des Trinkens und Essens zu erklären, ist es nötig, auf
Prozesse der Selbstregulation einzugehen, für deren Darstellung man genau diese inneren Zustände
benötigt. Wenn es Skinner gelingt, den Eindruck hervorzurufen, daß solche Dispositionsbegriffe
unnütz sind, so hat das mit dem metaphorischen Gebrauch seiner Terminologie zu tun wie etwa
dem Verbergen der durch den Hungerzustand ausgelösten Aktivitäten hinter deren
"Verstärkerwert". Ich überlasse es dem Leser, die Texte Skinners noch einmal unter diesem
Gesichtspunkt zu lesen.
Wenn wir zusammenfassen, ergab unsere Analyse der Skinnerschen Beweise zugunsten einer
Abschaffung von Dispositionsbegriffen ein weiteres Beispiel einer falschen Evidenz und einen
weiteren Grund, seinen Argumentationen zu mißtrauen: wie sich erweist, enthält das, was auf den
ersten Blick wie eine Scheinerklärung aussah, für ein Verständnis des psychologischen Gegenstands
unverzichtbare Gesichtspunkte.
Am Schluß unserer Untersuchung zu den Defiziten des Skinnerschen Behaviorismus möchte ich auf
die sehr kontroverse Diskussion innerhalb des Behaviorismus selbst hinweisen. Ein eindrucksvolles
Beispiel ist ein aktuelles Buch mit dem Titel "B.F. Skinner - Consensus and Controversy",
herausgegeben von S. Modgil und C. Modgil und im vergangenen Jahr erschienen. Es stellt eine
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 29
Sammlung von Einschätzungen zu verschiedenen Aspekten des "Skinnerismus" dar, die recht gut
die Situation auf diesem Feld widerspiegelt. Mehr als die ziemlich gemäßigten Kritiken, die von
anderen Strömungen des Behaviorismus kommen, macht die Reaktion seitens der strengen
Skinneristen deutlich, in welchem Maß das konzeptuelle Gebäude Skinners rissig geworden ist.
Man findet hier z.B. einen Aufsatz einer Miss Lynn C. Robertson (University of California), einer
kognitiven Behavioristin, die die Skinneristen auf einige Erklärungslücken aufmerksam macht, die,
nach ihrer Analyse, mit der Nichtbeachtung kognitiver Aspekte im Skinnerschen Konzept zu tun
haben. Ein von ihr sehr konkret dargelegter Punkt ist die Unfähigkeit des Skinnerismus, das
Auftreten von neuem Verhalten zu erklären, das aus der funktionellen Kombination bisher
unabhängiger Komponenten hervorgeht. (In einem Beispiel von Epstein lernt eine Taube zunächst,
einen Karton in eine festgelegte Richtung zu schieben. Außerdem lernt sie, auf einen anderen
Karton zu steigen und gegen eine Bananen-Attrappe zu picken. Später in einer neuen Situation ist
die Taube dann in der Lage, einen Karton unter eine aufgehängte Banane zu schieben, den Karton
zu besteigen und gegen die Banane zu picken. Es handelt sich hier um eine Neubildung, die nicht so
einfach auf der Grundlage von zufälligem Verhalten erklärt werden kann, das nach und nach durch
Verstärkungen modelliert wird.) Die Reaktion ihres Widersachers, eines Mr. Terry J. Knapp
(University of Nevada), besteht im wesentlichen in der Festlegung, daß die Erklärung derartiger
Neubildungen ohne Nutzen ist, und daß es sich im übrigen bei Miss Robertson um eine
"Repräsentationistin" handelt - nebenbei bemerkt eine originäre Scheinerklärung. Am Schluß des
Streits gelingt es Mr. Knapp, sich zu beruhigen, und zwar durch eine Abgrenzung, indem er
feststellt: "Ich glaube, es ist zutreffend, wenn man sagt, daß die Art von allgemeinen
Fragestellungen, die die Arbeit der heutigen Kognitivisten leiten ... sich fundamental von dem
unterscheidet, was die Forschung und die Schriften von Skinner bestimmte." (a.a.O. S. 306). Bei
mir hinterläßt ein solcher Umgang mit Argumenten ein Gefühl des Unbefriedigtseins.
Als noch krasseres Beispiel mag eine Diskussion zwischen J. Hinson (Washington State University)
und John C. Malone (University of Tennessee) im gleichen Band dienen über das Problem der
Verhaltenseinheit. Beiden gemeinsam ist die Angst, daß das gesamte Gebäude des Skinnerismus
reif für den Einsturz ist, wenn man die Dinge weiter so laufen läßt wie sie laufen. Aber die Rezepte
von beiden um das zu verhindern sind verschieden. Mr. Hinson sucht wie ein Priester den
unveräußerlichen Kern des Skinnerismus, als den er die Verhaltenseinheit ausmacht, ausgerechnet
den mit soviel Willkürlichkeiten belasteten Bestandteil, wie wir im 1. Kapitel gezeigt haben. Mr.
Malone verhält sich ebenfalls wie ein Priester, aber wie ein zorniger Priester, der ein Scherbengericht gegen die Abtrünnigen des Skinnerismus veranstaltet, die er bis in die Redaktion des
"Journal of Experimental Analysis of Behavior" hinein, das Organ des Skinnerismus, aufspürt.
Darüber hinaus hegt er den Verdacht, daß sogar Skinner selbst von der allgegenwärtigen Zersetzung
seiner Ideen angesteckt sein könnte, oder zumindest Opfer eines Selbstmißverständnisses sein
könnte, vor allem wenn er sich mit "molekularen" Aspekten des Verhaltens befaßt, die mit der
reinen Lehre eigentlich nicht vereinbar sind. Zwar geht er nicht bis zum Äußersten, dem Vatermord,
aber sein Rezept scheint die Inquisition zu sein.
Eckart Leiser
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Angesicht derartiger Angst und Verwirrung im Lager der Skinneristen stellt sich selbstverständlich
die Frage, ob sich denn eine detaillierte Kritik überhaupt noch lohnt. Leider bedeutet die Krise eines
wissenschaftlichen Systems noch nicht seinen automatischen Untergang, wie T.S. Kuhn
überzeugend herausgearbeitet hat. Es gibt andere Mittel jenseits von Argumenten, um das Reich des
Skinnerismus abzusichern, beispielsweise seine gesellschaftlichen Utopien, mit denen es
offensichtlich gelingt, tiefe Bedürfnisse und Sehnsüchte einer Vielzahl von Menschen auszunutzen.
Wir wollen uns mit diesen Utopien im nächsten Schritt unserer Untersuchung beschäftigen.
Eckart Leiser
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Kapitel 4:
Der utopische Entwurf Skinners als Versuch, die inneren Widersprüche seines
Konzepts auf militante Weise zu lösen.
Zu Beginn möchte ich in aller Offenheit zugeben, daß es mich eine große Überwindung gekostet
hat, den utopischen Roman "Futurum II" zu lesen, in dem in größter Ausdrücklichkeit die
utopischen Vorstellungen über eine Welt nach dem Geschmack des Skinnerismus dargestellt sind.
Ich führe das auf die extreme Langweiligkeit dieses Buchs zurück, die einmal aus dem
schriftstellerischen Dilettantismus Skinners resultiert und zum andern aus seinem missionarischen
Eifer, mit dem er seine Utopie ausbreitet.
Wenn man seinen Inhalt zusammenfaßt, handelt das Buch von einer Gruppe Personen auf der Suche
nach einem ehemaligen Studenten ihres Colleges, einem gewissen Mr. Frazier, der in einer frühen
Schrift seinen Plan ankündigte, eine neue Gemeinschaft zu verwirklichen, die auf den
Verhaltenswissenschaften gründet. Verbunden durch ihre gemeinsame Frustration angesichts des
Universitätslebens und ihrer US-amerikanischen Umgebung im allgemeinen, macht sich die Gruppe
auf den Weg zur Gemeinde "Futurum II", wobei sie einer Einladung von Mr. Frazier folgt, sein dort
im Aufbau befindliches Projekt näher kennenzulernen. Die Gruppe besteht aus Mr. Burris, einem
Psychologie-Professor, der den Bericht in der ersten Person schreibt, aus Mr. Castle, einem
Philosophie-Professor, aus Roger, einem ehemaligen Studenten von Mr. Burris und seiner
Verlobten Barbara, und außerdem aus einem weiteren jungen Paar, Steve und Mary. Der Rest des
Buchs besteht mehr oder weniger aus einer wortreichen Darstellung des neuen Lebens in "Futurum
II" durch Frazier, seiner vielen Fortschritte und Vorzüge, eine nicht enden wollende Erzählung: ein
Schöpfer ergeht sich in Lob über seine Schöpfung.
Mittels einer sehr durchsichtigen Rollenverteilung versucht Skinner, diesem Wortfluß etwas
Spannung einzuhauchen: Prof. Castle stellt die negative Figur dar, frustriert und zynisch, indem er
jedes Motiv Fraziers in Frage stellt, allen seinen Argumenten mißtraut und vollständig im
überholten Leben draußen gefangen ist. Er ist ein morbider Skeptiker ohne jeden Glauben, aber voll
von dummen Vorurteilen, die mühelos und auf der Stelle widerlegbar sind. Gleichzeitig ist er eine
unverzichtbare Figur, der ständig die Stichworte für die überlegenen und unwiderlegbaren
Argumente von Mr. Frazier liefert und kontroverse Auseinandersetzungen ermöglicht, die
allerdings auf wohl ausgewählte Einwände beschränkt bleiben. Darüber hinaus sorgt Castle für
einen ständigen Kontrast: eine Verkörperung der schlechten Welt draußen, die für den Untergang
reif ist, gegen die gute Welt drinnen, der die Zukunft gehört.
Mr. Burris selbst übernimmt die Rolle eines gewissenhaften Beobachters von einwandfreiem
wissenschaftlichen Ruf, dem es gelingt, eine emotionale Identifikation mit dem Projekt zu
vermeiden, aber schließlich Schritt für Schritt durch die empirische Evidenz und die zwingenden
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Argumente Mr. Fraziers überzeugt wird. Gleichzeitig hält er eine bestimmte Distanz gegenüber der
Hauptfigur aufrecht, mit einem klinischen, wenn auch oberflächlichen, Blick für dessen kleine
menschliche Schwächen, womit das Bild von Frazier als unerreichbares Genie ein wenig
abgemildert wird.
Während die drei Figuren Frazier, Castle und Burris die Hauptrolle im argumentativen Diskurs über
"Futurum II" spielen, tritt der Rest, die beiden Paare, kaum als Subjekte in besagtem Diskurs in
Erscheinung, sondern als Vertreter der vielen Alltagsmenschen, auf die das Programm von Futurum
II zielt: als potentielle Kandidaten, deren Eintritt der Protagonist erwartet. Und tatsächlich
beschließt schließlich das eine Paar, Steve und Mary, in Futurum II einzutreten, nachdem sie die
Zustimmung von Prof. Burris eingeholt haben. Dagegen ist Barbara in solchem Maß von der Welt
draußen verdorben, genauer: durch die traditionellen Prägungen einer Frau behindert, daß sie
schließlich in ihr gewohntes Leben zurückkehrt, zusammen mit ihrem Verlobten Roger, der in der
Falle seiner Liebesbeziehung gefangen ist. Die beiden Paare führen somit, wie es scheint, den
Unterschied zwischen reversiblen und irreversiblen Schäden vor, die die Welt draußen verursacht.
Wie man sehen kann, hat Skinner ein wohlausgearbeitetes Szenario eingerichtet, um uns von
seinem utopischen Entwurf zu überzeugen: ein dümmlicher maßgeschneiderter Gegenspieler, eine
unvoreingenommene Autorität, beeindruckt durch die immer erdrückendere Überzeugungskraft des
Projekts, und ein Liebespaar, das der Leser mit seinen guten Wünschen begleitet, und das sich dem
Protagonisten und seinem Projekt vorbehaltlos anvertraut.
Nach alledem: Was erfährt der Leser über den Inhalt des Projekts, über das neue Leben in Futurum
II? Wie beweist sich die Überzeugungskraft des utopischen Entwurfs auf der Ebene entsprechender
Erfahrungen der beteiligten Personen? Erstaunlicherweise kommt es, was die genannten Personen
betrifft, kaum zu Kontakten und unmittelbaren, authentischen Erfahrungen. Die Gruppe verbringt
den Besuch mehr oder weniger isoliert und unter der Kontrolle sowie ständigen Aufsicht der
Hauptfigur. Und soweit zufällige Begegnungen mit den regulären Bewohnern der Kolonie
vorkommen, erfährt der Leser nichts über irgendwelche Gespräche, konkrete Situationen, oder
darüber, wie die Bewohner ihr Leben dort subjektiv erfahren. Die Menschen dort scheinen hinter
einer Glaswand zu leben. Und wenn eine der Figuren in Kontakt mit diesen Menschen tritt,
verschwindet sie letztlich auch hinter dieser Glaswand. So beschränkt sich die empirische Evidenz
auf einige technische Besonderheiten dieser neuen Welt: die Teegläser haben ein schmaleres und
längeres Format, um beim Schlendern durch die Säle ihren Inhalt nicht zu verschütten. Die Tabletts
in der Cafeteria bestehen aus Glas, um die Arbeit des Geschirrwaschens zu vereinfachen. Auch die
Babies werden in klimatisierten Glaskästen aufgezogen, auf Plastikpolstern gelagert und lediglich
mit Windeln bekleidet, wiederum um die Reinigungsarbeit zu vereinfachen. Das Zentrum der
Kolonie besteht aus einem integrierten Gebäude, das alle Bewohner faßt, und weitere Details dieser
Art. Die Beschreibungen dieser physischen Eigenschaften der neuen Welt hören sich an wie ein
Stilleben, entleert von allen Subjekten, die ihnen ihre Funktionen geben: Es scheint hier eine
Eckart Leiser
Behaviorismus
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verkehrte Beziehung zwischen Dingen und Menschen zu bestehen.
Alle übrigen Informationen über das Leben in der neuen Welt, das sind schätzungsweise 90
Prozent, stammt aus den Reden, den Exkursen, besser gesagt: aus den Predigten des Protagonisten,
in denen er die unzähligen Vorteile des neuen Lebens in aller Ausführlichkeit anpreist. Auf diese
Weise erfährt der Leser, aus der Perspektive des Schöpfers selbst, eine Unzahl von Prinzipien und
Details, die das Modell von Futurum II kennzeichnen:
Was die Organisationform betrifft, so hat man mit allen demokratischen Prinzipien Schluß gemacht
zugunsten eines Regimes von Spezialisten. Die "Regierung" besteht aus einem Komitee von 6
Planern, die sich auf eine Gruppe von Managern stützt. Die Regierung, die vom Protagonisten
selbst eingesetzt worden ist, sorgt für ihren eigenen Nachwuchs, indem sie rechtzeitig Kandidaten
bestimmt, aus der Gruppe der Manager, bevor ein Planer nach 10 Jahren aus seinem Amt
ausscheidet. Die Manager ihrerseits werden aus dem Kindermaterial ausgewählt, sobald deren
herausragende Intelligenz festgestellt worden ist. Sie stellen die biologische Elite von Futurum II
dar. Bis jetzt gilt die intellektuelle Ausstattung als unveränderliche Naturtatsache. Man betreibt aber
bereits die nötige genetische Forschung, um das Heranzüchten eines möglichst begabten
Nachwuchses zu optimieren.
Andererseits - und das ist die einfache Rechtfertigung für die Herrschaft einiger weniger über die
Masse - muß man einer Naturtatsache ins Auge sehen: "Die meisten Menschen leben von einem
Tag zum anderen, oder es kommt, falls sie doch auf längere Sicht planen, wenig mehr heraus als die
Sicht auf natürliche Vorgänge; sie freuen sich darauf, Kinder zu kriegen, sie großzuziehen und so
weiter. Die Mehrzahl der Menschen will aber gar nicht planen. Sie wollen im Gegenteil von der
Verantwortung des Planens frei sein. Was sie anstreben, ist lediglich die Gewißheit, daß für sie
gesorgt wird. Was übrig bleibt, ist ein Lebensgenuß von einem Tag zum andern ... Eben diese Leute
fühlen sich hier absolut glücklich." (Futurum II. Hamburg 1970, S. 151 f.) Das System, mit dem das
Leben der Bewohner organisiert und kontrolliert wird, wird vom Komitee ausgearbeitet und ständig
überarbeitet, wobei die von den entsprechenden Managern gewonnenen Forschungsergebnisse
umgesetzt werden. Die Erkenntnisse werden in einen Verhaltenscode von Futurum II umgearbeitet,
der von jedem Bewohner verinnerlicht und befolgt wird, unterstützt von einem Programm wöchentlicher Übungen.
Zum besagten Code gehören Regeln wie: "Spreche niemals mit Fremden über die Angelegenheiten
der Gemeinschaft" oder "Verbreite keinen Klatsch über die persönlichen Beziehungen der
Mitglieder" oder "Streite nicht mit anderen Mitgliedern über den Code". Immer wieder unterstreicht
Mr. Frazier, daß ein großer Teil der Regeln seit langem bekannte Selbstverständlichkeiten betrifft,
oder sogar aus der Bibel entnommen sind. Nach seiner Analyse verfügt die Gesellschaft "bereits
über die psychologischen Techniken. Das Dumme ist nur, daß diese Techniken in den Händen der
Eckart Leiser
Behaviorismus
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verkehrten Leute sind." (a.a.O. S. 150). Die Errungenschaft von Futurum II besteht darin, daß der
Code nicht mehr nur dazu dient, die Herrschaft einer herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten,
sondern die für das gute Leben jedes einzelnen günstigen Bedingungen zu ermöglichen.
Selbstverständlich weiß der Protagonist sehr gut, wie das gute Leben beschaffen ist: es besteht aus
Gesundheit, wenig Arbeit, Erholung und anregenden Freizeitbeschäftigungen. Aber dieser
Fortschritt in Richtung auf ein gutes Leben für alle ist nicht nur der Festlegung verbindlicher
Regeln zu verdanken. Denn diese Regeln stellen lediglich die der Selbstkontrolle der Bewohner
übertragene Dimension des Regimes dar. Diese Selbstkontrolle ist aber nur die Endstation eines
langen Prozesses der Modellierung von Verhalten, die zurückreicht bis zur Konditionierung der
neugeborenen Babies in ihren Glaskästen: Die erste Lebensphase dort schließt allgegenwärtige
Prozesse der Verhaltenskonditionierung ein, teilweise auf der Grundlage schon bekannter
Verhaltensgesetze konzipiert und teilweise mit Verhaltensexperimenten verbunden, die von den
zuständigen Managern ausgearbeitet werden.
Ein Standard-Ziel der Verhaltensmodellierung in der frühen Kindheit besteht darin, einen Resistenz
gegen Frustrationen aufzubauen, d.h. eine Toleranz gegen unangenehme Erfahrungen. Ein anderes
Ziel besteht im Ausbilden beliebiger Operanten mittels beliebiger Kontingenzen: beispielsweise
eine bestimmte Bewegung lernen, die durch einen Ton verstärkt wird. Dementsprechend sind die
Glaskästen als Skinner-Boxen ausgerüstet. Wieder ein anderes Ziel besteht im Auslöschen negativer
Emotionen, wie sich unglücklich, eifersüchtig oder neidisch fühlen, mit dem Ziel, daß nur die
angenehmen Gefühle übrig bleiben.
Ein weiterer Schritt, der im Alter von 3 bis 4 Jahren fällig ist, besteht darin, die Kontrollinstanz ins
Individuum selbst hineinzuverlegen. Es gibt spezielle Übungen, die täglich praktiziert werden, die
dazu dienen, solche Mechanismen der Selbstkontrolle aufzubauen: beispielsweise in hungrigem und
erschöpften Zustand an den Tisch zurückzukehren und dort zumindest 5 Minuten den Anblick einer
wohlriechenden Suppe auszuhalten ohne sie zu essen, und danach eine Münze zu werfen mit dem
Ergebnis, daß der eine Teil der Kinder zu essen beginnt, während der andere Teil weitere 5 Minuten
wartet. Alle diese Techniken kommen aus der Abteilung für "Verhaltens-Engineering" ( eine andere
Abteilung ist für das "Kultur-Engineering" verantwortlich, d.h. befaßt mit der Festsetzung der
Bestandteile eines guten Lebens, und eine dritte Abteilung ist für das "Haushalts-Engineering"
zuständig, worunter beispielsweise das Entwerfen von Gläsern und Glastabletts fällt). Die
Verhaltensmodellierung erstreckt sich bis zu einem Alter von 13 Jahren. Danach treten die
Jugendlichen formal in die Gemeinschaft ein, indem sie sich auf den Verhaltens-Code von Futurum
II verpflichten, und die obengenannten wöchentlichen Übungen zum Eintrainieren und
Verinnerlichen des Codes beginnen.
Warum mühe ich mich so damit ab, den Roman Futurum II in solchen Einzelheiten darzustellen?
Eckart Leiser
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Weil ich glaube, daß seine Absurditäten sehr gut die Ungereimtheiten, Widersprüche und
Willkürlichkeiten im theoretischen Konzept Skinners veranschaulichen und zuspitzen (um das es
sich handelt, auch wenn Skinner das bestreitet), und weil der Roman zu verstehen ermöglicht, wie
Skinner sein Modell, trotz aller theoretischen und praktischen Widrigkeiten, durchzusetzen
versucht.
Eine erste Technik besteht im Verkleistern des Grundproblems: der Umformung einer traditionellen
Gemeinschaft in eine Skinneristische Gemeinschaft. Was wie ein freiwilliger Zusammenschluß
gleichberechtigter Menschen aussieht, erweist sich als eine ziemlich dunkle Angelegenheit: Schon
am Anfang des Projekts gab es zumindest zwei Klassen von menschlichen Wesen: Der Protagonist
als Konstrukteur mit seinen wissenschaftlichen Modellen und strategischen Ideen zu deren Verwirklichung auf der einen Seite, und den einfachen Menschen auf der Suche nach einer Institution,
die für sie auf eine anständige Weise sorgt, auf der anderen Seite. In Wirklichkeit stellt sich das,
was Skinner als gemeinsames Projekt der Gründer von Futurum II ausgibt, als Unterwerfung von
Geschöpfen unter das Regime ihres Schöpfers heraus. Bleibt als Rätsel, woher die anderen Planer
kommen, die von der Gründung an die Regierung von Futurum II bildeten. Entweder es handelt
sich um eine dritte Klasse von menschlichen Wesen, die zwischen dem Schöpfer und den
Geschöpfen angesiedelt ist, sozusagen die Zauberlehrlinge, oder es handelt sich um genetische
Vervielfältigungen des Protagonisten. Auf jeden Fall erweist sich ein Kollegium, in dem
verschiedene Positionen vertreten werden und das von irgendeiner demokratischen Prozedur
abhängt, als mit der Skinneristischen Logik unvereinbar.
Als nächstes stellt sich sogleich die Frage, was mit den zukünftigen Mitgliedern von Futurum II
passiert. Wiederum gibt es zwei Klassen von menschlichen Wesen unter ihnen: die
Nachkommenschaft der ursprünglichen Mitglieder, d.h. die zweite Generation, und Leute wie Steve
und Mary, die von außen kommen und kraft einer Entscheidung zu Mitgliedern werden. Was die
Nachkommenschaft der ursprünglichen Mitglieder betrifft, handelt es sich im Grunde um einen
vierten Typ von menschlichen Wesen: um totale Kreaturen, die von Anfang an der
Verhaltensmodellierung unterworfen sind, ohne jeden Spielraum einer freiwilligen Entscheidung
für das neue Leben. Und diese Spezies von Skinneristischen Organismen soll auf der Grundlage des
gleichen Systems mit den "Bekehrten" zusammenleben können: eine weitere Ungereimtheit der
Skinnerschen Logik.
Diese widersprüchliche Situation spiegelt ein elementares Problem des Behaviorismus nach
Skinnerschem Muster wider: Die Existenz und die Notwendigkeit der menschlichen Subjektivität
wird geleugnet, aber gleichzeitig sind die vielen menschlichen Subjekte dazu zu bringen, auf ihre
Subjektivität zu verzichten, gegen die Versprechungen eines glücklichen Lebens nach Art von
Futurum II. Der Roman versucht, diese beiden Ziele Skinners zu vereinen: Seine wissenschaftliche
Vision von menschlichen Wesen darzustellen, die vollständig der Verhaltenskontrolle unterworfen
sind (die wehrlosen Kinder von Futurum II), und sich zur gleichen Zeit auf die bürgerlichen
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Sehnsüchte nach einem vereinfachten Leben ohne Angst zu beziehen, zu dem man durch einen
freiwilligen Akt gelangt (die Entscheidung von Steve und Mary, von außen kommend dieser
Gemeinschaft beizutreten).
Diese Technik zielt auf das Einführen eines Sicherheitsabstands zwischen den regressiven
Wünschen des Lesers und den Alpträumen, d.h. den Skinneristischen Phantasmen, die sich daraus
ergeben. Die Unterscheidung zwischen den drei Subjekten des Diskurses und den beiden mehr oder
weniger stummen Paaren läuft auf das Einfügen eines weiteren Sicherheitsabstands hinaus: Es sind
nicht die potentiellen Kandidaten, die in eine Diskussion über diese neue Welt eintreten, indem sie
ihre Erfahrungen analysieren und mit den Darstellungen Mr. Fraziers konfrontieren und sich auf
diese Weise eine argumentative Basis für ihre Entscheidung erarbeiten, sondern es gibt
stellvertretende Subjekte, die diese Diskussionen führen und von denen lediglich eins, Prof. Burris,
dazu bestimmt ist, die Entscheidung der beiden Betroffenen, Steve und Mary, vorzubereiten. Nur er
scheint dazu die Kompetenz zu haben, während dem Paar selbst nichts anderes bleibt als die unvermeidbare Entscheidung zu vollziehen: Das Paar ist von Natur aus dazu bestimmt, das zu tun, in
einem Akt blinden Vertrauens.
Auf diese Weise werden der theoretische und der praktische Aspekt des Skinneristischen Entwurfs
durch verschiedene Personen repräsentiert. Das hat den Vorteil, daß die Fragen bezüglich der
persönlichen Konsequenzen sich niemals allzu konkret stellen, und der Entscheidungsakt einen
emotionalen Charakter annimmt. Dieses Muster entspricht genau der besagten Aufspaltung im
Selbstverständnis auf Seiten vieler Menschen in den USA oder allgemeiner der westlichen Welt: die
Menschen haben regressive Wünsche, aber gleichzeitig den Anspruch, diese Wünsche in
wissenschaftlicher Weise zu rechtfertigen, besser gesagt: indem sie sich auf eine wissenschaftliche
Autorität berufen. Zudem erlaubt die Zuordnung dieser zwei psychischen Schemata auf
verschiedene Personen dem Leser, offenzulassen, für welche Rolle er bestimmt ist: für die Rolle des
Mr. Burris, ein diskursives Subjekt und möglicherweise ein zukünftiger Planer (Mr. Burris wird
eines Tages nach Futurum II zurückkehren), oder für die Rolle von Steve und Mary, die regressiven
Objekte, die bereit sind, auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, zugunsten des versprochenen Schutzes,
zu verzichten.
Skinner fallen also, trotz seiner schriftstellerischen Langweiligkeit, einige wirksame Tricks ein, um
die Ungereimtheiten seines wissenschaftlichen Konzepts mit einigen elementaren Bedürfnissen des
Lesers zu versöhnen. Insbesondere verdient Skinner meine Bewunderung dafür, wie er das Problem
löst, die erschreckenden Züge seiner Vorstellung einer mechanischen und abstrakten Welt in eine
utopische Botschaft zu verwandeln.
Sein erster Trick: Wie schon gesagt, besteht das Buch zu 90 Prozent aus einem Diskurs über diese
Utopie und nicht aus konkreten Erfahrungen. Der Protagonist beeindruckt die Leser nicht aufgrund
seines überzeugenden Werks, sondern aufgrund seiner radikalen Sprache. Der Autor verleiht Mr.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 37
Frazier das Profil eines Religionsgründers, dem man sich wegen seines Charismas blind
anvertrauen kann. Und die mechanische und abstrakte Welt bleibt hinter den besagten Glaswänden
verborgen.
Sein zweiter Trick: Der Autor vermeidet eine direkte Identifikation seiner Person mit dieser Utopie,
die statt dessen durch Mr. Frazier repräsentiert wird. Dank der Einführung von Mr. Burris, dem
Erzähler in der ersten Person, gelingt es Skinner, eine direkte Konfrontation mit dieser
mechanischen und abstrakten Welt durch einen allmählichen Prozeß der Annäherung zu ersetzen,
der die Bildung von Vertrauen ermöglicht. So bietet sich Skinner selbst als ein solider und
unbestechlicher Begleiter an, während man sich seiner neuen Welt nähert, auf beruhigende Weise
abgehoben vom Eifer und Radikalismus des Mr. Frazier.
Sein dritter Trick: Indem er unermüdlich den abstrakten, komplizierten, kaputten und entfremdeten
Charakter der bürgerlichen Welt betont, stellt sich das Angebot, in Futurum II einzutreten, als ein
vorteilhafter Tausch dar: nämlich an die Stelle der undurchschaubaren Mechanismen draußen
andere einfache und vorteilhafte Mechanismen zu setzen, die die psychische und physische
Versorgung der Betroffenen sicherstellen; die Erfahrung, feindlichen Mechanismen ausgeliefert zu
sein, durch den Akt des freiwilligen Sich-Auslieferns an angenehme Mechanismen zu ersetzen. Auf
diese Weise verschwinden die negativen Realabstraktionen der bürgerlichen Welt zugunsten
positiver Hoffnungen in Richtung auf eine Welt, die vollständig von den konkreten Leiden entleert
ist, die diese Realabstraktionen begleiten: eine nicht länger materielle Welt eines abstrakten
Wohlbefindens hinter den Glaswänden, verlockend wie der Zustand des Traums oder des Rauschs.
Im weiteren wird dann dieser von jedem Wirklichkeitsbezug gereinigte emotionale Komplex von
neuem mit bürgerlichen Metaphern des guten Lebens gefüllt, dem Phantasma eines wenn auch
wiederum nur abstrakt definierten Glücks: definiert durch die Abwesenheit von Krankheit, Arbeit
und Stress und durch anregende Freizeittätigkeiten. Auch diese Tätigkeiten sind durch die
Abwesenheit gekennzeichnet, nämlich die Abwesenheit jedes Vermögens, auf die Wirklichkeit
Einfluß zu nehmen. Sogar die schöpferischen Tätigkeiten innerhalb dieses Phantasmas haben einen
abstrakten Charakter, da sie für jeden verfügbar sind wie das Sortiment eines Supermarkts.
Kurz gesagt: Es handelt sich um ein recht geschickt angeordnetes Szenarium, das der
Versuchsanordnung einer Skinner-Box ähnelt, vom Autor in Form eines Romans konstruiert mit
dem Ziel, uns zu überreden. Gleichzeitig macht diese Konstruktion offenkundig, daß Skinner nicht
mehr in die argumentative Kraft seiner Auffassung vertraut, da er ja zu psychologischen Tricks
Zuflucht nimmt, zu Techniken der Suggestion und Verführung. Auf diese Art wird aus der Pose
eines Wissenschaftlers die Pose eines Demagogen. Je mehr Skinner die Vorteile seiner neuen Welt
anpreist, um so deutlicher wird die Schwäche seiner Argumente. Denn in ihrem strengen Sinn
braucht ein Konzept über unsere Zukunft, das von den mechanischen Gesetzen ausgeht, die die
Entwicklung des menschlichen Lebens beherrschen, keinerlei Propaganda, um Anhänger zu
gewinnen. Das Anwenden der erwähnten Mittel in dem hier zur Diskussion stehenden Roman läuft
auf einen militanten Versuch hinaus, sein Menschenbild und Weltbild trotz seiner Widersprüche
und Ungereimtheiten durchzusetzen und läßt den willkürlichen Charakter seines Verständnisses von
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 38
Humanpsychologie offensichtlich werden.
Aber der Roman ist mehr als ein weiterer Beweis für das wissenschaftliche Scheitern Skinners. In
ihm manifestiert sich eine alarmierende und gefährliche Deformation des Denkens, teils
offenkundig und teils verborgen, die mir unvereinbar mit einer menschlichen Perspektive erscheint.
Ich spreche hier in erster Linie von der Frivolität und Dreistigkeit, mit der Skinner sehr heikle
psychologische Fragen behandelt: etwa seine apodiktische Aussage, daß die Beziehung zwischen
Baby und Eltern während der frühen Kindheit keine Bedeutung habe. Und das nach den vielen
Diskussionen innerhalb der Psychotherapie über Primärschäden in dieser Lebensphase, über
grundlegende Störungen im Prozeß der Bildung von Identitätsstrukturen, beim Bilden der
Unterscheidung zwischen "Ich" und "Anderer", nach der Diskussion innerhalb der Ethologie über
die Bedeutung früher Prägungen usw. usf.. Ähnlich beurteile ich seine apodiktische Aussage, daß
ein interaktiver oder intersubjektiver Prozeß zwischen Lehrer und Schüler wertlos ist, angesichts all
der Diskussionen innerhalb der Pädagogik über Methoden, intersubjektive Potentiale in Lernprozessen anzusprechen und auszunutzen.
Diese Frivolität und Dreistigkeit, mit der er die Autorität des Wissenschaftlers ins Spiel bringt,
erscheint beinahe harmlos im Vergleich mit den tiefergehenden Wesenszügen seines Denkens. Ich
meine hier seinen Zynismus im Zusammenhang mit ethischen Fragen: beispielsweise die
Sorglosigkeit, wenn er von den geplanten Experimenten zur Perfektionierung der Züchtung von
menschlichen Wesen mit überlegenen Fähigkeiten spricht; oder wenn er von der zukünftigen
Notwendigkeit spricht, zentrale und intimste Bereiche des menschlichen Lebens nach den Vorgaben
experimenteller Versuchsanordnungen zu organisieren, etwa für die Erforschung neuer
Lebensformen, bei der man, in Form zweier Zufallsstichproben, eine Experimental- und eine
Kontrollgruppe zu bilden hat. Man könnte vollständig vergessen, daß es sich hier um Menschen
handelt, die ihr einziges Leben in derartige Experimente einbringen.
Diese Überlegung führt uns zur totalitären Dimension des Skinneristischen Denkens. Er bringt seine
Kreaturen dazu, sich total dem Regime irgendwelcher Planer zu unterwerfen, die die Bedingungen
für sein Wohlbefinden bestimmen. Da dieses als Höchstmaß an psychischem und sozialem Gleichgewicht definiert ist, drängt sich die Frage auf, was die Planer daran hindert, allen Bewohnern
Drogen zu verabreichen, insofern diese das besagte Gleichgewicht der Gemeinschaft fördern.
Bezeichnenderweise sind es die menschlichen Defizite und Leiden, die als einzige Erscheinung aus
dieser Gemeinschaft verbannt sind: im gesamten Roman gibt es keinerlei Andeutung, was
langfristig mit den Kranken, den Behinderten und Alten passieren wird. Konkreter: Was spricht
eigentlich gegen den Vorschlag, sie zu liquidieren, betrachtet man die Prinzipien von Futurum II?
Und was spricht gegen die Möglichkeit, die Bewohner vom Nutzen und der Notwendigkeit einer
solchen Maßnahme zu überzeugen, die Betroffenen selbst eingeschlossen, kraft derselben oben
erwähnten Techniken, die der Verinnerlichung neuer Regeln des Verhaltens-Codes dienen?
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 39
Ich unterstelle Skinner nicht, solchen Ideen anzuhängen. Aber Tatsache ist, daß sein totalitäres
Denken solche Phantasmen nicht ausschließt und seine Anhänger angesichts solcher Vorschläge
wehrlos sein läßt. Hier spätestens beginnen die politischen Aspekte des Behaviorismus nach
Skinnerschem Muster. Es gehört zur Dialektik der US-amerikanischen Freiheit, daß eine derartige
totalitäre Auffassung in ihr Platz hat. Wir haben im vorangehenden gezeigt, daß die Skinnerschen
Ideen, so sehr er auch das US-amerikanische System kritisiert, viel mit einigen Zügen dieser
Gesellschaft und ihrer Menschen zu tun haben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß beim
Exportieren der US-amerikanischen Kultur der Skinnerismus sogar ein Bestseller ist. Wie der
Kontext der Situationen verdeutlicht, in denen der Skinnerismus exportiert wird, spricht nichts
zugunsten der Annahme, daß den Betroffenen die Rolle der Planer zufallen wird, im Rahmen eines
Futurum II im weltweiten Maßstab.
Um zu illustrieren, was ich meine, ein Zitat, daß einem Aufsatz von J. Vonèche, einem Schweizer
Psychologen, entnommen ist: "Wie ich selbst als Zeuge erlebte, als die Macht in Brasilien von der
Linken an die Rechte überging aufgrund eines Militätputsches, setzte man die Fakultät (für Psychologie, E.L.) der Nationaluniversität von Brasilien ab, und die Vereinigten Staaten schickten einige
Experten zusammen mit 57 Skinner-Boxen mit dem Zweck, eine "wirkliche Psychologie" zu lehren.
Dieses Geschenk hatte eine gewisse Ironie an sich in einem Land, wo tausende von Personen mit
ihrer Einkerkerung konfrontiert waren, und das in Kerkern ohne jegliche Hebel, die man nach unten
drücken kann, dafür aber mit vielen Gründen, niedergedrückt zu sein." (Vonèche: An Exercise in
Triviality: The Epistemology of Radical Behaviorism. In: Modgil & Modgil (Hrsg.): Consensus and
Controversy. 1987, S. 72).
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 40
Kapitel 5:
Versuche zur Rettung des behavioristischen Paradigmas: der Ansatz von Tolman
Teilweise aufgrund einer inneren Dynamik auf dem Feld des Behaviorismus selbst, teilweise
aufgrund des gegen die radikalen behavioristischen Prinzipien sprechenden experimentellen
Augenscheins und teilweise durch von außen kommende Entwicklungen kam es zu Versuchen, die
behavioristischen Positionen zu überdenken, zu reinterpretieren und zu präzisieren, ohne dabei das
fundamentale Schema aufzugeben: das Zurückführen des Psychischen auf und sein Ersetzen durch
beobachtbares Verhalten. Angesichts der Unfruchtbarkeit der zu groben und naiven
behavioristischen Konzepte, zu deren Vertretern außer Skinner man Thorndike (1874-1949) und
Guthrie (1886-1959) zählen kann, machte man sich daran, die Vieldeutigkeiten auszunutzen, an
denen die behavioristische Doktrin schon litt, als sie von J.B. Watson in seinem Artikel
"Psychologie wie sie der Behaviorist sieht" von 1913 verkündet wurde (in: Behaviorismus. Köln
1968, S. 13-28).
Eine zentrale Vieldeutigkeit betrifft die Frage, ob die "inneren Zustände", wie man die von der
klassischen Psychologie behandelten und vom Behaviorismus verbannten psychischen Prozesse
bezeichnete, lediglich noch nicht auf wissenschaftliche Weise zugänglich sind oder ob sie
überhaupt nicht existieren. Zur Illustrierung ein Zitat von Watson zum Problem, "komplexere
Verhaltensformen wie Vorstellung, Urteil, Schlußfolgern und Begriffsbildung" zu studieren. "Die
einzigen Aussagen, die wir gegenwärtig darüber haben, sind in Inhaltsbegriffen abgefaßt. Unser
Kopf ist von mehr als 50 Jahren eifrigen Studiums der Bewußtseinszustände so verwirrt, daß wir
diese Probleme nur noch einseitig sehen können. Wir sollten der Situation mutig begegnen und
offen sagen, daß wir Untersuchungen dieser Art mit den heute gebräuchlichen Verhaltensmethoden
nicht weiterführen können ... mit besser entwickelten Methoden wird es möglich sein, immer
komplexere Formen von Verhalten zu untersuchen." (a.a.O. S. 25 f). Die zwei Interpretationen, die
in dieser Vieldeutigkeit der klassischen behavioristischen Doktrin Platz haben, pflegte man im
weiteren Verlauf ontologischen Behaviorismus in Abhebung vom methodologischen Behaviorismus
zu nennen.
In Verbindung mit anderen Faktoren setzte die methodologische Interpretation des Behaviorismus
eine Dynamik in Gang, die zu einer spezifischen Wiederzulassung innerer Zustände führte, im
Rahmen einer neuen Strömung, des "Neo-Behaviorismus". Dort wurde es üblich, sie
"intervenierende Variablen" zu nennen. Zu den anderen Faktoren gehörten einige kritische Experimente, also Experimente, die auf der Grundlage der bisherigen Konzepte schwer verständlich sind.
In Kürze werden wir über diese Experimente sprechen. Und schließlich gab es einige von außen
kommende Entwicklungen, die zu einer neuen Sicht gewohnter Fragestellungen Anstoß gaben. Ein
in dieser Hinsicht recht allgemeiner Beitrag war die Diskussion innerhalb des schon erwähnten
"Wiener Kreises" über die zur Konstruktion von Theorien geeigneten logischen Prinzipien, und
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 41
darüber hinaus der von Bridgman formulierte Operationalismus.
Was Tolman (1886-1959) betrifft, mit dem wir uns jetzt beschäftigen wollen, gab es einen weiteren
Einfluß: die Vorstellungen und Ergebnisse der "Gestaltpsychologie" und der "Feldtheorie" von Kurt
Lewin, die ihrerseits auf die "Gestaltpsychologie" zurückgeht. Aus alledem entstand seine Theorie
des "Lernens durch Zeichen" (nach einem terminologischen Vorschlag von Hilgard).
Zur Darstellung seines Ansatzes wollen wir damit beginnen, einige Experimente zu skizzieren, die
die klassische Auffassung des Behaviorismus in Frage stellten, nach der alles Verhalten erklärbar ist
durch Kontingenzen zwischen Reaktionen und Verstärkungen sowie durch direkte Verknüpfungen
zwischen vorangehenden Reizen und den besagten Reaktionen.
Ein erster Typ von Experimenten betrifft das Phänomen der Erwartung bei Tieren. Ein klassisches
Experiment ist das von Tinklepaugh (1928) mit Affen. In jenem Experiment sind die Affen in der
Lage, aus einer Reihe gleicher Behälter die unter einem Behälter versteckte Banane zu finden.
Wichtig ist der zweite Teil des Experiments: Nachdem die Banane heimlich durch ein für Affen
wenig attraktives Salatblatt ersetzt worden war, zeigte es sich, daß der Affe das Salatblatt
zurückwies und systematisch nach der Banane weitersuchte. Es gibt entsprechende Experimente mit
Ratten im Labyrinth, die dieses Phänomen bestätigen.
Auf der Grundlage der klassischen Behavioristischen Konzepte nach Art von Skinner, Thorndike
oder Guthrie ist ein solches Verhalten des eindeutigen Suchens unverständlich, überschreitet es
doch die Struktur von Tätigkeiten, die durch eine Kette fester Assoziationen zwischen Reizen und
Reaktionen bestimmt sind: Der Verstärker scheint mehr zu sein als ein abschließendes Ereignis, das
aus einem bestimmten Verhalten folgt (einem Operanten in der Skinnerschen Terminologie), und
das sich nach dem konsumatorischen Akt verflüchtigt. Statt dessen legt das Phänomen die Annahme
nahe, daß das Tier über das Objekt seiner Suche, unabhängig von den spezifischen Tätigkeiten, auf
einer Repräsentationsebene verfügt.
Ein zweiter Typ von Experimenten betrifft das Phänomen einer räumlichen Orientierung bei Tieren.
Tolman und seine Kollegen entwarfen eine Versuchsanordnung für das Labyrinth, in der zwei
Gruppen von Ratten nach zwei verschiedenen Prinzipien Futter zu finden lernten. Eine Gruppe
mußte immer nach rechts abbiegen, um das Futter zu finden, wobei jedesmal der Ausgangspunkt
wechselte, d.h. sie mußte eine feste Sequenz von Bewegungen gemäß dem Schema des klassischen
Behaviorismus lernen. Die andere Gruppe fand ihr Futter immer am selben Ort. Da wiederum der
Ausgangspunkt wechselte, mußten die Ratten von Fall zu Fall verschiedene Bewegungen
ausführen, aus der Sicht des klassischen Behaviorismus eine offensichtliche Komplikation. Trotz
dem lernte die zweite Gruppe sehr viel schneller, das Futter zu finden (s. Abb.).
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 42
Wiederum legt das Phänomen eine Annahme nahe, die mit der Auffassung des klassischen
Behaviorismus nicht verträglich ist: daß das Tier über eine Repräsentation des Raums verfügt, die
von seinen verschiedenen Bewegungen unabhängig ist, d.h. über eine "Landkarte", die ein
objektives Bezugssystem ermöglicht, und damit die relative Topologie seines Bewegungsraums
überschreitet. Darüber hinaus scheint dieses objektive Bezugssystem für die Regulierung des
Verhaltens wichtiger zu sein als der Raum seiner spezifischen Bewegungen.
Ein dritter Typ von Experimenten betrifft das Phänomen des latenten Lernens. In einem klassischen
Experiment benutzten Tolman und Honzig (1930) eine aus 3 Gruppen von Ratten bestehende
Versuchsanordnung, in der diese im Labyrinth untersucht wurden. Bevor man sie ins Labyrinth
setzte, wurde allen Ratten über mehrere Tage hinweg das Futter entzogen. Sodann registrierte man
die Fehler, die gemacht wurden, bevor der Ausgang des Labyrinths gefunden wurde. Die erste
Gruppe fand beim Verlassen des Labyrinths ihr Futter, also einen Verstärker im Sinn des
klassischen Behaviorismus. Die zweite Gruppe fand dort niemals irgendwelches Futter, und die
dritte Gruppe wurde nach einer ersten Periode, in der sie kein Futter fand, vom 11. Tag an verstärkt.
Wie sich herausstellte, verringerte diese dritte Gruppe nicht nur sofort die Häufigkeit von Fehlern,
also Umwegen, sondern übertraf sogar die erste Gruppe hinsichtlich ihrer Leistung, den direktesten
Weg zum Ausgang zu finden. Die zweite Gruppe ohne jegliche Verstärkung behielt während des
gesamten Experiments mehr oder weniger ihr Fehlerniveau bei (s. Hilgard: Theories of Learning.
New York 1956, Abbildung auf S. 209). Wiederum legt das Phänomen eine mit der klassischen
behavioristischen Auffassung nicht zu vereinbarende Vermutung nahe: daß der Organismus fähig
ist, ohne Verstärkungen zu lernen, d.h. daß es eine spontane Tendenz gibt, die Umwelt gemäß einer
besonderen Strategie zu erforschen, mit dem Ziel, eine Landkarte zu erzeugen und
Orientierungskonzepte auszuarbeiten.
Derartige experimentelle Ergebnisse veranlaßten Tolman, das klassische Konzept des
Behaviorismus grundlegend zu überarbeiten und zu erweitern. Eine zentrale Kategorie bei dieser
Aufgabe, das Konzept auf eine neue Grundlage zu stellen, war das "Zeichen", der Terminus, auf
den der Name seines Ansatzes zurückgeht. Er besagt im Grunde, daß die Regulierung des
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Verhaltens nicht auf periphere Prozesse zurückführbar ist, sondern daß es eine zentrale Instanz gibt,
die die Tätigkeit des Organismus vorbereitet und kontrolliert, indem sie Informationen und Signale
aus der Umwelt aufnimmt und verarbeitet, die besagten Zeichen. Diese Zeichen helfen dabei, einen
Verhaltensraum aufgrund der räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten zu strukturieren, gemäß den
Bedürfnissen des Organismus und mit Hilfe von Mittel-Zweck-Beziehungen, die aufgrund von
Erfahrungen ausgearbeitet werden.
Auf diese Art wird der Organismus als System mit vielfältigen internen Prozessen aufgefaßt, das
mit vielen kognitiven Fähigkeiten ausgestattet ist und mit seiner Umwelt auf komplexe Weise in
Beziehung steht. Diese Prozesse stellen wohlgemerkt nicht nur Nebenerscheinungen der
unmittelbaren Akte zur Sicherung und Wiederherstellung der physischen und biologischen
Lebensbedingungen dar (zu denen etwa Essen, Trinken oder Flucht gehören), sondern sind solchen
"primären" Aktivitäten vorgeordnet und mit diesen auf ziemlich vermittelte Weise verbunden.
Tolman geht sogar so weit anzunehmen, daß die Lernprozesse sich nicht aus den Verstärkungen
ergeben, die beim Verfolgen derartiger primärer Ziele auftreten, daß sie vielmehr besondere
Tätigkeiten darstellen, die nicht von ihrem unmittelbaren Nutzen abhängen. Dieser Gedanke läuft
auf eine funktionale Unterscheidung zwischen dem Lernen eines Handlungsschemas und dessen
Anwendung hinaus.
Indem er seine theoretische Sichtweise in eine systematische Form bringt, gelangt Tolman zum
folgenden Modell (wir beschränken uns hier auf dessen erste Version von 1932, die später
wiederholt modifiziert und ergänzt worden ist) in bezug auf Lernprozesse oder allgemeiner: in
bezug auf Prozesse der Ausarbeitung von Verhaltensschemata: Er unterscheidet 3 wesentliche
Aspekte in solchen Prozessen, die durch ihre jeweils eigenen Gesetze gekennzeichnet sind: die
Gesetze, die zu den kognitiven und konzeptbildenden Fähigkeiten des Organismus gehören, die
Gesetze, die sich auf die Qualitäten und Modalitäten der materiellen Umwelt beziehen, und die
Gesetze, die mit der zeitlichen und motivationalen Struktur beim Erfahren der entsprechenden
Situationen zu tun haben.
Die Gesetze des ersten Typs beziehen sich auf
- die Fähigkeit des Organismus, formale Beziehungen (d.h. räumliche, zeitliche und logische)
zwischen Mitteln und Zwecken zu erkennen und herzustellen;
- die Fähigkeit, Objekte zu unterscheiden und zu manipulieren;
- die Fähigkeit, aus einer kognitiven Landkarte alternative Wege zu einem Ziel abzuleiten;
- die Fähigkeit, alternative Ideen zur Erreichung eines Ziels durchzuspielen und auszuprobieren;
- die Fähigkeit, beim Lösen eines Problems neue Ideen zu finden/zu erfinden.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Leider ist genau betrachtet das, was wie eine Liste von Gesetzen klingt, nicht mehr als eine Liste
ungeklärter, bisher vom klassischen Behaviorismus ignorierter, Punkte, die auf bestimmte
Fähigkeiten des Organismus anspielen. Es handelt sich im Grunde um einen Katalog von
Fragestellungen, die für die zukünftige Forschung anstehen. Wie auch immer: Tolman gelangt zu
dem Schluß, daß Lernprozesse nicht auf einen einheitlichen Mechanismus zurückgehen, die auf
einer bei allen Arten gleichen Ausstattung beruhen, sondern daß es unterschiedliche Niveaus des
Lernens gibt, die mehr und mehr der oben genannten Fähigkeiten einschließen. Das primitivste
Niveau ist das Lernen in Verbindung mit konditionierten Reflexen. Das nächste Niveau ist das
Lernen vom Typ "Versuch und Irrtum" und das fortgeschrittenste Niveau ist das erfinderische
Lernen nach Art Wolfgang Köhlers (ich spiele hier auf seine berühmten Affen-Experimente an).
Nebenbei bemerkt ist es keineswegs erstaunlich, sondern als Überbleibsel des klassischen
Behaviorismus leicht erklärbar, daß für Tolman das fortgeschrittenste Niveau des Lernens dasjenige
ist, das bei Affen auftritt. Daran wird offenbar, daß er sich ein fortgeschritteneres Niveau nicht
vorstellen konnte, etwa das bewußte Lernen, das bei der Spezies Mensch anzutreffen ist. Wenn man
die besagte Unterscheidung der Niveaus auf die Liste der genannten Fähigkeiten bezieht, kann man
sie als Hierarchie lesen: So macht etwa schon der erste Typ Gebrauch von zeitlichen Beziehungen,
während nur der dritte Typ des erfinderischen Lernens die Fähigkeit des Findens/Erfindens neuer
Ideen beim Lösen eines Problems einschließt. Nebenbei machen die Forschungen Tolmans klar, daß
das Lernniveau nicht allein von der biologischen Ausstattung des Organismus abhängt, sondern
auch von den Anforderungen der experimentellen Anordnung - ein weiterer Aspekt, der auf die
Artefakte der Skinnerschen Experimente verweist.
Fahren wir fort mit den "Gesetzen" des zweiten Typs. Sie beziehen sich auf verschiedene von der
"Gestaltpsychologie" herausgearbeitete Prinzipien, die die Anordnung von Reizen betreffen. So
etwa das Prinzip
- der Kohärenz
- der Verschmelzung
- von Wechselbeziehungen zwischen räumlichen und zeitlichen
Charakteristiken der Alternativen;
- von Umweltstrukturen, die das Abschließen oder das Erweitern des beim Organismus
vorliegenden perzeptiven und operativen Feldes begünstigen.
Was die Sprechweise Tolmans nahelegt, trifft zu. Wichtig sind nicht die objektiven Charakteristiken
der Umwelt, sondern die Rolle, die die Umweltmerkmale in den Interpretationen des Organismus
spielen. Diese Interpretationen, abhängig vom motivationalen Zustand, von den bisherigen
Erfahrungen in der entsprechenden Umwelt, von den aufgrund der vorangehenden Lerngeschichte
bereits bestehenden perzeptiven und operativen Schemata, und die Relevanz dieser Merkmale im
Hinblick auf die aktuellen Ziele des Organismus transformieren die physikalische Umwelt in ein
Eckart Leiser
Behaviorismus
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psychisches Feld, das durch eine spezifische Topologie von Wertigkeiten sowie auf den Organismus einwirkende Anziehungs- und Abstoßungskräfte gekennzeichnet ist.
In Kürze werden wir uns mit der Frage beschäftigen, wie eine solche Auffassung von
Verhaltensprozessen, die den Bezugspunkt ins Innere des Organismus verlegt (um nicht gar von einer subjektiven Instanz zu reden), mit den elementarsten Prinzipien des Behaviorismus zu
vereinbaren ist. Im übrigen ist es nicht schwer zu erkennen, daß diese Vorstellung vom psychischen
Feld auf den zuvor erwähnten Kurt Lewin zurückgeht, der sich allerdings keineswegs als
Behaviorist verstanden hat.
Wir wenden uns abschließend den "Gesetzen" des dritten Typs zu. Sie beziehen sich auf die
zeitliche und motivationale Struktur beim Erfahren der Situationen, in denen die Lernprozesse
stattfinden. Im engeren Sinn auf die experimentellen Situationen bezogen, handelt es sich um die
zeitlichen Schemata bei der Darbietung von "Problemen": um die Häufigkeit, den zeitlichen
Abstand, die Regelhaftigkeit und Gleichmäßigkeit von Verstärkungen sowie die motivationale
"Einstellung" des Organismus mit Hilfe seines Grades von Entzug oder Sättigung.
Auf den ersten Blick bezieht sich dieser dritte Typ von "Gesetzen" auf die am weitesten
konkretisierten und herausgearbeiteten Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Lernprozeß. Er
verweist auf die vielen Versuchsanordnungen und deren detaillierte Ergebnisse, die im Rahmen des
klassischen Behaviorismus, insbesondere des Skinnerismus, vorliegen, aber auch schon in den
Arbeiten von Ebbinghaus, G.E. Müller und anderer Repräsentanten der "Assoziationspsychologie"
des vorigen Jahrhunderts.
Auf den zweiten Blick betreffen die zeitlichen Schemata der Darbietung und Manipulation von
Versuchsanordnungen innerhalb von Experimenten, so exakt sie auch sein mögen, einen ziemlich
speziellen Aspekt von Lernprozessen. Darüber hinaus paßt dieser Aspekt nicht so recht zum
Tolmanschen Ansatz insgesamt. Es ist ratsam, sich hier sein allgemeines Modell zu
vergegenwärtigen, wie es in den im Vorhergehenden behandelten Aspekten zum Ausdruck kommt.
Seine Vorstellungen bezüglich der kognitiven Fähigkeiten des Organismus und die Weise, wie
dieser sein perzeptives und operatives Feld strukturiert, legen das Bild eines Systems nahe, das
fähig ist, beim Verfolgen seiner Ziele eine kognitive und praktische Kontrolle über seine Umgebung
herzustellen.
Insbesondere muß ein derartiger Organismus in der Lage sein, sein kognitives und operatives Feld
so zu strukturieren, daß seine Ziele erreichbar sind. Mit anderen Worten: Es gehört zu den
Fähigkeiten eines solchen Systems, seine Umgebung zu wechseln oder umzustrukturieren, sollte es
auf unüberwindbare Hindernisse stoßen oder auf nicht mehr handhabbare Kontingenzen. Das
besagt, daß die in die klassischen Verstärkungspläne eingeführten Zufälligkeiten und
Willkürlichkeiten in der Welt eines solchen Systems ein sehr künstliches Element darstellen: die
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 46
Einführung fremder und prinzipiell unkontrollierbarer Mechanismen, ohne irgendeine Möglichkeit
des Auswegs, verwandelt die Umgebung eines derartigen Systems, am Maßstab der natürlichen
Umwelten gemessen, für die es ausgerüstet ist, in einen Alptraum. Angesichts von alledem
erscheint es mir wenig überzeugend, einen solchen Aspekt in das theoretische Fundament seines
Konzepts aufzunehmen. Ich habe den Verdacht, daß das auf den Wunsch Tolmans zurückzuführen
ist, sein wenig präzises Konzept mit zumindest einigen solideren Elementen anzureichern, auch
wenn es sich bei diesen Elementen letztlich um Fremdkörper handelt. Allgemeiner und unsererseits
auf die Begrifflichkeit der Gestaltpsychologie zurückgreifend können wir sagen, daß es um die
"Kohärenz" der drei "Gesetzes"-Typen nicht gut bestellt ist: wir haben es mit einem Gemisch zu tun
aus topologischen und kognitiven Gesichtspunkten, aus Gestalt-Prinzipien und aus dem Repertoire
des klassischen Behaviorismus.
Dieser Punkt führt uns zu weiteren Ungereimtheiten des Ansatzes von Tolman, und hier zunächst
zu der Frage, inwieweit sein Konzept mit den elementaren Prinzipien des Behaviorismus verträglich
ist. Ein erstes auch von Tolman verfochtenes elementares Prinzip ist die von uns im 2. Kapitel
gründlicher untersuchte Forderung, nach der jeder in einer Theorie vorkommende Begriff auf von
außen beobachtbare Daten oder Variable zurückführbar sein muß. Tolman hat diese Forderung
sogar noch weiter präzisiert, indem er das Programm des Operationalismus im Sinn Bridgmans
übernahm, nach dem nur solche theoretischen Aussagen in den Körper eines wissenschaftlichen
Konzepts aufgenommen werden dürfen, die in empirische Operationen umgeformt werden können.
Diese Übernahme zeigt sich im folgenden Zitat, in dem er eine Definition des sogenannten
operationalen Behaviorismus gibt.
Dieses Konzept
a) bedeutet, daß das grundlegende Interesse der Psychologie allein auf die Prognose und Kontrolle
des Verhaltens gerichtet ist.
b) Es behauptet, daß die psychologischen Begriffe bzw. die geistigen Fähigkeiten oder Ereignisse
als objektiv definierbare intervenierende Variable betrachtet werden können. Und es meint, daß
man diese intervenierenden Variablen auf vollständig operationale Weise definieren muß, d.h. mit
Hilfe von Ausdrücken für wirkliche experimentelle Operationen, aus denen sich deren Vorliegen
oder deren Nicht-Vorliegen bestimmt sowie ihre Beziehung zu den kontrollierten intervenierenden
Variablen und zu den schließlich von diesen abhängenden Variablen."
(Tolman: The intervening variable. In: M.H. Marx (Hrsg.): Psychological Theory. New York 1951,
S. 101).
Tolman versucht, diese Umformbarkeit und Reduzierbarkeit theoretischer Begriffe in
experimentelle Operationen zu veranschaulichen, indem er als Beispiel den weiter oben behandelten
Begriff der Erwartung nimmt.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 47
Dazu ein weiteres Zitat: "Wenn wir behaupten, daß eine Ratte Futter am Ort L erwartet, behaupten
wir, daß: jedes Mal wenn
(1) die Ratte ohne Futter ist,
(2) auf den Weg P trainiert ist,
(3) man sie auf P setzt,
(4) P gerade blockiert ist,
(5) es weitere Wege gibt, die von P abzweigen, und von denen einer direkt nach L führt,
dann wird die Ratte diesen Weg entlanglaufen, der direkt nach L führt. Wenn wir behaupten, daß
sie kein Futter am Ort L erwartet, so behaupten wir, daß - dieselben Bedingungen gegeben - sie
nicht diesen Weg entlangläuft, der direkt nach L führt." (Tolman, Ritchie, Kalish: Studies in Spatial
Learning I. J. Exp. Psych. 36, 1946, S. 15).
Schauen wir, inwieweit diese Umformung und Reduktion des Begriffs "Erwartung" überzeugend
ist. Das erste Argument eines solchen Verfahrens scheint zu sein, daß es eine kausale und
eindeutige Verknüpfung zwischen den vorangehenden Umständen und dem nachfolgenden
Verhalten der Ratte gibt. Auf rein empirischer Ebene ist eine solche kausale Interpretation
genausowenig zulässig, wie wenn ich schließe, daß wenn zwei Personen nacheinander durch eine
Tür gehen, das erste Ereignis den Grund für das zweite Ereignis darstellt. Aber selbst wenn wir
diese kausale Interpretation auf einen experimentellen Kontext beschränken, d.h. auf Ereignisse, die
willkürlich durch Operationen des Forschers herbeigeführt werden, und auf die dann das besagte
Verhalten der Ratte folgt, gilt eine solche kausale Interpretation nicht. Konkreter: Wer weiß, welche
anderen Motive das Verhalten der Ratte bestimmen: Vielleicht durchschaut eine Ratte das Spiel des
Forschers und ihre Erwartung richtet sich nicht auf das Futter selbst, sondern darauf, den Forscher
zu überraschen, während er das Futter am Ausgang plaziert. Vielleicht ist eine andere weniger
intelligente Ratte frustriert davon, in diesem hungrigen Zustand eingesperrt zu sein, und ihre
Erwartung richtet sich auf den Ausgang und nichts sonst, wobei sie das Futter sozusagen als
Nebeneffekt frißt, nachdem sie ihr eigentliches Ziel erreicht hat. Und eine dritte Ratte macht der
hungrige Zustand nervös, und ihre Erwartung richtet sich auf irgendein Objekt, das sie bearbeiten
und anschließend zerkleinern kann, wobei das Fressen des Futters wiederum einen Nebeneffekt
darstellt, usw.
So absurd auch solche Beispiele sein mögen: sie sollen klarstellen, daß einen Begriff wie die
"Erwartung von Futter" einführen wesentlich mehr inpliziert als nur das Bilden einer Abkürzung für
experimentelle Operationen, wie Tolman vorgibt. Es beinhaltet den Rückgriff auf ein genuin
psychologisches Konstrukt, auf das eine kausale Interpretation sich zu stützen hat. Mit anderen
Worten: der Ratte die Erwartung von Futter zuschreiben als einziges Moment, das zwischen den -
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vorangehenden Ereignissen und dem schließlichen Verhalten vermittelt, entspricht einer sehr
eindimensionalen Sichtweise, darf also nicht für eine logische Schlußfolgerung gehalten werden,
sondern erfordert vielmehr eine konkrete inhaltliche Argumentation, die auf die psychischen
Prozesse Bezug nimmt. Leider sind psychologische Konstrukte wie die Erwartung, die zum
Begreifen dieser psychischen Prozesse beitragen könnten, offiziell vom Operationalismus nicht als
wesentliche Aspekte zugelassen, und nehmen daher in Tolmans Konzept einen verdeckten und
dunklen Charakter an, mit dem Ergebnis, daß man nicht zwischen der Plausibilität der einen oder
der anderen oben gegebenen Interpretation unterscheiden kann, es sei denn aufgrund eines
bestimmten Alltagsverständnisses.
Erst wenn man über ein theoretisches Konzept verfügt über die Funktionsweise des psychischen
Systems und seiner spezifischen Funktionen im Lebenszusammenhang des Organismus, sowie
bezüglich dessen Entstehung und dessen phylogenetischer und ontogenetischer Entfaltung, wird
man zu einer rationalen Begründung für derartige kausale Interpretationen gelangen. Im gegebenen
Fall müßte ein solches theoretisches Konzept die Vordringlichkeit einer Absicherung der
Nahrungsbeschaffung für die Existenz des Organismus erklären, den spezifischen Beitrag
psychischer Regulierungen für dieses Ziel, und die besondere Funktion einer Repräsentanz dieses
Ziels mittels kognitiver Strukturen wie die "Erwartung" (deren Aufgabe es ist, dem Bedürfnis Dauer
zu verleihen und die entsprechenden Aktivitäten zu orientieren).
Um an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren, erweist es sich, daß Tolman in seinem Glauben,
daß alle seine Begriffe, insbesondere alle die zu den obengenannten "Gesetzen" gehörenden
kognitiven und konzeptuellen Fähigkeiten, nichts weiter als Abkürzungen für experimentelle
Operationen darstellen, Opfer eines Selbstmißverständnisses ist. Es gibt eine ausführlichere Analyse
von Klaus-Peter Noack (DDR), der bereits im Zusammenhang unserer Kritik des Skinnerismus
erwähnt wurde, die sich mit diesem Widerspruch bei Tolman zwischen seinen operationalistischen
Prinzipien und seinen Erklärungsansprüchen beschäftigt (in: W. Friedrich: Zur Kritik des Behaviorismus. Köln 1979, S. 109 ff.).
Man stößt auf weitere Ungereimtheiten im Konzept Tolmans, die einige konkretere Aspekte
betreffen: Als Beispiel sein Konzept des kognitiven und operativen Felds beim Organismus: statt
einige elementare Regeln zu benennen, nach denen sich ein solches Feld organisiert, in denen sich
die wesentlichen Existenznotwendigkeiten der entsprechenden Spezies darstellen, erweckt Tolman
den Eindruck, daß dieses Feld aus sehr verwickelten und abstrakten mathematischen und topologischen Prozeduren hervorgeht. So entsteht das Bild eines gigantischen Computers und nicht eines
Organismus, der grundlegende Funktionen seiner Existenz zu erfüllen hat. Und alles das läuft auf
einem vollständig spekulativen Niveau ab, ohne jeden praktischen Wert. Dieser Verlust eines
Praxisbezugs widerspricht kraß den Praxisansprüchen, die der Behaviorismus seinerzeit anderen
Auffassungen von Psychologie entgegengestellt hat.
Eckart Leiser
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Während er vom Organismus das Bild eines überdimensionalen Computers zeichnet, hört Tolman
nicht auf, von einschneidenden Vereinfachungen Gebrauch zu machen. So ist für ihn die Umwelt
immer ein festgelegtes Szenarium, mit stabilen Merkmalen, die ein System von Bedingungen unter
vollständiger Kontrolle des Forschers bilden, ein System, das das Verhalten des Organismus nach
Tolmans Vorstellung auf klare und einseitig gerichtete Weise festlegt. Die Umwelt setzt die Bedingungen, die die Reaktionen des Organismus auslösen. Man könnte vollständig vergessen, daß die
wirkliche Umwelt der Organismen zugleich aus anderen Organismen und insbesondere aus deren
Artgenossen besteht. Stellt man diese Erweiterung des Problems in Rechnung, verwandelt sich die
Problemstellung, die kausalen Beziehungen zu erforschen zwischen festgelegten Umweltreizen und
durch diese bestimmten Verhaltensprozessen, die ja bereits in ein Dickicht von Faktoren und
Bedingungen hineinführt, in ein Problem von noch einmal vervielfachter Komplexität: das
Erforschen des Systems von Wechselwirkungen zwischen mehreren Organismen, der vielen
wechselseitigen Prozesse, der Rückwirkungen zwischen ihren kognitiven und operativen Feldern
usw. Hält man an der mechanistischen Betrachtungsweise dieser Situation fest, gibt es jetzt nicht
mehr eine Asymmetrie zwischen dem betrachteten Organismus und seiner Umwelt, die es erlauben
würde, eine Kette von Ursachen und Wirkungen herzustellen. Statt dessen hätten wir es jetzt mit
dem ziemlich merkwürdigen Szenarium einer Versammlung passiver Organismen zu tun, jeder
bereit zu reagieren, aber gleichzeitig alle darauf wartend, daß einer agiert. Um diese Absurdität zu
überwinden, müßte man ein mechanisches Modell entwerfen, das diese verschiedenen Organismen
in ihrer Gesamtheit umfaßt, in Analogie zu einer mathematischen Vorgehensweise, die darin
besteht, die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Variablen durch einen übergeordneten
"Mechanismus" von Gleichungen zu ersetzen, der den Verlauf jeder Variablen ein für allemal
beschreibt. Es gibt ein sehr viel einfacheres Problem in der Astronomie, die Wechselbeziehungen
zwischen 3 Planeten auf der Grundlage der Gravitationsgesetze zu beschreiben, was schon nicht
mehr innerhalb eines geschlossenen Systems von Gleichungen durchführbar ist. Angesichts dieser
unüberwindlichen Probleme, sein mechanisches Verhaltensmodell auf Realsituationen anzuwenden,
und der Tatsache, daß schon sein Modell für künstliche und höchst vereinfachte Situationen in
hohem Maß aus Spekulationen besteht, drängt sich die Frage auf, wie Tolmans Konzept jemals dem
behavioristischen Anspruch genügen soll, praktische Probleme zu lösen, und insbesondere menschliches Verhalten vorauszusagen und zu modellieren.
Das Ergebnis der Tolmanschen Bemühungen, die Defizite des klassischen Behaviorismus zu
überwinden, scheint ein wenig paradox zu sein: Die Aufzählung seiner vielen intervenierenden und
Umweltvariablen (s. seine entsprechenden Listen), keineswegs vollständig, ohne schlüssige
Ordnung, und durch ein gigantisches Netz von mathematischen und topologischen, wenn auch nur
imaginären, Beziehungen verknüpft, verkehrt die ursprünglich vom Behaviorismus verkündete
Forderung nach Ökonomie in ihr Gegenteil. Darüber hinaus verkehrt sein relativistisches Modell
der kognitiven und operativen Felder, das in einer subjektivistischen, ja beinahe solipsistischen
Terminologie und ohne jede Übersetzung in objektive Charakteristiken entworfen wird, eine
weitere vom Behaviorismus verkündete Forderung in ihr Gegenteil: die nach absoluter Objektivität
seiner Konstrukte. Aber all das ist lediglich der Anfang der Zersetzung des Behaviorismus, wie wir
im weiteren sehen werden.
Eckart Leiser
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Kapitel 6:
Die Wiederentdeckung der menschlichen Komplexität: der Behaviorismus von Albert
Bandura
Wir haben bereits einen Versuch kennengelernt, das behavioristische Paradigma zu retten, und zwar
durch Vertiefung und Verbesserung seiner theoretischen Basis: den Ansatz von Tolman. Das
Ergebnis blieb wenig überzeugend: sehr komplexe und gleichzeitig wenig realisierbare theoretische
Ansprüche, mit der Folge, daß die praktischen Probleme menschlichen Verhaltens weit außerhalb
der Reichweite dieses Konzepts blieben. Wir werden jetzt einen weiteren Versuch zur Rettung des behavioristischen Paradigmas kennenlernen: den Ansatz von Bandura.
Wir beginnen, indem wir zwei Zitate wiedergeben: "Für die Umwelten gibt es ebenso Ursachen wie
für das Verhalten. Es trifft zu, daß das Verhalten durch seine Kontingenzen reguliert wird, aber
diese Kontingenzen sind, zumindest teilweise, Produkte der Person. Über ihre Handlungen spielen
die Menschen eine aktive Rolle beim Herstellen der verstärkenden Kontingenzen, die auf sie eine
Wirkung ausüben. Wie zuvor gezeigt, erzeugt das Verhalten teilweise die Umwelt, und die Umwelt
beeinflußt in umgekehrter Richtung das Verhalten. Dem häufig gehörten Motto, das besagt:
'Verändere die Kontingenzen, und Du wirst als Folge das Verhalten ändern' sollte man die
umgekehrte Version hinzufügen: 'Ändere das Verhalten, und Du wirst die Kontingenzen ändern'.
(Bandura: Social Learning Theory. Englewood Cliffs (N. J.) 1977, S. 203). Und er fährt fort: "Je
größer die Voraussicht, das Geschick und die Selbstkontrolle (der Menschen, E.L.), alles das
erwerbbare Fähigkeiten, um so größer ist der Fortschritt in Richtung auf seine Ziele. Wegen des
Phänomens des reziproken Einflusses sind die Menschen Architekten ihrer eigenen Geschicke."
(a.a.O. S. 206).
Sodann, mit Bezug auf die Fähigkeit des Menschen, sich derart zu verhalten, liest man, daß das
funktioniert, indem "sowohl die Reize für die angemessene Handlung als auch die Anreize, diese
beizubehalten, zur Verfügung gestellt werden. Da vorweggenommene Anreize die
Wahrscheinlichkeit dieses Typs von schließlich irgendwann einmal verstärktem Verhalten erhöht,
ist eine derartige Anreizfunktion sehr nützlich." (a.a.O. S. 18).
Die beiden Zitate spiegeln die ganze Spannweite im Denken von Bandura wider: auf der einen Seite
die Betonung der menschlichen Subjektivität auf eine an dialektische Kategorien erinnernde Weise,
und auf der anderen Seite seine Beschränkung auf die klassischen Kategorien des Behaviorismus.
So wie Tolman beim Ausarbeiten seines Konzepts seinen empirischen Ausgangspunkt hatte,
nämlich den experimentellen Augenschein, der für die Rolle kognitiver Prozesse sprach, so hat auch
Bandura seine empirischen Argumente. Beispielsweise fand man in einem Experiment (Spielberger
und De Nike 1966) heraus, daß die Verstärkung einer bestimmten Art von seiten der
Versuchsteilnehmer produzierten Worten kaum irgendeine Wirkung hatte, bis diese schließlich das
Unterscheidungsprinzip erkannten. Aus diesen durch andere Experimente vielfach bestätigten
Eckart Leiser
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Ergebnissen zieht Bandura den Schluß, daß es nicht die Verstärkung als eine nachfolgende
Erfahrung ist, die das Festhalten der richtigen Reaktionen und das Ausscheiden der falschen
Reaktionen bewirkt, sondern daß es das Begreifen der Logik ist, auf der eine Kontingenz beruht.
Nach dieser Ansicht ist es die Antizipation der Verstärkung, die den Lernprozeß antreibt, und
darüber hinaus eine intrinsische Motivation, ein Verhaltensproblem kognitiv zu bewältigen, die in
diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt. Dieser Aspekt überschreitet die "Erwartung" der
Ratten in Tolmans Konzept, abgesehen davon, daß die kognitiven Aufgaben in den erwähnten
Experimenten auf räumliche Beziehungen beschränkt waren.
Diese Fähigkeit des Menschen, Verhaltensmodelle und kognitive Modelle auszuarbeiten, allein
aufgrund einer intrinsischen Motivation, die in seiner Umwelt sich stellenden Herausforderungen zu
bewältigen, wird, wie wir im folgenden sehen werden, zu einem zentralen Element in Banduras
Ansatz, dem Modellernen:
Von weiterer empirischer Evidenz ausgehend, stellt Bandura fest, daß es einen Typ des Lernens
gibt, der unabhängig von praktischen Erfahrungen ist und trotzdem sehr wirksam und komplex in
bezug auf die Ergebnisse, und der arbeitet mit dem Beobachten eines Modells. Das einfachste
Niveau dieses Typs ist die Nachahmung der Erwachsenen durch die Kinder schon in der frühen
Kindheit in bezug auf zufällige Bewegungen, bestimmte Tätigkeiten oder ausdrücklich vorgeführte
Operationen. Zwar stellt Bandura fest, daß ein solches Lernen durch Modellbildung vorkommt,
leider aber bietet er, wie wir sehen werden, kaum irgendeine Erklärung an, die geeignet wäre, in
dieses Phänomen theoretisch etwas Licht zu bringen.
In der Tat läuft schon die kindliche Nachahmung auf eine enorme Erschütterung des
behavioristischen Paradigmas hinaus. Nach diesem Paradigma wäre die Nachahmung bestenfalls
verständlich, wenn man sich eine verwickelte Versuchsanordnung vorstellt, die aus dem
Verhaltensmodell besteht - dem Muster - und dem zufällige Reaktionen abstrahlenden Organismus,
der nach Versuch und Irrtum verfährt. Erst wenn eine Übereinstimmung zwischen einem
Verhaltenselement des Modells und einem Verhaltenselement des Organismus auftritt, würde der
letztere eine Verstärkung erhalten. Danach müßte man warten, bis dieses Element ein weiteres Mal
auftritt und gleichzeitig ein zweites Element, das dem Verhalten des Modells zumindest ähnelt.
Dieses müßte man verstärken mit dem Ziel, das zweite Element jedesmal mehr in Richtung auf das
Muster hin zu modellieren, und gleichzeitig die Verkettung zwischen beiden Elementen
aufrechterhalten, usw. Ich denke, daß diese Andeutungen genügen, um klarzustellen, daß auf diese
Weise die Nachahmung einer komplizierteren Bewegung erklären dem Hauptgewinn im Lotto
entspricht. Aber wichtiger ist, daß es im Fall der besagten Kinder weder einen Prozeß von langer
Dauer noch eigentliche Verstärkungen gibt. Wie es scheint, genügt die Beobachtung eines Modells,
um alsbald eine Kopie herzustellen. Man könnte höchstens die Wirkung sekundärer Verstärkungen
in Betracht ziehen, irgendwelche auf seiten des Modells erfahrene vorteilhaften Konsequenzen, ein
im Rahmen der behavioristischen Logik schwer zu erklärender Effekt.
So richtig diese Einwände gegen eine Zurückführung des Phänomens auf das klassische Paradigma
auch sind, gelingt es Bandura nicht, jenem Paradigma seine eigene theoretische Position
entgegenzustellen. Er bleibt mehr oder weniger beim Anblick dieser Fähigkeit stehen, wobei er sie
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als eine Naturtatsache betrachtet, die zur angeborenen Ausstattung des Menschen gehört. Zur
Illustrierung ein Zitat: "Als Ergebnis ihrer wiederholten Darbietung erzeugen die modellierenden
Reize dauerhafte und reidentifizierbare Bilder der modellierten Operationen." (a.a.O. S. 25).
Zweifellos liegt hier eine sehr mechanistische Betrachtungsweise vor, die im Widerspruch zu der im
obigen ersten Zitat vorgefundenen dialektischen Sprechweise steht.
Für mich handelt es sich hier um eine sehr exemplarische Situation des Behaviorismus zwischen der
komplexen Wirklichkeit und seinen reduktionistischen Ansprüchen, wie sie im Denken Banduras
verkörpert ist: Bandura schwankt ständig hin und her zwischen dem Wahrnehmen der komplexen
Phänomenologie menschlicher Subjekte, die fähig sind, ihre Verhaltenskompetenzen auf aktive und
bewußte Weise zu erweitern, mit dem Ziel, ihre Umwelt ihren Bedürfnissen gemäß und in einem
gesellschaftlichen Raum zu strukturieren und zu kontrollieren. Auf der anderen Seite aber, bei dem
Vorhaben, diese Phänomenologie theoretisch aufzuhellen, fällt er in die mechanistischen
Kategorien zurück. Im Unterschied zu den radikalen Vertretern des Behaviorismus nach Art
Skinners jedoch entscheidet sich Bandura im Zweifelsfall für die Komplexität der menschlichen
Wirklichkeit. Es ist dies zwar eine pragmatische Entscheidung aber nichtsdestoweniger eine Entscheidung, die ihm einige praktische Resultate ermöglicht.
Im Augenblick interessieren uns jedoch mehr die theoretischen Aspekte von Banduras Position.
Aus dem Gesagten folgt zunächst, daß er das Projekt des Behaviorismus aufgibt, ein einheitliches
Konzept für das Verhalten von Organismen zu entwickeln. Denn letztlich schließen seine
Überlegungen zum Modellernen, das sich im Mittelpunkt seines Interesses befindet, viele allein für
den Menschen zutreffende Voraussetzungen ein: Das beginnt mit der Fähigkeit, mich auf einen Artgenossen als ein Spiegelbild meiner selbst zu beziehen, und dabei gleichzeitig die Identität und den
Unterschied aufrechtzuerhalten. Es geht weiter mit der Fähigkeit, eine Entsprechung zwischen der
Topologie meiner Bewegungen und den Bewegungen des Modells herzustellen, was eine
Virtualisierung und Dezentrierung meines Bezugssystems erfordert. Oder die Fähigkeit, ohne die
physische Ausführung des Modellverhaltens auszukommen und diese durch kognitive
Repräsentationen zu ersetzen. Oder die Fähigkeit, das Verhalten des Modells systematisch zu
analysieren und es dabei in seine Elemente zu zerlegen. Oder gar die Fähigkeit, die kognitiven
Bilder in eine symbolische Sprache zu übersetzen, die mir gestattet, die Verhaltensschemata für die
Zukunft aufzubewahren und sich diese wieder zu vergegenwärtigen - gemäß dem Konzept von Bandura ein letzter Schritt der individuellen Entwicklung von Modellernen.
Mangels einer präzisen theoretischen Orientierung, die die Bestimmung der menschlichen Spezifika
und deren Abgrenzung von unterhalb des Menschen liegenden Fähigkeiten ermöglichen würde,
gelangt Bandura jedoch zu einem Gemisch widersprüchlicher Argumente. Verteidigt er gegen den
radikalen Behaviorismus die Vermittlungsfunktion kognitiver Prozesse für das Zustandekommen
der erwähnten Typen von Lernen, so argumentiert er wie folgt: "Angenommen, man bietet den
Versuchspersonen Worte unterschiedlicher Länge dar, und man sagt ihnen, ihre Aufgabe sei, als
Reaktion mit der richtigen Zahl zu antworten, die dem jeweiligen Wort entspricht. Legen wir eine
willkürliche Regel fest, nach der sich die "richtige Zahl" ergibt, indem wir die Anzahl der
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Buchstaben eines Wortes von 100 abziehen, den Rest durch 2 teilen und das Ergebnis mit 5
multiplizieren ... Ein zum Denken nicht fähiger Organismus wird keinerlei Leistungsfortschritt
zeigen, so lange man auch seine Reaktionen verstärkt." (a.a.O. S. 21). Dieses Beispiel, das zur
prinzipiellen Widerlegung der automatischen Rolle von Verstärkern gedacht ist, schließt ohne Not
die subhumanen Organismen aus der Argumentation aus, für die seine Kritik gleichermaßen gilt.
Andererseits, beim Versuch, sein Modellernen über den Menschen hinaus zu verallgemeinern,
argumentiert er folgendermaßen: "Höhere Tiere können sich durch Beobachtung komplizierte
Sequenzen von Reaktionen aneignen, sogar wenn sie diese erst nach einem bestimmten Intervall
nach Abschluß der ursprünglichen Vorführung ausüben. Die beeindruckendste Evidenz für eine
solche verschobene Modellierung neuer Verhaltensmuster findet sich bei den in menschlichen
Familien aufgezogenen Schimpansen (Hayes und Hayes). Sie sitzen vor Schreibmaschinen und
betätigen die Tasten, bringen, vor Spiegeln stehend, Lippenstift auf ihr Gesicht auf, öffnen Dosen
mit Büchsenöffnern und übernehmen andere menschliche Tätigkeiten, die sie dann und wann
ausgeführt sehen, ohne jeglichen vorhergehenden Unterricht. Der Erfolg von Gardner und Gardner
(1969), die Schimpansen eine Zeichensprache beigebracht haben, beweist die hochentwickelte
Fähigkeit der Primaten, sich mittels Beobachtung eine allgemeine Kommunikationsfähigkeit
anzueignen, die bei zukünftigen Anlässen, innerhalb verschiedener Zusammenhänge und für eine
Vielfalt von Zielen eingesetzt wird." (a.a.O. S. 34). Leider verdeutlicht Bandura mit diesem Beispiel
wiederum eher die Defizite seines Konzepts von Modellernen statt dessen Verallgemeinerbarkeit.
Denn abgesehen von oberflächlichen Ähnlichkeiten:
Was hat die menschliche Fähigkeit des Schreibmaschine-Schreibens mit den Spielereien zu tun, die
ein Schimpanse mit einer Schreibmaschine veranstaltet? Auf diese Weise übergeht Bandura
vollständig all die umfangreichen Diskussionen über die Spezifika von Werkzeugen im
menschlichen Lebenszusammenhang und deren Rolle innerhalb der menschlichen Evolution. Aber
Bandura läßt sogar seine eigene Analyse des Modellernens außer acht, weil es danach die den
Tätigkeiten des Modells zugeschriebenen nützlichen Folgen sind, im Fall der Schreibmaschine im
geschriebenen Produkt materialisiert, die das Modellernen anregen sowie das Festhalten und
Vervollkommnen dieser Fertigkeit erklären, Aspekte, die auf die Schimpansen im Beispiel schwer
anwendbar sind.
Oder abgesehen von einer oberflächlichen Ähnlichkeit:
Was hat der Erwerb und der Gebrauch einer menschlichen Symbolsprache mit den "Symbolen"
eines Schimpansen zu tun, die ihm als Signale in gegebenen Situationen dienen? Wiederum
übergeht Bandura all die umfangreichen Diskussionen über die Rolle von Zeichen auf
unterschiedlichen Niveaus: etwa ein Signal, das auf gegenwärtige Objekte oder gegebene Ziele
verweist, verglichen mit einem Symbol, das Träger einer allgemeinen Bedeutung ist, ein Begriff im
linguistischen Sinn, der die kognitive Darstellung und die soziale Kommunikation semantischer
Schemata unabhängig von jeglichem aktuellen Bezug ermöglicht. Auch hier wieder läßt Bandura
seine eigene Analyse außer acht, nach der das symbolische Niveau die höchstentwickelte Formation
in der Entwicklung des menschlichen Individuums im Hinblick auf das Modellernen ist.
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Wenn wir die beiden Beispiele zusammenfassen, können wir feststellen, daß Bandura sich zwar auf
die menschliche Komplexität einläßt und in diesem Punkt den Reduktionismus des klassischen
Behaviorismus überwindet, aber er tut das ohne einen klaren Begriff von den Spezifika des
Menschen, der eine präzise Analyse ermöglichen könnte und eine saubere Abgrenzung von
allgemeineren Fragestellungen bezüglich der Merkmale psychischer Prozesse.
Zusammengenommen zeigt sich, daß sein Konzept des Modellernens ein "deus ex machina" ist, der
erfunden wurde, um den Gegenstand des Behaviorismus in Richtung auf komplexere Phänomene
des Psychischen beim Menschen zu erweitern. Diese Erweiterung zielt nicht in erster Linie auf
einen erklärenden Zugang, sondern auf eine Beschreibung. Diese beschriebenen Phänomene erst
einmal gegeben, ist Bandura als Pragmatist daran interessiert, irgendwelche relevanten Variablen
herauszufinden, die für die praktischen Aufgaben der Humanpsychologie ausgenutzt werden
können: So sucht er etwa die vorangehenden Variablen, die den Prozeß des Modellernens beeinflussen, d.h. die in der Umgebung der Person liegenden Variablen, und ebenso die nachfolgenden
Variablen, also die Arten von Verstärkung. Auf diese Weise sammelt er eine Menge von Faktoren,
die die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten kraft Modellernen begünstigen oder behindern. Aber
angesichts der seinerzeit dargelegten Argumente gegen die Möglichkeit, eine theoretische oder
praktische Kontrolle über psychische Prozesse zu gewinnen, indem man irgendwelche relevanten
Variablen anhäuft, verwundert es nicht, daß die Ergebnisse von Bandura ziemlich oberflächlich
bleiben. Was hervorsticht, ist ein erheblicher Kontrast zwischen der Vielfalt aufgeworfener
Fragestellungen und dem Erklärungswert ihrer Behandlung:
Was die enorme Vielfalt seiner Fragestellungen betrifft: Er wendet sein Konzept des Modellernens
auf den Erwerb der ersten motorischen Muster beim Neugeborenen an, auf den Erwerb der
entwickelteren Schemata sensomotorischer Koordination beim Kind, des Sprechens, der Fertigkeit,
Werkzeuge zu benutzen und herzustellen, von kognitiven Techniken der Problemlösung, der
moralischen und politischen Haltung, oder allgemeiner: emotionaler und kultureller Muster, ja
sogar auf den Erwerb der Schemata künstlerischer Kreativität.
Aber gleichzeitig gibt es einen Mangel von Erklärungskraft, der z.B. deutlich wird, wenn man
seinen Standpunkt hinsichtlich der Nachahmungstätigkeiten in der frühen Kindheit mit der
diesbezüglichen Position Jean Piagets vergleicht. Seinem genetischen Herangehen entsprechend
geht Piaget davon aus, daß die Wahrnehmung eines Menschen als Modell eine Unterscheidung
zwischen dem "Ich" und dem "Anderen" voraussetzt (selbstverständlich haben diese Begriffe bei
Piaget eine andere Bedeutung als in der Psychoanalyse). Nach den Untersuchungen Piagets taucht
diese Unterscheidung nicht plötzlich auf, sondern entsteht in einem längeren Prozeß. Nach Piaget
hat deshalb das erste Auftreten der Nachahmung einen engen Bezug zu den eigenen
sensomotorischen Schemata des Säuglings. Piaget sieht diese Position durch Experimente bestätigt,
in denen der erste Schritt der Nachahmung aus einer zeitlich versetzten Nachahmung seiner
eigenen, vom Forscher wiederholten, Bewegungsmuster bestand, die sich der Säugling erarbeitet.
Er erklärt sodann die folgenden Schritte des Modellernens beim Kind als eine allmähliche
Dezentralisierung des Bezugssystems, in deren Verlauf das Kind es schafft, immer abweichendere
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Bewegungsmuster nachzuahmen (s. Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart 1969).
Abgesehen von den eigenen Defiziten Piagets, die u.a. an seiner Unterschätzung der sozialen
Interaktionen und Interventionen in der Entwicklung des Individuums liegen, wird bei seinem
genetischen Ansatz die Bildung der spezifischen Beziehung zwischen einem Beobachter und einem
Modell zumindest vorstellbar, die das Kind dann schließlich und endlich dazu befähigt, fremdes
Verhalten nachzuahmen, also eine "Nachahmungsbeziehung" aufzubauen.
Bandura führt zwar mit vollem Recht verschiedene experimentelle Ergebnisse an, die die besagten
Defizite Piagets unterstreichen, ihm gelingt es aber leider keineswegs, eine befriedigendere
Erklärung anzubieten, statt dessen bestreitet er letztlich die Notwendigkeit irgendeiner Erklärung.
Ein Zitat: "Wenn die sensorischen und motorischen Systeme hinreichend entwickelt sind und die
partiellen Fertigkeiten vorliegen, gibt es keinerlei Grund, daß Kinder nicht durch Beobachten
anderer neue Reaktionen lernen könnten." (a.a.O. S. 32). Und welche Gründe gibt es dafür, daß sie
es können? Vergeblich wartet man auf eben diese positiven Gründe, die die Existenz der besagten
"partiellen Fertigkeiten" oder allgemeiner die Fähigkeit des Lernens durch Beobachtung begreifbar
machen könnten.
Was ich meine, wenn ich das Konzept des Modellernens einen "deus ex machina" nenne, ist, daß es
schließlich lediglich eine Lücke füllt zwischen dem klassischen Behaviorismus und dem
Behaviorismus Banduras mit seinem Anspruch, die menschliche Komplexität zu umfassen:
Einerseits muß die menschliche Komplexität zugestanden werden, andererseits fehlen die Kategorien, um die historische und individuelle Dynamik zu verstehen, die diese Komplexität als
funktionale Antworten auf die Herausforderungen der menschlichen Entwicklung hervorgebracht
hat. Statt das historische Auftreten der menschlichen Komplexität zu erklären, behandelt Bandura
diese als vollendete Tatsache, ohne irgendeine Vermittlung zu den subhumanen Formen
herzustellen. Und statt das individuelle Entstehen dieser menschlichen Komplexität zu erklären,
reduziert Bandura ihren Erwerb und ihre Weitergabe auf einen mechanischen Akt des Kopierens.
Im Grunde heißt das, den entsprechenden Prozeß durch sein Ergebnis zu ersetzen. Die Qualität
dieses Typs von Erklärung erinnert mich an die Zweckursachen, die man insbesondere in der
aristotelischen Philosophie findet. In der Tat gibt es im bisher zitierten Buch einige klassische
Beispiele für derartige Zweckursachen. Sehen wir uns einige an:
Während er die Voraussetzungen des Modellernens durchgeht, begründet Bandura die Funktion des
Erinnerns, des Festhaltens und des Symbolisierens von beobachtetem Verhalten folgendermaßen:
"Die Menschen können durch das Beobachten von Modellverhalten nicht beeinflußt werden, wenn
sie es nicht erinnern (Hervorhebung E.L.). Ein zweiter wichtiger am Modellernen beteiligter
Vorgang betrifft das Festhalten der gelegentlich modellierten Tätigkeiten. Damit die Beobachter aus
dem Verhalten nicht mehr anwesender und ihnen damit keine Orientierung mehr gebender Modelle
Nutzen ziehen können, muß das Muster der Reaktion im Gedächtnis auf symbolische Weise dargestellt sein. Durch das Medium von Symbolen können vorübergehende Erfahrungen der
Modellbildung im Langzeitgedächtnis aufbewahrt werden." (a.a.O. S. 25). Bleibt nur eine Frage:
Wie verwirklichen und konkretisieren sich diese Voraussetzungen, die aus einer Zwecksetzung
abgeleitet sind: dem Modelllernen nach Art Banduras?
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Wie dem auch sei, beim empirischen Untersuchen der vielen Aspekte bei der Ausbildung und
Deformation von menschlichem Verhalten gelangt Bandura zu einigen ziemlich überzeugenden
Schlußfolgerungen: etwa daß Erwerb und Anwendung eines Modellverhaltens zwei völlig
verschiedene Dinge sind; daß zwischen beiden Ebenen ein differenzierter Prozeß der Bewertung
hinsichtlich des Nutzens, des moralischen Aspekts und der sozialen Akzeptanz des entsprechenden
Verhaltens liegt (leider verrät er nicht, wie dieser Prozeß konkret funktioniert); und was die Moral
betrifft, daß eine moralische Haltung verbal vertreten und sie praktizieren wiederum zwei
verschiedene Dinge sind; und bezüglich der Lernanreize gelangt er zu dem Schluß, daß wichtiger
als äußere Verstärkungen die intrinsischen Verstärkungen sind, die auf der aus der Tätigkeit selbst
kommenden Befriedigung gründen; ja sogar daß der Mensch in der Lage ist, seine Verstärkungen
gemäß irgendwelchen übergeordneten Bedürfnissen zu definieren und einzusetzen; und schließlich
und endlich gelangt er zu dem Schluß, daß die Übernahme eines durchaus verlockenden Verhaltensstils, so überzeugend ein Modell für den Beobachter auch sein mag, an Geldmangel scheitern
kann. Man muß zugeben, daß zumindest das letzte Ergebnis nicht so überraschend ist.
Von einer entsprechenden Vielfalt sind die von Bandura und seinen Kollegen nahegelegten oder in
Angriff genommenen Anwendungsfelder: Es beginnt mit der Förderung beim Aufbauen
sensomotorischer Schemata in der frühen Kindheit. Es geht weiter mit der Strukturierung und
Veränderung von Verhaltensschemata innerhalb der familiären und schulischen Sozialisation.
Weiterhin ergeben sich therapeutische Konzepte, die zum Aufbau alternativer Verhaltensschemata
führen oder zum Abbau von auf Angst beruhenden Verhaltenshemmungen. Und schließlich deutet
Bandura mögliche Anwendungen seines Konzepts an, die auf raffiniertere Strategien der Werbung
und politischen Propaganda zielen.
Die erwähnte Erkenntnis, derzufolge die Übernahme eines Verhaltensstils aufgrund von
Geldmangel scheitern kann, kennzeichnet recht gut den Banduras Analyse bestimmenden Abstraktionsgrad. Es ist die den Behaviorismus insgesamt bestimmende Abstraktion, dessen spezifische
Funktion wir im Fall Skinners untersucht haben. Unter dieser Abstraktion, oder konkreter: unter
dieser Ausschaltung der konkreten Zusammenhänge leidet schon der eigentliche zentrale Punkt
seines Konzepts, das Modellernen. Da er die unterschiedlichen Umstände außer acht läßt, unter
denen eine Person eine andere beobachtet, entgeht Bandura, daß der Zweck, so etwas zu tun, von
der konkreten Situation abhängt. Jemanden, der vor mir steht, als Modell behandeln, dessen
Verhalten ich kopieren will, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Eine andere Möglichkeit
wäre, daß zwischen beiden Personen eine Freundschaftsbeziehung besteht, und die Beobachtung
dazu dient, mein Verhalten mit dem des Freundes zu koordinieren. Oder es besteht eine Konfliktbeziehung, und die Beobachtung dient dazu, das Verhalten zu bestimmen, mit dem ich am besten
das Verhalten meines Gegenspielers stören kann. Oder es handelt sich gar um eine
Liebesbeziehung, und die Beobachtung dient dazu, das Verhaltens-Gegenstück zu finden, mit dem
ich meine Geliebte oder meinen Geliebten am meisten erfreue (gar nicht zu reden von komplexeren
Konstellationen, die seitens der Kritischen Psychologie thematisiert werden wie
Kooperationsbeziehungen, die sich aus der Arbeitsteilung ergeben, in denen die Beteiligten sich
wechselseitig auf ihre Werkzeugfunktionen hin beobachten usw., eine im Sinn der besagten
Kritischen Psychologie grundlegende Situation für die Verallgemeinerung von Bedeutungen
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sozialer Rollen). Der Versuch, alle diese sozialen Konstellationen auf die eine Konstellation des
Kopie-Machens zurückzuführen, scheint mir wenig fruchtbar zu sein, um die theoretischen und
praktischen Probleme der Psychologie zu lösen. Er läuft auf einen Reduktionismus neuer Art
hinaus, trotz aller Ansprüche Banduras, die menschliche Komplexität in Betracht zu ziehen.
Wenn wir das Wesentliche unserer Kritik zusammenfassen: Wir haben festgestellt, daß das gesamte
System Banduras, so beeindruckend es auch ist mit all seinen Phänomenen und Typen und Niveaus
und Bereichen des Lernens, auf einem Schlüsselelement gründet: der Nachahmungsbeziehung
zwischen einem beobachtenden Organismus und seinem Modell. Und gerade dieses
Schlüsselelement bleibt mehr oder weniger dunkel. Insbesondere bleibt dunkel, wie ein solches
Element mit der behavioristischen Logik vereinbar sein soll. Denn schon auf dem subhumanen
Niveau setzt das Eingehen einer solchen Nachahmungsbeziehung ein Repertoire kognitiver
Schemata voraus, die unmittelbar verfügbare Verhaltensmuster betreffen, und die deshalb nicht
mehr auf die behavioristische Logik reduzierbar sind. Zudem ist schon der Vorgang der
Wahrnehmung in einer solchen Relation offensichtlich weit davon entfernt, nur aus der Aufnahme
von Reizen zu bestehen. Allem Anschein nach handelt es sich um einen aktiven Prozeß der
Strukturierung und Assimilation des wahrgenommenen Objekts. Denn schon die eigenen
Verhaltensmuster nachahmen erfordert ihre Identifikation und ihre Assimilation an schon
bestehende kognitive Schemata. Um so komplexer ist die Nachahmung fremder Verhaltensmuster.
Kann sich das Zustandekommen der Nachahmung im Fall subhumaner Organismen vielleicht noch
auf Instinkt-Regulierungen berufen, schließt die Nachahmungsbeziehung im Fall des Menschen, da
sie nicht mehr "natürliche", sondern planmäßig ausgearbeitete Muster umfaßt, nicht auf eine erbliche Ausstattung rückführbare Gegebenheiten ein: nämlich das Vermitteltsein des Nachahmers mit
seinem Modell über einen "gesellschaftlichen Raum" von operativen Schemata und ein Netz von
verallgemeinerten Bedeutungen, die von der entsprechenden Kultur ständig ausgearbeitet und
umgearbeitet werden. Erst auf der Grundlage einer solchen Vermittlung ist das Verstehen des
Charakters eines Verhaltensmusters begreiflich, insbesondere sein Nutzwert oder allgemeiner seine
positive oder negative Qualität. Ohne eine Klärung dieses gesellschaftlichen Kontextes muß im
Dunkel bleiben, wieso die eine Person ein Verhaltensmuster übernimmt und die andere nicht. Es
liegt an diesem Fehlen des gesellschaftlichen Kontextes, daß Bandura nicht in der Lage ist,
schlüssig zu begründen, wieso denn, als Beispiel, die eine Person bestimmte ethische Normen
übernimmt und die andere nicht, wieso denn das Darbieten eines Modells einmal zur Übernahme
von Verhaltensmustern anregt und das andere Mal zu deren Umkehrung usw. Zwar bietet Bandura
viele nachträgliche Erklärungen und Interpretationen an, aber kaum eine unzweideutige Prognose
menschlichen Verhaltens, ein klassisches Kriterium für den Wert eines wissenschaftlichen
Konzepts, das vom Behaviorismus in seiner Polemik gegen den Mentalismus unermüdlich
hervorgehoben wird. Auf diese Art bleibt das Modellernen so etwas wie ein Zaubermittel für alles
und jedes, aber ohne Erklärungskraft in irgendeinem wissenschaftlichen Sinn.
Interessanter als sein positiver konzeptueller Beitrag erscheint mir die Kritik Banduras am
Paradigma des klassischen Behaviorismus. Sie richtet sich insbesondere gegen die metaphysischen
Implikationen des Grundschemas, das zwischen Umwelt, Verhalten und Organismus als feste und
durch einseitig gerichtete Beziehungen verknüpfte Einheiten unterscheidet. Wenn wir uns auf den
Eckart Leiser
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theoretisch differenzierteren Behaviorismus beziehen und auf den Menschen, dann wirkt eine
Umwelt U, die nach dieser Vorstellung objektiv gegeben ist, auf eine Person P, und die
Charakteristika der Umweltreize zusammen mit den Charakteristika der psychischen Prozesse der
besagten Person bestimmen das Verhalten V. Formalisiert liest sich das wie folgt:
V = f(P, U)
Selbstverständlich ist ein solches Bild vom menschlichen Verhalten nicht akzeptabel für eine
Auffassung des Psychischen, die von der menschlichen Subjektivität und von der Fähigkeit des
Menschen ausgeht, seine sogenannte Umwelt zu beherrschen und sogar herzustellen. Was erstaunt,
ist, daß Bandura innerhalb seiner behavioristischen Kategorien darauf kommt, daß dieses Bild
unzureichend ist. Das folgende Zitat läßt das sehr klar werden:
"Die Hauptschwäche der traditionellen Formulierungen ist, daß sie die Verhaltensdispositionen und
die Umwelt wie zwei getrennte Wesenheiten behandeln, obwohl in Wirklichkeit jede der beiden
(Seiten) die Abläufe der anderen bestimmt. Die Umwelt stellt zum größeren Teil lediglich ein
Potential dar, bis sie sich durch geeignete Aktionen verwirklicht. Es sind keine festen
Eigenschaften, die unausweichlich auf die Individuen einwirken. Dozenten haben keinen Einfluß
auf Studenten, wenn diese nicht an ihren Veranstaltungen teilnehmen. Bücher üben keine Wirkung
auf die Menschen aus, wenn diese sie nicht auswählen und sie lesen. Feuer verbrennen Menschen
nicht, wenn diese sie nicht berühren, und Belohnungen und Bestrafungen bleiben in der Schwebe,
bis sie durch konditionierte Tätigkeiten aktiviert werden. Menschen mit der Fähigkeit, gelehrt über
bestimmte Themen zu reden, haben Wirkung auf andere, wenn sie reden, aber nicht wenn sie in
Schweigen verharren, selbst wenn sie die Mittel dafür haben. So bestimmt das Verhalten teilweise,
welches der vielen Potentiale der Umwelt ins Spiel kommt und wie diese sich äußern. Andererseits
bestimmen Umwelteinflüsse teilweise, welches Verhaltensrepertoire gebildet und aktiviert wird.
Innerhalb dieses Prozesses wechselseitiger Einwirkungen ist sowohl die Umwelt als auch das durch
sie regulierte Verhalten beeinflußbar." (a.a.O. S. 195).
Schon allein dieses Zitat läuft auf eine weitgehende Demontage des behavioristischen Paradigmas
hinaus, erstaunlicherweise durchgeführt in einer behavioristischen Begrifflichkeit.
Es sind zwei zentrale Aspekte, auf die es sich aufmerksam zu machen lohnt: Erstens die
Relativierung der bestimmenden Richtung zwischen der Person und der Umwelt: Die Person hat die
Fähigkeit, die Umweltcharakteristiken kognitiv zu definieren und praktisch auszuwählen, denen sie
einen Einfluß auszuüben gestattet. Das bedeutet, daß es einen Spielraum für Entscheidungen des
Subjekts gibt. Zweitens das Aufgeben des mechanistischen Konzepts von Verhalten: Es gilt nicht
mehr als Endergebnis von Umweltfaktoren und persönlichen Faktoren, die als Repertoire von ein
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 59
für allemal gegebenen Merkmalen vorgestellt werden, sondern als Schnittpunkt im Prozeß der
Wechselwirkungen zwischen der Person auf der einen Seite und der Umwelt auf der anderen Seite.
Es ist das Verhalten oder besser gesagt die Tätigkeit, die die Umwelt herstellt gemäß den
persönlichen Motiven, Fähigkeiten und Konzeptbildungen. Und es ist dasselbe Verhalten, das in
dieser Umwelt neue Erfahrungen vermittelt und dadurch die Bildung neuer persönlicher Motive,
Fähigkeiten und Konzeptbildungen ermöglicht, beispielsweise auf dem Weg des Modellernens.
Bandura deutet diese wechselseitigen Rückwirkungen in der folgenden Formel an:
und spricht von der Reziprozität zwischen dem Verhalten und der Umwelt. Nach unserer Analyse
wäre es allerdings angemessener, die folgende Formel zu benutzen:
und von der Reziprozität zwischen der Person und der Umwelt zu sprechen.
Nun gut, Bandura ist offenbar nicht in der Lage, die vollständigen Konsequenzen aus seiner Kritik
zu ziehen, sei es durch kategoriale Schranken seines behavioristischen Denkens, sei es wegen
taktischer Rücksichten auf den Behaviorismus. Das zeigt sich auch beim Begriff des "reziproken
Determinismus", der nach Banduras Vorschlag den klassischen Determinismus ersetzen soll. Dieser
Begriff schließt die Behauptung ein, daß trotz aller Unwägbarkeiten, die durch die Zulassung einer
Reziprozität zwischen Verhalten und Umwelt eingeführt werden, ein solcher Zusammenhang
schließlich und endlich doch einem Mechanismus entspricht, wenn auch einem ziemlich komplizierten Mechanismus. Aber dieser Mechanismus ist nicht länger ein Modell, das als Orientierung
für das methodische Vorgehen dient wie im Fall Skinners, sondern vor allem eine ideologische
Metapher.
Was bleibt ist eine fortwährende Unvereinbarkeit zwischen seinen Ansprüchen, sich auf die
Komplexität der menschlichen Wirklichkeit einzulassen, und seinem erkenntnistheoretischen und
ideologischen Rahmen. Das nimmt bisweilen rührende Züge an, etwa wenn seine Argumente gegen
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 60
den Determinismus Gefahr laufen, seinen ideologischen Rahmen zu sprengen. Das vorwegnehmend
warnt er: "Man könnte argumentieren, daß nichts mehr zum Einflußnehmen übrig bleibt, wenn die
Individuen teilweise ihre eigenen Umwelten schaffen." Und sofort beruhigt er die Leser:
"Selbstverständlich ist das Verhalten nicht die einzige Determinante für die nachfolgenden Ereignisse." (a.a.O. S. 199). Sodann gewinnt er endgültig seinen ideologischen Rahmen zurück, indem er
definiert, daß die menschliche Freiheit nicht mehr ist als "die für die Menschen verfügbare Anzahl
von Wahlmöglichkeiten." (a.a.O. S. 201).
Ich weiß nicht, ob Bandura sich bewußt ist, daß es einen erheblichen Unterschied gibt zwischen der
Fähigkeit, seine eigene Umwelt herzustellen, und unter festgelegten Alternativen zu wählen.
Dementsprechend verflüchtigt sich der größere Teil seiner innovatorischen Argumente, zu denen er
durch Kontakt mit der menschlichen Komplexität angeregt worden ist. Zuguterletzt, beim
Einschätzen des in Futurum II dargelegten utopischen Entwurfs von Skinner, besteht der
schwerwiegendste Einwand Banduras darin, daß er in einer derartigen Gemeinschaft zusätzliche
Abteilungen vermißt, die die verschiedenen Verhaltensstile und subkulturellen Vorlieben der USamerikanischen Bürger repräsentieren. Und im übrigen - das scheint das Endergebnis seiner
Analyse zu sein - gibt es ein solches Utopia bereits, nämlich die Vereinigten Staaten selbst, eine
Gesellschaft, die jedem die höchstmögliche Anzahl von Wahlmöglichkeiten verschafft, wenn man
für den Augenblick einmal von einigen sozialen Problemen absieht, die mit der Hilfe von
Psychologen zu meistern sind.
Wie zu sehen ist, ist das was vom Unterschied zwischen Skinner und Bandura bleibt nicht sehr
aufregend: es ist nicht viel mehr als der Unterschied zwischen zwei Ideologen des
nordamerikanischen Systems: dem eher elitären Ideologen der Ostküste (Harvard) und dem mehr
liberalen Ideologen Kaliforniens (Stanford), um es einmal so auszudrücken.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 61
Kapitel 7:
Ein scholastischer Ausweg aus den Defiziten des Behaviorismus: das System von
J.R. Kantor
Wir haben zwei verschiedene Wege des Behaviorismus kennengelernt, mit der Kluft zwischen
seinen praktischen Ansprüchen und seinen konzeptuellen Defiziten zurechtzukommen: einerseits
die praktischen Probleme nach Art Skinners zu vereinfachen und sie dem Niveau der Ratten in der
Skinner-Box anzugleichen, andererseits die radikalen Prinzipien des Behaviorismus aufzugeben,
entweder indem man dessen antimentalistische Position aufweicht (Tolman) oder indem man sich
der Komplexität der menschlichen Wirklichkeit pragmatisch annähert (Bandura).
Es gibt noch einen anderen Versuch, das behavioristische Paradigma zu retten: indem die praktische
Kontrolle über die Welt durch die ideologische Kontrolle ersetzt wird, wobei die ganze Komplexität
der Welt in einem enziklopädischen System eingefangen wird. Der Vertreter dieser Richtung, mit
dem wir uns nun beschäftigen wollen, ist J.R. Kantor (1888-1986). Zunächst empfiehlt es sich
anzudeuten, was ich meine, wenn ich ein derartiges Vorgehen einer ideologischen Kontrolle
zuordne: Gemäß der Ideologietheorie, die von der Bildung und Funktion ideologischer Systeme
handelt, ist es ein primäres Bedürfnis des Menschen, seine partiellen, heterogenen und sogar
widersprüchlichen Erfahrungen auf ein zusammenhängendes Weltbild hin zu verknüpfen und zu
integrieren. Ein solches Weltbild muß weder einen konkreten Wirklichkeitsbezug ermöglichen noch
muß es die widersprüchlichen Erfahrungen auf rationaler Grundlage begreifbar machen. Es genügt,
daß es Scheinerklärungen anbietet oder magische Techniken, um solche Widersprüche
auszuschalten oder zu verdecken. Wir hatten bereits bei drei Gelegenheiten mit dem Problem der
Scheinerklärungen zu tun: als Kritik Skinners an den "mentalistischen" Erklärungen, anläßlich
seiner eigenen metaphorischen Erklärungen, die er dem entgegenstellt, und im Fall des
Modellernens von Bandura als dessen "deus ex machina". Nach der Ideologietheorie, die auf Marx
zurückgeht, stellt ein solches ideologisches Weltbild ein wohlorganisiertes psychisches Schema dar,
das alle bewußten und unbewußten, emotionalen und imaginären Mechanismen einschließt, die
geeignet sind, die Orientierung des Subjekts in der Welt aufrechtzuerhalten. Gewöhnlich fällt die
Aufgabe, sein ideologisches System auszuarbeiten, nicht dem jeweiligen Individuum zu, sondern
die Gesellschaft oder Kultur bietet derartige bereits wohlausgearbeitete Systeme an. Als Beispiel
seien die Religionen genannt, politische und ökonomische Anschauungen, ein Menschenbild und
insbesondere eine geläufige Vorstellung von der Humanpsychologie.
Im Hinblick auf das hier anstehende Thema, das System von J.R. Kantor, empfiehlt es sich, zwei
besondere Eigenarten derartiger ideologischer Systeme hervorzuheben: sie dienen dazu, blinde
Flecken in einem rationalen Weltverständnis auszufüllen und neigen dazu, Argumente durch
Berufung auf unfehlbare Autoritäten zu ersetzen.
Wir werden jetzt diese Kennzeichnung ideologischer Systeme an Kantors Konzept konkretisieren.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 62
Wir beziehen uns dabei im folgenden auf das Buch "Interbehavioral Psychology" (Ohio 1967),
erstmals im Jahr 1959 veröffentlicht, mit dem Untertitel "Eine Probe für die Konstruktion
wissenschaftlicher Systeme", mit dem Kantor die Absicht verfolgt, in sein Konzept auf
systematische und knappe Weise einzuführen.
Schon das erste Kapitel, das vom historischen und kulturellen Hintergrund der "interbehavioralen
Psychologie" handelt, hat mich vor einige wirkliche Überraschungen gestellt: Ausgerechnet
Aristoteles (384-322 v.u.Z.) wählt er aus als höchste Autorität, auf die sich eine antimentalistische
Psychologie berufen kann. Da ich Aristoteles kennengelernt habe als einen der Hauptkonstrukteure
metaphysischer Systeme innerhalb der abendländischen Philosophie, der gegen den frühen
Materialismus Demokrits und gegen die frühe Dialektik Heraklits stand, und außerdem als eine
geistige Stütze der mittelalterlichen Scholastik, machte es mich ziemlich ratlos, diesen Zeugen eines
katholischen Denkens nun als Pionier der behavioristischen Aufklärung wiederzutreffen. Als
einigermaßen skrupelhafter Mensch schloß ich nicht aus, daß mir ein wichtiger Wesenszug dieses
Philosophen entgangen war, der für eine antimentalistische Begründung von Psychologie in Frage
kommen könnte. Ich zog seinen klassischen Text "Von der Seele" zu Rate, auf den Kantor seine
Wertschätzung gründet, und finde dort Zitate wie das folgende: "Es ist nun die Seele Ursache und
Ursprung des lebenden Körpers. Diese Begriffe haben einen vielfachen Sinn. Dementsprechend ist
die Seele Ursache nach den drei bestimmten Arten: denn sie ist Ursache der Bewegung und auch
Ursache als Zweck und als Wesen der belebten Körper ... Denn alle natürlichen Körper sind
Werkzeuge der Seele, und zwar bei den Pflanzen ebenso wie bei den Tieren, so daß also diese alle
um der Seele willen sind." (Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst. Zürich
1950, S. 294). Oder das folgende Zitat: "Jetzt wollen wir das über die Seele Gesagte
zusammenfassen und wiederholen, daß die Seele in gewisser Weise die Dinge ist. Denn alle Dinge
sind entweder wahrnehmbar oder denkbar, und das Wissen ist gewissermaßen die wißbaren Dinge
und das Wahrnehmen die wahrnehmbaren Dinge." (a.a.O. S. 337). Und schließlich als letzte Probe:
" Die anderen Wahrnehmungsorgane (neben dem Tastsinn, E.L.) besitzt das Lebewesen, wie wir
schon sagten, nicht um des Lebens willen, sondern um der Vollkommenheit willen: so das Sehen,
weil es in der Luft und im Wasser lebt und sehen soll, allgemein, weil es im Durchsichtigen lebt;
den Geschmack wegen des Angenehmen und Schmerzlichen, damit es dies an der Nahrung
wahrnimmt und es begehrt und bewegt wird, das Hören, damit ihm Zeichen gemacht werden
können, und die Zunge, damit es selbst anderen Zeichen geben kann." (a.a.O. S. 347).
Was ich im besagten Text auf Schritt und Tritt antreffe, ist der vertraute Aristoteles, der Erfinder
der Zweckursachen, der metaphysischen Unterscheidungen zwischen Wesen, Attributen und
Akzidenzien sowie der verwickelten Hierarchien zwischen den Wesenheiten, Fähigkeiten und
Kräften, aus denen die Welt besteht. Und ausgerechnet dieser Wiederhersteller einer göttlichen und
rigiden Ordnung des Denkens, die die Interessen der herrschenden Gruppen in den zu seiner Zeit
emporkommenden Staatssystemen des antiken Griechenlands, insbesondere Athens und seiner
Hegemonie, widerspiegelte und ideologisch konsolidieren half (gemäß einer Analyse von J.P.
Bernal in seinem Werk "Wissenschaft" Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 187 ff.), ausgerechnet
er soll stehen " für die Periode, in der der Gesichtspunkt der (rationalen, E.L.) Ursachen entstand:
die Erklärung von Ereignissen durch Wechselbeziehungen und Faktoren anstelle von persönlichen
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 63
Kräften und mythischen Schöpfern"? Das glaubt Kantor und er fährt fort festzustellen, daß "bis ins
zweite Jahrhundert v.u.Z. die griechischen Wissenschaftler das psychologische Geschehen genauso
wie das Funktionieren von Organismen behandelten, die sich in Kontakt mit stimulierenden
Objekten befinden." (a.a.O. S. 4). Angesichts der obengenannten Zitate ist das für mich eine
wahrhaft eigenwillige Einschätzung.
Ironischerweise gibt es tatsächlich eine Verwandtschaft zwischen Kantor und Aristoteles, allerdings
eine Verwandtschaft, deren sich Kantor, wie es scheint, nicht bewußt ist. So ist es z.B. der
spekulative Charakter ihrer jeweiligen Systeme, der Kantor mit Aristoteles verbindet. Der deutsche
Philosoph G.W.F. Hegel, als Vertreter der idealistischen Philosophie in gewissem Sinn die
Verkörperung des "Mentalismus" und deshalb von seiten Kantors wahrscheinlich nicht besonders
geschätzt (obwohl in seinem Überblick über die Philosophie so wenig erwähnt wie Marx), feiert
Aristoteles aufgrund dieses spekulativen Elements, das dessen philosophisches System
kennzeichnet (s. seine "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II", Frankfurt 1971, S.
199-221). Wir werden zu diesem Gesichtspunkt später zurückkehren. Bevor wir die Verwandtschaft
zwischen Aristoteles und Kantor genauer zur Sprache bringen, wollen wir uns ein wenig mehr mit
einer Eigentümlichkeit von Kantors Vorgehensweise befassen, die die bloße Spekulation
überschreitet: die Einführung von Zeugen und Beispielen nach dem Muster seiner Anrufung der
gerade untersuchten Psychologie der alten Griechen.
Indem er sich ständig auf Autoritäten in Form von unanfechtbaren Zeugen und Beispielen beruft
statt zu argumentieren, macht Kantor einen analytischen Zugang zu seinem Konzept schwierig.
Eine Einschätzung seines Konzepts hängt daher in hohem Maß vom Wert und der Plausibilität
dieser Autoritäten ab, also von den angeführten Zeugen und Beispielen. Wir wollen nun einige
dieser Autoritäten untersuchen.
Ein durchgängiges Beispiel, das sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, ist die sogenannte
"Revolution der nichteuklidischen Geometrie". Wiederum traf mich diese Bezeichnung für eine
sehr spezielle Fragestellung innerhalb der Mathematik über die logische Struktur der geometrischen
Axiome von Euklid mit Überraschung. Im einzelnen handelt es sich um die Frage, ob das Postulat
Nr. V in den "Elementen" von Euklid eine notwendige Folge der übrigen Festlegungen seines
Systems darstellt, oder ob es logisch gesehen unabhängig ist. Etwas vereinfacht geht es um die
Frage, ob zwei "Geraden", die alle anderen Festlegungen für Parallelen erfüllen, sich trotzdem
schneiden können. Seinerzeit entzündete sich diesbezüglich ein Streit, der sich zu dieser Frage über
mehrere Jahrhunderte hinzog, und das Problem, einen Beweis oder Gegenbeweis zu finden, stellte
eine Herausforderung für viele Mathematiker dar, was zur Entwicklung neuer Beweistechniken
führte und vor allem zur Klärung einiger logischer Grundlagen der Mathematik.
Was das Problem selbst betrifft, endete es auf überraschende Weise: N.I. Lobatschewski (17931856) und J. Bolyai (1802-1860) gelang es unabhängig voneinander, ein alternatives Modell der
Geometrie zu konstruieren: die hyperbolische Geometrie des Einheitskreises. Für dieses Modell
gelten alle Axiome Euklids außer dem Postulat Nr. V.
Ich selbst stieß seinerzeit auf das Problem anläßlich meiner Untersuchungen zum Charakter und zur
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 64
Reichweite des mathematischen Denkens und kam zum Schluß, daß die operative und konstruktive
Ebene bei der Entstehung und Entwicklung mathematischer Konzepte eine entscheidende, wenn
auch häufig verborgene, Rolle spielt. Umgekehrt ergab sich aus meinen Untersuchungen, daß die
axiomatische Form beim Darstellen mathematischer Konzepte nur ein Modus ist, und zwar ein
höchst vermittelter Modus, der, weil er die operative Grundlage der entsprechenden Bildungen
verdeckt, ein rationales Verständnis der Mathematik erschweren kann.
Und nun die Überraschung: Für Kantor ist das, was aus der "Revolution der nichteuklidischen
Geometrie" folgt, das genaue Gegenteil: Da er die operative oder gar konstruktive Rolle des
Mathematikers leugnet, der nichts anderes tut als mit verschiedenen empirischen Strukturen in
Kontakt zu treten, beweist nach ihm die Ausarbeitung eines nichteuklidischen Modells der
Geometrie endgültig, daß es nötig ist, die eigenständige Tätigkeit des Wissenschaftlers beim
Beschäftigen mit Mathematik so weit wie möglich auszuschalten, um einen möglichst reinen
Kontakt mit den mathematischen Geheimnissen zu ermöglichen, die in der Realität draußen zur
Entdeckung bereitliegen. So widersinnig eine solche Auffassung auch sein mag, folgt für mich aus
ihr, daß auch Kantor die axiomatische Form des Systems von Euklid, die den Ausgangspunkt dieses
Streits bildete, für ein Hindernis im Hinblick auf einen reinen Kontakt mit dieser Realität und ihren
mathematischen Geheimnissen halten müßte. Umsomehr bleibt als schwer zu lüftendes Geheimnis
die Tatsache, daß Kantor selbst sein Konzept mit Hilfe eines Gemischs von Postulaten und
Axiomen zu formulieren versucht, und die hierarchische, systematische und äußerst abstrakte Form
als das höchstentwickelte und wünschenswerte Niveau von Wissenschaft feiert.
Es finden sich eine Menge weiterer irreführender Beispiele im Text, die dazu dienen, seinen
Argumenten alle verfügbare wissenschaftliche Würde zu verleihen, von denen wir nur die
wichtigsten erwähnen wollen. Wir tun das, bevor wir das eigentliche Konzept Kantors darlegen,
denn sie helfen uns, die Seriosität seines Systems ein wenig im voraus zu beurteilen, und bei der
Entscheidung, in welchem Maß es sich lohnt, auf die Einzelheiten seines Konzepts einzugehen. Wie
schon gesagt, geht es uns dabei nicht darum, uns der Spitzfindigkeit zu bedienen, vielmehr sollen
diese Beispiele uns als wichtige Quelle dienen, um die rationale Substanz von Kantors Konzept zu
beurteilen, angesichts des Mangels an Argumenten und des höchst abstrakten Charakters seines
eigentlichen Systems.
Ein nächstes solches durchgehendes Beispiel betrifft die Relativitätstheorie von Albert Einstein
(1879-1955). Gewöhnlich macht es mich sehr mißtrauisch, wenn ich auf die vielen Verrücktheiten
treffe, die sich auf die Relativitätstheorie berufen, da sie diese Theorie benutzen, um irgendwelche
rationalen Prinzipien unseres Weltbilds abzuschaffen. Ein sehr einfacher Grund für dieses
Mißtrauen ist die Tatsache, daß die in die besagte Theorie eingehende Mathematik wegen ihrer
Komplexität und Abstraktheit nur wenigen Personen zugänglich und verständlich ist. Was
allerdings die obengenannten Leute zumindest richtig sehen, ist eine sehr elementare Konsequenz
der Relativitätstheorie: daß nämlich der gesunde Menschenverstand nicht ausreicht, um die Struktur
der Wirklichkeit zu begreifen. Als Teil dieser elementaren Konsequenz hört die Kategorie der Zeit
und des Raums auf, ein unhinterfragbares Bezugssystem zu ermöglichen, das also für unsere
empirischen Erfahrungen eine voraussetzungslose Gültigkeit besitzt. Konkreter: Nach Einstein
haben Zeit und Raum selbst eine ziemlich komplexe Struktur, mit dem Ergebnis, um ein Beispiel zu
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 65
nennen, daß die sogenannte "Schwerkraft" der Theorie Newtons - eine Kategorie, die unmittelbar
auf die von Kantor hochgehaltenen direkten Kontakte mit Objekten zurückgeht - sich einer
spezifischen Struktur des Raums verdankt und nichts mit irgendwelchen Kräften zu tun hat.
Nebenbei gibt es einen weiteren Punkt, der durch alle esoterischen Spekulationen hindurch richtig
gesehen wird: es stimmt, daß diese Theorie nicht nur Konsequenzen für unsere Auffassung vom
Weltraum hat, sondern auch für unsere Auffassung von der Alltagswelt, die zu ziehen ansteht.
Und nun eine weitere Überraschung: Indem er das Vorbild Einsteins anruft, nach dem "die
Messungen Funktionen der verwendeten Koordinaten und Kriterien sind" (a.a.O. S. 3), hindert das
Kantor nicht daran zu fordern, daß "Wissenschaft ein Unternehmen von Wechselwirkungen mit
spezifischen Dingen und Ereignissen (sein sollte), das zu einer bestimmten und genauen
Orientierung bezüglich dieser Dinge und Ereignisse führt." (a.a.O. S. 70). Denn "selbst wenn der
Wissenschaftler mit komplexen künstlichen Gegebenheiten interagiert, beispielsweise wenn er
synthetische chemische Substanzen untersucht oder künstliches Licht, ist er doch nur ein kleines
Stück von den unabhängigen Ereignissen entfernt." (a.a.O. S. 32). Insbesondere behauptet er, daß
"es genau solche einzigartigen Kontakte sind, die die Geschichte der Wissenschaften ausmachen.
Die Geschichte der Astronomie besteht z.B. aus dem, was menschliche Organismen mit den
Sternen, Planeten und Kometen taten ... Ähnlich umfaßt die Geschichte der Physik und der Chemie
die fortschreitenden Kontakte der Menschen mit Harz, Wasser, Salz, Temperaturveränderungen und
den Miriaden von Bewegungen und Wirkungen organischer und anorganischer Objekte, die
miteinander interagierten." (a.a.O. S. 38). Wie es scheint, dient Herr Einstein für Kantor immer
noch als Zeuge der Prinzipien des gesunden Menschenverstands, trotz dem weiter oben Gesagten
und Zitierten. Nicht einmal die frühen Empiristen wie Locke (1632-1704) und Hume (1711-1776)
hatten eine derart naive Auffassung vom wissenschaftlichen Prozeß. Aber zuguterletzt und zur
Abrundung des Gemischs finden wir plötzlich auf derselben gerade zitierten Seite eine weitere
entgegengesetzte Berufung auf Einstein: "Indem sie sich von Zeit und Raum als absolute und
getrennte Größen befreite ... betrat die Physik einen neuen Weg von Fortschritten." (a.a.O. S.38). So
wird Einstein also wieder zum Kritiker des gesunden Menschenverstands.
Um diesen widersinnigen und widersprüchlichen Umgang mit der Relativitätstheorie
zusammenzufassen: was aus dieser Theorie folgt, ist wiederum das genaue Gegenteil von dem, was
uns Herr Kantor suggeriert:
- Aus ihr folgt die Notwendigkeit, sich noch mehr von den unmittelbaren Erfahrungen zu lösen, die
aus dem direkten Kontakt mit den Dingen und Ereignissen stammen.
- Aus ihr folgt die Notwendigkeit, noch mehr dem gesunden Menschenverstand und seinem
Augenschein zu mißtrauen.
- Aus ihr folgt die Notwendigkeit, sehr komplexe theoretische und konstruktive Prozesse zwischen
unsere Beobachtungen und die erklärenden Konzepte zu schalten.
- Aus ihr folgt insbesondere die Notwendigkeit, ausdrücklich die Erkenntnisbeziehung zwischen
dem Forscher und seinem Objekt zu reflektieren sowie die systematischen Fehler, die
diese
Eckart Leiser
Behaviorismus
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einschließen kann, also die Notwendigkeit, ein erkenntnistheoretisches Bezugssystem auszuarbeiten, das dabei hilft, den unmittelbaren Augenschein in Richtung auf ein dezentralisiertes Begreifen
der erforschten Phänomene zu überschreiten.
Wenn wir unsere Analyse der Autoritäten zusammenfassen:
- Eine erste Autorität, auf die Kantor die grundlegenden Kategorien seiner Wissenschaftsauffassung
zurückführt, ist Aristoteles. Leider ergab unsere Analyse hinsichtlich der Eignung von Aristoteles
für die Grundlegung einer behavioristischen und antimentalistischen Psychologie das genaue
Gegenteil: Aristoteles mit seinem Animismus und seinen
Scheinerklärungen könnte eher als
Erfinder des Mentalismus gelten.
- Eine zweite Autorität, die wiederholt zur Bekräftigung der erkenntnistheoretischen Potenz seines
Konzepts angeführt wird, und zwar was dessen hierarchische, systematische und höchst abstrakte
Struktur betrifft, ist die nichteuklidische Geometrie. Um zu wiederholen, wie unsere Analyse dieser
Autorität ausging: sie beweist vor allem die Tendenz von Systemen dieses Typs, im gegebenen Fall
des Axiomensystems von Euklid, die Struktur der beschriebenen Objekte zu verdecken. Und die
Lösung, die Geometrie von Lobatschewski und Bolyai, beweist die Wichtigkeit operativer Aspekte
und konkreter Modelle beim Ausarbeiten theoretischer Konzepte. Alles in allem wiederum das
genaue Gegenteil von dem was Kantor behauptet.
- Die dritte Autorität, die wiederholt angeführt wird, um das Prinzip direkter Kontakte mit "Dingen
und Ereignissen" zu unterstreichen, ist die Relativitätstheorie von Einstein. Was unsere Analyse
dieses Zeugen als Resultat erbrachte ist
wiederum das Gegenteil der von Kantor gezogenen
Schlußfolgerungen: den direkten Kontakten mit "Dingen und Ereignissen" nicht zu trauen sondern
zu mißtrauen.
Was weitere irreführende Beispiele des Textes betrifft, möchte ich mich darauf beschränken, einige
wenige in aller Kürze aufzuzählen:
- Er fordert, daß die Psychologie als ihren Gegenstand nur berührbare und sichtbare Phänomene
zuläßt, gemäß dem Vor bild der Naturwissenschaften (a.a.O. S. 78). Und wie steht es mit den
radioaktiven Strahlen, den chemischen Wertigkeiten usw.?
- Er behauptet, daß ein Kennzeichen physikalischer Prozesse ihre Kommutativität oder
Reversibilität ist, im Gegensatz zu den organischen Prozessen (a.a.O. S. 87). Und was ist mit dem
berühmten zweiten Satz der Thermodynamik, nach dem der Zuwachs an Entropie ein irreversibler
Prozeß ist?
- Er behauptet, daß die Wissenschaften niemals ein neues chemisches Element produziert haben
(a.a.O. S. 32). Und was ist mit den vielen von der Atomphysik geschaffenen Isotopen?
- Er behauptet, daß unter psychologischem Gesichtspunkt alle "normalen" menschlichen Individuen
biologisch äquivalent sind (a.a.O. S. 88). Und wie steht es mit der genetischen Variation und
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 67
den biologischen Unterschieden, die auf spezifische, während ihrer Entwicklung wirksame,
Faktoren zurückgehen?
Unser Resümee, nachdem wir die Autoritäten, d.h. die von Kantor angeführten Zeugen und
Beispiele untersucht haben: sie taugen nicht recht, um sein Konzept zu begründen oder plausibel zu
machen.
Ich fürchte, daß ich die Geduld des Lesers bereits zu sehr strapaziert habe und daß er die
Darstellung des eigentlichen Konzepts von Kantor erwartet. Wir brechen daher die Aufzählung ab
und kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück, der eigentümlichen Funktion derartiger Beispiele
innerhalb der ideologischen Zielsetzungen, die ich dem Werk Kantors zu Beginn dieses Kapitels
zugeschrieben habe: Trotz aller Ungereimtheiten und Widersprüche führt jedes Beispiel eine Autorität ein, darüber hinaus eine für den Leser häufig wegen fehlender Kenntnisse kaum durchsichtige
Autorität, und die Vielfalt der Beispiele suggeriert einen enzyklopädischen Umfang des Rahmens,
in dem der Autor sein Konzept ausgearbeitet hat, was eine entsprechende Gültigkeit und
Verbindlichkeit des Ergebnisses garantiert. Auf diese Weise ersetzen die Beispiele eigene
Argumente des Autors beim Vorstellen seines Konzepts, und er legt dem Leser nahe, indem er ihn
an den widersprüchlichen und undurchsichtigen Charakter seiner Darlegungen gewöhnt, die
folgenden Ungereimtheiten und Willkürlichkeiten des eigentlichen Konzepts zu übergehen.
Nun denn, ich werde mich jetzt bemühen, das eigentliche System Kantors darzustellen. Gestützt auf
seine vielen falschen Zeugen, insbesondere auf Einstein, kommt Kantor zu dem Schluß, daß eine
moderne Psychologie, d.h. eine "interbehaviorale Psychologie", mit der Kategorie der Kausalität
von Anfang an aufräumen muß, denn diese ist nichts weiter als ein Relikt des Mentalismus: Sie ist
zu ersetzen durch die Kategorie des "interbehavior". Leider gibt es nicht einen einzigen Satz im
gesamten Text, der erklären würde, was dieser Begriff bedeutet, so daß wir die Bedeutungen und
Konnotationen dieser Wortschöpfung aus ihrem Verwendungszusammenhang erschließen müssen.
Da er ebenfalls auf physikalische Gegenstände angewendet wird, scheint er eine primäre
Eigenschaft der Materie zu bezeichnen: die Fähigkeit von Objekten, miteinander in Beziehung zu
treten. Was das Verständnis dieser für Kantors Konzept grundlegenden Kategorie erschwert, ist,
daß sie nicht den - physikalischen oder organischen - Wechselwirkungen zwischen verschiedenen
Objekten entspricht, die sich gemäß der üblichen Logik von Ursache und Wirkung oder gemäß der
Logik der Selbstbewegung im Sinn des dialektischen Materialismus aufbauen. Denn das
"interbehavior" ergibt sich weder aus einem zufälligen Zusammentreffen physikalischer Objekte,
noch aus dem spontanen Kontakt zweier bisher unabhängiger Partikel (s. Vortrag 3 meiner
methodologischen Untersuchungen), sondern anscheinend aus einer vorgegebenen Entsprechung zwischen diesen. Vielleicht wird dieses Bedeutungsmoment des Begriffs besser verständlich, wenn
wir seinen Charakter nun ein wenig spezifischer auf der Ebene der Psychologie untersuchen.
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 68
Hier ist der grundlegende Begriff Kantors das "psychologische Ereignis", das sich auf der
Grundlage eines "interbehavioralen Feldes" bildet. Anstelle einer einseitig gerichteten Gleichung
wie R = f(S), die wir vom klassischen Behaviorismus kennen, bietet uns Kantor die folgende
implizite Gleichung an (Symbolik ans Deutsche adaptiert, E.L.):
PE = F(k, fs, fr, hi, fu, md)
PE stellt hierin das "psychologische Ereignis" dar,
k einen Restfaktor, der nicht auf die anderen Komponenten des Feldes reduzierbar ist (die
"Einmaligkeit" des Feldes)
fs die "Stimulusfunktion",
fr die "Reaktionsfunktion",
hi den "historische Prozeß", in dem fs und fr enstanden,
fu die "Umweltfaktoren" der aktuellen Situation,
md das "Medium", in dem sich das "interbehavior" realisiert,
F (wie ich erschließe) den das Feld ausmachenden funktionalen Mechanismus.
Nun gut, versuchen wir, die auf den ersten Blick etwas dunkle Terminologie mit einem vom Autor
angebotenen Beispiel etwas aufzuhellen. Das Zitat: "Das Verhaltenssegment, d.h. die
psychologische Ereigniseinheit, ist um eine Reaktionsfunktion (fr) und um eine Stimulusfunktion
(fs) herum angeordnet; die erstere kann mit einer Tätigkeit des Organismus identifiziert werden, die
letztere mit einer Tätigkeit des stimulierenden Objekts. Die verschiedenen Akte, sich auf ein
Gebäude als "house", "casa" oder "maison" zu beziehen, stellen unterschiedliche Modi der
Reaktionsfunktionen dar. Der Akt des Gebäudes, das eine oder andere Verhaltensmuster zu
stimulieren, stellt die Stimulusfunktion dar. Von größter Wichtigkeit ist der historische Prozeß (hi),
in dem die Reaktions- und Stimulusfunktion entstanden sind. Gewöhnlich hat sich das zu
beobachtende psychologische "interbehavior" über eine Serie von Kontakten zwischen Organismus
und Objekten herausgebildet. (In deren Verlauf, E.L.) bringt das französische Kind die
Reaktionsfunktion maison hervor ... Im übrigen gibt es die Umweltfaktoren (fu); sie bestehen aus
den unmittelbaren Gegebenheiten, die darauf Einfluß haben, welche besondere Verbindung fs-fr
auftreten wird. Man muß einen weiteren Faktor erwähnen. Ein Haus "sehen" erfordert Licht. Also
ist das Licht das Kontaktmedium, das Medium des "interbehavior" (md)." (a.a.O. S. 16).
Dieser Teil des Beispiels mag fürs erste genügen. Nun, diese Sprechweise über Felder und
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 69
psychologische Ereignisse erinnert an die Vektoren, Gradienten und Valenzen, die in der Theorie
Tolmans das Wahrnehmungsfeld bilden, welches zu den inneren Prozessen des Organismus gehört,
mit denen er sein Verhalten vorbereitet und strukturiert. Aber wie ist es möglich, daß ein so
erbitterter Kämpfer gegen den "Mentalismus" zu einem solchen "mentalistischen" Konstrukt
Zuflucht nimmt? Aber die Bedeutung der Begriffe erhellt sich zunehmend, wenn man den Text
weiterliest, und wir kommen zum Ergebnis, daß nach Kantor die Reaktionsfunktionen zur physischen Ausstattung des Organismus gehören, die ihm in gewisser Weise im Lauf seiner Geschichte
auf seiner Oberfläche wachsen wie sein Haar oder seine Finger. Etwas vorsichtiger formuliert: die
Reaktionsfunktionen sind auf empirische Weise von außen zugänglich, obwohl man sich ihre
Berührbarkeit und Sichtbarkeit, die nach den Postulaten Kantors für wissenschaftliche Gegenstände
zu fordern sind, nur schwer vorstellen kann.
Bleibt das Problem, sich den Charakter der Stimulusfunktionen zu erklären, die dem stimulierenden
Objekt zukommen, etwa dem Gebäude im Beispiel. Wiederum gäbe es die durch Tolmans Theorie
nahegelegte "mentalistische" Interpretation: daß der Organismus lernt, gehen wir von objektiven
Merkmalen eines unabhängigen Objekts aus, spezifische Muster aufzubauen, für die er sensibel
wird, womit er die für sein Verhalten relevanten Eigenarten herausfiltert. Das würde heißen, daß
das gleiche Gebäude bei unterschiedlichen Personen und bei der gleichen Person in
unterschiedlichen Situationen unterschiedlichen Stimulusfunktionen entspricht. Offen gesagt
erscheint mir die Zuordnung derartiger unterschiedlicher Filter auf ein unveränderliches Objekt
ziemlich merkwürdig, es sei denn man geht von der perzeptiven und solipsistischen Perspektive des
Organismus aus, ein für uns angesichts des Antimentalismus auf seiten des Autors nicht in Betracht
kommender Ausweg. Glücklicherweise gibt der Autor in einem späteren Teil der Vorstellung seines
Systems einen Hinweis. Hören wir dem Zitat mit Sorgfalt zu: "Beispielsweise wird das englische
Kind durch einen Hut derart stimuliert, daß es ihn "the hat" nennt, während die Interaktion des
deutschen Kindes dazu führt, daß es ihn "der Hut" nennt. Kurz gesagt: das gleiche Objekt stimuliert
unterschiedlich. Eine psychologische Handlung ist also ... eine spezifische Aktivität, die mit der
Stimulusfunktion eines Objekts verbunden ist. Tatsächlich kann jedes einzelne Objekt eine Vielzahl
unterschiedlicher Stimulusfunktionen besitzen." (a.a.O. S. 48).
Diese Sprechweise führt uns zu einem Zitat von J. Piaget: "Die Teilchen werden von Aristoteles als
eine Art lebendige Wesen begriffen, die aber kein Bewußtsein haben: sie streben gegen bestimmte
Ziele, die durch ihre Natur bestimmt sind, und haben somit eine innere Potenz, das Ziel zu
erreichen; sicherlich haben aber die unbelebten Körper nicht die Möglichkeit, sich selbst
fortzubewegen wie die belebten, sie besitzen indessen die Bewegung in der Potenz, da diese trachtet, sich zu realisieren, und diese Tendenz bildet ihre innere und substantielle Kraft ... Vor allem
wirkt in der Theorie der beiden Antriebe die äußere Kraft auf die innere Kraft wie eine Art
chemischer Prozeß, da sie durch den Kontakt eine Reaktion auslöst, die nicht direkt daraus
hervorgeht. Wir würden lieber von einem biologischen Prozeß sprechen, trotz der Aristotelischen
Unterscheidung zwischen dem Belebten und Unbelebten: die äußere Kraft vereinigt sich
genaugenommen nicht mit der inneren Kraft, sondern aktiviert diese lediglich in der Art: "stimulus"
- "response" (im behavioristischen Sinn, E.L.)." (J. Piaget: Die Entwicklung des Erkennens II.
Stuttgart 1975, S. 81).
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 70
Im Licht dieser Kennzeichnung des Denkens von Aristoteles gelang es mir, die Kategorien und
Konstrukte Kantors besser zu verstehen: Sein "interbehavior" hat alle Wesenszüge des
aristotelischen Animismus. Und seine Reaktions- und Stimulusfunktionen entsprechen genau den
inneren Potenzen der aristotelischen Körper. Es gibt eine besondere Zuordnung zwischen einem
Gebäude und einem französischen Kind, die sich in der Beziehung zwischen einer besonderen
Stimulusfunktion und einer entsprechenden Reaktionsfunktion darstellt. Es gibt eine andere
besondere Zuordnung zwischen dem gleichen Gebäude und einem englischen Kind. Und es gibt
sogar eine besondere Zuordnung zwischen zwei Steinen, aus der sich deren "interbehavior" aufbaut.
Eine Differenz bleibt übrig: wie es scheint, ist es im Konzept Kantors das Unbelebte, das die erste
Instanz darstellt, da es über eine äußere Kraft verfügt, die die innere Kraft des Organismus, mittels
der entsprechenden Zuordnung fs-fr, auslöst.
Ich mache auf die Tatsache aufmerksam, daß wir damit zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sind,
nämlich dem Feiern der aristotelischen Philosophie von seiten Kantors, sowie auf meine
Ankündigung, daß es in der Tat eine Verwandtschaft zwischen beiden gibt.
Aber was wir bisher über diese Verwandtschaft offengelegt haben, ist nur der Anfang. Nähern wir
uns dem eigentlichen System von Kantor, verstärkt sich der Eindruck, in eine aristotelische Welt
einzutauchen. Es ist eine Welt von unerschöpflichen Festsetzungen und Klassifikationen, die das
Bild einer allumfassenden Ordnung erzeugen, wie sie weiter oben als ein wesentlicher Zug
ideologischer Systeme gekennzeichnet worden ist, und diese beginnt schon auf dem Vorfeld der
eigentlichen Darstellung des Systems:
- So zerfällt nach Kantor die Geschichte der Psychologie in genau 3 Phasen: die griechische Phase,
die transzendentale Phase und die interbehaviorale Phase (a.a.O. S. 4-6). (Und was ist, wenn mir
die schüchterne Frage zusteht, mit der materialistischen Psychologie?)
- Im Hinblick auf ihr Paradigma zerfällt die moderne Psychologie in genau 7 Typen: die
Quantifizierung, das Experimentieren, den Parallelismus, den Analogismus, den Operationalismus,
den linguistische Ansatz und den Deduktismus
(a.a.O. S. 21-24). (Und was ist mit dem
Strukturalismus, wenn mir eine weitere Frage gestattet ist?)
- Was die Geschichte der Wissenschaften betrifft, gibt es
genau
3
Stufen:
eine
vorwissenschaftliche Stufe, eine protowissenschaftliche Stufe und eine wissenschaftliche Stufe
(a.a.O. S. 33-34). Und wie steht es mit der selbstreflexiven Stufe der Wissenschaften im Sinn von
Piaget?)
- Im Hinblick auf die Evolution des Psychischen gibt es genau 4 Stufen: die anorganische (oder
planetarische) Stufe, die
phylogenetische Stufe, die ontogenetische Stufe und die
interbehaviorale Stufe (a.a.O. S. 43-48). (Wie zum Teufel soll man sich eine Phylogenese ohne
Ontogenese vorstellen?)
- In bezug auf die Typologie der Theorien ist es zwar so, daß sich die Lage etwas verwickelter aber
nichtsdestoweniger wohlgeordnet darstellt. Zunächst gibt es die Einteilung zwischen
Eckart Leiser
Behaviorismus
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"kryptologischen" und "gymnologischen" Theorien. Im weiteren zerfällt die erste Abteilung in die
interpretativen und investigativen Systeme. Die interpretativen Systeme ihrerseits teilen sich auf in
die rationalen, empirischen und analogischen, usw. usf. (a.a.O. S. 57-64). (Und
warum
klassifiziert man die Systeme nicht außerdem nach ihren Anfangsbuchstaben, als zusätzliches
Kriterium?)
Lassen wir den Rest der vorbereitenden Klassifikationen weg und wenden wir unsere
Aufmerksamkeit nun dem eigentlichen System Kantors zu! Dieses System legt gleichzeitig den
Gegenstand einer wahren Psychologie fest und den Modus von dessen Erforschung.
Es beginnt mit dem Metasystem, das sich seinerseits auf einige Protodefinitionen und
Protopostulate stützt. Eine Kostprobe: "Protodefinition Nr. 3: Protodefinitionen dienen der
Beschreibung der wissenschaftlichen Arbeit.", "Protopostulat Nr. 3: Keine Wissenschaft befaßt sich
mit irgendeiner Existenz oder irgendeinem Prozeß, welche die Grenzen des wissenschaftlichen
Unternehmens überschreiten." Danach folgt ein Gemisch von Metaaussagen, Metapostulaten und
Folgesätzen. Als Beispiel "Metapostulat Nr. 3: Die Begründung des Systems. Ein interbehaviorales
System der Psychologie unterscheidet sich von allen anderen traditionellen erkenntnistheoretischen
und ontologischen Systemen." (alles das a.a.O. Kap. 6, S. 69-74).
Und nun das eigentliche System der interbehavioralen Psychologie, vorgestellt mittels einer
verwickelten Hierarchie von Definitionen, Postulaten und Folgesätzen sowie voll von Festlegungen
und Klassifikationen, ohne ein einziges Argument und ohne sich zumindest auf irgendwelche
anderswo ausgearbeiteten Argumentationen zu berufen. Als Beispiel führt die Definition Nr. 2 die
Unterscheidung zwischen natürlichen Ereignissen und nach den Notwendigkeiten der Forschung
aufbereiteten Ereignissen ein. Und plötzlich, in Definition Nr. 3, stößt man auf sehr substantielle
Festlegungen über die typischen Ereignisse, in die sich der Gegenstand der interbehavioralen
Psychologie aufteilt: Ereignisse, die gekennzeichnet sind durch die Diskrimination, das Lernen, die
Motivation, die Emotion, die Wahrnehmung und das schließende Denken. (Und was ist mit der
Aufdeckung oder dem Entdecken von Reizen als weiteres klassisches Ereignis oder mit dem
heuristischen Denken?) Die Willkürlichkeit derartiger Festlegungen schon auf der Ebene der
Definitionen zeigt sich beispielsweise in der Feststellung, daß "emotionale Ereignisse aus
verkürzten und unvollständigen Reaktionen auf stimulierende Objekte bestehen" (a.a.O. S. 92).
Woher weiß das der Autor, der hier dabei ist ein Programm zu verkünden, im voraus?
Es folgt eine Reihe von Postulaten, die die wesentlichsten und gleichzeitig ziemlich dunklen
Ansprüche der interbehavioralen Psychologie betonen: daß diese von multifaktoriellen Feldern
ausgeht, von der Beziehung zwischen den psychologischen mit den biologischen und
physikalischen Ereignissen, von der Reziprozität der Prozesse zwischen Objekten und Organismen,
vom Gesamtzusammenhang der Welt, in den jedes Einzelereignis eingebettet ist und von der
"Kontinuität" zwischen den zu diesem Zusammenhang gehörenden unterschiedlichen Phänomenen.
Alles zusammengenommen handelt es sich für mich um einen Mischmasch von nützlichen
Kritikpunkten, Trivialitäten und willkürlichen Festlegungen.
Was den Charakter der wissenschaftlichen Tätigkeit betrifft und die Möglichkeit, zur Erkenntnis
Eckart Leiser
Behaviorismus
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psychologischer Objekte zu gelangen, geht Kantor davon aus, daß die wissenschaftliche Forschung
nichts weiter als ein besonderes "interbehavior" ist, dem keinerlei neue Qualität zukommt, und das
ohne weiteres zur Erfüllung seiner Funktion fähig ist, nämlich die Gesetze zu entdecken, die seinen
Gegenstand bestimmen: Indem er nach den Regeln Kantors Daten zu sich nimmt und verdaut,
gelingt es dem Menschen, Erkenntnisse über sich selbst zu produzieren, so wie eine Kuh Milch
produziert, indem sie Gras frißt und basta - immer vorausgesetzt, daß der Mensch sich gegen die
verborgenen mentalistischen Mächte in seiner kulturellen Umwelt schützt, so wie die Kuh giftige
Pflanzen meiden sollte.
Wir beenden unsere Darstellung des Systems von Kantor, indem wir die Subsysteme aufzählen, in
die sich die Psychologie, selbstverständlich naturgegeben, unterteilt: Den Ereignistypen gemäß
unterscheidet Kantor genau 5 unabhängige Subsysteme, die die Disziplinen einer interbehavioralen
Psychologie ausmachen: die physiologische Psychologie, die Kulturpsychologie, die
Tierpsychologie, die Psychologie des Abnormalen und die Psycholinguistik. Wir verzichten auf die
Frage, wieso denn nicht die Kognitionspsychologie oder die Kinderpsychologie in dieser
Klassifikation auftauchen, ganz zu schweigen von der Pflanzenpsychologie, die sich nach den
Betrachtungen seines Vorbilds Aristoteles eigentlich als unverzichtbar aufdrängt.
Statt dessen möchte ich auf eine verblüffende Ironie aufmerksam machen: Ausgerechnet der
Behaviorismus, jene Strömung der zeitgenössischen Psychologie, die gegen die Willkürlichkeiten
und scholastischen Streitereien der traditionellen Psychologie zu Beginn des Jahrhunderts
angetreten war (s. das Manifest von Watson), findet sich schließlich und endlich in ein beispielloses
Scholastikertum zurückversetzt, in seinem Bemühen, seine Hegemonie zu befestigen und seine
wissenschaftliche Reichweite zu erweitern. Er degeneriert zu einem ideologischen System nahezu
ohne empirische Substanz und kehrt zu einem mehr als zweitausend Jahre zurückliegenden aristotelischen Weltbild zurück.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Kapitel 8:
Der Zugang der Kritischen Psychologie zum Problem des Lernens: eine Skizze
Wenn ich mich im folgenden mit einer Skizze zufriedengebe, so liegt das zunächst an der Tatsache,
daß die Kritische Psychologie bis heute nicht über eine fertige Theorie des Lernens verfügt. Die
Arbeit auf diesem Feld beschränkt sich auf vorbereitende Untersuchungen und Konzeptbildungen
mit dem Ziel, einen kategorialen Rahmen zu schaffen, der eine Orientierung für die Ausarbeitung
der zukünftigen eigentlichen Theorie liefert. Aber schon dieser kategoriale Rahmen wird kaum verständlich sein ohne Bezug auf die allgemeineren Grundlagen der Kritischen Psychologie, die den
Anspruch hat, ein alternatives Paradigma für die Psychologie insgesamt anzubieten. Bevor wir den
Zugang der Kritischen Psychologie zum speziellen Problem des Lernens skizzieren, müssen wir
deshalb den kategorialen Rahmen dieses alternativen Paradigmas sowie seine philosophischen und
methodologischen Grundlagen zumindest andeuten (für eine gründlichere Herausarbeitung s. meine
methodologischen Untersuchungen von 1987).
Im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild, das den philosophischen Hintergrund des
Behaviorismus bildet, wie im vorangehenden bei vielen Gelegenheiten entwickelt, geht die
Kritische Psychologie davon aus, daß die zentrale Kategorie, die für ein Begreifen der Welt nötig
ist, die Selbstbewegung der Materie ist, eine Kategorie, die das Auftauchen immer komplexerer
Strukturen begreifbar macht. Es ist dies ein nicht endender Entwicklungsprozeß, der fortwährend
neue Strukturen und Qualitäten hervorbringt. Denn die Selbstbewegung schließt die Fähigkeit der
Materie ein, sich selbst zu organisieren, ohne jedes Eingreifen von außen, sei es in Form eines
Gottes oder einer anderen geheimnisvollen Instanz. Es handelt sich hier um eine
erkenntnistheoretisch sehr wichtige Kategorie, weil sie bedeutet, daß die Gesetzmäßigkeiten jedes
Prozesses, die psychischen Prozesse eingeschlossen, in deren eigener Dynamik liegen, und nicht in
irgendeinem dunklen Raum. Und diese Gesetzmäßigkeiten sind nicht unveränderlich und ein für
allemal festgelegt, sondern lediglich ein Aspekt sich entwickelnder Systeme, der wie die besagten
Strukturen und Qualitäten dem Wandel unterworfen ist. Zu den während dieser Evolution
entstandenen neuen Strukturen zählen, als Beispiel, atomare Strukturen, die chemischen Elemente
und Verbindungen, geologische Formationen unserer Erde usw. Und zu den während ebendieser
Evolution hervorgetretenen neuen Qualitäten zählen die Entstehung des Lebens, und, als unser
Gegenstand, die Entstehung des Psychischen.
Wie von der Kritischen Psychologie und ihren Vorläufern innerhalb der sowjetischen Psychologie
(Leontjew, Galperin, Wygotski u.a.m.) dargelegt, ist das Auftreten des Psychischen weit davon
entfernt, ein Luxus zu sein, zudem ein problematischer Luxus, der letztendlich zu der seitens des
Behaviorismus so verdammten mentalistischen Pest führt. Noch weniger ist es ein Phantom, wie
Skinner sagt, sondern es ist eine sehr spezifische Funktion, die grundlegend die Überlebensmöglichkeiten der betreffenden Arten erweitert hat. Gemäß der gleichen Analyse setzte das Aufkommen
des Psychischen eine neue Entwicklungsdynamik in Gang, insbesondere des psychischen Systems
selbst. Nach A.N. Leontjew, dem wichtigsten Vorläufer der Kritischen Psychologie, ist es möglich,
innerhalb der Evolution des Psychischen bis zum Menschen hin, also innerhalb der sogenannten
"Psychophylogenese", 4 wichtigere Stufen zu unterscheiden:
Eckart Leiser
Behaviorismus
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- die primitivste Stufe der sensorischen Psyche, die sich bei den ersten mehrzelligen Organismen
wie den Amöben findet;
- die Stufe der perzeptiven Psyche, die mehr oder weniger die Fähigkeiten der Ratten umfaßt, wie
sie der Behaviorismus nach Art Tolmans aufgezählt hat;
- die Stufe der intelligenten Psyche, wie sie sehr gut durch die Affen W. Köhlers veranschaulicht
wird (Stichwort: Einsichtverhalten);
- und schließlich die Stufe der bewußten Psyche des Menschen,
mit all ihren Funktionen,
Zusammenhänge mittels Symbolen darzustellen, und diese zu analysieren, umzuformen und zu
kommunizieren.
Die letzte Stufe ermöglicht ein psychisches System, das aufbaut auf und gleichzeitig führt zu der
Produktion verallgemeinerter Bedeutungen, sei es im Rahmen einer Gruppe oder einer Gesellschaft.
Zu diesen gehören sprachliche Begriffe, die sozialen Rollen und kulturellen Charakteristika, deren
entstehungsgeschichtlicher Ausgangspunkt und materielle Basis die vielen Werkzeuge und
Gebrauchswerte sind, über die eine Kultur verfügt.
Auch das Lernen hat seine eigentümliche Evolution innerhalb des psychischen Systems, die
wiederum von einer wohldefinierten Funktion ausgeht: Nach den besagten Analysen entstand das
Lernen an einem Punkt der Evolution, wo das Leben der Organismen immer mehr von wechselnden
Merkmalen und Variablen ihrer jeweiligen Umwelt abhängig wurde, die deshalb nicht mehr mit
Hilfe einer Instinktausstattung vorweggenommen werden konnten. Kürzer gesagt: Die Funktion des
Lernens im allgemeinsten Sinn besteht darin, einen Spielraum der Anpassung an vorweg und
langfristig nicht festgelegte Umweltmerkmale zu gewährleisten.
Aber diese sehr allgemeine und abstrakte Kennzeichnung ändert nichts an der Tatsache, daß der
Charakter der Lernprozesse beim Menschen und deren Bedeutung innerhalb seiner Lebensweise
nicht viel mit den entsprechenden Prozessen der subhumanen Organismen zu tun haben.
Was seine Bedeutung betrifft, spielt das menschliche Lernen verglichen mit anderen Spezies eine
zentrale und nie dagewesene Rolle. Das liegt vor allem an der besonderen Dynamik der
menschlichen Umwelt, die ihre Ursache in der Fähigkeit des Menschen hat, sich mittels seiner
Arbeitsprodukte seine eigene Welt zu gestalten, und die darüber hinaus in der Evolution sozialer
Strukturen auf einer nicht mehr biologischen, sondern konstruktiven Grundlage begründet ist.
Zusammengefaßt, liegt die Bedeutung des Lernens an der Anhäufung von Wissen, Bedeutungen
und kulturellen Mustern, von deren adäquaten Gebrauch das Leben jedes Individuums abhängt.
Deshalb besteht das menschliche Leben in hohem Maß in der Aneignung des in der Gesellschaft
angesammelten menschlichen Erbes. Und die Bedeutung dieses Erbes überwiegt immer mehr die
seines biologischen Erbes. Besser gesagt besteht das menschliche Leben in der ständigen
Erweiterung der Kontrolle des Individuums über die Möglichkeiten, über die die Gesellschaft verfügt, im Rahmen seiner sogenannten Sozialisation, und danach in einer ständigen Anpassung an die
aktuellen Veränderungen seiner Situation und an die wachsenden Anforderungen der anderen
Eckart Leiser
Behaviorismus
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hinsichtlich seiner Beiträge zum gemeinsamen Leben.
Was den Charakter solcher menschlichen Lernprozesse betrifft, so umfassen diese alle
obengenannten Möglichkeiten des Psychischen beim Menschen, insbesondere seine mit seinem
Bewußtsein zusammenhängenden Fähigkeiten. Das heißt, daß das menschliche Lernen in hohem
Maß ein bewußtes Lernen ist. Schon allein diese dominierende Rolle des Bewußtseins in
Lernprozessen bedeutet, nach Auffassung der Kritischen Psychologie, daß jeder Versuch, das
menschliche Lernen auf irgendwelche Prinzipien des subhumanen Lernens zu reduzieren, sinnlos
und irreführend wäre.
Statt sich damit abzumühen, trotz dem Gesagten die Ähnlichkeiten zwischen dem menschlichen
Lernen und dem subhumanen Lernen zu erforschen und zusammenzustellen, und aus diesen
irgendwelche sehr allgemeine wenn auch abstrakte Prinzipien herauszuziehen, wie es der
Behaviorismus tut, hat es die Kritische Psychologie vorgezogen, damit zu beginnen, das Problem
des menschlichen Lernens in den Mittelpunkt zu stellen, und sogar noch konkreter des
menschlichen Lernens im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Wir werden jetzt versuchen, die
Aspekte dieser Fragestellung zu entfalten, wobei wir uns auf einen kürzlich erschienenen Text von
Klaus Holzkamp stützen werden, dem Begründer der Kritischen Psychologie, mit dem Titel:
"Lernen und Lernwiderstand" (in: Forum Kritische Psychologie 20, 1987, S. 5-36).
Holzkamp beginnt damit, die elementarsten Defizite zu bestimmen, die sich ihm schon bei der
Problemformulierung in den traditionellen Lerntheorien aufdrängen. Für ihn schließen diese nicht
nur die behavioristischen Konzepte ein, sondern auch die kognitivistischen Konzepte
(Miller/Galanter/Pribham, Bruner, Klix) und sogar die von den Vorgängern der Kritischen
Psychologie stammenden Konzepte, insbesondere das Konzept von Galperin. Was den
Behaviorismus mit den anderen erwähnten Schulen verbindet, ist die Ausschaltung des Individuums
als Subjekt und zentrale Instanz des Lernens.
Uns überrascht dieser Vorwurf nicht in bezug auf den Behaviorismus, wo der Organismus als
Mechanismus behandelt wird, der von außen kommenden Bedingungen und Kontingenzen unterworfen ist. Dort ist die Umwelt die zentrale Instanz und das wirkliche Subjekt des Lernens, indem
sie das Verhalten des Organismus gemäß den in den Kontingenzen verborgenen Zielen modelliert.
Was dagegen für den Organismus zählt, sind die Verstärkungen und sonst nichts. Diese sind die
eigentlichen Triebkräfte, die den Lernprozeß in Gang halten. Somit läuft der Behaviorismus auf
eine vollständige Trennung zwischen den zwei Seiten des Lernens hinaus: dem Ziel und der
Triebkraft. Im Fall der klassischen Experimente des Behaviorismus materialisiert sich diese
Trennung in Form des Experimentators einerseits, der sich die Ziele ausdenkt und diese in eine
entsprechende Versuchsanordnung umsetzt, und in Form des Verstärkers andererseits, der das
Verhalten des Organismus antreibt. Soviel zum Behaviorismus.
Das überraschendere Ergebnis von Holzkamp ist, daß es eine ähnliche Trennung in bezug auf die
kognitivistischen und sogar die materialistischen Konzepte des Lernens gibt. Was er meint, wird
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 76
deutlich, wenn man die durch diese Konzepte inspirierte Praxis betrachtet. Es ist nämlich so, daß
auch diese Konzepte des Lernens sich nicht ernsthaft auf die Prozesse des Individuums einlassen,
die beim Angehen eines Lernproblems ablaufen. Dazu gehört die Frage: wie bilden sich seine Ziele
heraus? wie wählt es seine Mittel und Strategien aus? was sind seine Fortschritte und seine Krisen?
was ist die fördernde oder behindernde Rolle seiner sozialen Umgebung? Statt sich ernsthaft auf
diese Problemstellungen einzulassen, verwandeln sich die besagten Konzepte des Lernens, sobald
sie sich der Praxis zuwenden, in beinahe ausschließlich dem Lehren gewidmete Konzepte: Sie
bieten Strategien und Techniken nicht für das Subjekt des Lernens an, sondern für die Lehrer und
Erzieher, zusammen mit den entsprechenden Anreizen oder Sanktionen, die zur Durchsetzung
beliebiger Ziele geeignet sind. Auch hier werden die Ziele vorweg definiert und ohne jede
Berücksichtigung der Bedürfnisse der betroffenen Individuen. Das heißt, daß das Problem des
Lernens auf das Problem des Lehrens reduziert wird, verstanden als die Durchsetzung von Zielen
gegen das Individuum (wenn auch selbstverständlich in seinem Interesse) mittels von außen
kommender Manipulationen. Das klassische Feld derartiger Konzepte ist die Schule, wo die besagte
Trennung zwischen den Zielen und den Triebkräften sich zusätzlich konkretisiert in Form des
Unterrichtsstoffes einerseits, den vom Lehrer festgelegten Zielen, und dem Notensystem andererseits, das das Verhalten des Schülers antreibt. Auf diese Weise verwandelt sich das allseits präsente
Phänomen des Lernens in die sehr spezielle Fragestellung der Schulpädagogik, mit dem den
pädagogischen Bemühungen der Lehrer ausgesetzten Schüler. Wie zuvor gesagt, findet man die
gleiche Reduktion und die gleiche Ausschaltung des Subjekts als Instanz seines eigenen Lernens in
den materialistischen Konzepten wie jenem von Galperin, eine Kritik, auf die wir hier nicht weiter
eingehen können.
Nun: Was meint die Kritische Psychologie konkret, wenn sie von der menschlichen Subjektivität als
Ausgangspunkt ihres Zugangs zum Problem des Lernens spricht?
Die erste Konsequenz eines solchen Zugangs ist die Frage, wie die Ziele entstehen, auf die sich das
menschliche Lernen richtet. Denn ein Effekt der obengenannten Einführung der Ziele von außen ist,
daß deren Auswahl und Definition eine mehr oder weniger beliebige Angelegenheit zu sein scheint.
Auf diese Weise bleibt selbst im Rahmen der Schulpädagogik die Festsetzung der Lernziele
außerhalb der psychologischen Betrachtung. Die Kritische Psychologie weist diese Verkürzung des
Problems zurück und geht davon aus, daß die Aufstellung der Lernziele einen zentralen Teil des
Lernens bildet. Es entspricht dem allgemeinen Streben des Menschen, seine Kontrolle über seine
Lebensbedingungen zu erweitern und seine produktiven Fähigkeiten zur Teilhabe an der Gestaltung
seiner Umwelt zu entwickeln, was die Aufstellung dieser Ziele bestimmt - nach der Analyse der
Kritischen Psychologie ein elementarer Wesenszug der menschlichen Natur.
Wir sprechen ausdrücklich von einer Aufstellung und nicht lediglich von einer Auswahl der Ziele,
denn mit den vielen materiellen und ideellen Produkten umzugehen, die sich akkumuliert in einer
Gesellschaft vorfinden, erschöpft sich nicht in der Aneignung eines festen Repertoires von
isolierten und wohldefinierten Fertigkeiten und Techniken. Besser gesagt entsprechen die in einer
Gesellschaft vorgefundenen verallgemeinerten Bedeutungen einem Raum von Möglichkeiten oder
einem Potential virtueller Funktionen. Und außerdem sind die verschiedenen Potentiale
untereinander verbunden, bilden also ein funktionales Netz.
Eckart Leiser
Behaviorismus
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In erster Annäherung können wir sagen, daß das Lernen des menschlichen Individuums ein
lebenslanger Prozeß ohne dauerhaften Gleichgewichtszustand ist, der darauf zielt, die relevanten
Komponenten solcher Potentiale Schritt für Schritt auszuwählen, und sie auf ein entsprechendes
Netz von lebenswichtigen Operationen, nützlichen Fertigkeiten und produktiven Fähigkeiten hin zu
verknüpfen, die dem Individuum eine Kontrolle seiner Umwelt auf immer umfassenderem Niveau
ermöglicht. Nach dieser Auffassung besteht ein Lernziel aufstellen darin, jene funktionalen
Eigenschaften eines Objekts, repräsentiert in seiner verallgemeinerten Bedeutung, zu identifizieren,
die dem Individuum auf einem gegebenen Entwicklungsniveau beherrschbar und zugleich relevant
erscheinen in dem Sinn, daß sie ihm eine Erweiterung seiner Kontrolle der Welt ermöglichen.
Wenn wir von der "Kontrolle der Welt" sprechen, dürfen wir uns nicht eine omnipotente Person
vorstellen, die sich die Welt unterwirft: es handelt sich um eine psychologische Kategorie, die sich
auf die relative Welt des Individuums bezieht, die mit der frühen Welt des Kindes und der schon
umfassenderen Welt des Heranwachsenden beginnt. Der Text enthält zwei Beispiele, die das
Gesagte recht gut veranschaulichen: der Lernprozeß bei einem Jugendlichen das Klavierspielen
betreffend, und der Lernprozeß bei einem Kind im Hinblick auf das Umgehen mit einem Löffel.
Beide Beispiele stellen nach der Analyse von Holzkamp die Bedeutung des Aufstellens von Zielen
seitens des betroffenen Individuums als wesentlichen und integrierenden Schritt des Lernens klar.
Um mit dem Klavier zu beginnen, ist es klar, daß es nicht genügt, unter dem Ziel die Fähigkeit
"Klavier zu spielen" zu verstehen und damit gut. Wir gehen von einem Jugendlichen aus, der schon
eine erhebliche Praxis mit dem Klavier hat, der sich aber mit seinem Können nicht zufriedengibt
und nach einem entwickelteren Niveau des Musikmachens strebt, vielleicht nach Art seines Idols
Arthur Rubinstein: Da er an die Grenzen seiner gegenwärtigen Fähigkeit gelangt ist, könnte der
nächste Schritt darin bestehen, sich zunächst von den technischen Problemen des Klavierspielens zu
lösen und sich statt dessen mit den Gesichtspunkten des gefühlsmäßigen Ausdrucks oder
womöglich mit dem historischen oder biografischen Hintergrund des entsprechenden Komponisten
zu beschäftigen. Es könnte sogar angebracht sein, daß er vorübergehend das Instrument wechselt,
um sein Spektrum von Tonfarben zu erweitern. Wie zu sehen ist, kann die Bestimmung eines Ziels
eine sehr verwickelte und sogar konfliktträchtige Angelegenheit sein, in jedem Fall aber ist sie ein
zentraler Aspekt des Lernens.
Im zweiten Beispiel des Kindes, bei dem ansteht, den Umgang mit einem Löffel zu lernen, ist es
wiederum so, daß es schon eine bestimmte Praxis mit dem besagten Löffel gab, jedoch auf einem
primitiven Niveau, ohne die verallgemeinerte Bedeutung zu begreifen, die in unserer Kultur einem
Löffel zukommt. Womöglich kann das Kind ihn greifen und Suppe auf seine Eltern spritzen, aber
nicht von seinen eigentlichen Merkmalen Gebrauch machen. Was hier fehlt, ist die Ausarbeitung
eines völlig neuen psychischen Schemas, das den Werkzeugcharakter eines Löffels schon in dessen
Wahrnehmung darstellt, wobei es diesen Werkzeugcharakter in den entsprechenden sensomotorischen Funktionen widerspiegelt und konkretisiert. Auf diese Art gelangt das Kind dazu, den
Eckart Leiser
Behaviorismus
Seite 78
wesentlichen Unterschied zwischen einem natürlichen Gegenstand und einem Werkzeug zu
begreifen, und damit seine "autistische" Welt in Richtung auf die soziale Welt der Erwachsenen zu
erweitern. Wiederum kann der Schritt, sein beschränktes Kontrollniveau der frühen Kindheit zu
verlassen und sich das Ziel eines funktionalen Umgangs mit dem Löffel zu setzen, was ihm - sein
vorrangiges Ziel - eine größere Unabhängigkeit von den Erwachsenen ermöglicht, eine recht
verwickelte und konfliktträchtige Angelegenheit sein, deren wissenschaftliche Klärung deshalb
wichtig ist, und zwar bevor man sich dem eigentlichen Prozeß des Lernens widmet.
Wenden wir uns nun diesem eigentlichen Prozeß zu, treffen wir auf eine wesentliche
Unterscheidung Holzkamps zwischen zwei Arten des Lernens: dem relativen Lernen und dem
fundamentalen Lernen.
Nehmen wir als Ausgangspunkt die Problematik eines Subjekts, die daraus entspringt, sein Leben
auf der Grundlage eines existierenden Bestandes an lebenswichtigen Operationen, nützlichen
Fertigkeiten und produktiven Fähigkeiten zu bewältigen. Das Problem ist, daß dieses Netz von
psychischen Funktionen, koordiniert mit dem Netz verallgemeinerter Bedeutungen in einem bisher
für das Subjekt ausreichenden Umfang, nicht mehr ausreicht. Mit anderen Worten: Es gibt einen
Punkt, an dem das Subjekt auf die Grenzen seiner Schemata trifft, die Welt zu interpretieren und in
ihr zu handeln. Gehen wir davon aus, daß es dem Subjekt gelingt, die Erfahrung einer Problematik
in ein wohldefiniertes Ziel umzuarbeiten, mit Unterstützung seiner sozialen Umgebung, dem
verfügbaren Wissen und schon erprobten Techniken.
Im weiteren besteht der entscheidende Schritt darin, die neuen für die Realisierung seines Ziels
notwendigen funktionalen Schemata auszuarbeiten. Selbstverständlich beginnt dieser Schritt nicht
an einem Nullpunkt, sondern stützt sich auf die schon vorhandenen Schemata: das Subjekt fügt
diese mit neuen funktionalen Gesichtspunkten zusammen in Richtung auf ein erweitertes Schema
von komplexerer Struktur. Das ist in der Terminologie von Holzkamp der fundamentale Schritt des
Lernens. Nebenbei bemerkt ist dieser Schritt teilweise mit Hilfe der "Fünfschritt"-Technik
rekonstruierbar, die in meiner ersten Vortragsreihe beim Einführen der "funktional-historischen
Methode" behandelt worden ist (s. Kapitel 8 meiner methodologischen Untersuchungen). Nach der
Kritischen Psychologie schließt dieser Schritt mehr ein als den Erwerb und die Ausarbeitung eines
neuen, mit dem entsprechenden Ziel koordinierten, funktionalen Schemas von Operationen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Es schließt außerdem die Repräsentierung der Diskrepanz zwischen dem
Ziel und dem aktuellen Vermögen ein, zusammen mit einem strategischen Entwurf zu deren
Verringerung. Denn im Gegensatz zum "Modellernen" von Bandura reicht es nicht, über ein Modell
zu verfügen, von dem man eine Kopie macht und damit gut: Ein Lernziel aufstellen schließt das
Antizipieren nicht nur des Endzustandes ein, sondern auch des Weges dahin und der möglichen
Methoden, diesen zurückzulegen.
Sobald der besagte "fundamentale Lernschritt" erreicht ist, konkretisiert sich dieser strategische
Entwurf in wohldefinierte Techniken, die geeignet sind, das neue funktionale Schema zu
vervollkommnen und zu vertiefen. Hier beginnt in der Terminologie von Holzkamp das relative
Eckart Leiser
Behaviorismus
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Lernen. Gekennzeichnet durch
Wiederholung und Korrektur
Lernphase den am wenigsten
Aspekt ist der einzige, der in
übrig bleibt.
eine Kette allmählicher Verbesserungen, die durch die Technik der
erreicht werden, stellt diese mehr oder weniger mechanische
interessanten Aspekt des Lernens dar. Und ausgerechnet dieser
den im vorangehenden untersuchten behavioristischen Konzepten
Wir wollen versuchen, das Gesagte auf unsere oben eingeführten Beispiele zu beziehen: Nachdem
er sein Ziel aufgestellt hat, und zwar sein Spektrum von Tonfarben mit Hilfe der Violine zu
erweitern, macht sich der Jugendliche mit Hilfe eines entsprechenden Lehrers daran, die neuen
sensomotorischen Schemata zu erlernen, die zur Handhabung dieses Instruments nötig sind, vor
allem die andersartige und sensiblere Art, die Töne zu bilden. Dieser fundamentale Lernschritt jeder Mensch, der schon einmal diese Anfänge des Violine-Spielens durchgemacht hat, weiß was
hier "fundamental" bedeutet - setzt eine mehr oder weniger mechanische Phase des Übens auf dem
neuen Instrument in Gang auf der Grundlage erprobter Techniken: das relative Lernen. Wenn er
später zu seinem Klavier zurückkehrt, kann es sein, daß es ihm ohne weitere Schwierigkeit gelingt,
die erweiterte Fähigkeit, Töne zu bilden, auf dieses Instrument zu übertragen, womit er sich neue
musikalische Dimensionen erschließt. Es kann aber auch sein, daß der Versuch, sein neu
ausgearbeitetes Schema auf das Klavier zu übertragen, zu einer neuen Problematik führt, eine
Problematik, die die Klärung des nächsten Ziels erfordert, usw.
Auf das Kind und sein Problem, mit dem Löffel umzugehen, bezogen, führt die Problematik das
Kind schließlich zu dem Lernziel, seine Unabhängigkeit zu vergrößern, indem es den Löffel nach
Art der Erwachsenen handhabt. Indem es aufgrund einer von Erwachsenen angeleiteten Übung die
funktionalen Elemente, einen Löffel zu verwenden, herausfindet, diese in seine schon vorhandenen
sensomotorischen Schemata integriert und dieses neue Schema auf seine soziale Bedeutung hin
verallgemeinert, vollzieht das Kind den fundamentalen Lernschritt. All das stützt sich auf die vielen
Vorbilder in seiner Umgebung. Beispielsweise besteht die besagte Überprüfung sehr konkret darin
nachzuprüfen, daß alle erwachsenen Personen sich des gleichen Schemas bedienen. Es folgt eine
Phase gradueller Fortschritte, während derer das Kind mit Hilfe von Wiederholungen und
Korrekturen unermüdlich seine Fertigkeit verfeinert und vervollkommnet: das relative Lernen. Im
Fall dieses Beispiels ist keine neue Krise zu erwarten, die mit dem Zusammenhang des Löffels zu
tun hat, es sei denn, daß das Kind auf die Idee kommt, selbst einen Löffel herzustellen, ein Ziel,
welches das Erschließen neuer komplizierterer Aspekte innerhalb des Potentials erfordern würde,
welches die verallgemeinerte Bedeutung eines Löffels darstellt: ein unwahrscheinlicher Fall.
Soviel zu den Beispielen. Wir haben bisher vorausgesetzt, daß jede Lernproblematik früher oder
später zur Aufstellung eines Lernziels führt, wie durch die zentrale These der Kritischen
Psychologie nahegelegt, des Inhalts, daß es ein wesentliches Kennzeichen der menschlichen Natur
ist, nach einer Erweiterung der Kontrolle über die Welt zu streben. Aber so einfach ist es nicht:
Abgesehen von den konfliktträchtigen Aspekten beim Aufstellen eines Ziels, was dessen Inhalt
betrifft, kann das Streben, ein Lernproblem vorwärtsgerichtet zu lösen, von einer ziemlich
komplexen und widersprüchlichen Dynamik überlagert sein. So hat vielleicht das Kind in unserem
Beispiel, so sehr es auch von einer Vergrößerung seiner Unabhängigkeit träumt, gleichzeitig Angst
davor, die allgegenwärtige Fürsorge seiner Mutter zu verlieren. Allgemeiner schließt jeder Schritt
Eckart Leiser
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nach vorn in Richtung auf eine Erweiterung seiner Welt und eine Entfaltung seiner Möglichkeiten
das Risiko ein, eine bewährte Sicherheit und ein vertrautes Gleichgewicht zu verlieren.
Das bedeutet, daß es neben dem vorwärtsgerichteten Lösen einer Lernproblematik einen anderen
regressiven Ausweg gibt: das Verharren in einem reduzierten Zustand, trotz der Grenzen, auf die
man immer mehr stößt. In der Terminologie von Holzkamp heißt diese Alternative des SichAbfindens mit einem reduzierten psychischen Entwicklungsniveau aufgrund des Risikos, das mit
der Entfaltung seiner Fähigkeiten verbunden ist, "reduzierte Handlungsfähigkeit".
Das führt zu sehr interessanten Fragestellungen bezüglich der psychischen Funktionen, die
notwendig sind, um einen solchen psychischen Zustand aufrechtzuerhalten. Zu ihnen gehören die
unbewußten Mechanismen und die ideologischen Techniken, die das Verbergen einer derartigen
Selbstbehinderung vor dem Subjekt möglich machen. Es ist insbesondere möglich, hier
Beziehungen zwischen diesem Thema der Kritischen Psychologie und den entsprechenden
Konzepten der Psychoanalyse herzustellen. Über eine Reinterpretation der entsprechenden
Phänomene hinaus geht es für mich um den bisher nicht befriedigend geklärten Punkt, inwieweit es
möglich ist, auch von einigen konzeptuellen Elementen der Psychoanalyse für die Weiterentwicklung der theoretischen und praktischen Konzepte der Kritischen Psychologie Gebrauch zu
machen.
Wie auch immer, die gerade dargelegte Alternative in Hinblick auf eine Lernproblematik, nämlich
der Schritt in Richtung auf eine erweiterte Handlungsfähigkeit und das Verharren in einer
restringierten Handlungsfähigkeit stellt klar, daß die Lernprozesse von einer psychischen Dynamik
abhängen, die den im vorangehenden behandelten Aspekten vorgeordnet ist. Aus dieser Dynamik
ergibt sich, ob das Subjekt bereit ist, sich ohne Vorbehalt auf das Lernen einzulassen, also die
Herausforderung anzunehmen, oder ob das Subjekt der Herausforderung ausweicht, indem es sich
in einer reduzierten Welt einrichtet. Holzkamp spricht vom dynamischen Aspekt des Lernens und
unterscheidet ihn vom strukturellen Aspekt, der das Lernen im zuerst behandelten engeren Sinn
betrifft.
Das Phänomen der Selbstbehinderung oder einer ambivalenten Haltung beim Subjekt angesichts
einer Lernproblematik ist durchaus nicht nur ein Problem der frühen Kindheit. Indem er seine
Analyse auf die bürgerliche Gesellschaft hin konkretisiert, die bisher hinsichtlich ihrer spezifischen
Wesenszüge nicht vorkam, gelangt Holzkamp zum Schluß, daß es in dieser einen allgegenwärtigen
Widerspruch gibt: den Widerspruch zwischen einem primären Streben des Individuums, seine
Lebensbedingungen so weit wie möglich zu kontrollieren und zu bestimmen, also auf eine
selbstbestimmte Weise zu leben, und einer wohlausgearbeiteten Strategie der herrschenden Klasse,
die Individuen auf einen wohldefinierten Raum von Möglichkeiten und Fähigkeiten zu beschränken
und sie dort festzuhalten. Dieser Raum ist unterschiedlich hinsichtlich seines Umfangs und seiner
Qualität, da er sich der Stellung und Funktion des Individuums innerhalb des kapitalistischen
Systems anpaßt.
Der herrschenden Klasse gelingt diese Beschränkung mittels der vielen offenen und versteckten
Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich über deren entsprechende Institutionen
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umsetzen. Zu ihnen gehört die familiäre Sozialisation, die Schulerziehung, die subkulturellen
Prägungen, die Organisation der Arbeit und nicht zuletzt die Zwangsmittel des Staates und seine
rechtlichen Sanktionen. (Als Beispiel: wenn ein Arbeitsloser auf der Suche nach Erweiterung seiner
Bildung in ein Buchgeschäft geht und dort wegen Geldmangel ohne zu zahlen ein Lehrbuch
mitgehen läßt, wird er bestraft werden.) In diesem Widerspruch zwischen dem Individuum und der
herrschenden Klasse manifestiert sich lediglich ein tieferliegender Widerspruch zwischen dem
Sonderinteresse des Kapitals an der rücksichtslosen Ausbeutung aller Ressourcen und dem
allgemeinen Interesse des Menschen an der Entfaltung und Entwicklung seiner menschlichen
Potentiale. Es ist uns hier nicht möglich, diese Analyse der bürgerlichen Gesellschaft darüber
hinausgehend zu vertiefen. Wichtig ist, daß das besagte Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft
in einem permanenten Konflikt lebt: Soll es die Grenzen seines von außen bestimmten Raums
überschreiten und dabei das Risiko eingehen, irgendwelche Drohungen und Sanktionen auszulösen,
wenn auch mit der unsicheren Perspektive eines befriedigenderen Lebens, oder soll es sich mit dem
zugeteilten Raum zufriedengeben, wobei er allerdings seiner menschlichen Natur Gewalt antut und
sich notwendigerweise der vielen Tricks des Selbstbetrugs bedienen muß, um sein psychisches
Gleichgewicht aufrechtzuerhalten?
Dieser Konflikt ist wohlgemerkt nicht nur ein Problem der unteren Klassen, sondern ebenfalls der
privilegierteren (wenn auch mit einer anderen Phänomenologie - man denke an den deprimierenden
Zustand der sogenannten "grünen Witwen", die psychisch in ihren Vorstädten eingesperrt sind, trotz
ihres Wohlstands und ihrer "grünen" Umgebung).
Das Problem der ambivalenten Haltung des Individuums in bezug auf das Lernen und insbesondere
das Phänomen der Selbstbehinderung ist soweit ich sehen kann in keiner anderen Konzeption des
Lernens dargestellt oder darstellbar, erst recht nicht in den behavioristischen Konzepten (es hat
nichts mit dem dort behandelten Problem der Interferenzen zu tun). Schon allein damit beweist sich,
daß der Zugang der Kritischen Psychologie zum Problem des Lernens nicht nur in eine theoretische
Reinterpretation klassischer Probleme mündet, sondern daß sie in der Lage ist, neue Probleme von
sehr praktischer Relevanz in das Blickfeld zu rücken.
Denn das Problem der Selbstbehinderung breitet sich in unserem Schulsystem epidemisch aus, trotz
aller ausgeklügelten Konzepte der Pädagogik. Dieser "Lernwiderstand" - ein Begriff Holzkamps für
die spezifischen Symptome der Selbstbehinderung im Rahmen der Schule - liegt nicht an
irgendwelchen Defiziten der "infizierten" Schüler, sondern an einer wenn auch blinden Strategie,
sich gegen ein unmenschliches System des Lernens zu wehren: Es ist dies ein System, das die
Subjekte von der Bestimmung ihrer Ziele ausschließt, ein System, das ihnen Noten anbietet statt die
Befriedigung, ihre produktiven Fähigkeiten zu entwickeln, ein System, das letztendlich auf die
Unterwerfung unter die entfremdeten Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft zielt, statt die
Emanzipationsmöglichkeiten des Menschen zu erschließen und zu stärken.
Mit dieser Skizze einer Alternative zum Behaviorismus, die weit davon entfernt ist, die vielen
theoretischen und praktischen Probleme des Lernens auf erschöpfende und abschließende Weise zu
lösen, beschließen wir unsere Kritik des Behaviorismus.
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