Zusammenfassung der Dissertation

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Einstellungen deutscher Reproduktionsmediziner zur vorgeburtlichen
Geschlechtswahl
Miriam Wilhelm1, Edgar Dahl2, Henry Alexander3, Elmar Brähler4, Yve
Stöbel-Richter4
1
Cooperative Osteosarkomstudiengruppe COSS, Pädiatrie 5 (Onkologie,
Hämatologie, Immunologie; Gastroenterologie, Rheumatologie, Allgemeine
Pädiatrie), Klinikum Stuttgart - Olgahospital, Stuttgart, Deutschland
2
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universität Münster, Münster, Deutschland
3
Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Leipzig
AöR, Leipzig, Deutschland
4
Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie,
Department für Psychische Gesundheit, Universitätsklinikum Leipzig AöR,
Leipzig, Deutschland
1
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtshofs (BGH) im Juli 2010 und der gesetzlichen Neuregelung nach den Debatten im Deutschen Bundestag im Juli
2011 bei schweren genetischen Defekten erlaubt. Zuvor wurde die PID in
Deutschland nicht offiziell praktiziert und die zukünftige Anwendungsbreite
bleibt abzuwarten.
Methode: Eine anonymisierte Umfrage mittels Fragebogen über ethische
Probleme der vorgeburtlichen Geschlechtswahl wurde 2006 unter deutschen
Reproduktionsmedizinern durchgeführt.
Ergebnisse: Von 114 Reproduktionsmedizinern gingen Rückantworten
ein, davon waren 72 Männer (63 %) und 42 Frauen (37 %), mit einem Altersmittelwert von 48 Jahren.
Die Mehrheit der Befragten (79 %) favorisiert die Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl aus medizinischen Gründen, wie z.B. bei Xchromosomalen Erkrankungen (einschließlich 18 %, welche sich für eine
Zustimmung der Ethikkommission bei jedem Einzelfall aussprechen). Eine
Minderheit von 18 % möchte die vorgeburtliche Geschlechtswahl auch für
nicht-medizinische Gründe erlaubt sehen (4 % generell und weitere 14 %
zum „gender balancing“ in der Familie). 90 % hatten bereits offene Anfragen von Patienten.
Wenn die vorgeburtliche Geschlechtswahl in Deutschland erlaubt wäre,
würden 46 % der Befragten eine Beratungsrichtlinie befürworten, in welcher
man sich gegen eine vorgeburtliche Geschlechtswahl und für eine normale
Schwangerschaft ausspricht. 15 % würden beraten und aber auch die vorgeburtliche Geschlechtswahl durchführen.
Eine eigene Nutzung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl bei nichtmedizinischer Indikation wird von der Mehrheit (67 %) abgelehnt; bei medizinischer Indikation allerdings in Erwägung gezogen.
Im Gegensatz zu den befragten Frauen können sich 14 % der Männer eine eigene Nutzung aus nicht-medizinischer Indikation vorstellen (p<0.05).
2
25 % der Reproduktionsmediziner befürchten eine Verschiebung des
Geschlechterverhältnisses, wenn die vorgeburtliche Geschlechtswahl in
Deutschland erlaubt wäre.
Schlussfolgerung: Die Mehrheit der deutschen Reproduktionsmediziner
ist gegen eine vorgeburtliche Geschlechtswahl bei nicht-medizinischer Indikation, befürwortet jedoch eine vorgeburtliche Geschlechtswahl bei medizinischer Indikation, z.B. bei X-chromosomaler Erkrankung wie z.B. der Hämophilie.
1 Hintergrund
1.1 Die vorgeburtliche Geschlechtswahl – ein historischer Wunsch?
Der Wunsch nach vorgeburtlicher Geschlechtswahl besteht seit Generationen in unterschiedlich starker Ausprägung. In der Literatur finden sich
Überlieferungen, welche von der griechischen Antike bis zur Gegenwart
reichen. Dahl (2005) beschreibt eine Überlieferung von Aristoteles, nach der
man zur Zeugung eines Jungen den Beischlaf im Nordwind und zur Zeugung eines Mädchens den Beischlaf im Südwind vollziehen soll. Nach van
Balen (2005) gab es früher auch die Meinung, dass Mädchen geboren werden, wenn der Beischlaf bei Vollmond vollzogen wird und für Jungen bei
Viertelmond.
Seit 1970 ist die vorgeburtliche Geschlechtswahl mittels pränataler Diagnostik (PND) und gegebenenfalls anschließender Abtreibung im Falle des
unerwünschten Geschlechts möglich (American Society for Reproductive
Medicine, 2001). Neuere Techniken, wie die Präimplantationsdiagnostik
(PID) oder die Auftrennung von Spermien mittels MicroSort, machen die
vorgeburtliche Geschlechtswahl zu einem noch früheren Zeitpunkt mit hoher Erfolgsquote möglich (Michelmann et al., 2006; van Balen, 2005) und
werden im Folgenden näher dargestellt.
3
1.2 Der Begriff „vorgeburtliche Geschlechtswahl“
Unter dem Begriff „vorgeburtliche Geschlechtswahl“ versteht man die
Wahl des Geschlechts vor der Geburt. Im engeren Sinne müsste der Begriff
„preimplantation sex selection“ (Malpani et al., 2002; Human Fertilisation
and Embryology Authority, 2002) oder „prenidation sex selection“ (pränidative Geschlechtswahl) gewählt werden. Dadurch wird der Schwerpunkt
dieser Arbeit anhand der Techniken PID und MicroSort exakter beschrieben, da beide Techniken noch vor der Nidation der befruchteten Eizelle zur
Anwendung kommen. Unter Nidation bzw. Implantation versteht man die
Einnistung des Embryos im späten Morula- oder Blastozyst-Stadium in den
Uterus (Boss, 1987).
1.3 Die Präimplantationsdiagnostik (PID)
Die PID wird von englischsprachigen Autoren häufig als „preimplantation genetic diagnosis“ (PGD) bezeichnet (Robertson, 2003), da PID im
englischen Sprachraum für „pelvic inflammatory disease“ steht und damit
zu Verwechslungen führen kann. Unter PGD versteht man die Vermeidung
der Weitergabe genetischer Anomalien der Eltern an die Kinder und unter
PGS - „preimplantation genetic screening“ - die genetische Untersuchung
der Eizellen oder Embryonen zur Verbesserung der reproduktionsmedizinischen Behandlung (Schmutzler et al., 2005). In der vorliegenden Arbeit wird
der Begriff PID verwendet, da dies in Deutschland der gängige Begriff ist
und sowohl für die PGD als auch für das PGS verwendet wird.
Die PID kann verwendet werden, um das Risiko einer genetischen Erkrankung der Nachkommen zu reduzieren (Goldberg et al., 1993), da mit
der PID eine genetische Testung der Embryonen möglich ist, die mittels „Invitro-Fertilisation“ (IVF) - der künstlichen Befruchtung - gewonnen wurden
(Baruch et al., 2005; Schwinger, 2003; Ménézo, 1997). Die weitläufigste
Anwendung der PID stellt das Screening der Embryonen auf chromosomale
Aberrationen dar (Robertson, 2003). Die Diagnostik einer genetischen Erkrankung erfolgt mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) oder mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) (Fasouliotis & Schenker, 1998; Geraedts et al., 2001).
4
Weiterhin kann mittels einer Chromosomenanalyse das Geschlecht des
Embryos bestimmt werden und dann derjenige Embryo mittels Embryonentransfer in den Uterus der Frau eingesetzt werden, der das gewünschte Geschlecht besitzt. X-chromosomale Erkrankungen der Nachkommen, wie z.
B. die Muskeldystrophie Typ Duchenne oder Becker (Hussey et al., 1999),
können durch den alleinigen Einsatz von weiblichen Embryonen vermieden
werden, wenn die Eizellspenderin Konduktorin der Erkrankung ist.
1978 wurde weltweit erstmalig ein Kind nach einer IVF in Großbritannien geboren (Nippert, 2006) und 1990 erstmalig nach einer PID in den USA
(Kollek, 1998).
Vorreiter in der Durchführung der PID-Zyklen sind die USA. 2005 wurden 3.000 PID Zyklen durchgeführt. Das Interesse an der PID bei gesetzlicher Erlaubnis wird eher überschätzt. In den USA sind es nur 4-6 Prozent
aller IVF-Zyklen, die zusätzlich eine PID in Anspruch nehmen (Baruch et
al., 2006), die häufigste Indikation stellte dabei die Aneuploidiediagnostik
dar, die routinemäßige Überprüfung von IVF-Embryonen auf Chromosomenanomalien (Griesinger et al., 2004). In ca. 9 % der Fälle war der Grund für
die Durchführung einer PID die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus nichtmedizinischen Gründen (Baruch et al., 2006).
1.4 Ethisches Dilemma
Mit dem Aufkommen von neuen Techniken der Reproduktionsmedizin
steigt die Angst vor höheren Fehlbildungs- und Krankheitsraten der mit diesen Techniken geborenen Kinder. 1999 berichtete jedoch Vidal (et al.), dass
es durch den Einsatz von MicroSort nicht zu einer erhöhten Disomierate des
Chromosoms 21 (doppeltes Vorliegen des Chromosoms 21 im Spermium)
mit dem Risiko von Trisomie 21 beim Kind kommt. Nach neuesten Berichten scheint jedoch die ICSI mit höheren Fehlbildungsraten einherzugehen
(Davies et al., 2012).
Im Rahmen der PID und IVF entstehen Embryonen, die nicht mehr verwendet werden (Ratzel, 2002). In Belgien steigt die Anzahl kryokonservierter Embryonen jährlich um etwa 7.000 an (Deutscher Bundestag, 2004).
Nach einer Studie des SART-RAND-Teams (Hoffman et al., 2003) gab es
bereits im Jahr 2002 in den USA 391.661 kryokonservierte Embryonen.
5
Diese wurden nicht nur für Patienten (88,2 %), sondern auch für die Forschung (2,8 %) kryokonserviert.
In Deutschland existierten im Jahr 2000 55.468 kryokonservierte Pronucleus-Stadien (Deutsches IVF-Register, 2001). 40.848 wurden weiter kultiviert und davon 10.732 verworfen.
Im Vergleich zum Jahr 2000 (Tab. 1) nahm die Anzahl der IVF-Zyklen
im Jahr 2008 in Deutschland zugunsten von ICSI-Zyklen und Kryokonservierungszyklen ab. Die Schwangerschaftsrate stieg insgesamt an. Das
Durchschnittsalter der Paare nahm seit 2004 um 1,5 Jahre zu (Bühler et al.,
2008).
Tab. 1: Behandlungszyklen und Schwangerschaftsrate im Vergleich der
Jahre 2000 und 2008 in Deutschland (Deutsches IVF-Register, 2001; 2009)
Anzahl der
Schwangerschaftsrate nach
Behandlungszyklen
Embryonentransfer
Jahr
2000
2008
2000
2008
IVF
28.945
11.048
26.4 %
30.0 %
ICSI
15.752
33.591
26.0 %
28.4 %
9.457
17.039
15.8 %
17.9 %
Kryokonservierung
Die Schwangerschafts- und die Geburtenrate sind bei alleiniger Anwendung der IVF höher als bei der IVF mit PID (Mastenbroeck et al., 2007).
In den westlichen Ländern sind medizinische Indikationen der Hauptgrund für die Durchführung einer PID. Eine Befragung von 36 Paaren (Lavery et al., 2002), die sich mittels PID in London behandeln ließen, ergab:
51 % waren Träger einer X-chromosomalen Erkrankung, 25 % Träger für
Mucoviszidose und 17 % hatten andere chromosomale Auffälligkeiten. Ein
Drittel der Patienten hatte bereits ein behindertes Kind, mehr als die Hälfte
verfügte über Erfahrung mit der PND und ein Drittel ließ bereits einen
Schwangerschaftsabbruch aufgrund eines genetischen Risikos durchführen.
Die ethischen Aspekte der Diskussion über PID und MicroSort fasst Tabelle 2 zusammen. Der stärkste Einwand gegen die vorgeburtliche Geschlechtswahl ist die Befürchtung der Verschiebung des Geschlechterverhältnisses (Savulescu & Dahl, 2000). In Indien, China und anderen asiati-
6
schen Ländern gibt es schon heute ein zahlenmäßiges Ungleichgewicht zugunsten von Männern (Goodkind, 1999).
Tab. 2: Pro und Contra der vorgeburtlichen Geschlechtswahl mittels
MicroSort und PID
Pro
Contra
- Verhinderung von Abtreibung und Kindstötung
- Sexistisch
- Weniger invasiv als Abtreibung
- Schutz des Embryos (Personenstatus?)
- Geringere psychische Belastung durch
- Steigende Anzahl der Kryokonservierungen
Verminderung von Schuldgefühlen
- Selektion medizinisch unrelevanter Merkmale
- Weiterentwicklung der Forschung
- Designer-Baby
- Embryonenspende für infertile Paare
- Überzählige Embryonen
- Bei X-chromosomal vererbten Erkrankungen
- Tötung von Embryonen
medizinisch indiziert und zudem
oder Verwendung für
gesellschaftsökonomisch günstiger
Forschungszwecke
- Gesundes Kind, welches frei von genetischer
Erkrankung ist
- Patientenautonomie
- Verschiebung des Geschlechterverhältnisses
- Verstärkung von Geschlechtsstereotypien
- Unbekannte Langzeitfolgen
1.5 Befragungen unter Patienten und Bevölkerung in Deutschland
In einer deutschen Internetumfrage im Jahr 2007 lehnte die Mehrheit (83
% von 742 Teilnehmern, fast ausschließlich Frauen) die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus nicht-medizinischen Gründen ab, wenn dafür mehrere
Zyklen notwendig sind und die Kosten vom Paar getragen werden müssen
(Himmel et al., 2008). 13 % der Befragten wären bereit, die vorgeburtliche
Geschlechtswahl zu nutzen, wenn dafür nur ein Zyklus notwendig ist und
die Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden. Sei die vorgeburtliche Geschlechtswahl mit einfachen Mitteln möglich, z. B. mit einer
Pille, würden 19 % diese Option wählen. 27 % der Befragten würden sich
ein Mädchen und 11 % einen Jungen als erstgeborenes Kind oder weiteres
Kind wünschen. Familien mit unausgeglichenem Geschlechterverhältnis der
Kinder waren stärker an der vorgeburtlichen Geschlechtswahl interessiert
als Familien mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis (75 % statt
32 %).
7
In einer Bevölkerungsbefragung im Jahr 2003 wurden 2.110 Personen
im Alter von 18 bis 50 Jahren befragt (Brähler et al., 2004). Die PID ist der
Mehrheit der deutschen Bevölkerung unbekannt: 60 % haben noch nie etwas
über diese Technik der Reproduktionsmedizin gehört und lediglich 30 % ist
diese Technik bekannt. Weiterhin zeigte sich, dass die diagnostischen Möglichkeiten, welche die PID in der heutigen Zeit bietet, von der Bevölkerung
überschätzt werden. Die Mehrheit ist für eine beschränkte Zulassung der
PID in Deutschland. 76 % sprachen sich dafür aus, die PID im Falle einer
Erkrankung, an der das Kind im ersten Lebensjahr stirbt, zu erlauben. 63 %
würden dieses Verfahren dann auch selber nutzen. Die vorgeburtliche Geschlechtswahl lehnten 92 % ab. Nur eine Minderheit befürwortete die vorgeburtliche Geschlechtswahl (8 %) und würde sie selbst nutzen wollen
(6%).
Gefragt nach der generellen Lösung für unsere Gesellschaft sprachen
sich 61 % dafür aus, die PID bei spezifischen Erkrankungen zu erlauben. 31
% befürworteten die generelle Überprüfung von genetischen Störungen und
4 % würden die PID auch ohne Krankheitsbezug erlaubt sehen wollen.
Der Vorteil der PID wird von den Befragten in der Förderung des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschrittes gesehen und als Entlastung bei Erbkrankheiten. Als größter Nachteil der PID wird der Verbrauch von Embryonen kritisiert, weiterhin die verminderte Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft sowie der Widerspruch zu den ethischen
Grundwerten unserer Gesellschaft.
1.6 Befragungen unter Humangenetikern in Deutschland
Eine Befragung unter Humangenetikern (Wertz & Fletscher, 2004) wurde im Jahr 1985 in 19 Nationen und erneut im Jahr 1995 in 36 Nationen
durchgeführt, darunter auch in Deutschland. Im Jahr 1995 wurden 2.906
Humangenetiker weltweit befragt, davon 255 in Deutschland. Die vorgeburtliche Geschlechtswahl war zu der damaligen Zeit nur mittels Pränataldiagnostik (PND) und Abtreibung möglich.
Aktuelle Umfragen zu MicroSort und PID unter Reproduktionsmedizinern oder Humangenetikern in Deutschland gibt es derzeit nicht.
8
1.7 Gesetzliche Regelung in Deutschland
Die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus nicht-medizinischen Gründen
ist in Deutschland gesetzlich verboten (Nippert, 2006). Nach § 218a des
Strafgesetzbuches ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Schwangerschaftswoche aus medizinischer, kriminologischer oder psychologischer Indikation straffrei, jedoch nicht aus geschlechtsselektiven Gründen. Der § 15
des am 01. Februar 2010 neu in Kraft getretenen Gendiagnostikgesetzes
(GenDG) verbietet die Mitteilung des Geschlechts vor Ablauf der 12.
Schwangerschaftswoche (Deutscher Ethikrat, 2011).
Die PID wurde in Deutschland bisher nicht durchgeführt (Statz & Apitz,
2000; Klinkhammer, 2007; Bundesärztekammer, 2006), da sie einen Verstoß gegen das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz
darstellte (Klinkhammer, 2007; Solter et al., 2003).
Im Paragraph 3 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) (Bundesministerium der Justiz, 2009) steht hierzu:
„Wer es unternimmt, eine menschliche Eizelle mit einer Samenzelle künstlich zu befruchten, die nach dem in ihr enthaltenen Geschlechtschromosom ausgewählt worden ist,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. Dies gilt nicht, wenn
die Auswahl der Samenzelle durch einen Arzt dazu dient, das Kind vor der Erkrankung
an einer Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder einer ähnlich schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit zu bewahren und die dem Kind drohende Erkrankung
von der nach Landesrecht zuständigen Stelle als entsprechend schwerwiegend anerkannt
worden ist.“
Weiterhin ist durch den § 3 des ESchG auch die Auswahl von Samenzellen mittels MicroSort verboten, es sei denn, dass dies der Vermeidung
schwerwiegender geschlechtsgebundener Erbkrankheiten dient (Ratzel,
2002). Jedoch könnten durch die PID vergleichbar schwerwiegende Erbkrankheiten, wie die Mukoviszidose, die nicht geschlechtsgebunden vererbt
wird, verhindert werden.
Die Hälfte der Frauen, die sich im größten Zentrum für assistierte Reproduktionsmedizin in Belgien (Zentrum für Medizin-Genetik an der Freien
Universität Brüssel) einer PID unterzogen hatten, kamen aus Frankreich und
Deutschland (Vandervorst et al., 2000). Dies macht deutlich, dass länderübergreifende bzw. EU-weite Regelungen erforderlich sind, um einen Miss-
9
brauch der Nutzung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl durch die deutsche Bevölkerung zu verhindern.
Ein Berliner Frauenarzt hatte bei drei Patientinnen jeweils acht extrakorporal befruchtete Eizellen im Blastozyststadium untersucht und sich wegen
Durchführung einer PID selbst angezeigt. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtshofs (BGH) vom 06.07.2010 entschied daraufhin, dass in
Deutschland eine PID bei schwerwiegenden genetischen Defekten erlaubt
ist (Klinkhammer, 2010).
Nach den Debatten im Bundestag wurde am 07.07.2011 eine gesetzliche
Neuregelung verabschiedet (Richter-Kuhlmann, 2011), welche die PID an
autorisierten Zentren nach dem positivem Votum einer Ethikkommission bei
Paaren mit schwerwiegendem genetischen Defekt oder hohem Risiko einer
Fehl- bzw. Totgeburt erlaubt. Am 27. Januar 2012 wurde nach den gesetzlichen Neuregelungen im Kinderwunschzentrum der Universität Lübeck in
Deutschland das erste Kind nach PID-Anwendung und zuvor eingeholtem
Ethikvotum geboren (Klinkhammer, 2012). Derzeit erarbeitet das Bundesgesundheitsministerium eine Rechtsverordnung für die Anwendung der PID
in Deutschland.
2 Methode
In der vorliegenden Arbeit wird eine Befragung von Reproduktionsmedizinern analysiert und statistisch ausgewertet. Einige Fragen aus Bevölkerungsbefragungen (Dahl et al., 2004; Brähler et al., 2004) und Fragen sowie
Fallvignetten aus Humangenetikerbefragungen der weltweiten Befragungen
von 1985 und 1995 (Wertz & Fletcher, 1998) wurden übernommen, modifiziert und ergänzt.
Mit einem Fragebogen wurden Reproduktionsmediziner aller Zentren in
Deutschland zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl mittels der neuen Techniken PID und MicroSort befragt. 335 Reproduktionsmediziner wurden aus
der Liste von Reproduktionsmedizinern der Deutschen Gesellschaft der Reproduktionsmedizin, der Liste des IVF-Registers und mittels Nachrecherche
zur Aktualität der Adressen über das Internet ermittelt. Als Einschlusskriterium für die Befragung galt die Tätigkeit als Arzt in der Reproduktionsmedizin.
10
Der Versand der Fragebögen erfolgte im Juni 2006. 315 von 335 versandten Fragebögen waren zustellbar. Der Rücklauf lag bei 40,6 %. 114
auswertbare Fragebögen wurden in die Hauptauswertung einbezogen.
Die Auswertung erfolgte mit SPSS 11.5 für Windows. Die Überprüfung
der Daten erfolgte sowohl deskriptiv, als auch auf Interferenz-statistischerEbene. Weiterhin wurden die Daten auf Fehler kontrolliert und gegebenenfalls bereinigt und mittels bivariater und multivariater Statistik analysiert.
Zusammenhänge zwischen nominalskalierten Variablen wurden mit dem
Chi-Quadrat Test nach Pearson, dem Fischer-Exakt-Test oder mittels Kontingenzkoeffizient überprüft. Ein p-Wert <0,05 wurde als statistisch signifikant angenommen. Die Auswertung erfolgte in deskriptiver Analyse.
3 Ergebnisse
Von insgesamt 114 Befragten sind 63,2 % der Befragten Männer (N=72)
und 36,8 % Frauen (N=42), im Mittel sind die Befragten 48 (29-67) Jahre
alt, die Mehrheit ist in den alten Bundesländern aufgewachsen (75 %), ist
verheiratet (82 %), lebt in einer Partnerschaft (98 %) und hat eigene Kinder
(81 %).
Ein signifikanter Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Befragten besteht hinsichtlich eigener Kinder (F = 7,05; df = 2; p = 0,017). 69
% der Frauen haben eigene Kinder im Gegensatz zu 87,5 % der Männer.
Befragt nach der höchsten wissenschaftlichen Qualifikation besteht ein weiterer signifikanter Unterschied (F = 14,00; df = 3; p = 0,001) darin, dass
31,9 % der Männer habilitiert sind im Gegensatz zu 4,8 % der Frauen.
Die durchschnittliche Dauer der Arbeitserfahrung beträgt 20 (5-42) Jahre
als Arzt und 14 (1-35) Jahre im Fachbereich Reproduktionsmedizin. Der
Großteil der Reproduktionsmediziner (95,6 %) berät öfter als einmal pro
Woche Paare mit Kinderwunsch, jedoch mindestens einmal pro Monat
(Tab.3).
Tab.3: Paarberatung
Beratung für Paare mit Kinderwunsch
Männer
Frauen
Gesamt
N=72
N=42
N=114
11
Ja, oft (> einmal pro Woche)
68 (94,4 %)
41 (97,6 %)
109 (95,6 %)
Ja, manchmal (> einmal pro Monat)
4 (5,6 %)
1 (2,4 %)
5 (4,4 %)
Ja, selten (> einmal pro Jahr)
0
0
0
18,4 % der Reproduktionsmediziner oder deren Partner/Partnerin haben
selbst Techniken der Reproduktionsmedizin in Anspruch genommen.
Die Mehrheit kann sich eine eigene Nutzung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl nur bei Verdacht auf eine Erbkrankheit vorstellen (Tab.4). Im
Geschlechtervergleich gibt es einen signifikanten Unterschied (Chi2 = 6,41;
df = 2; p = 0,043). Befragte Frauen können sich nicht vorstellen, bei nichtmedizinischer Indikation die vorgeburtliche Geschlechtswahl zu nutzen,
währenddessen 13,9 % der Männer sich dies vorstellen können.
Tab.4: Eigene Nutzung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl
Eigene Nutzung
Männer
N=72
Frauen
N=42
Gesamt
N=114
Ja
10 (13,9 %)
0
10 (8,8 %)
45 (62,5 %)
31 (73,8 %)
76 (66,7 %)
17 (23,6 %)
11 (26,2 %)
28 (24,6 %)
Prinzipiell nein, aber beim Verdacht
auf eine Erbkrankheit ja
Nein
Die Mehrheit von 62,3 % befürwortet bei medizinischer Indikation eine
Finanzierung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl durch die Krankenversicherung (Tab.5), ansonsten sollen die Kosten privat getragen werden. Zwischen den Geschlechtern findet sich kein signifikanter Unterschied (F =
6,55; df = 5; p = 0,186).
Tab.5: Finanzierung
Finanzierung
Keine Antwort
3 (2,6 %)
12
Privat
33 (28,9 %)
Privat, nur medizinische Indikation über KV
71 (62,3 %)
Mischfinanzierung privat und KV
1 (0,9 %)
KV
2 (1,8 %)
Sonstiges
4 (3,5 %)
Als medizinische Indikation der vorgeburtlichen Geschlechtswahl wird
die Fallvignette Hämophilie mit medizinischer Indikation (X-chromosomale
Erkrankung) im Gegensatz zu den anderen neun Fallvignetten mit nichtmedizinischer Indikation vom Großteil der Reproduktionsmediziner befürwortet. Die Zustimmung zur Erlaubnis liegt bei 85,1 %. Die Mehrheit (78,1
%) der Reproduktionsmediziner wäre bereit, in solch einem Fall selbst eine
vorgeburtliche Geschlechtswahl durchzuführen. Die nicht-medizinischen
Fallvignetten wurden mehrheitlich abgelehnt, die Zustimmung zur Erlaubnis
liegt unter 20 % (7.0-18.4 %) und fallabhängig wären nur 3.5-19.3 % der
Reproduktionsmediziner bereit, selbst die vorgeburtliche Geschlechtswahl
durchzuführen, wenn dies in Deutschland erlaubt wäre. In sieben der zehn
abgefragten Fälle zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den
Geschlechtern: Männer sind eher bereit, eine vorgeburtliche Geschlechtswahl durchzuführen (p<0,05).
Gründe der Befürwortung oder Ablehnung der Fallvignetten der vorgeburtlichen Geschlechtswahl sind in den Tabellen 6-7 angegeben.
Tab.6: Argumente für die vorgeburtliche Geschlechtswahl
Gründe der Befürwortung
N
Zum Ausschluss von Erbkrankheiten
82 (71,9 %)
13
Einer möglichen Gefährdung des Kindes mit einem unerwünschten Geschlecht vorbeugen
34 (29,8 %)
Die Vermeidung von Abtreibung eines gesunden Embryos/Fetus
25 (21,9 %)
Der Respekt vor der Autonomie der Patienten
18 (15,8 %)
Der Respekt vor der Kultur oder Religion des Patienten
15 (13,2 %)
Der Erhalt der Familien-Einheit
7 (6,1 %)
Der ethische Status des Berufes
1 (0,9 %)
Anderer Grund
3 (2,6 %)
Die Patienten haben das Recht auf jede Dienstleistung, für die sie bezahlen können
0
Tab.7: Argumente gegen die vorgeburtliche Geschlechtswahl
Gründe der Ablehnung
N
Um einer möglichen Geschlechtsdiskriminierung vorzubeugen
(„Mann und Frau sind gleich“)
82 (71,9 %)
Um dem Missbrauch von Repro-Technologien, die geschaffen wurden, um genetisch
bedingte Krankheiten zu identifizieren, vorzubeugen
59 (51,8 %)
Konflikt mit eigenen Wertvorstellungen
58 (50,9 %)
Um eine Tendenz hin zu kosmetischer Auswahl (z. B. blaue Augen)
zu vermeiden
57 (50,0 %)
Der ethische Status des Berufes
43 (37,7 %)
Das Recht des Professionellen, einen Dienst abzulehnen
39 (34,2 %)
Die Ablehnung der Abtreibung eines gesunden Embryos/ Fetus
34 (29,8 %)
Um Eugenik vorzubeugen
32 (28,1 %)
Um ein ausgeglichenes Geschlechtergleichgewicht zu bewahren
25 (21,9 %)
Die Wahrung der eigenen Integrität
22 (19,3 %)
Anderer Grund
3 (2,6 %)
Die Mehrheit der Befragten (78,9 %) favorisiert als Regelungsmöglichkeit unserer Gesellschaft die Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl aus medizinischen Gründen, wie z.B. bei X-chromosomalen Erkrankungen (einschließlich 17,5 %: Zustimmung der Ethikkommission über jeden Einzelfall). Eine Minderheit von 18,4 % möchte die vorgeburtliche Geschlechtswahl auch für nicht-medizinische Gründe erlaubt sehen (4,4 % generell und weitere 14,0 % zum „gender balancing“ in der Familie). Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Beantwortung der Frage liegen
nicht vor (F = 6,49; df = 5; p = 0,213).
Die stärkste Zustimmung (45,6 %) bekam die Beratungsrichtlinie, sich
gegen eine vorgeburtliche Geschlechtswahl und für eine normale Schwan-
14
gerschaft auszusprechen, wenn die vorgeburtliche Geschlechtswahl in
Deutschland erlaubt wäre. 14,9 % wären nicht nur bereit zu beraten, sondern würden selbst die vorgeburtliche Geschlechtswahl durchführen.
43,0 % der Reproduktionsmediziner fordern als Behandlungskriterium
die alleinige Behandlung von Paaren und lehnen damit die Behandlung von
Singles ab. Dies deckt sich mit der stärkeren Ablehnung der Single-Fälle
(Fallvignette Single und Vergewaltigung).
88,6 % der Reproduktionsmediziner sehen als Folge der vorgeburtlichen
Geschlechtswahl eine starke Erwartungshaltung der Eltern bezüglich geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen des Kindes. Negative Auswirkungen
auf die kindliche Psyche werden eher erwartet (45,6 %) als positive (19,3
%).
Eine Übersicht über offene und versteckte Anfragen zur vorgeburtlichen
Geschlechtswahl gibt Tabelle 8.
Tab.8: Offene und versteckte Anfragen
Anfragen zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl
Ja
Nein
Hatten Sie schon einmal eine offene Anfrage von Patienten zur vorgeburtli102 (89,5 %)
12 (10,5 %)
chen Geschlechtswahl?
Hatten Sie schon einmal eine versteckte Anfrage, d. h. eine Anfrage, wo Sie
vermuten durften, dass der Patient Sie eigentlich wegen eines Wunsches nach 85 (74,6 %)
29 (25,4 %)
einer vorgeburtlichen Geschlechtswahl aufgesucht hatte?
Besteht der Verdacht, dass eine Pränataldiagnostik durchgeführt wird,
um das Geschlecht des Kindes zu erfahren, sind 66,7 % der Reproduktionsmediziner nicht bereit, das Geschlecht in der gesetzlich geregelten Abtreibungsfrist (bis 12. SSW) mitzuteilen. Die Mehrheit (78,9 %) würde das Paar
fragen, ob es diesen Test für eine vorgeburtliche Geschlechtswahl nutzt.
4 Diskussion
In der weltweiten Befragung unter Humangenetikern im Jahr 1995
(Wertz & Fletcher, 1998; 2004) war die vorgeburtliche Geschlechtswahl nur
15
mittels PND und nachfolgender Abtreibung möglich. Waren es im Jahr 1995
weniger als die Hälfte der befragten Humangenetiker (47 %), die offene Anfragen von Patienten zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl erhalten hatten,
so geben in der aktuellen Befragung 90 % der Reproduktionsmediziner an,
solche Anfragen erhalten zu haben. 86 % der befragten Frauen geben versteckte Anfragen an, hingegen lediglich 68 % der Männer. Möglicherweise
wird dies durch ein stärkeres Vertrauensverhältnis unter Frauen beeinflusst.
In der heutigen Zeit würden als allgemeine Beratungsrichtlinie 46 % der
Reproduktionsmediziner von der vorgeburtlichen Geschlechtswahl abraten.
Im Jahr 1995 waren es 71 % der Humangenetiker, die von der vorgeburtlichen Geschlechtswahl abgeraten hätten. Eine Beratung würden 29 % der
Reproduktionsmediziner anbieten und 21 % der Humangenetiker. 8 % der
Humangenetiker würden die Entscheidung der Eltern unterstützen. Unter
den Reproduktionsmedizinern sind es insgesamt 22 %, welche die elterliche
Entscheidung unterstützen, davon würden 7 % an einen Kollegen weiterempfehlen und 15 % selbst die vorgeburtliche Geschlechtswahl durchführen.
In der Fallvignette zur Pränataldiagnostik würden 79 % der Reproduktionsmediziner das Paar offen darauf ansprechen, ob es diesen Test für eine
vorgeburtliche Geschlechtswahl nutzen will, dem hatten 64 % der Humangenetiker im Jahr 1995 ebenfalls zugestimmt. 21 % der Reproduktionsmediziner und 7 % der Humangenetikern wären bereit, das Geschlecht innerhalb
der Frist für eine legale Abtreibung mitzuteilen. Damit nehmen sich die
Mehrheit der Humangenetiker und Reproduktionsmediziner als „moralische
Instanz“ das Recht auf eine Entscheidung der Wissensmitteilung heraus, die
im Widerspruch zum „Recht auf Wissen“ des Patienten steht. Dies steht in
konträrem Gegensatz zur Forderung der Patienten, die zu 96 % befürworten,
dass Eltern das Recht haben, das Geschlecht des Kindes zu erfahren (Wertz
et al., 2001).
Humangenetiker befürworten die Autonomie der Patienten mit 29 %
(Reproduktionsmediziner: 16 %) und das Recht der Patienten auf jede
Dienstleistung, für die sie bezahlen können, mit 8 % (Reproduktionsmediziner: 0 %). Für Reproduktionsmediziner stehen heute andere Wertvorstellungen im Vordergrund, wie das Recht des Professionellen, einen Dienst abzu-
16
lehnen mit 34 % (Humangenetiker: 7 %) und um einer Geschlechtsdiskriminierung vorzubeugen mit 72 % (Humangenetiker: 7 %).
Eine weitere internationale Studie (Záchia et al., 2011) wurde zwischen
Juli 2003 bis Juli 2005 im Fachbereich Reproduktionsmedizin in Brasilien,
Deutschland, Griechenland und Italien durchgeführt. Von 224 Teilnehmenden waren 50 aus Deutschland, davon 39 Ärzte. Einer der Fälle beinhaltete
eine nicht-medizinische Indikation zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl.
76,4 % der Befragten wären bereit, eine vorgeburtliche Geschlechtswahl
durchzuführen, währenddessen 23,6 % dies ablehnten (separate Zahlen für
befragte Deutsche liegen nicht vor). Die Befürwortung der nichtmedizinischen Indikation ist in dieser internationalen Befragung höher als in
der aktuellen Befragung unter Reproduktionsmedizinern.
In der deutschen Bevölkerung können sich lediglich 6 % vorstellen, eine
vorgeburtliche Geschlechtswahl selbst in Anspruch zu nehmen (Brähler et
al., 2004). Im Gegensatz dazu würden 67 % der befragten Reproduktionsmediziner eine eigene Inanspruchnahme bei Verdacht auf eine Erbkrankheit
erwägen und weitere 9 % auch unabhängig von einer medizinischen Indikation. Die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus nicht-medizinischen Gründen
selbst in Anspruch zu nehmen, können sich 14 % der befragten Männer der
aktuellen Umfrage vorstellen, von den befragten Frauen wird dies generell
abgelehnt.
25 % der Reproduktionsmediziner sehen durch eine Erlaubnis der vorgeburtlichen Geschlechtswahl in Deutschland die Gefahr der Verschiebung
des Geschlechterverhältnisses gegeben. 14 % befürchten, dass dann mehr
Jungen geboren werden. Die Verschiebung zugunsten von Mädchen wird
nicht erwartet. Bei durchgeführten PID-Zyklen in Europa und den USA
zeigte sich bei mehr als zwei Dritteln der Zyklen mit nicht-medizinischer
Geschlechtswahl eine Präferenz für das männliche Geschlecht (Sermon et
al., 2007; Gleicher & Barad, 2007). Zudem gibt es bereits heute mehr als 80
Millionen Frauen (Hesketh & Xing, 2006), die in Asien aufgrund von Geschlechtsselektion fehlen.
In Deutschland war im Jahr 2007 (Himmel et al., 2008) die Präferenz für
Mädchen mit 19 % höher als für Jungen mit 11 %. In einer älteren Umfrage
von 2005 (Dahl, 2005) ist der Mehrheit (76 % von 1.000 Befragten) das Geschlecht des erstgeborenen Kindes gleichgültig, 14 % wünschten sich einen
17
Jungen und 10 % ein Mädchen. Ob es durch eine generelle Erlaubnis der
vorgeburtlichen Geschlechtswahl tatsächlich zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses kommen würde, ist eher unwahrscheinlich, zumal es
in der Bevölkerung nur ein geringes Interesse an einer eigenen Nutzung der
vorgeburtlichen Geschlechtswahl gibt.
90 % der deutschen Humangenetiker lehnten im Jahr 1995 (im Jahr 1985
noch 98 %) die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus nicht-medizinischen
Gründen ab (Wertz & Fletcher, 1998; 2004). Der Großteil der Bevölkerung
und der Reproduktionsmediziner lehnt auch in der heutigen Zeit die vorgeburtliche Geschlechtswahl in nicht-medizinischen Fällen ab.
Tendenziell sprechen sich mit 18 % mehr Reproduktionsmediziner für
eine Erlaubnis der vorgeburtlichen Geschlechtswahl in nicht-medizinischen
Fällen aus (Bevölkerung: 11 %; Dahl et al., 2004). Möglicherweise beurteilen Reproduktionsmediziner diese Frage aus einer anderen Perspektive, da
sie täglich mit Einzelschicksalen konfrontiert sind.
Eine 2003 durchgeführte Bevölkerungsumfrage (Brähler et al., 2004)
ergab eine stärkere Ablehnung (92 %) der vorgeburtlichen Geschlechtswahl
aus nicht-medizinischen Gründen in der Bevölkerung. In einer Internetbefragung im Jahr 2007 (Himmel et al., 2008) ist die Ablehnung der Bevölkerung im Vergleich zur Umfrage im Jahr 2003 niedriger (83 %, im Jahr 2004:
92 %) und es wären immerhin 13 % bzw. 19 % bereit, die vorgeburtliche
Geschlechtswahl zu nutzen (wenn nur 1 Zyklus notwendig ist und die Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden. bzw. wenn dafür
nur eine Pille notwendig wäre).
In der Bewertung von Einzelschicksalen weichen Reproduktionsmediziner nicht deutlich von ihrer Grundbewertung ab. Die Fallvignetten waren
bewusst gewählt worden, um zu erfahren, ob Reproduktionsmediziner Einzelschicksale möglicherweise milder beurteilen und um Einstellungen differenzierter zu erfassen sowie um der Vielschichtigkeit und den unterschiedlichen Bedürfnislagen, in denen sich Singles und Paare für eine vorgeburtliche Geschlechtswahl entscheiden, gerecht zu werden.
Die Befürwortung, dass bei medizinischer Indikation die Krankenversicherung die Kosten der vorgeburtlichen Geschlechtswahl übernehmen sollte, war in der Befragung im Jahr 1995 unter Humangenetikern weltweit mit
5 % deutlich niedriger als unter Reproduktionsmedizinern in der aktuellen
18
Befragung (Wertz & Fletcher, 1998; 2004). Die Mehrheit (62 %) der Reproduktionsmediziner spricht sich für eine private Finanzierung und nur bei
medizinischer Indikation für die Finanzierung durch die KV aus.
5 Zusammenfassung
Die vorgeburtliche Geschlechtswahl mittels MicroSort und PID wird
kontrovers diskutiert. Zum einen werden Vorteile für Betroffene betont,
z. B. ein eigenes, genetisch gesundes Kind zur Welt zu bringen. Weiterhin
besteht die Möglichkeit aus nichtmedizinischen Gründen, wie „family balancing“, religiösen Gründen oder Geschlechtspräferenzen, ein Kind des
gewünschten Geschlechts zu erhalten. Zum anderen birgt dies das Risiko
eines gesellschaftlichen Wandels hin zur Eugenik und eine Ausweitung der
Nutzung von Reproduktionstechniken aus nicht-medizinischen Gründen,
z. B. für die Auswahl der Intelligenz, der Augenfarbe bis hin zum Designerbaby und damit insgesamt gesellschaftlich unabsehbarer Folgen. Sollte deshalb eine kategorische Ablehnung erfolgen oder Einzelfallentscheidungen
zugelassen werden?
Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Reproduktionsmediziner
die vorgeburtliche Geschlechtswahl bei medizinischer Indikation befürwortet, wie z. B. bei der Gefahr einer X-chromosomalen Erkrankung und sie bei
nicht-medizinischen Gründen ablehnt. Befragte Männer sind im Gegensatz
zu Frauen eher bereit, eine vorgeburtliche Geschlechtswahl bei Patienten
durchzuführen. Befragte Frauen können sich eine eigene Inanspruchnahme
der vorgeburtlichen Geschlechtswahl ohne medizinische Indikation nicht
vorstellen.
Reproduktionsmediziner befürchten eine starke geschlechtsspezifische
Erwartungshaltung der Eltern gegenüber dem mittels vorgeburtlicher Geschlechtswahl geborenen Kind und erwarten eher negative Auswirkungen
auf die kindliche Psyche. Studien, die soziale und psychische Auswirkungen
auf die Kinder untersuchen, welche mittels vorgeburtlicher Geschlechtswahl
geboren wurden, fehlen bisher.
Der Vergleich der aktuellen Befragung zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl mit anderen Befragungen unter der Bevölkerung und Humangenetikern wird unter anderem dadurch erschwert, dass z.B. in der aktuellen
19
Befragung ein anderer oder modifizierter Fragebogen verwendet wurde und
zudem durch die zeitliche Distanz zur aktuellen Befragung. War die vorgeburtliche Geschlechtswahl im Jahr 1995 (Befragung Humangenetiker) mittels PND und gegebenenfalls nachfolgender Abtreibung möglich, so stehen
heute andere Techniken, wie die PID im Vordergrund. Es gibt keine aktuelle
Befragung unter Humangenetikern bzw. Fachpersonal in Deutschland und
es ist anzunehmen, dass sich die Einstellung von Humangenetikern zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl im zeitlichen Verlauf ändern. Eine gleichzeitige Befragung verschiedener Gruppen mit demselben Fragebogen bzw.
demselben Befragungsmodus sollte deshalb durchgeführt werden, um Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen besser darstellen zu können.
Nur 1,65 % der Kinder werden in Deutschland mit Hilfe der IVF geboren (Berlin-Institut, 2009), damit ist die Nutzung von Reproduktionstechniken zur Erfüllung des Kinderwunsches als insgesamt gering anzusehen. In
Deutschland gibt es keine starke Präferenz für ein bestimmtes Geschlecht
und der Großteil der Bevölkerung (im Gegensatz zu den Reproduktionsmedizinern) kann sich nicht vorstellen, die vorgeburtliche Geschlechtswahl zu
nutzen. Damit wäre in Deutschland nicht mit einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses durch eine generelle Erlaubnis der vorgeburtlichen
Geschlechtswahl zu rechnen.
Gesamtgesellschaftlich gibt es weltweit bereits Auswirkungen der Geschlechtswahl. Die Förderung der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung von Mann und Frau insbesondere in asiatischen Ländern sowie
staatliche Programme, die Paaren eine eigenständige Geburtenkontrolle ermöglichen, würden dazu beitragen, den Bedarf an Geschlechtsselektion vor
und nach der Geburt drastisch zu senken. Dies würde der Gefahr der Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses weltweit entgegenwirken.
Die vorgeburtliche Geschlechtswahl aus medizinischer Indikation wird,
auch wenn sie in Deutschland inzwischen gesetzlich erlaubt ist, nur in Einzelfällen genutzt. Für alle Einzelfälle gesetzliche Regelungen zu finden,
welche die entsprechenden Besonderheiten jedes Falles berücksichtigen,
würde nach außen hin als gerecht erscheinen, ist jedoch wohl eher unmöglich. Hier bietet sich die Aufrechterhaltung einer Ethikkommission an, die
über jeden Antrag gesondert berät. Zusätzlich muss die ethische Rolle des
20
Arztes in seiner Funktion und als Entscheidungsträger stärker betont werden.
Danksagung: Die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig unterstützte diese Arbeit. Wir danken Cornelius Wilhelm (Universität Leipzig) für die Hilfe bei englischen
Übersetzungen und Gabriele Schmutzer (Universität Leipzig) als auch Dr.
Bärbel Wiedemann (Universität Dresden) für statistische Unterstützung.
Interessenskonflikt: Ein Interessenskonflikt besteht nicht.
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