Peter Ulrich Wirtschaftsethik.indd 1 Integrative Wirtschafts­ethik 16.11.2007 11:56:39 Uhr Wirtschaftsethik.indd 2 16.11.2007 11:56:39 Uhr Peter Ulrich Integrative Wirtschafts­ethik Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie 4., vollständig neu bearbeitete Auflage Haupt Verlag Bern • Stuttgart • Wien Wirtschaftsethik.indd 3 16.11.2007 11:56:39 Uhr Der Autor Prof. Dr. rer. pol. Peter Ulrich, geboren 1948 in Bern, ist seit 1987 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen und Leiter des dortigen Instituts für Wirtschaftsethik. Jüngste Buchveröffentlichungen: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, 2. Aufl. 2005, Freiburg i. B.: Herder Taschenbuch. – John Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, 2006, Bern u. a.: Haupt (hrsg. mit M. S. Assländer). – Integre Unternehmensführung. Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis, 2007, Stuttgart: Schäffer-Poeschel (mit Th. Maak). – Integrative Economic Ethics. Foundations of a Civilized Market Economy, erscheint im Februar 2008 bei Cambridge University Press. In gleicher Gestaltung liegt im Haupt Verlag vom Verfasser vor: Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft, 3. Aufl. 1993. Herausgeber der Buchreihe «St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik» (Haupt Verlag) mit bisher 40 Bänden. 1. Auflage: 1997 2. Auflage: 1998 3. Auflage: 2001 4. Auflage: 2008 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-258-07261-6 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2008 by Haupt Berne Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig Printed in Germany www.haupt.ch Wirtschaftsethik.indd 4 16.11.2007 11:56:40 Uhr Vorwort Am Anfang des Weges, der zu diesem Buch geführt hat, stand die Schaffung des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen im Sommer 1987, des ersten dieser Art an einer deutschsprachigen Wirtschaftsfakultät. Eine spannende und heraus­fordernde inter- oder transdis­ziplinäre Aufbauarbeit hat damals begonnen. Bald einmal zeigte sich, dass die international vorgefundenen Ansätze der Wirtschaftsethik oder «Business Ethics» nicht allen Ansprüchen zu genügen vermochten, da sie, wie mir schien, die entscheidenden Fragen zum Teil mehr verdecken als klären. So reifte schrittweise das Vor­haben, eine (dem Anspruch nach) besser fundierte und um­fassendere Konzeption zu entwickeln: die integrative Wirtschafts­ethik, die das Norma­ tive zuallererst in der ökono­mischen Sachlogik selbst aufdeckt und diese einer vorbehaltlosen ethisch-kritischen Grund­lagen­reflexion zuführt, ohne Re­flexionsabbruch vor «gegebenen» Umständen der real existierenden Marktwirtschaft und unter dem buchstäblich «zivilisierenden» Orientierungshorizont einer voll entfalteten freiheitlich-demokratischen Bürgergesellschaft. Nach zehnjähriger Entwicklung wurde 1997 mit der ersten Auflage des vorliegenden Buches eine systematisch aus­gearbeitete Gesamtdarstellung dieser Konzeption präsentiert und zur Diskussion gestellt. Sie fand lebhafte Resonanz, zunächst im deutschsprachigen Raum und sukzessiv international. So drängte sich in jüngster Zeit eine englischsprachige Ausgabe auf, die nahezu gleichzeitig mit der hiermit vorgelegten deutschen Neuauflage bei Cambridge University Press erscheint. Dies bot, nach punktuellen Ergänzungen und Detailverbesserungen anlässlich der 3. Auflage im Jahr 2001, Gelegenheit zu einer umfassenden Neubearbeitung und zu ausgewählten Aktualisierungen oder Vertiefungen von inzwischen weiter gediehenen Themen. Die vorliegende 4. Auflage folgt der unmittelbar zuvor erarbeiteten englischen Fassung des Buchs und übernimmt (wo sinnvoll) deren Verbesserungen und Ergänzungen, geht aber teilweise auch über sie hinaus. Für Leserinnen und Leser, die bisher mit einer früheren Ausgabe des Buchs gearbeitet haben, sei darauf hingewiesen, dass der gesamte Umbruch (auch aus technischen Gründen) völlig neu ist und die Seitenangaben zu bestimmten Textstellen stark von einander abweichen. Projekte wie dieses sind auf die jahrelange Geduld, das Wohlwollen und die tat­kräftige Un­terstüt­zung vieler Menschen angewiesen, nicht zuletzt im Wirtschaftsethik.indd 5 16.11.2007 11:56:40 Uhr familiären Umfeld. Meiner Frau Karin bin ich für ihr anhaltendes Verständnis an erster Stelle dankbar. Mein Dank gebührt auch dem Team im Institut für Wirtschafts­ethik an der Universität St. Gallen, speziell Thorsten Busch und Eric Patry für ihre redaktionelle Unterstützung bei dieser Neuauflage. Besonders erwähnen möchte ich nach wie vor meine geistigen Sparringpartner bei der Entstehung der Erstausgabe, Thomas Maak und Ulrich Thielemann. Ihre seinerzeitigen inhaltlichen Anregungen behalten ihren Anteil auch an der jetzt vorliegenden, durchgängig neu bearbeiteten und wesentlich verbesserten 4. Auflage. St. Gallen, im September 2007 Peter Ulrich Wirtschaftsethik.indd 6 16.11.2007 11:56:40 Uhr Inhaltsverzeichnis Einleitung: Sich im wirtschaftsethischen Denken orientieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Grundbegriffe moderner Ethik und der Ansatz integrativer Wirtschaftsethik 1. Das Phänomen der humanen Moralität: Die normative Logik der Zwischenmenschlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Moralität als Teil der Conditio humana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.2 Moral und Ethos als zwei Seiten gelebter Sittlichkeit . . . . . . . . 30 1.3 Moderne Ethik und das Relativismusproblem. . . . . . . . . . . . . . 36 1.4 Der humanistische Kern des Moralprinzips: Die norma­tive Logik der Zwischen­mensch­­­lichkeit. . . . . . . . . . 45 1.5 Entwicklungsstufen des Moralbewusstseins. . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Der Standpunkt der Moral: Philosophische Entwicklungslinien der Vernunft­ethik . . . . . . . . . . . . 59 2.1 Die Goldene Regel und das jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2 Der Standpunkt des unparteiischen Zuschauers (Adam Smith). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3 Der Kategorische Imperativ (Immanuel Kant). . . . . . . . . . . . . . 69 2.4 Das regelutilitaristische Verallgemeinerungskriterium. . . . . . . . 75 2.5 Diskursethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Moralität und ökonomische Rationalität: Integrative Wirtschafts­ethik als Ver­nunftethik des Wirtschaftens. . . 101 3.1 Wirtschaftsethik als angewandte Ethik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2 Wirtschaftsethik als normative Ökonomik?. . . . . . . . . . . . . . . 112 3.3 Der integrative Ansatz: Wirtschaftsethik als kritische Grundlagenreflexion der ökonomischen Vernunft. . . . . . . . . . 124 Wirtschaftsethik.indd 7 16.11.2007 11:56:40 Uhr II. Wirtschaftsethische Grundlagenreflexion I: Ökonomismuskritik 4. «Sachzwang» des Wettbewerbs? Kritik des ökonomischen Determinis­mus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.1 Zum Entstehungshintergrund der moder­nen Markt­wirt­­­schaft: Das calvinistische Ethos als Motivationszusam­menhang. . . . . 142 4.2 Zum Systemcharakter der modernen Marktwirtschaft: Der «freie» Markt als Zwangs­zusammenhang. . . . . . . . . . . . . 147 4.3 Die Parteilichkeit der Sachzwänge und das wirtschafts­ethische Zumutbar­keits­problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5. «Moral» des Marktes? Kritik des ökonomischen Reduk­tionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.1 Dogmengeschichtliche Hintergründe I: Die prästabilierte Har­mo­nie im ökonomischen Kosmos (Klassik). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5.2 Dogmengeschichtliche Hintergründe II: Die utilitaris­tische Gemein­wohlfik­tion (ältere Neoklas­sik). . . 187 5.3 Der methodologische Individualismus und die normative Logik des Vorteils­tausches (reine Ökonomik). . . . . . . . . . . . . 196 III.Wirtschaftsethische Grundlagenreflexion II: Vernünftiges Wirtschaften aus dem Blick­winkel der Lebenswelt 6. Die Sinnfrage: Wirtschaften und gutes Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 6.1 Elementarer Sinn des Wirtschaftens: Sicherung der menschlichen Lebens­grundla­gen . . . . . . . . . . . 224 6.2 Fortgeschrittener Sinn des Wirtschaftens: Erweiterung der mensch­lichen Lebens­fülle. . . . . . . . . . . . . . . 228 6.3 Persönliche Sinnfindung unter Bedingungen der Selbstbehauptung im Wett­bewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 7. Die Legitimationsfrage: Wirtschaften und gerechtes Zusammenleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 7.1 Moralische Grundrechte als ethisch-politische Legitimationsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 7.2 Die wohlgeordnete Gesellschaft und die Bedingungen legitimer Un­gleichheit: Zu den Gerechtigkeitsprinzipien von John Rawls . . . . . . . . . . 264 7.3 Wirtschaftsbürgerrechte als Grundlage realer Freiheit für alle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Wirtschaftsethik.indd 8 16.11.2007 11:56:40 Uhr IV. Wirtschaftsethische Topologie: «Orte» der Moral des Wirtschaftens 8. Wirtschaftsbürgerethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 8.1 Das bürgerethische Grundproblem: Liberale Gesellschaft und republikanische Bürger­tugend . . . . 317 8.2 Deliberative Politik: Die kritische Öffentlichkeit als Ort wirtschafts­bürgerlicher Mitverantwor­tung. . . . . . . . . . . . . . . . 330 8.3 Das Berufs- und Privatleben als Ort wirtschafts bürgerlicher Selbst­­bin­dung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 9. Ordnungsethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 9.1 Das ordnungsethische Grundproblem: Eigenlogik des Marktes und «Vitalpolitik» . . . . . . . . . . . . . . . 366 9.2 Deliberative Ordnungspolitik: Die Rahmenordnung als Ort der Moral – wessen Moral? . . . . 390 9.3 Die globale Frage: Wettbewerb der Rahmenordnungen oder supranation­ale Orte der ordnungspolitischen Moral?. . . . 409 10. Unternehmensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 10.1 Das unternehmensethische Grundproblem: «Gewinnprinzip» und Legitimität unter­nehmerischen Handelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 10.2 Instrumentalistische, karitative, korrektive oder integrative Un­ternehmensethik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 10.3 Deliberative Unternehmenspolitik: Geschäftsintegrität im «Stakeholder-Dialog». . . . . . . . . . . . . . 473 10.4 Bausteine eines integrativen Ethikprogramms im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Wirtschaftsethik.indd 9 16.11.2007 11:56:40 Uhr Wirtschaftsethik.indd 10 16.11.2007 11:56:40 Uhr Einleitung: Sich im wirtschaftsethischen Denken orientieren «Es ist immer wieder gesagt worden, der Mensch habe im Mittelpunkt der Wirtschaft zu stehen. Diese Aussage ist sicher richtig, nur kommt es jetzt darauf an, diesen allgemeinen Satz zu präzisieren.» Arbeitsteiliges Wirtschaften ist eine gesellschaftliche Veranstaltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Lebenserhaltung und der Lebens­ qualität. Eine vernünftige gesellschaftliche Wirtschaftsweise orientiert sich – das scheint in der Natur der Sache zu liegen – sinnvollerweise an ihrer Lebensdienlichkeit. Im Mittelpunkt der ökonomischen Sachlogik müssten demnach, mit Alfred Müller-Armack gesprochen, in der Tat die Menschen stehen. Schön wär’s. Doch in der Praxis und auch in der Theorie der modernen Marktwirtschaft tritt uns das, was ökonomische Sachlogik genannt wird, immer öfter als eine merkwürdig anonyme Sachzwanglogik entgegen, die bisweilen in augenfäl­ligem Widerspruch zu unseren In­tuitionen oder Leitideen vom guten Leben und gerechten Zusam­menleben der Menschen steht: Sie macht die einen «arbeitslos» und setzt die anderen, die noch im Markt sind, unter immer härteren Leis­tungs­druck. Sie steigert so unauf­hör­lich die «Produktivität» oder was wir dafür halten und schafft es dennoch nicht, alle Menschen mit dem Notwendigsten für ein menschenwür­diges Leben zu versorgen, weder in nationaler geschweige denn in globaler Perspektive. Und sie bringt ein unauf­haltsames Wirtschafts­wachstum hervor, das zwar einem Teil der Menschen einen hohen Konsumwohlstand verschafft, dessen Natur­(un)ver­träglichkeit uns aber längst zum Dauerproblem geworden ist. Die «moderne» ökonomische Sachlogik stellt unter Gesichts­punkten der Müller-Armack, A.: Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft – Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik (1960), wiederabgedruckt in: ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern/Stuttgart 1974, S. 129-145, hier S. 134. 2 Der wirtschaftsethische Leitbegriff der Lebensdienlichkeit ist geprägt worden von den theologischen Sozialethikern Emil Brunner und Arthur Rich. Vgl. Brunner, E.: Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik (1932), 4. Aufl., Zürich 1978, S. 387; im Anschluss daran Rich, A.: Wirtschaftsethik, Bd. II: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Gütersloh 1990, S. 23. 11 Wirtschaftsethik.indd 11 16.11.2007 11:56:41 Uhr Lebens­dienlichkeit anscheinend nicht die ganze ökonomische Vernunft dar. Was ihr abhanden gekommen ist, ist die ethische Dimension vernünftigen Wirt­schaf­tens. Immer mehr Menschen beginnen daher an der Lebensdienlichkeit des zunehmend eigendynamisch wirkenden ökonomischen Rationalisie­rungs­ pro­zesses zu zweifeln. Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Neuorientierung des wirtschaftlichen Fortschritts und nach der vermehrten ethischprak­tischen Einbindung der Marktwirtschaft wächst, während gleichzeitig die reale Entwick­lung in die gegenteilige Richtung einer immer radikaleren Verselbstän­digung der mittlerweile weltumspannend entfesselten Kräfte des «freien» Marktes geht. Dies für fragwürdig zu halten bedeutet keineswegs eine Zurückweisung der Marktwirtschaft also solcher; nur sollte sie vernünftigerweise nicht in die Richtung einer totalen Marktgesellschaft übersteigert werden. Denn nicht der Markt, sondern die Bürger verdienen es in einer modernen Gesellschaft (civil society) frei zu sein. Die Marktwirtschaft bedarf deshalb im wörtlichen Sinne der Zivilisierung. Das ist – in wenigen Stich­worten – der Erfah­rungs­hintergrund, vor dem die noch junge Interdisziplin Wirtschaftsethik zunehmend «gefragt» ist. Wirtschaftsethik steht, so gesehen, im Brennpunkt einer epochalen Heraus­ forderung: Es geht darum, das buchstäblich fragwür­dig gewordene Verhältnis zwischen ökonomischer Sachlogik und ethischer Vernunft von Grund auf zu klären und es in zukunftsfähiger, lebensdienlicher Weise neu zu bestimmen. Wundern könnte man sich zunächst darüber, weshalb es dafür einer neuen Bindestrich- oder Hybriddisziplin namens Wirtschaftsethik bedarf. Handelt es sich denn nicht um die ureigensten Grundfragen jener traditionsreichen Disziplin, die einst nicht zufällig aus der Moralphilosophie hervorgegangen ist und sich bis vor hundert Jahren durchaus treffend als Politische Ökonomie bezeichnet hat? Nun, im Prinzip schon. Nur hat sich diese Disziplin in­zwischen zu einer sich «wertfrei» wähnenden, «reinen» Ökonomik entwickelt, in deren Axiomatik für ethische Kategorien kein Platz mehr ist. Gewiss mögen die Vertreter dieser fast allen Gesichtspunkten konkreter Lebensdienlichkeit eigen­tümlich entfremdeten Disziplin sich als Bürger ebenso Sorgen machen über die Entwick­lung der real exis­tierenden Marktwirtschaft(en) wie andere nachdenkende Zeitgenossen; gleichwohl sind sie als «Sachver­ stän­dige» aus paradig­matischen Gründen kaum mehr in der Lage, zu dem immer of­fen­kundiger werdenden Aus­einanderfallen der anonymen, aber oft merkwürdig parteilich wirkenden öko­nomi­schen Sachlogik einerseits und der ethischen Logik der (Zwischen-)Mensch­lichkeit andererseits viel Vernünftiges zu sagen. Mehr noch: Die heutige Mainstream Economics ist, wie wir noch sehen werden, in gewisser Weise eher ein Teil des Problems als eine tragfähige Basis für seine Lösung. Denn sie modelliert nur die «eigensinnige» Funktionslogik des ins Reine gedachten marktwirtschaftlichen Systems und versucht daher in aller Regel, die ethisch-praktischen Probleme der 12 Wirtschaftsethik.indd 12 16.11.2007 11:56:41 Uhr gesellschaftlichen Ökonomie in nichts als ökonomischer «Systemrationalität» auf­zuheben. Wo humane Bedürfnisse oder gesell­schaftliche Anliegen sich in der abstrakten Funktionslogik des marktwirtschaftlichen Systems nicht angemessen zur Geltung bringen lassen oder ihr gar prinzipiell widersprechen, argu­mentiert die reine Ökonomik daher oft genug – und ohne ihren eigenen normativen Standpunkt zu reflektieren – gegen noch so unmit­telbare Ansprüche an die Menschlichkeit und Lebens­dienlichkeit der gesellschaftlichen Wirtschafts­praxis. Die «Präzisierungsaufgabe», von der Alfred Müller-Armack sprach, gerät deshalb immer mehr ins Zentrum der gesell­schaftspolitischen Diskussion. Zu präz­isieren gilt es gegenüber dem herkömmlichen ökonomischen Denken vieles. Vor allem kommt es darauf an, zunächst einmal die grundlegende Differenz zwischen der real so wirkungsmächtigen ökonomischen Rationalitäts­ perspek­tive und einer noch zu definierenden Perspektive ethisch-praktischer Vernunft genau zu klären und zu ergründen. Es liegt auf der Hand, dass dafür eine gleichermassen intensive Auseinandersetzung mit moderner Ethik und Ökonomik erforderlich ist: Der reinen Ökonomik mangelt es wie gesagt aufgrund ihrer (wissenschaftlich an sich durchaus legitimen) paradigmatischen Be­schränkung auf Kategorien ökonomischer Rationalität an den un­entbehrlichen philosophisch-ethischen Kategorien. Die heutige philo­ sophi­sche Ethik ihrerseits hat sich, nach bemerkenswerten Fortschritten an «Präzi­sion» in jüngster Zeit, erfreulicher­weise aufgemacht, sich vermehrt als «angewandte Ethik» in die grossen lebensprak­tischen und gesellschafts­politi­ schen Debatten der Zeit einzumischen. Doch wie zu zeigen sein wird, reicht es nicht aus, Ethik auf die Sphäre des Wirtschaftens bloss «anwenden» zu wollen, als das Andere oder das Korrektiv der ökonomischen Rationalität: Die Nor­mativität ist in der ökonomischen «Sachlogik» immer schon drin – es gilt sie daher im ökonomischen Denken aufzudecken und im Lichte ethischer Vernunft zu reflektieren. Es kommt darauf an, genau zu verstehen, wie gemäss der ökonomischen Sachlogik gedacht wird, worin ihre normativen Momente verborgen sind, was in ihrem Namen zum prak­tischen (politischen) Programm erhoben und wie dabei implizit mit ethischen Fragen des Wirt­schaftens umgegangen wird. In dieser Aufgabe der kritischen-nor­ mativen Grundlagen­reflexion der ökonomischen Sachlogik als solcher ist die spezifische Aufgabe einer Wirt­schafts­ethik zu erblick­en, die mehr ist als «angewandte» Ethik einerseits und «nor­mative Ökonomik» andererseits. Der damit umschriebene systematische Ansatzpunkt ist charakteristisch für die in diesem Buch vorgestellte Konzeption integrativer Wirtschaftsethik. Die spezielle Bezeichnung rechtfertigt sich oder drängt sich sogar auf, weil der vorgeschlagene Ansatz von den im internationalen wirtschaftsethischen Diskurs bisher hauptsächlich vertretenen Positionen erheblich abweicht. Das generelle methodische Ziel dieser neuartigen Konzeption von Wirtschafts­ ethik lässt sich, entsprechend dem erwähnten Anliegen der kritisch-nor­ 13 Wirtschaftsethik.indd 13 16.11.2007 11:56:41 Uhr mativen Grundlagenreflexion, als das der ethisch-vernünftigen Orientierung im politisch-ökonomischen Denken definieren, ohne Reflexionsabbruch vor der impliziten Normativität irgendwelcher «gegebener» wirtschaftlicher Bedin­gungen. «Sich im Denken orientieren», das meint seit Kant das methodisch disziplinierte Bemühen um die voraussetzungs­lose, vernunft­ geleitete Begrün­dung von Gel­tungs­ansprüchen. Es geht dabei um die «Fähigkeit, für sich selbst zu denken, unabhängige Entscheidungen zu treffen». Genau diese Unabhän­gigkeit des eigenen, an selbst gewählten Grund­sätzen orientierten moralischen Urteils hat Kant als Autonomie bezeichnet und als konstitutives Vermögen «vernünftiger Wesen» bestimmt. Wer in diesem Sinne seinen Mund zu vernünftigem Reden braucht, indem er «für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloss nachredet», ist eine mündige Person. Mündig sein kann nur, wer sich nicht bevormunden lässt. Den Reflexionsweg zur Mündigkeit und zur autonomen Orientie­rung im Denken nennt Kant «Aufklärung» oder den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Autonomes, auf­ge­klärtes Denken und mündiges Reden ist in dem Sinne kritisch, als es sich vorbehaltlos den Ansprüchen der ar­gumentativen Begrün­dung der eigenen Position stellt. In der Möglichkeit, die vorgefundenen Verhältnisse nicht einfach kritiklos hinzunehmen, sondern sie auf ihre ethisch-vernünftige Begründbarkeit zu hinterfragen, kommt die vornehmste Aufgabe moderner Vernunftethik zum Ausdruck: die Freiheit des Menschen zur praktischen Selbstbestimmung zur Geltung zu bringen. Hinter diesen grundlegenden Selbstanspruch moderner Ethik kann auch eine moderne Wirtschaftsethik nicht zurück – auch und gerade angesichts des Sachverhalts, dass es in der Domäne der Wirtschaft um die kritische Reflexion teilweise wirkungsmächtiger Weltanschauungen und Inter­essen­ standpunkte, ja vielleicht um ein Stück nachholende Aufklärung geht. Eine Vernunftethik des Wirtschaftens, als die sich die integrative Wirtschaftsethik versteht, ist insofern immer auch vorbehaltlose und allseitige Id­eologiekritik. Kant, I.: Was heisst: sich im Denken orientieren? (1786), in: Werkausgabe Bd. V, hrsg. von W. Weischedel, 4. Aufl., Frankfurt 1982, S. 265-283 (1982a). Vgl. auch Mittelstrass, J.: Was heisst: sich im Denken orientieren?, in: Schwemmer, O. (Hrsg.), Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissenschaften, München 1981, S. 117-132. Oser, F./Althof, W.: Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich, 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 51. Vgl. Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in: Werkausgabe Bd. VII, hrsg. von W. Weischedel, 4. Aufl., Frankfurt 1978, S. 7-102 (1978a), S. 89. Adorno, Th.: Kritik, in: ders., Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt 1971, S. 10-19, hier S. 10. Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Werkausgabe Bd. XI, 4. Aufl., Frankfurt 1982, S. 51-66 (1982b), hier S. 53. 14 Wirtschaftsethik.indd 14 16.11.2007 11:56:41 Uhr Gerade weil sie, zumindest ihrer philosophischen Konzep­tion und Intention nach, vor keinerlei angeblichen oder effektiven Sachzwängen im Denken Halt macht, ist sie das beste Gegengift gegen Ideo­logien aller Art. Sie möchte von daher einen systematischen Beitrag zur Bildung mündiger Wirtschaftsbürger leisten. Damit versteht es sich wohl von selbst, dass integrative Wirtschaftsethik nicht unmittelbar «anwend­bare» Problem­lösungen für konkrete Fragen wirt­ schaftlichen Handelns bzw. wirtschaftspolitischen Gestaltens bereitstellt. Vielmehr will sie die Form des vernünftigen Denkens über wirtschaftsethische Grundfragen klären. Das skizzierte Anliegen der systematischen Erarbeitung und Vermitt­lung von wirtschafts­ethischem Orientierungswissen findet seinen Ausdruck in vier Leitideen, die je in einem der vier Teile des Buches entfaltet werden; ihre Charakterisie­rung lässt sich deshalb mit einem kurzen Überblick über den Aufbau des Buches verbinden. Abbil­dung 1 gibt einen schematischen Überblick über den nach­folgend skizzierten Aufbau des Buches. Zum ersten wird im vorliegenden Buch konsequent eine vernunft­ethisch begründete, rich­tungweisende «Denklinie» zu legen versucht. Im Vergleich zu den meisten vorliegenden (Lehr‑)Büchern zum Thema wird erheblich mehr Gewicht auf eine sorgfältige Klärung des vernunftethischen Standpunkts der Moral gelegt (Teil I). Nur wer von Grund auf erfasst hat, worin der moral point of view besteht und was methodisch disziplinierte ethische Reflexion bedeutet, kann sich im wirtschaftsethischen Denken selbständig orientieren. Die Entfaltung dieser einen Ethik-Perspektive, für die ein allgemeiner, aber selbstverständlich kritisierbarer Gültigkeitsanspruch erhoben wird, erfolgt von zwei Zugängen aus: Zunächst wird das Phänomen der humanen Moralität, deren konstitu­tive Bedeutung für das Menschsein und ihre universale Grund­struktur aus der uns immer schon vertrauten lebensprak­tischen Erfah­ rungsper­spek­tive einsich­tig gemacht (Kapitel 1). Danach werden die geistes- und philosophie­geschichtlichen Entfal­tungslinien des vernunftethischen Standpunkts der Moral in knapper Form von seinen ersten Formulierungen bis zu seiner fortgeschrit­tensten Explikation in der Dis­kursethik nachgezeichnet (Kapitel 2). Von da aus wird es möglich, die tragfähige Grundkonzep­tion einer Vernunftethik des Wirtschaftens zu bestimmen und sie von verbreiteten, aber zu kurz greifenden Ansätzen der Wirtschaftsethik ab­zugrenzen, die jeweils an einem für sie charakteris­tischen Punkt einen Reflexionsstopp vollziehen (Kapitel 3). Aus der Klärung des resultierenden integrativen Ansatzes der Wirtschaftsethik werden sich auch ihre drei Grun­dauf­gaben ergeben, die den drei weiteren Teilen des Buches zugrundeliegen. 15 Wirtschaftsethik.indd 15 16.11.2007 11:56:41 Uhr I Grundbegriffe der Ethik und Ansatz integrativer Wirtschaftsethik 1 Phänomen der Moralität (Conditio humana) 2 Philosophisch-ethischer Standpunkt der Moral (Vernunftethik) Vernunftethik des Wirtschaffens 3 II Grunddimensionen der Ökonomismuskritik III Grundorientierungen lebensdienlichen Wirtschaftens III Orte der Moral des Wirtschaftens Kritik Kritik «angewandter» normativer Ethik Ökonomik 4 Sachzwang des Wettbewerbs? (empirischer Ökonomismus) 6 Sinnfrage: Wirtschaft und gutes Leben 8 Bürgertugent und deliberative Politik 10 Moral des Marktes? (normativer Ökonomismus) 5 Legitimationsfrage: Wirtschaft und 7 gerechtes Zusammenleben nationale und supranationale Rahmenordnung des Marktes 9 Geschäftsintegrität und deliberative Unternehmenspolitik Abb. 1: Übersicht über die Gesamt­systematik integrativer Wirtschafts­ethik 16 Wirtschaftsethik.indd 16 16.11.2007 11:56:42 Uhr Zum zweiten geht es im Sinne der vorbehaltlosen Grundlagenreflexion um die Kritik der «reinen» ökonomischen Vernunft (Teil II). Zu ergründen ist, weshalb und in welcher Weise es der ökonomischen «Sachlogik» nach ihrem Selbstverständnis vermeintlich gelingt, ethische Ansprüche an das Wirtschaften entweder als «unmöglich» oder sogar als «unnötig» abzuweisen – unmöglich, weil wir unter den sachzwanghaft gedachten «marktwirtschaftlichen Bedin­gungen» scheinbar keine Wahl haben, und unnötig, weil die ethischen Fragen an das Wirtschaften angeblich in Kategorien rein ökonomischer Rationalität bestens «au­fgehoben» sind. Hinter dieser merkwür­digen nor­mativen Selbst­genüg­samkeit der reinen Ökonomik kommt eine Tendenz zum Ökonomismus zum Vorschein: die Verselbstän­digung, Verab­solutierung und normative Überhöhung ökonomischer Gesichtspunkte. Ökonomismuskritik wird in diesem Buch als wichtige Aufgabe wirtschaftsethischer Grundlagenreflexion betrachtet, da es sich, wie wir sehen werden, um die vorerst letzte und vielleicht wir­kungsmäch­tigste Grossideologie aller Zeiten handelt. Zu unterscheiden sind zwei grundlegende Erschei­nungsformen des Ökonomis­ mus: Die empiris­tische Variante, dergemäss Ethik in der Wirtschaft mehr oder weniger «unmöglich» ist, tritt als Sach­zwangdenken auf (Kapitel 4). Die normativis­tische Variante, dergemäss Ethik in der Wirtschaft gar «nicht nötig» ist, beruht auf der – dogmengeschichtlich in mehreren Facetten auftretenden – Über­zeugung, der Markt sei selbst die beste Gewährsinstanz dafür, dass auch in ethischer Hinsicht alles mit rechten Dingen zugeht (Kapitel 5). Beiden Ökonomismus­varianten wird systematisch auf den normativen Grund geleuchtet. Zum dritten wird, wenn erst einmal das ökonomistische Brett vor der Stirn weggezogen ist, der Blick frei für die Grundfragen lebensprak­tisch ver­nünftigen Wirtschaftens (Teil III). Der diesbezüglich für den integrativen Ansatz spezifische Grundgedanke geht dahin, die gängige Zwei-WeltenKonzep­tion von ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft in einer (integrativen) Idee sozialökonomischer Rationalität zu überwinden, die den vernunftethischen Gesichtspunkt schon in sich hat. Diese schon im 3. Kapitel eingeführte Leitidee vernünftigen Wirtschaftens definiert nichts anderes als den moral point of view einer Vernunftethik des Wirtschaftens. Von ihm aus lassen sich konkretere Orientie­rungsgesichtspunkte zu den zwei elementaren ethischen Grundfragen einer lebens­dienlichen Ökonomie diskutieren: zur Frage nach dem Sinn des Wirtschaftens im Hinblick auf das gute Leben (Kapitel 6) und zur Frage nach der Legitima­tion der sozialökonomischen Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt des gerechten Zusammenlebens (Kapitel 7). In beiden Dimen­sionen werden höchst aktuelle, exemplarische Problemstellungen einer zukunftsfähigen Neuorientie­rung der Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik diskutiert. Es gehört zu den prägenden Merkmalen des integrativen Ansatzes, dass er in diesem Sinne Wirtschaftsethik als ein Stück politische Ethik der «zivilisierenden» Einbettung der Markt­wirtschaft 17 Wirtschaftsethik.indd 17 16.11.2007 11:56:42 Uhr in eine wohlgeordnete Gesellschaft freier Menschen versteht. Demgegenüber hat ein grosser Teil der internationalen Literatur zur Wirtschaftsethik bzw. (angelsäch­sischen) Business Ethics von der fortgeschrit­tenen – und span­nenden – politisch-philosophischen Grund­lagen­dis­kussion der Gegenwart noch kaum Kenntnis genommen und un­terbietet diese systematisch. Zum vierten umfasst die integrative Wirtschaftsethik schliesslich eine wirtschaftsethische Topologie, d. h. eine Lehre von den «Orten» der Moral des Wirtschaftens in einer modernen Gesellschaft (Teil IV). Entsprechend dem philosophisch-ethischen und politisch-philosophischen Reflexions­ horizont beruht sie auf einer vertieften Sichtweise des Verhältnisses von In­dividual- und Institutionenethik. An die Stelle der üblichen Zweiteilung der Wirtschaftsethik in Ordnungsethik und Un­ternehmensethik, die weitgehend nur die gewohnte akademische Spaltung zwischen Volks- und Betriebs­ wirtschaftslehre nach­bildet, tritt eine dif­feren­zierte Konzeption wechselseitig aufeinander bezogener Verantwortungsebenen. Insbesondere kommt als dritter systematischer Ort die Wirtschaftsbürgerethik hinzu. Diese verschränkt selbst schon in­divi­dual­ethische Elemente (Wirtschaftsbürgertugend) mit dem politisch-philosophisch aufgeklärten Grundkonzept einer wohlgeordneten Gesellschaft, das sich auf die unverzichtbaren Momente republi­kanischer Bürgertugend besinnt und für das deshalb die Bezeich­nung als republi­kani­ scher Liberalis­mus vorgeschlagen wird. Mit ihm werden bestimmte Verkür­ zungen des herköm­mlichen politischen Liberalis­mus und erst recht des ökonomischen Neoliberalismus geklärt und überwunden; ausserdem schliesst es an die fortgeschrittensten Leitbilder deliberativer Politik an, welche eine Balance zwischen diskursethischem Ideal freiheitlich-demokratischer Politik und Real­politik finden (Kapitel 8). Damit ist die grundlegende ethisch-kritische Orientie­rung gelegt für eine präzise, trennscharfe Abgrenzung und Kritik der wichtigsten ordnungs­politi­ schen Konzeptionen der Marktwirtschaft (Alt-, Ordo-, Neoliberalismus) jenseits der in ethisch-politischer Hinsicht verschwom­men und obsolet wirkenden Standardsystematik der einschlägigen Lehrbücher. Zeigen wird sich, dass keine der diskutierten Positionen den wirtschaftsethisch entschei­denden Primat der Gesichtspunkte der Lebensdienlichkeit vor der Logik des Marktes durchhält – entgegen ihrem Selbstan­spruch auch nicht die or­do­liberale Konzeption und die «Stilform» der Sozialen Marktwirtschaft, was sich in aktuellen Symptomen ordnungspolitischer Desorientie­rung rächt. Dem wird ein formales Konzept der Normierungsaufgaben einer wirt­schaftsethisch hinreichend spezifizierten Ordnungskonzeption entgegengestellt, das hin­sichtlich Diese kritische Einschätzung teilt von philosophischer Seite Kersting, W.: Lexi­kalisch erfasst: Wirtschaftsethik und ethisches Wirtschaften, in: Zeitschrift für Politik 42 (1995), S. 325-330, hier S. 329. 18 Wirtschaftsethik.indd 18 16.11.2007 11:56:42 Uhr seiner inhaltlichen Ausfüllung im demok­ratischen Prozess offen ist. Als be­ sonders bedeut­samer Prüfstein wird der Umgang der dis­kutierten ordnungspolitischen Konzeptionen mit den ethisch-politischen Heraus­­forderungen der Globalisie­rung kritisch durchleuchtet (Kapitel 9). Auch die Un­ternehmensethik steht unter dem Anspruch der vorbehaltlosen Grundlagenreflexion der vielschich­tigen Zusam­menhänge. Zunächst wird – konsequenter als anderswo – dargelegt, weshalb das so genannte «Gewinnprinzip», das nicht nur in der lehrbuchmässigen Betriebs­wirtschaftslehre, sondern auch noch in der Un­ternehmensethik weitherum sein Unwesen treibt, nicht begründbar ist, auch nicht in der jüngeren Version des Shareholder-Value-Konzepts. Anhand ihres Verhältnisses zum Gewin­nprin­zip, das keines ist, werden dann vier verschiedene un­ter­nehmens­ethische Grund­ konzeptionen un­terschieden und erörtert. Es wird sich zeigen, dass nur der integra­tive Ansatz ökonomis­tische Reflexion­sab­brüche konsequent vermeidet; aufgrund seiner zu entfaltenden Leitideen der Geschäftsintegrität, der republikanischen Mitverantwortung für die Rahmen­bedingungen des Wettbewerbs und der deliberativen Un­ter­nehmenspolitik ist er in der Lage, die systematischen Verbin­dungs­linien zur Wirtschafts­bürgerethik ebenso wie zur Ordnungsethik zu klären (Kapitel 10). Nach zehnjähriger Erfahrung mit dem Ansatz der integrativen Wirt­ schaftsethik darf wohl gesagt werden, dass er sich als tragfähig erwiesen hat und der Aufgabe gewachsen ist, systematische Ordnung und argumentative Konsistenz in die unerhört vielschich­tige Thematik zu bringen. Das Buch erreicht sein Ziel, wenn es zu einer id­eologiefreien, vorbehaltlos vernunft­ orientierten – und gerade deshalb für bestimmte Denkgewohnheiten unbequemen – Orientie­rung im wirtschafts­ethischen Denken beitragen kann. Eine dementsprechende neue Sachlichkeit des Umgangs mit den grundlegenden Wertfragen des wirtschaft­lichen «Werte­schaffens» setzt voraus, dass gängige ökonomis­tische Denkzirkel vermehrt durchschaut und die ganze ökonomische Vernunft als massgeblicher Refle­xions­­horizont einer zukunftsfähigen, lebens­dienlichen Ökonomie erkannt wird. Gewiss ist dies ein ideelles Anliegen, das autonomes Selberdenken und gelegentlich den Mut zum Widerspruch gegen den Zeitgeist verlangt. Doch das braucht nicht gegen die praktische Orientierungskraft der entworfenen Perspektive, gegen ihre Lebensnähe und gegen ihren (kritischen) Realitäts­bezug zu sprechen. Alois Riklin, der die Errich­tung des ersten deutsch­sprachigen Lehrstuhl für Wirtschafts­ethik vor nunmehr zwanzig Jahren als damaliger Rektor der Universität St. Gallen mass­geblich initiiert hat, brachte es so auf den Punkt: «Man ist nicht realis­tisch, wenn man keine Ideale hat.» Riklin, A.: Verantwortung des Akademikers, St. Gallen 1987, S. 201. 19 Wirtschaftsethik.indd 19 16.11.2007 11:56:43 Uhr