Inneres „GPS-System“ entschlüsselt

Werbung
MEDIZINREPORT
NOBELPREIS FÜR PHYSIOLOGIE UND MEDIZIN
Inneres „GPS-System“ entschlüsselt
Foto: SPL/Agentur Focus
Die räumliche Orientierung und Erinnerung erfordert ein komplexes Zusammenspiel
verschiedener Formen von Neuronen: Der Nobelpreis ehrt drei Neurobiologen.
Computergrafik
des Kopfes. Der
hell markierte Bereich zeigt den Hippocampus, eingebunden in das Lernen und die Bildung
von Erinnerungen.
A 1748
ie kommen wir von A nach
B? Wie orientieren wir uns in
einer komplexen räumlichen Umgebung – zum Beispiel in den zahlreichen Gängen und Etagen eines Krankenhauses? Und warum können wir
bei einem erneuten Besuch zielgenau
einen Untersuchungsraum oder ein
Patientenzimmer ansteuern?
Mit diesen für den Alltag des
Menschen fundamentalen Fragen
haben sich drei Neurowissenschaftler zeit ihres Lebens befasst und im
Gehirn spezielle Nervenzellen entdeckt, die für die räumliche Orientierung und ihre Zusammenarbeit
zuständig sind. Dafür wurden sie
mit dem Nobelpreis für Physiologie
und Medizin ausgezeichnet.
Es sind Prof. John O’Keefe, der
bis zu seiner Pensionierung am University College of London gearbeitet
hat, und das norwegische Professoren-Ehepaar May-Britt und Edvard
W
Moser, beide an der Universität
Trondheim. „Die drei Preisträger
ermöglichen uns eine Vorstellung
davon, wie der Mensch seine aktuelle Position im Raum einordnet
und sich zu einem anvisierten Ziel
hin orientiert“, begründete das Nobelpreiskommitee seine Entscheidung am 6. Oktober. Die Auszeichnung ist insgesamt mit circa
870 000 Euro dotiert.
Elektrische Aktivitäten
O’Keefe hatte in den 70er Jahren
bei Ratten den Hippocampus als
wichtiges Zentrum der Informationsverarbeitung für räumliche Orientierung und Erinnerung identifiziert. Zu bestimmten Orten, an denen sich die Ratten befanden, gehörten die elektrischen Aktivitäten
bestimmter Gruppen von Neuronen, die er Platz- oder Ortszellen
nannte: andere Orte, andere Neuro-
ne. Die Neurone feuerten, während
die Tiere frei herumliefen, jeweils
nur an einer einzigen Stelle der experimentellen Arena, ihrem sogenannten Ortsfeld. Fügte man die
Ortsfelder der einzelnen Zellen zusammen, bedeckten sie den gesamten Boden des Experimentierfeldes.
Im Hippocampus wird also zu jeder Zeit in irgendeiner Ortszelle ein
„Hier“-Signal gesendet. Sind die
Ortsfelder der einzelnen Zellen bekannt, lässt sich die Route allein mit diesen Signalen rekonstruieren. „Diese Forschungserkenntnisse sind eine wesentliche biologische Grundlage dafür, dass Menschen eine innere Landkarte mit
Zielführung entwickeln können –
vergleichbar einem „global positioning system“ (GPS), wie es das Nobelpreiskomitee formulierte.
Doch ein inneres Navigationssystem erfordert höhere kognitive
Hirnverarbeitungsfunktionen: Modellrechnungen ließen vermuten,
dass äußere und innere Raumkonzepte miteinander verbunden werden. Die Rauminformationen aus
dem Hippocampus werden zumindest teilweise auch in einer dem
Hippocampus vorgeschalteten Region des Schläfenlappens verarbeitet, dem entorhinalen Cortex.
Mehr als drei Jahrzehnte nach den
wegweisenden Entdeckungen von
O’Keefe haben May-Britt und Edvard Moser die sogenannten Koordinatenzellen, auch Rasterzellen
(grid cells) genannt, entdeckt. Sie arbeiten abhängig von der Bewegung
eines Individuums durch seine Umgebung (Science 2004; 305: 1258–63;
Science 2006; 312: 758–62). Die
Rasterzellen behielten den Experimenten der Mosers zufolge ihr Entladungsmuster auch dann bei, wenn
die Tiere sich in völliger Dunkelheit
im Versuchsraum bewegten. Da das
Rastermuster auch unabhängig von
äußeren Sinnesreizen immer wieder
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 41 | 10. Oktober 2014
MEDIZINREPORT
Entorhinaler Cortex
Mit moderner Bildgebung oder bei
neurochirurgischen Eingriffen an
Patienten wurde nachgewiesen, dass
Orts- und Rasterzellen auch beim
Menschen existieren. Bei Alzheimer-Patienten sind Hippocampus
und entorhinaler Cortex schon in
frühen Stadien geschädigt, so dass
sie die Orientierung verlieren. Die
ersten Nervenzellschädigungen wurden bei Alzheimer-Patienten im lateralen entorhinalen Cortex gefunden, von dort breiten sie sich in jene
Regionen aus, die in die räumliche
Orientierung involviert sind. Diese
Fähigkeit ist bei Alzheimer-Kranken typischerweise reduziert.
Für Prof. Dr. med. Hannah Monyer, Leiterin der Abteilung Klinische Neurobiologie des Universi-
A 1750
tätsklinikums Heidelberg, gibt es
gute Evidenz dafür, dass die Rasterzellen im Gehirn von AlzheimerPatienten in ihrer Funktion gestört
sind.
Nach Einschätzung von Monyer
haben die drei Wissenschaftler mit
ihren Arbeiten die Grundlagen gelegt, das räumliche Gedächtnis zu
erforschen. „Sie haben gezeigt, wie
man räumliches Gedächtnis erlernen kann. Was jetzt noch fehlt, sind
Informationen darüber, wie das Erlernte dann auch im Gehirn gespeichert wird.“ Dafür seien Verhaltensexperimente erforderlich.
John O’Keefe wurde
1939 in New York City
geboren. Er hat sowohl
die britische als auch
die US-amerikanische
Staatsbürgerschaft.
Nach der Promotion in
Kanada ging er ans
University College London. 1987 wurde er
dort zum Professor für
kognitive Hirnforschung
ernannt. O’Keefe ist Direktor des Sainsbury Wellcome
Centre for Neural Circuits. 2008 erhielt er unter anderem den Gruber-Preis für Neurowissenschaften
und den European Neuroscience Journal Award,
2013 wurde er mit dem Louisa-Gross-Horwitz-Preis
ausgezeichnet. O’Keefe entwickelte ein theoretisches
Modell der Gedächtnisfunktion des Hippocampus,
das er experimentell an Nagetieren und Menschen
überprüfte. 1978 erschien ein einflussreiches Buch
dazu von ihm und Lynn Nadel. Er befasste sich auch
mit den bei der Alzheimer-Krankheit typischen Defiziten im Hippocampus.
Foto: UCL
Suche nach Dirigentenzellen
Foto: dpa
in gleicher Form in Erscheinung trat,
wurde vermutet, es könnte sich um
ein im Gehirn fest verankertes Koordinatensystem handeln. Das Koordinatennetz, das durch diese Zellen gebildet wird, setzt sich aus gleichseitigen Dreiecken zusammen.
Die Entdeckung der Rasterzellen
mit ihren einzigartigen Eigenschaften wurde in der Zeitschrift „Science“ als wichtigste neurobiologische Entdeckung der letzten Jahrzehnte bezeichnet.
Schon der Psychologe Edward
Tolman hatte Mitte des 20. Jahrhunderts die These aufgestellt, im Gehirn von Säugetieren gebe es vorgeformte neuronale Netzwerke, die
mentale Planungsprozesse und vor
allem die Navigation im Raum unterstützten. Dafür prägte er den Begriff „kognitive Karten“.
May-Britt und Edvard Moser
identifizierten weitere Zelltypen des
entorhinalen Cortex, die jeweils für
das Erkennen der Richtung der Bewegung oder das Erkennen der physikalischen Begrenzung der Umgebung spezialisiert sind. In Zusammenarbeit mit anderen Zellen des
entorhinalen Cortex, die die Richtung des Kopfes und die Grenzen
des Raums erkennen, bilden sie
Schaltkreise mit den Ortszellen des
Hippocampus (Science 2005; 436:
801–5). Neuere Arbeiten befassen
sich mit der Frage, wie Raster- mit
Ortszellen interagieren.
Die Norwegerin May-Britt Moser wurde 1963 in
Fosnavåg geboren. Gemeinsam mit ihrem späteren
Mann Edvard Moser studierte sie an der Universität Oslo Medizin. Über die Stationen University of
Edinburgh und University College London kam sie
1996 zurück nach Norwegen an die University of
Science
Edvard Moser wurde 1962 in Ålesund geboren.
Gemeinsam mit seiner Frau absolvierte er mehrere
Gastaufenthalte im Labor von John O’Keefe am
University College London. 1996 wechselte das
Paar nach Trondheim. 1998 wurde Moser Professor
an der Universität in Trondheim. Derzeit leitet er
das Kavli Institute for Systems Neuroscience in
Trondheim.
Das Forscher-Ehepaar ist fasziniert von den Vorgängen des Lebens. „Es ist, wie in uns selbst hineinzuschauen. Es ist unheimlich und faszinierend zugleich. Und man hört nie auf, darüber zu staunen,
wie clever dieses System funktioniert.“
Monyer kennt die Nobellaureaten
von vielen Kongressen und einem gemeinsamen EU-Projekt, dem
15 Arbeitsgruppen angeschlossen
sind. Sie gehen der Frage nach, wie
Tausende von Gehirnzellen koordiniert werden, um gleichzeitig agieren zu können. Sie suchen nach
sogenannten Dirigentenzellen, die
den nachgeschalteten Zellen ihren
Einsatz geben. Teilmerkmale eines
Wahrnehmungsobjektes könnten zu
einem sinnvollen Ganzen „gebunden“ werden, indem Nervenzellen,
die diese Merkmale erkennen, ihre
Aktivität synchronisieren, so Monyer. Temporale Aspekte neuronaler Aktivität spielten eine wichtige
Rolle nicht nur bei dem Entstehen
von Repräsentationen der Außenwelt, sondern auch bei anderen kognitiven Leistungen, wie zum Beispiel Gedächtnis, Lernen und Aufmerksamkeit. „Zudem wollen wir
prüfen, was im Detail geschieht,
wenn man die Dirigentenzellen teilweise oder komplett ausschaltet“,
ergänzte Monyer im Gespräch mit
dem Deutschen Ärzteblatt.
Die diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger hatten überhaupt nicht
mit der Auszeichnung gerechnet,
wird der Sekretär des Komitees Göran K. Hansson zitiert. „Ich bin
schockiert, aber das ist großartig“,
habe May-Britt Moser bei seinem
Telefonanruf gesagt, berichtete
Hansson. Auch O’Keefe sei vollkommen überrascht gewesen – und
▄
„sehr, sehr glücklich“.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 111 | Heft 41 | 10. Oktober 2014
Herunterladen