Humgenet-04; Stand: 11.11.2010 Prof. Dr. Jochen Graw Vorlesung "Humangenetik für Biologen"; WS2010/2011 4. Stunde: Dominante und rezessive Erkrankungen 1. Dominanz und Rezessivität. Dominanz und Rezessivität sind keine Eigenschaften von Genen per se. Ein dominantes Allel bestimmt bei Heterozygoten den Phänotyp. Es gibt unterschiedliche Dominanzgrade: semidominant bedeutet, dass Heterozygote ein schwächeres Krankheitsbild ausprägen als homozygote Träger. Wenn zwei Allele unabhängig voneinander im Phänotyp zur Ausprägung kommen, sprechen wir von Codominanz (Beispiel: AB0-System). Dominante Mutationen betreffen meist Struktur- oder regulatorische Proteine. Die Begriffe amorph, hypomorph und hypermorph beschreiben qualitative Veränderungen gegenüber dem Wildtyp; antimorph bezeichnet antagonistische Wechselwirkungen mit dem Wildtyp (dominant-negativ), und neomorph einen neuen Phänotyp (toxisches bzw. neues Protein oder die ektopische Expression eines Gens). Die Begriffe amorph und hypomorph entsprechen der molekularen Klassifikation von Haploinsuffizienz (Verlust einer Genfunktion: loss of function). Rezessivität bedeutet, daß nur homozygote Allelträger das Krankheits-Merkmal klinisch ausprägen, während Heterozygote sich nicht von Gesunden mit zwei Wildtyp-Allelen unterscheiden. Rezessive Mutationen betreffen meist Gene, die für Enzyme kodieren. 2. Krankheiten mit autosomal-dominantem Erbgang a) Das Marfan-Syndrom (OMIM 154700) ist eine Störung im Aufbau des Bindegewebes, die sich auf das Skelettsystem, die Augen und auf das kardio-vaskuläre System auswirkt. Charakteristische Symptome sind lange und schmale Extremitäten (Spinnenfinger), überstreckbare Gelenke, und Herzfehler, die meist zum Tode führen. Das verantwortliche Gen Fibrillin (FBN1, Chr. 15q21; OMIM 124797) ist 110 kb lang und besteht aus 65 Exons. Die meisten Mutationen betreffen Cysteinreste in der Calcium-bindenden Domäne. Ein weiteres Fibrillin-Gen (FBN2) ist auf dem Chr. 5 lokalisiert; Mutationen im FBN2 Gen führen zu ähnlichen Symptomen. b) Die familiäre Hypercholesterinämie (OMIM 606945) ist die häufigste autosomal-(semi-)dominante Erkrankung (1:500). Dabei ist LDL-Cholesterin (low density lipoprotein) auf das 2-3 fache der Norm erhöht. Die erblich erhöhte Konzentration von LDL-gebundenem Cholesterol im Plasma und gesteigerte Ablagerungen von Cholesterol in Blutgefäßen, Haut und Sehnen führt zu frühzeitiger Atherosklerose und Herzinfarkt. Genetisch können verschiedene Genorte unterschieden werden [OMIM: 143890: LDLR, 19p13 (1000 Mutationen); 144010: APOB, 2p24 (9 Mutationen); 603776: PCSK9, 1p34 (8 Mutationen)]. c) Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit; Häufigkeit 1:20.000) ist eine klinisch und genetisch heterogene Krankheit des Bindegewebes; Leitymptom ist die besondere Knochenbrüchigkeit. Klinisch werden 7 Schweregrade unterschieden; die Grade 1-4 werden durch Mutationen in einem der beiden Kollagen-Gene COL1A1 (Chr. 17q21; OMIM 120150) oder COL1A2 (Chr. 7q22; OMIM 120160) verursacht. Die milde Form (Grad 1) wird durch Nullmutationen eines Allels der Gene COL1A1 oder COL1A2 verursacht (Haploinsuffizienz: die Aktivität eines Wildtyp-Allels reicht nicht aus, um die Funktion des Proteins aufrechtzuerhalten). Ursache der schweren Form (Grad 2) ist meist eine Punktmutation in einem der beiden Gene, so dass das veränderte Protein die Struktur des Kollagens stört (dominant-negativer Effekt). d) Achondroplasie (Häufigkeit 1:20.000; Chr. 4p16; OMIM 100800) führt zu einem disproportionierten Kleinwuchs (Körpergröße 125-130 cm). Ursache ist eine Mutation im Gen FGFR3, das für einen Rezeptor des Fibroblastenwachstumfaktors kodiert. 95% der Patienten zeigen die Mutation 1138G->A bzw. G->C, was in beiden Fällen zu einem Austausch von Gly durch Arg führt (Gly380Arg). 80% dieser Mutationen sind Neumutationen, die i.d.R. in den väterlichen Keimzellen entstehen (Altersabhängigkeit!) 3. Krankheiten mit autosomal-rezessivem Erbgang: a) Der Mangel an 1-Antitrypsin (OMIM 107400), einem Proteasen-Inhibitor im Blut, führt vor allem zum chronischen, obstruktiven Lungenemphysem, da die Serin-Protease Elastase in den Alveolen nicht ausreichend gehemmt wird (Häufigkeit: 1:4000). Das Gen ist auf dem Chr. 14 (14q32) lokalisiert und kodiert für 5 Exons (10.2 kb). Die zusätzliche Belastung mit Luftschadstoffen (z.B. Zigarettenrauch, Staub) führt zu einer Verkürzung der Lebenserwartung (Beispiel für Wechselwirkungen zw. Genen & Umwelteinflüssen). b) Die cystische Fibrose (=Mucoviszidose; CF; OMIM 219700) ist die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung in Bevölkerungen europäischer Herkunft (1:2000; Heterozygotenhäufigkeit: 1:22; vgl. dagegen: 1:17.000 unter Afro-Amerikanern; 1:90.000 unter Asiaten). Die Erkrankung betrifft vor allem die Bronchien (zähe Schleimbildung, häufige Infektionen); daneben tritt Pankreas-Insuffizienz bei etwa 85% der Patienten auf. Die Lebenserwartung kann heute schon 60 Jahre erreichen. Das CF-Gen (Chromosom 7q31.3; 230 kb, 27 Exons; mRNA: 6,5 kb) kodiert den cystic fibrosis transmembrane conduction regulator (CFTR; 1.480 Aminosäuren); das Protein enthält 2 Transmembrandomänen, 2 Nukleotid-bindende Domänen und eine regulatorische Domäne. Phosphorylierungsabhängig wird ein Chlorid-Kanal gesteuert. Bei ~70% der CFPatienten wird eine Deletion von 3 bp beobachtet (Verlust einer Aminosäure [Phe] an der Pos. 508: F508). Literatur: Tariverdian/Buselmaier (2004): Kap. 5.1-5.3; Passarge (2008): 212-213; 290-293; Schaaf/Zschocke(2008): Kap 5.1-5.2, 20.2, 22.1, 24.3, 26.1; Horton, W.A. et al., Lancet 370, 2007, 162-172; Rauch, F., Glorieux, F.H., Lancet 363, 2004, 1377-1385; Varret, M. et al., Clin. Genet. 73, 2008, 1-13; Wilkie, A.O.W.: The molecular basis of genetic dominance. J. Med. Genet. 31, 1994, 89-98; Graw: Genetik (5. Aufl. 2010), Kap. 12.3.1 – 12.3.2; Speicher et al. Human Genetics (2010): Kap. 5.1.1-5.1.3.