3 Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten

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Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
3
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
Worum geht es in diesem Kapitel?
3.1 Welche Marktformen
lassen sich unterscheiden?
3.2 Wie verhalten sich
Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten?
3.4 Wie bildet sich ein
Marktgleichgewicht bei
Wettbewerb?
3.3 Wie verhalten sich
Anbieter auf Wettbewerbsmärkten?
3.5 Durch welche staatlichen
Eingriffe wird das
Marktgleichgewicht gestört?
3.6 Wie ermittelt ein
Angebotsmonopolist
den günstigsten Preis?
3.1
3.7 Welche Möglichkeiten
hat ein Anbieter bei monopolistischer Konkurrenz?
3.8 Wie verhalten sich
Angebotsoligopolisten?
Marktformen
Mit dem in diesem Kapitel erworbenen Wissen lässt sich beispielsweise folgendes Problem
lösen:
Beispiel
Fallbeispiel 3.1: Um welche Marktform handelt es sich beim Wochenmarkt?
Prüfen Sie anhand der folgenden Situationsbeschreibung, um welche Marktform es sich handelt.
Kapitel
3.1
Auf dem Wochenmarkt1
Es ist Samstagmorgen. Frau Müller geht mit ihrer Tochter Silke auf den Wochenmarkt, um Obst
und Gemüse einzukaufen. Bei dem dichten Gedränge ist es schwer, sich bis zu den zahlreichen
Obst- und Gemüseständen vorzuarbeiten. Beim
ersten Stand kostet der Salat 0,75 € je Kopf.
Das erscheint Frau Müller sehr preisgünstig. Sie
kauft zwei Köpfe. Auch die Tomaten sehen für
1,75 € je kg nicht schlecht aus.
Gewerbeordnung
§ 67 Wochenmarkt (1) Ein Wochenmarkt ist eine
regelmäßig wiederkehrende, zeitlich begrenzte Veranstaltung, auf der eine Vielzahl von Anbietern eine
oder mehrere der folgenden Warenarten feilbieten:
1. Lebensmittel ...
2. Produkte des Obst- und Gartenbaues, der Landund Forstwirtschaft und der Fischerei;
3. rohe Naturerzeugnisse ...
Vom anderen Ende des Marktes hören sie einen Verkäufer schreien: „Frischer Spargel, frischer Spargel, äußerst
billig.“ „Wir haben in diesem Jahr noch gar keinen Spargel gegessen. Lass uns doch mal hingehen“, sagt Frau
Müller zu Silke. Sie schieben sich weiter durch das Gewühl und kommen an dem Gemüsestand, an dem sie sonst
immer kaufen, vorbei. Dort kostet der Salat heute nur 0,65 € je Kopf. „Nächstens kaufe ich doch wieder an dem
Stand, an dem ich Stammkundin bin“, ärgert sich Frau Müller.
1 In Anlehnung an F. J. Kaiser, H. Kaminski in: H. Stachowiak (Hrsg.), Modelle und Modelldenken im Unterricht, Bad Heilbrunn 1980, S. 103f.
84
630384
Marktformen
3
Als sie an den Stand kommen, an dem 500 g Spargel
marktschreierisch für 2,99 € angeboten werden, sagt Silke zu ihrer Mutter: „Sieh mal, wie sich die Leute von dem
Geschrei beeindrucken lassen. Dort hinten habe ich aber
an einem Stand ein Schild ‚Spargel 5,50 € je kg‘ gesehen.“
„Möglich“, sagt Frau Müller, „aber mehr als 500 g brauchen wir nicht. Und der Spargel hier sieht wirklich nicht
schlecht aus. Wegen der paar Cent gehe ich jetzt nicht
mehr zurück an den anderen Stand, um mich nach dem
Preis von 500 g zu erkundigen. Außerdem wird es Zeit,
dass wir zum Bäcker und zum Metzger kommen. Sonst gibt
es dort keine frischen Sachen mehr.“ Auf dem Rückweg
kommen sie wieder am Wochenmarkt vorbei, der bereits
dem Ende zugeht. An einem Stand ändert eine Marktfrau
gerade das Preisschild und ruft: „1 Euro 50 für das Kilo
Tomaten.“
Erläuterungen und Lösung siehe Seite 87.
Einteilung nach der Zahl der Marktteilnehmer (Marktformenschema)
Von großer Bedeutung für die Verhaltensweisen von Anbietern und Nachfragern ist die Zahl der Marktteilnehmer. Je größer die Zahl der Anbieter, umso stärker ist beispielsweise der zu erwartende Konkurrenzkampf.
Ein Anbieter mit vielen Konkurrenten trifft andere Entscheidungen als ein alleiniger Anbieter, der die gesamte Nachfrage auf sich vereinigt. Die Preisbildung vollzieht sich daher anders, je nachdem, ob es auf einem
Markt viele, wenige oder nur einen Anbieter bzw. Nachfrager gibt. Um die Entscheidungen von Anbietern
und Nachfragern auf Märkten, die sich hinsichtlich der Zahl der Marktteilnehmer unterscheiden, analysieren
zu können, werden die Märkte üblicherweise nach folgendem Marktformenschema gegliedert:1
Marktformen
Nachfrager
Anbieter
viele
wenige
einer
viele
wenige
einer
zweiseitiges Polypol
(vollständige Konkurrenz)
Nachfrageoligopol
Nachfragemonopol
Angebotsoligopol
zweiseitiges Oligopol
beschränktes
Nachfragemonopol
Angebotsmonopol
beschränktes
Angebotsmonopol
zweiseitiges Monopol
Ein Polypol ist durch viele Anbieter (Polypolisten) und viele Nachfrager gekennzeichnet. Der einzelne
Marktteilnehmer hat nur einen geringen Anteil am Gesamtangebot bzw. an der Gesamtnachfrage.
Beim Angebotsoligopol treten nur wenige Anbieter auf. Der einzelne Oligopolist hat einen großen
Anteil am Gesamtangebot auf dem Markt.
Beim Angebotsmonopol tritt nur ein Anbieter auf. Er verfügt über große Marktmacht. Da er keine
Konkurrenten hat, muss er bei seinen Entscheidungen nur die Reaktion der Nachfrager berücksichtigen.
1 Diese Art des Marktformenschemas stammt von Heinrich von Stackelberg (1905 –1946). Vgl. H. v. Stackelberg, Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, Tübingen, Zürich 1951, S. 235. Die griechischen Vorsilben poly, oligo und mono haben folgende Bedeutung: poly… = viel …, oligo… = wenig …, mono… = allein …
630385
85
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
Marktformen und Marktmacht
t
ch
ma
rkt
Ma
de
en
hm
ne
zu
Oligopol
Monopol
zu
ne
hm
en
de
Ma
rkt
ma
ch
t
Polypol
Einteilung nach der Vollkommenheit des Marktes
Eine weitere für die Preisbildung bedeutsame Unterscheidung von Märkten bezieht sich auf die Marktvollkommenheit. Ein Markt wird als vollkommen bezeichnet, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
y Die Güter sind sachlich völlig gleichartig (Homogenität der Güter).
y Es bestehen keine Präferenzen (Bevorzugungen) bei Anbietern und Nachfragern.
a) Es bestehen keine persönlichen Präferenzen zwischen den Marktteilnehmern.
Persönliche Präferenzen können sich durch langjährige Geschäftsbeziehungen, den guten Ruf eines Unternehmens oder die besonders freundliche und aufmerksame Bedienung ergeben.
b) Es bestehen keine räumlichen Präferenzen bei den Marktteilnehmern.
Räumliche Präferenzen können sich ergeben, wenn für den Käufer wegen uneinheitlicher Entfernungen
zu den einzelnen Anbietern ein unterschiedlicher Zeitaufwand oder unterschiedliche Transportkosten
entstehen. Auf einem Punktmarkt (alle Anbieter und Nachfrager befinden sich am gleichen Ort) sind
solche räumlichen Präferenzen beispielsweise weitestgehend ausgeräumt.
c) Es bestehen keine zeitlichen Präferenzen bei den Marktteilnehmern.
Zeitliche Präferenzen können sich durch unterschiedliche Lieferzeiten oder Bevorzugung bei der Abfertigung ergeben.
y Es besteht vollständige Marktübersicht (Markttransparenz).
Alle Marktteilnehmer sind umfassend über die für den Abschluss von Kaufverträgen wesentlichen Daten informiert (z. B. Art und Qualität der Güter, Preise, Lieferfristen, Zahlungsbedingungen, Zahl und Marktmacht
der Anbieter und Nachfrager).
Aufgabe
3.1, S. 137
Ein vollkommener Markt liegt vor, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. Homogene Güter
2. Keine Präferenzen
3. Vollständige Markttransparenz
Auf einem vollkommenen Markt bildet sich ein einheitlicher Preis, zu dem alle Käufe und Verkäufe getätigt
werden. Der vollkommene Markt ist ein Modell, mit dessen Hilfe das Zustandekommen des Marktpreises
durch Angebot und Nachfrage nachvollzogen werden kann.
In der Realität sind fast alle Märkte unvollkommen. Lediglich die börsenmäßig organisierten Märkte kommen dem Modell des vollkommenen Marktes einigermaßen nahe.
86
630386
Marktformen
3
Lösung zu Fallbeispiel 3.1 (vgl. S. 84 f.)
Marktform des Wochenmarktes
Der Wochenmarkt ist ein Beispiel für ein Polypol (viele Anbieter – viele Nachfrager). Da der Markt aber nicht
vollkommen ist, handelt es sich um ein Polypol auf dem unvollkommenen Markt.
Vollkommener Markt
Situation auf dem beschriebenen Wochenmarkt
Homogenität der Güter: Die Güter sind völlig gleichartig.
Es werden Güter gleicher Art, aber in unterschiedlicher Qualität
angeboten.
Keine Präferenzen: Käufer handeln nach dem ökonomischen Prinzip und treffen ihre Kaufentscheidungen
ausschließlich anhand von Preis- und Qualitätsvergleichen.
Frau Müller und ihre Tochter lassen sich heute durch die Anpreisungen eines Gemüsehändlers beeinflussen. Sonst kaufen
sie aus Tradition immer bei einem anderen Händler. Für weitere Preis- und Qualitätsvergleiche haben sie heute keine Zeit.
Alle Marktteilnehmer haben vollkommene Markttransparenz. Anbieter und Nachfrager kennen die Produkte
und ihre Preise.
Frau Müller und ihre Tochter haben keine Markttransparenz.
Sie kaufen gleich beim ersten Stand.
Modell der vollständigen Konkurrenz
Preisbildungsvorgänge sind in der Realität höchst undurchsichtig und nur schwer nachvollziehbar. Daher
wird versucht, unter modellmäßiger Vereinfachung Vorgänge und Entwicklungen auf dem Markt zu veranschaulichen und erkennbar zu machen. Dabei bleiben alle Einflussfaktoren unberücksichtigt, die den
Preisbildungsprozess stören könnten. Das zweiseitige Polypol (viele Anbieter und viele Nachfrager) auf dem
vollkommenen Markt ist ein solches Modell. Diese Marktform wird auch als Modell der vollständigen Konkurrenz bezeichnet. Es ist durch folgende Annahmen gekennzeichnet:
y Auf dem Markt stehen sich viele Anbieter und viele Nachfrager gegenüber. Die Anbieter stehen miteinander
in Konkurrenz. Auch die Nachfrager schließen sich nicht zusammen und können daher keinen Druck auf die
Anbieter ausüben. Daraus folgt, dass der einzelne Marktteilnehmer nur über einen geringen Marktanteil
und damit über keine bedeutsame Marktmacht verfügt.
y Die Bedingungen des vollkommenen Marktes sind erfüllt (homogenes Gut, keine Präferenzen, vollständige
Markttransparenz). Daraus folgt, dass sich ein einheitlicher Preis (Einheitspreis) ergibt.
Diese Annahmen beinhalten, dass der sich am Markt ergebende Preis für den einzelnen Anbieter und Nachfrager eine vorgegebene Größe (Datum) ist, die er aufgrund seines geringen Marktanteils allein nicht beeinflussen kann. Die einzelnen Anbieter und Nachfrager sind Mengenanpasser. In diesem Modell ist somit der Preis
immer die unabhängige Größe (= Ursache) und die Menge immer die abhängige Größe (= Wirkung).
Würde ein einzelner Anbieter versuchen, einen höheren Preis als den Marktpreis zu verlangen, ohne dass die übrigen Anbieter ebenso reagieren, wären alle Nachfrager aufgrund der vollständigen Markttransparenz darüber
informiert, dass das gleiche Gut anderswo billiger erhältlich ist. Da keinerlei Präferenzen bestehen, die die Nachfrager veranlassen könnten, für dieses Gut bei einem bestimmten Anbieter freiwillig mehr zu bezahlen als nötig,
geht die Absatzmenge dieses Anbieters auf null zurück, da alle seine Kunden zur Konkurrenz abwandern.
Würde ein einzelner Anbieter seine Güter dagegen zu einem Preis unterhalb des Marktpreises anbieten, ohne
dass die übrigen Anbieter ebenso reagieren, würde sich sofort die gesamte Nachfrage auf ihn konzentrieren.
Wegen seines geringen Marktanteils kann er diese Nachfrage aber nicht befriedigen und keine zusätzlichen
Kunden langfristig an sich binden. Er würde lediglich seine Angebotsmenge, die er auch zum Marktpreis
hätte absetzen können, zu einem niedrigeren Preis verkaufen und dadurch seinen Gewinn verringern.
Für die Erklärung des Verhaltens der Marktteilnehmer und der Preisbildung in den folgenden Kapiteln (Kapitel 3.2 bis 3.5) wird unterstellt, dass es sich um Wettbewerbsmärkte in Form der beschriebenen vollständigen Konkurrenz handelt. Diese Märkte lassen sich am einfachsten untersuchen und die Ergebnisse können
großenteils auf die Analyse anderer Marktformen angewandt werden.
630387
87
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
3.2
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
Worum geht es in diesem Kapitel?
3.2.1 Welche Faktoren
bestimmen die Nachfrage
privater Haushalte?
3.2.2 Wie beeinflusst der
Preis eines Gutes
die Nachfrage?
3.2.3 Welche Faktoren
bewirken eine Veränderung
der Nachfragekurve?
3.2.4 Wie lassen sich Auswirkungen von Preisänderungen bei verschiedenen Gütern vergleichen?
Preiselastizität
Mit dem in diesem Kapitel erworbenen Wissen lassen sich beispielsweise folgende Probleme
lösen:
Beispiel
Kapitel
3.2.4
Fallbeispiel 3.2.1: Preiselastizität der Nachfrage bei Zucker und Juwelen
Der Finanzminister eines Landes plant zur Erhöhung der Steuereinnahmen eine Umsatzsteuer von 5 % auf den
Verkauf von Zucker oder auf den Verkauf von Juwelen einzuführen. Er unterstellt, dass die direkte Preiselastizität
der Nachfrage bei Zucker 0,44 und bei Juwelen 2,6 beträgt.
Welche der beiden Steuern ist ergiebiger?
Erläuterungen und Lösung siehe Seite 98.
3.2.1
Bestimmungsfaktoren der Nachfrage privater Haushalte
Bestimmungsfaktoren
Die Nachfragetheorie untersucht, von welchen Zielsetzungen und Bestimmungsfaktoren das Nachfrageverhalten und die Kaufentscheidungen der privaten Haushalte (= Verbraucher, Konsumenten, Nachfrager) abhängig sind.
Dabei wird von folgenden Annahmen ausgegangen:
1. Jeder private Haushalt hat das Ziel, sein Einkommen so zu verwenden, dass er seine individuellen Bedürfnisse möglichst weitgehend befriedigt und den größtmöglichen individuellen Nutzen erzielt (Nutzenmaximierung).
2. Um dieses Ziel zu erreichen, muss ein Haushalt folgende Entscheidungen treffen:
y Welcher Teil des Einkommens soll gespart werden?
y Wie sollen die für den Konsum vorgesehenen Einkommensteile (= Konsumsumme) möglichst nutzbringend auf die einzelnen Konsumgüterarten aufgeteilt werden (= optimaler Konsumplan)?
Am Beispiel des Nachfrageverhaltens der Schülerin Manuela in Bezug auf Schokoriegel (nachgefragte Menge
nach Gut 1: x1N) lassen sich u. a. folgende Bestimmungsfaktoren der Nachfrage ableiten:
y Preis des Gutes (p1): Wenn der Preis von Schokoriegeln auf 1,00 € steigt, würde Schülerin Manuela weniger
Schokoriegel kaufen wollen. Fiele der Preis dagegen auf 0,20 €, würde sie mehr kaufen wollen. Normalerweise steigt die geplante Nachfragemenge mit sinkendem Preis und sinkt mit steigendem Preis.
y Einkommen (y): Die Nachfrage der Schülerin Manuela nach Schokoriegeln hängt möglicherweise auch von
der Höhe ihres Taschengeldes und ihrer sonstigen Einkünfte ab. Wenn die Nachfrage nach einem Gut bei
88
630388
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
3
steigendem Einkommen zunimmt, handelt es sich um ein höherwertiges (superiores) Gut. Bei bestimmten
Gütern liegt aber ein umgekehrter Zusammenhang vor: Die Nachfrage geht mit zunehmendem Einkommen zurück, weil die bisher nachgefragten Güter durch höherwertige ersetzt werden (z. B. Margarine durch
Butter). In diesem Fall handelt es sich um ein geringwertigeres (inferiores) Gut. Ändert sich dagegen die
Nachfrage trotz einer Einkommenserhöhung nicht, konnte der Bedarf bereits mit dem bisherigen Einkommen vollkommen gedeckt werden. Dann liegt ein Sättigungsgut vor.
y Preise anderer Güter (p2 ... pn): Sinkt beispielsweise der Preis für Müsliriegel, würde die Schülerin Manuela
möglicherweise statt Schokoriegeln Müsliriegel kaufen. Ihre Nachfrage nach Schokoriegeln nimmt dann ab.
Da Schoko- und Müsliriegel (oder andere Süßigkeiten) ähnliche Bedürfnisse befriedigen und sich gegenseitig ersetzen können, handelt es sich um Substitutionsgüter wie z. B. Würstchen und Hamburger, Sweatshirt und Pulli, Kino und Theater. Bei manchen Gütern besteht aber ein umgekehrter Zusammenhang: Bei
sinkendem Preis eines Gutes (und steigender nachgefragter Menge) steigt zusätzlich auch die Nachfrage
nach einem anderen Gut. Da sich solche Güter gegenseitig ergänzen, werden sie als Komplementärgüter
bezeichnet, wie z. B. Autos und Benzin, Computer und Software, Skier und Liftkarten.
y Bedürfnisstruktur und Nutzeneinschätzung: Eine Gesundheitskampagne, die vor dem Verzehr von zu viel
Süßigkeiten warnt, könnte bei Schülerin Manuela zu einem erhöhten Gesundheitsbewusstsein und damit zu
einer Abnahme der Nachfrage nach Schokoriegeln führen. Denselben Effekt könnte es haben, wenn Manuela aufgrund ihres Süßigkeitenverzehrs Gewichtsprobleme hat und verstärkt auf die „schlanke Linie“ achten
will.
Allgemeine Nachfragefunktion
Der beschriebene Zusammenhang lässt sich als allgemeine Nachfragefunktion eines einzelnen Konsumenten folgendermaßen darstellen:
⎧
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎨
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎮
⎩
⎧
⎨
⎩
x1N = f (p1, p2, ... pn, y, Bedürfnisstruktur, Nutzen, ...)
nachgefragte Menge
= Wirkung
Bestimmungsfaktoren
= Ursachen
Die Nachfragefunktion für einen einzelnen Konsumenten wird auch als individuelle Nachfragefunktion bezeichnet. Da es sehr viel schwieriger wäre, Einsicht in die Zusammenhänge zu gewinnen, wenn sich mehrere Bestimmungsgründe gleichzeitig ändern, werden nacheinander jeweils nur die Wirkungen eines dieser
Einflussfaktoren untersucht. Alle anderen Faktoren werden dabei als unverändert (konstant) angenommen
(Abstraktion).
Spezielle Nachfragefunktion
Wird in der Volkswirtschaftslehre von einer Nachfragefunktion (Nachfragekurve) gesprochen, so ist üblicherweise damit die spezielle Nachfragefunktion gemeint, bei der nur die Wirkung des Preises eines Gutes (p1)
auf die nachgefragte Menge dieses Gutes (x1) untersucht wird:
x1N = f (p1).
Der Preis ist dabei die einzige Ursache. Für alle übrigen Einflussgrößen wird angenommen, dass sie unverändert bleiben.
630389
89
Kapitel
1.2
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
3.2.2
Abhängigkeit der Nachfrage vom Preis des nachgefragten Gutes
Individuelle Nachfragekurve
Beispiel
Bei einer Umfrage über das Konsumverhalten von Jugendlichen
hat die Schülerin Manuela auf die Frage „Wie viele Schokoriegel
würdest du pro Woche nachfragen, wenn der Preis soundso viel
Euro betragen würde?“ für unterschiedliche Preise die in der nebenstehenden Tabelle angegebenen Mengen genannt.
Manuelas Nachfragetabelle für Schokoriegel
Preis (€)
Menge (Stück pro
Woche)
0,00
12
0,20
10
0,40
8
0,60
6
0,80
4
1,00
2
1,20
0
Die Tabelle spiegelt Manuelas Verbrauchsplan für Schokoriegel für einen bestimmten Zeitraum (z. B. während
einer Woche im Oktober) wider. Sie stellt den funktionalen Zusammenhang zwischen der geplanten Nachfragemenge an Schokoriegeln (= abhängige Größe) und dem Preis für Schokoriegel (= unabhängige Größe) dar. Zu
einem anderen Zeitpunkt könnte aber Manuelas Nachfrageverhalten völlig anders aussehen, weil sich beispielsweise ihre Einkommensverhältnisse oder die Preise für andere Süßigkeiten geändert haben oder weil sie zum
Geburtstag eine Großpackung Schokoriegel geschenkt bekommen hat.
Die von einem Konsumenten bei unterschiedlichen Preisen jeweils geplanten Nachfragemengen
ergeben die Preis-Mengen-Kombinationen, bei denen er unter den vorliegenden Bedingungen seinen
größtmöglichen Nutzen erzielt (= optimaler Verbrauchsplan).
Aufgabe
3.2, S. 137
Werden die Preis-Mengen-Kombinationen der Tabelle in ein Koordinatensystem übertragen1 und die einzelnen Punkte miteinander verbunden2, ergibt sich eine von links oben nach rechts unten fallende Nachfragekurve. Da diese Kurve nur für einen bestimmten Konsumenten gilt, handelt es sich um eine individuelle
Nachfragekurve.
Beispiel
Manuelas Nachfragekurve für Schokoriegel
Preis (p)
(Ursache)
power
point
Prohibitivpreis
1,20
1,00
p2
0,80
p0
0,60
p1
0,40
B
Bew
eg
Nac ung au
hfra
geku f der
rve
A
C
Sättigungsmenge
0,20
0
0
2
4
x2
6
x0
8
x1
10
12
14
Menge in Stück (Wirkung)
1 Die Zuordnung der abhängigen Größe (Menge = Wirkung) und der unabhängigen Größe (Preis = Ursache) zu den Koordinatenachsen erfolgt in der
Volkswirtschaftslehre anders als in der Mathematik üblich. Vgl. 1.9.3.
2 Obwohl die Tabelle in einem Koordinatensystem eigentlich nur durch Punkte, die bestimmte Preis-Mengen-Kombinationen wiedergeben, abgebildet werden
kann, wird der Einfachheit halber unterstellt, dass sich aus der Verbindung dieser Punkte eine Kurve mit konstanter Steigung (= linearer Verlauf) konstruieren
lässt. Vgl. 1.9.3.
90
630390
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
3
Die individuelle Nachfragekurve zeigt, wie viele Mengeneinheiten eines Gutes ein Konsument jeweils bei unterschiedlichen Preisen dieses Gutes in einer bestimmten Zeiteinheit nachzufragen plant.
Ob der Konsument allerdings seinen Verbrauchsplan verwirklichen und die geplanten Mengen tatsächlich
kaufen kann, hängt u. a. davon ab, ob zu dem jeweiligen Preis überhaupt entsprechende Mengen angeboten
werden.
Kapitel
3.3
Bei normalem Verhalten der Konsumenten hat die Nachfragekurve eine negative Steigung. In diesem Kurvenverlauf kommt das Gesetz vom abnehmenden Nutzenzuwachs zum Ausdruck. Da jede zusätzlich konsumierte Einheit eines Gutes einem Haushalt im Normalfall einen geringeren Nutzenzuwachs stiftet, fragt der
Haushalt nur dann mehr von diesem Gut nach, wenn der Preis dieses Gutes sinkt.
Die normale Nachfragekurve hat eine negative Steigung („Gesetz der Nachfrage“), das heißt,
y je höher der Preis ist, umso geringer ist die geplante Nachfragemenge,
y je niedriger der Preis ist, umso höher ist die geplante Nachfragemenge.
Ändert sich der Preis des Gutes und bleiben alle anderen Bestimmungsgründe der Nachfrage gleich,
so ergibt sich eine neue Preis-Mengen-Kombination für dieses Gut. Dies löst eine Bewegung auf der
Kurve aus.
In Grenzfällen können sich auch Schnittpunkte der Kurve mit den Achsen ergeben, die sich folgendermaßen
erklären lassen: Beim Schnittpunkt mit der Mengenachse liegt die Sättigungsmenge. Dieser nachgefragten
Menge entspricht ein Preis von null, das heißt, der Konsument möchte keine zusätzliche Mengeneinheit
dieses Gutes konsumieren, selbst wenn er das Gut kostenlos erhält. Beim Schnittpunkt mit der Preisachse,
dem eine nachgefragte Menge von null entspricht, ist ein Preis erreicht, zu dem der Konsument nicht mehr
bereit oder in der Lage ist, auch nur eine einzige Mengeneinheit des Gutes nachzufragen (Prohibitivpreis1).
Gesamtnachfrage (Marktnachfrage)
Werden die bei unterschiedlichen Preisen von den Konsumenten gewünschten individuellen Nachfragemengen für ein bestimmtes Gut addiert, ergibt sich die Gesamtnachfrage (Marktnachfrage) für dieses Gut.
Beispiel
Nachfragemengen für Schokoriegel
Preis (€)
Manuelas individuelle Nachfragemengen in Stück
0,00
12
+
Heikos individuelle Nachfragemengen in Stück
+
6
+
alle anderen individuellen
Nachfragemengen in
Stück
=
Gesamtnachfrage
(Marktnachfrage)
in Mio. Stück
+
...
=
10,0
0,20
10
+
5
+
...
=
9,0
0,40
8
+
4
+
...
=
8,0
0,60
6
+
3
+
...
=
7,0
0,80
4
+
2
+
...
=
6,0
1,00
2
+
1
+
...
=
5,0
1,20
0
+
0
+
...
=
4,0
1,40
0
+
0
+
...
=
3,0
1,60
0
+
0
+
...
=
2,0
1,80
0
+
0
+
...
=
1,0
2,00
0
+
0
+
...
=
0
1 prohibitiv (lat.): verhindernd
630391
91
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
Gesamtnachfrage (Marktnachfrage) für Schokoriegel
Die Gesamtnachfrage (Marktnachfrage) nach einem bestimmten Gut ergibt sich durch Zusammenfassung (Aggregation) der nach diesem Gut bestehenden individuellen Nachfrage der einzelnen
Konsumenten.
Kapitel
3.2.1
Während die individuelle Nachfrage nach einem Gut u. a. vom Preis des Gutes, von den Preisen anderer
Güter, vom Einkommen sowie von der Bedürfnisstruktur und der Nutzeneinschätzung abhängig ist, sind für
die Höhe der Gesamtnachfrage nach einem Gut noch zusätzliche Einflussfaktoren von Bedeutung. Dazu
gehört u. a. die Zahl der Konsumenten, die dieses Gut nachfragen.
3.2.3
Aufgabe
3.3, S. 138
Verschiebung der Nachfragekurve
Wenn sich einzelne Einflussfaktoren der Nachfrage ändern, muss deutlich unterschieden werden, ob durch
diese Änderung im Preis-Mengen-Diagramm eine Bewegung auf einer gegebenen Nachfragekurve (= Steigen oder Sinken der nachgefragten Menge) oder eine Verschiebung der Nachfragekurve (= Zunahme oder
Abnahme der Nachfrage) ausgelöst wird. Dabei lassen sich folgende vier Fälle unterscheiden:
Ändert sich der Preis des Gutes, während alle anderen Einflussfaktoren unverändert bleiben, bewirkt das im
Preis-Mengen-Diagramm eine Bewegung auf der Nachfragekurve.
y Eine Preiserhöhung bewirkt eine Bewegung auf der Nachfragekurve nach oben links, weil die nachgefragte Menge sinkt (z. B. sinkt als Folge einer Preiserhöhung für Schokoriegel die nachgefragte Menge).
y Eine Preissenkung bewirkt eine Bewegung auf der Nachfragekurve nach unten rechts, weil die nachgefragte Menge steigt (z. B. steigt als Folge einer Preissenkung für Schokoriegel die nachgefragte Menge).
Ändert sich dagegen eine der anderen Einflussgrößen, drückt sich das im Preis-Mengen-Diagramm in einer
Verschiebung der Nachfragekurve aus.
y Zu einer Linksverschiebung der Nachfragekurve kommt es dann, wenn nach dem auslösenden Ereignis
zu jedem Preis weniger nachgefragt wird. Die Nachfrage nimmt ab (z. B. Werbeverbot für alkoholhaltige
Limonade: Bei jedem denkbaren Preis werden weniger Alcopops nachgefragt als vorher).
y Zu einer Rechtsverschiebung der Nachfragekurve kommt es dann, wenn nach dem auslösenden Ereignis
zu jedem Preis mehr nachgefragt wird als vorher. Die Nachfrage nimmt zu (z. B. Gesundheitskampagne für
den Verzehr von Obst: Bei jedem denkbaren Preis wird mehr Obst nachgefragt als vorher).
Eine Verschiebung der Nachfragekurve nach rechts bedeutet, dass die Marktnachfrage bei jedem
Preis größer ist als vorher. Eine Verschiebung der Nachfragekurve nach links bedeutet, dass die
Marktnachfrage bei jedem Preis kleiner ist als vorher.
92
630392
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
3
Wenn eine Regierung aus geRauchen für die Staatskasse
sundheitspolitischen Gründen
Versteuerte Tabakwaren* in Deutschland
die Nachfrage nach TabakZigaretten in Mio. Stück
2010
waren einschränken möchte,
83 565
2005
95 827
kann sie einerseits versuchen,
2000
139 625
eine Verschiebung der Nach1995
135 029
146 480
1991
fragekurve nach links ausZigarren, Zigarillos in Mio. Stück
zulösen. Dazu gehören u. a.
3 967 (2010)
Maßnahmen wie die Warnung
4 028 (2005)
2 557(2000)
Einnahmen aus der
vor den Gesundheitsrisiken des
Tabaksteuer 2010:
1 062 (1995)
Rauchens auf den Zigaretten13,4 Mrd. Euro
1 359 (1991)
(-1,5 % im Vergleich
packungen, ein Werbeverbot
zum
Vorjahr)
Feinschnitt in t
25 486 (2010)
für Tabakwaren, Hinweise
33 232 (2005)
darauf, dass Nichtraucher
12 758 (2000)
bessere Liebhaber sind, usw.
11 183 (1995)
15 169 (1991)
Andererseits kann die RegieQuelle: Stat. Bundesamt
*Auswahl, 2010 vorl.
4041 © Globus
rung aber auch versuchen,
durch eine Verteuerung der Tabakwaren den Konsum einzuschränken. Durch die Erhebung einer Tabaksteuer,
die von den Zigarettenherstellern auf die Käufer überwälzt wird, steigt der Preis für Zigaretten, sodass sich eine
Bewegung auf der Nachfragekurve nach links oben (höherer Preis bei geringerer Menge) ergibt.
Änderung der nachgefragten Menge
(Bewegung auf der Nachfragekurve)
Änderung (Verschiebung)
der Nachfragekurve
Preis des Gutes 1
p1
B
ng
gu
we
Be
p1
er
fd
au
A
rve
Ku
p0
C
p2
x1
x0
x2 Menge des Gutes 1
x1
Eine Bewegung auf der Nachfragekurve eines Gutes
ergibt sich nur dann, wenn sich der Preis dieses Gutes
ändert.
Eine Verschiebung der Nachfragekurve eines Gutes ergibt sich, wenn sich nicht der Preis dieses Gutes, sondern
einer oder mehrere der anderen Bestimmungsfaktoren
ändern.
Eine Rechtsverschiebung (= Zunahme der Nachfrage) ergibt
sich z. B. in folgenden Fällen:
y Preissteigerung bei einem Substitutionsgut,
y Preissenkung bei einem Komplementärgut,
y Einkommenserhöhung der Haushalte im Falle eines
superioren Gutes,
y höhere Nutzeneinschätzung des Gutes durch die Haushalte,
y Erhöhung der Zahl der Nachfrager (Bevölkerungswachstum).
Im jeweils umgekehrten Fall ergibt sich eine Linksverschiebung der Nachfragekurve (= Abnahme der Nachfrage).
630393
93
Beispiel
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
3.2.4
Preiselastizität der Nachfrage
Begriff der Elastizität
Sowohl für wirtschaftspolitische Entscheidungen des Staates, die eine Beeinflussung der Gesamtnachfrage darstellen (z. B. Veränderungen bei der Umsatz- oder Einkommensteuer), als auch für preispolitische Maßnahmen
von Unternehmen genügt es oft nicht zu wissen, dass die nachgefragte Menge eines Gutes grundsätzlich von
der Höhe des Preises, vom Einkommen der Haushalte und anderen Faktoren abhängt. Als Entscheidungsgrundlage sind vielmehr oft Informationen darüber wichtig, in welchem Ausmaß sich die Gesamtnachfrage nach
einem Gut ändert, wenn sich beispielsweise der Preis oder das Einkommen ändern. Eine Maßzahl für das Ausmaß einer solchen Änderung ist die Elastizität. Die Elastizität gibt an, um wie viel Prozent sich eine abhängige
(= reagierende) Größe ändert, wenn sich die unabhängige (= verursachende) Größe um ein Prozent ändert.
Direkte Preiselastizität der Nachfrage
Beispiel
Aufgabe
3.4, S. 138
Eine Preiserhöhung für einen bestimmten Autotyp von 15.000,00 € um
75,00 € auf 15.075,00 € wird die nachgefragte Menge kaum beeinflussen. Steigt dagegen der Preis eines hochwertigen DVD-Players ebenfalls
um 75,00 € von bisher 150,00 € auf jetzt 225,00 €, wird die nachgefragte Menge spürbar sinken. Aus dieser Beobachtung lässt sich aber
nicht schließen, dass die Nachfrager nach Autos weniger stark auf Preisänderungen reagieren als die Nachfrager nach DVD-Playern. Der Preis
für das Auto wurde nur um 0,5 %, der Preis für den DVD-Player dagegen
um 50 % erhöht. Bei einer Erhöhung des Autopreises um 50 % würde
die nachgefragte Menge bei Autos ebenfalls stark zurückgehen.
Vergleichbar sind Aussagen über Nachfragereaktionen bei verschiedenen Gütern nur dann, wenn sie die
durch eine prozentuale Preisänderung ausgelöste prozentuale Änderung der nachgefragten Menge berücksichtigen. Dieser Zusammenhang kommt in der direkten Preiselastizität der Nachfrage zum Ausdruck.
Die direkte Preiselastizität der Nachfrage ist das Verhältnis der prozentualen Änderung der nachgefragten Menge eines Gutes zur prozentualen Preisänderung dieses Gutes. Sie gibt an, um wie viel Prozent sich die nachgefragte Menge eines Gutes ändert, wenn sich der Preis dieses Gutes um 1 % ändert.
Beispiel
Beispiel zur Elastizitätsberechnung
Angenommen, ein Lebensmittelmarkt hat für eine bestimmte Sorte Frischmilch einen Zusammenhang zwischen
der täglichen Absatzmenge und dem Preis festgestellt, wie er in der folgenden linearen Nachfragekurve zum
Ausdruck kommt.
power
point
Preis in €
p
A
1,25
El > 1 (elastische Nachfrage)
1,00
Preissenkung
0,25 €
0,75
El = 1
B
0,50
El < 1 (unelastische Nachfrage)
Mengenerhöhung 40 l
0,25
0
C
0
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
220
Nachfragemenge in Liter
x
94
630394
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
3
prozentuale Änderung der Nachfragemenge
ELdir = ____________________________________
prozentuale Preisänderung
Das rechnerische Ergebnis der direkten Preiselastizität der Nachfrage ist im Normalfall negativ, weil bei
normaler Nachfrageaktion eine Erhöhung des Preises zu einer Verringerung der nachgefragten Menge führt
(= negative Steigung der Nachfragekurve). Trotzdem wird die direkte Preiselastizität der Nachfrage üblicherweise ohne Vorzeichen als absoluter Betrag |Eldir| angegeben.
Berechnung der direkten Preiselastizität
der Nachfrage bei einer Preissenkung
von 1,00 € auf 0,75 €
Preis
Menge
Preis
Menge
vorher
1,00 €
40 l
vorher
0,50 €
120 l
nachher
0,75 €
80 l
nachher
0,25 €
160 l
Änderung (absolut)
Änderung in %
|
+ 100
ELdir = _____
– 25
– 0,75 €
+ 40 l
– 25 %
+ 100 %
|=4
Beispiel
Berechnung der direkten Preiselastizität
der Nachfrage bei einer Preissenkung
von 0,50 € auf 0,25 €
Änderung (absolut)
Änderung in %
ELdir =
– 0,25 €
+ 40 l
– 50 %
+ 33,3 %
+33,3
|_____
– 50 | = 0,66
Das Zahlenbeispiel zeigt, dass die direkte Preiselastizität der Nachfrage trotz gleicher absoluter Preis- und
Mengenänderungen in beiden Fällen verschieden ist. Wegen der unterschiedlichen Ausgangspreise und mengen unterscheiden sich die relativen (prozentualen) Preis- und Mengenänderungen. Daraus ergibt sich,
dass die direkte Preiselastizität der Nachfrage in jedem Punkt der linearen Nachfragekurve unterschiedlich ist.
Entlang dieser Nachfragekurve nimmt die Elastizität alle Werte zwischen unendlich und null an. Im Schnittpunkt mit der Preisachse (Punkt A) ist die Preiselastizität unendlich groß, im Halbierungspunkt (Punkt B) ist
sie gleich eins und im Schnittpunkt mit der Mengenachse (Punkt C) ist sie gleich null.
Elastische und unelastische Nachfrage
Ist die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge größer als die prozentuale Preisänderung, so ergibt
sich für die Elastizität ein Wert, der größer als 1 ist. In diesen Fällen wird von einer elastischen Nachfrage gesprochen. Dies trifft hier für alle Punkte der oberen Hälfte der Nachfragekurve zu (Strecke AB, vgl. Abb. S. 94).
Ist die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge genauso hoch wie die prozentuale Preisänderung, so
hat die Elastizität den Wert 1. Das trifft hier für den Halbierungspunkt der Nachfragekurve zu (Punkt B).
Ist die prozentuale Änderung der nachgefragten Menge kleiner als die prozentuale Preisänderung, so ergibt
sich für die Elastizität ein Wert, der kleiner als 1 ist. In diesen Fällen wird von einer unelastischen Nachfrage
gesprochen. Das trifft hier für alle Punkte der unteren Hälfte der Nachfragekurve zu (Strecke BC, vgl. Abb.
S. 94).
Ist die prozentuale Mengenänderung größer als die prozentuale Preisänderung, liegt eine elastische
Nachfrage vor (Eldir > 1). Ist die prozentuale Mengenänderung kleiner als die prozentuale Preisänderung, liegt eine unelastische Nachfrage vor (Eldir < 1).
Die folgenden Abbildungen zeigen Abschnitte von zwei Nachfragekurven, in denen gleiche absolute Preisänderungen unterschiedliche Mengenänderungen nach sich ziehen. Die gleiche Preiserhöhung führt bei einem
steileren Verlauf des Kurvenabschnitts zu einem geringeren Rückgang der nachgefragten Menge als bei
einem flacheren Verlauf. Die Nachfrage ist in dem hier betrachteten Abschnitt der linken Nachfragekurve
unelastisch, während die Nachfrage in dem hier betrachteten Abschnitt der rechten Nachfragekurve elastisch
ist.
630395
95
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
unelastische Nachfrage
elastische Nachfrage
p
p
El > 1
El > 1
El = 1
p1
p0
p1
El < 1
p0
El < 1
x1
El = 1
x0
x1
x
Unelastische Reaktion: Bei Preisänderungen verändert
sich die nachgefragte Menge verhältnismäßig wenig (z. B.
lebensnotwendige Güter)
x0
x
Elastische Reaktion: Bei Preisänderungen verändert sich die
nachgefragte Menge verhältnismäßig stark (z. B. Luxusgüter)
Ausgewählte Preiselastizitäten der Nachfrage aufgrund empirischer Untersuchungen
Lebensmittel (allgemein)
Fleischwaren
Bildung und Unterhaltung
Kfz-Benutzung
Körper- und Gesundheitspflege
Tabakwaren
– Erwachsene
– Jugendliche
– 0,7 (unelastisch)
– 1,3 (elastisch)
– 2,9 (elastisch)
– 0,36 (unelastisch)
+ 0,3 (anomal)
– 0,4 (unelastisch)
– 1,2 (elastisch)
Quellen: A. Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 10. Aufl., München 1990, S. 114, N. G. Mankiw, Grundzüge der
Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1998, S. 78
Bei einer linearen Nachfragekurve mit normalem
Verlauf ist zwar die Steigung konstant, die Preiselastizität aber in jedem Punkt unterschiedlich.
Deshalb kann aus der Steigung einer derartigen
Nachfragekurve nicht direkt auf die Höhe der
Preiselastizität geschlossen werden. Es gibt aber
Nachfragekurven, die im gesamten Verlauf eine
konstante Preiselastizität aufweisen.
y Eine Nachfragekurve, die parallel zur Preisachse
(Ordinate) verläuft, hat an jeder Stelle eine Elastizität von 0. Die Nachfrage ist in diesem Fall
vollkommen unelastisch. Trotz Preisänderungen
bleibt die nachgefragte Menge konstant. Ein
solches Nachfrageverhalten ist nur unterhalb
einer bestimmten (einkommensabhängigen)
Preisobergrenze z. B. bei lebensnotwendigen Medikamenten oder bei sehr billigen Gütern (z. B.
Streichhölzern) denkbar.
96
vollkommen unelastische Nachfrage
p
vollkommen
unelastische
Nachfrage
El = 0
x
630396
Verhalten der Nachfrager auf Wettbewerbsmärkten
3
y Eine Nachfragekurve, die parallel zur Mengenachse (Abszisse) verläuft, hat an jeder Stelle
eine Elastizität von unendlich. Die Nachfrage ist
in diesem Fall vollkommen elastisch. Es handelt
sich dabei um einen theoretischen Grenzfall.
Zum gegebenen und jedem niedrigeren Preis
würde eine unendliche Menge nachgefragt. Jede
Preiserhöhung würde dagegen die nachgefragte
Menge auf null sinken lassen.
vollkommen elastische Nachfrage
p
vollkommen
elastische
Nachfrage
Die praktische Bedeutung der direkten Preiselastizität der Nachfrage liegt u. a. darin, dass sie
Aussagen darüber zulässt, wie sich beispielsweise eine von mehreren Mineralölunternehmen
gleichzeitig vorgenommene Benzinpreisänderung
voraussichtlich auf den Erlös der Unternehmen
auswirken wird. Die mit dem Preis multiplizierte
Nachfragemenge stellt nämlich einerseits die Ausgaben der Nachfrager und andererseits den Erlös
(Umsatz) der Anbieter dar.
Aufgabe
3.5, S. 139
El = ∞
x
Ausgaben der Nachfrager = Erlös der Anbieter = Preis (p) · Menge (x)
Ob als Folge einer bestimmten Preisänderung für Benzin die Ausgaben
der Nachfrager und damit die Erlöse
der Mineralölunternehmen steigen,
sinken oder gleich bleiben, hängt vom
Ausmaß der durch die Preisänderung
ausgelösten Nachfrageänderung und
somit von der direkten Preiselastizität
der Nachfrage ab.
Und wir Idioten haben noch nicht mal auf 1,90 erhöht!
Bisheriger
Preis
Bisherige
Menge
Neuer
Preis
Neue
Menge
Eldir
10
200
9
300
50 %
_____
2.000
2.700
Eldir > 1
Konsumausgaben steigen
4
800
3
900
12,5 %
______
3.200
2.700
Eldir < 1
Konsumausgaben steigen
10 % = |5|
25 % = |0,5|
Bisherige
Ausgaben
Neue
Ausgaben
Zusammenhang zwischen
Elastizität und Konsumausgaben
Ist die Nachfrage elastisch (Eldir > 1), führt eine Preiserhöhung zu einer Verringerung der Konsumausgaben und eine Preissenkung zu einer Erhöhung der Konsumausgaben. Bei unelastischer Nachfrage
(Eldir < 1) gilt der umgekehrte Zusammenhang.
630397
97
Preisbildung auf verschiedenen Arten von Märkten
3
Zusammenhang zwischen Preiselastizität, Konsumausgaben und Erlösen
Aufgabe
3.6, S. 139
Zusammenhang zwischen Preiselastizität der Nachfrage, Ausgaben der Nachfrager
und Erlösen der Anbieter
Unelastische Nachfrage
Eldir < 1
Eldir = 1
Elastische Nachfrage
Eldir > 1
Preissenkung
Konsumausgaben und Erlöse
sinken
Konsumausgaben und Erlöse
konstant
Konsumausgaben und Erlöse
steigen
Preiserhöhung
Konsumausgaben und Erlöse
steigen
Konsumausgaben und Erlöse
konstant
Konsumausgaben und Erlöse
sinken
Preisänderung
Elastizität
Für die Anbieter ist eine Preiserhöhung mit dem Ziel einer Erlössteigerung also nur dann sinnvoll, wenn die
Nachfrage unelastisch ist. Um Preiserhöhungen besser durchsetzen zu können, versuchen die Unternehmen
daher, durch absatzpolitische Maßnahmen (z. B. Werbung, Service) die Nachfrageelastizität für die von ihnen
angebotenen Produkte zu verringern, indem sie dem Verbraucher das Gefühl der Unentbehrlichkeit dieser
Produkte vermitteln. Andererseits lässt sich für die Anbieter eine Ausdehnung der Absatzmenge bei gleichzeitiger Erlössteigerung nur dann erreichen, wenn die Nachfrage auf eine Preissenkung elastisch reagiert.
Lösung zu Fallbeispiel 3.2.1 (vgl. S. 88)
Preiselastizität der Nachfrage bei Zucker und Juwelen
Die Nachfrage nach Juwelen ist elastisch (Eldir = 2,6), weil es sich um ein Luxusgut handelt. Bei einer Preiserhöhung um 5 % geht die nachgefragte Menge um 13 % (5 · 2,6) zurück. Der von den Nachfragern insgesamt für
Juwelen ausgegebene Geldbetrag (Preis · Menge) sinkt aufgrund der Steuer, weil die verkaufte Menge stärker zurückgeht, als der Juwelenpreis steigt. Die Nachfrage nach Zucker ist dagegen unelastisch (Eldir = 0,4), weil es sich
um ein Grundnahrungsmittel handelt. Bei einer Preiserhöhung um 5 % geht die nachgefragte Menge nur um
2 % (5 · 0,4) zurück. Der von den Konsumenten insgesamt für Zucker ausgegebene Geldbetrag (Preis · Menge)
steigt durch die Steuererhebung, weil der Zuckerpreis stärker steigt, als die verkaufte Menge sinkt. Da die Konsumausgaben für Zucker insgesamt höher sind als die für Juwelen, ist das Aufkommen der Zuckersteuer höher
als das der Juwelensteuer.
98
630398
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
5
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
Worum geht es in diesem Kapitel?
5.1 Was sind konjunkturelle
Schwankungen, woran
lassen sie sich erkennen und
welche Ursachen haben sie?
Stabilitäts- und Strukturprobleme
einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5.2 Was ist ein wirtschaftlicher
Strukturwandel, welche Ursachen
und welche Folgen hat er?
5.3 Welche Bereiche und Träger der Wirtschaftspolitik lassen sich unterscheiden?
Welche wirtschaftspolitischen Ziele lassen sich unterscheiden, wie wird die Zielerreichung festgestellt und welche
Beziehungen zwischen den Zielen gibt es?
Mit dem in diesem Kapitel erworbenen Wissen lässt sich beispielsweise folgendes Problem
lösen:
Beispiel
Fallbeispiel 5: Wirtschaftspolitische Ziele des Stabilitätsgesetzes
%
16
Arbeitslosenquote
Inflationsrate
Außenbeitrag
Wirtschaftswachstum
14
12
10
8
6
4
2
0
–2
–4
–6
68
70
72
74
76
78
80
82
84
86
88
90
92
94
96
98
00
02
04
06
08
10
12
Jahr
Arbeitslosenquote: Arbeitslose in % der abhängigen Erwerbspersonen (ohne Soldaten)
Wirtschaftswachstum: Wachstumsraten des realen BIP
Inflationsrate: Veränderung des Verbraucherpreisindex
Außenbeitragsquote: Anteil des Außenbeitrags (Exporte – Importe) am nominalen BIP
Stellen Sie fest, welche in § 1 des Stabilitätsgesetzes formulierten wirtschaftspolitischen Ziele in den einzelnen
Jahren seit 1967 nicht erreicht wurden.
Erläuterungen und Lösung siehe Seite 178/179.
6303169
169
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
5.1
Konjunkturelle Schwankungen
5.1.1
Konjunkturzyklus
Die wirtschaftliche Entwicklung der meisten Volkswirtschaften verläuft nicht stetig, sondern im Wechsel zwischen Wirtschaftskrisen und Phasen der Wohlstandssteigerung.
Bereits in der Bibel ist die Rede von sieben Jahren des Überflusses in Ägypten, denen sieben magere Jahre
folgen sollen.1 Auch in den entwickelten Volkswirtschaften der Neuzeit weist die Wirtschaftsentwicklung
Schwankungen auf. Neben den jahreszeitlich bedingten Saisonschwankungen (z. B. im Baugewerbe, in der
Landwirtschaft und im Einzelhandel) lassen sich auch mittelfristige Schwankungen feststellen, die sich über
mehrere Jahre erstrecken und die gesamte Volkswirtschaft erfassen. Diese Schwankungen werden als konjunkturelle Schwankungen bezeichnet.
Die in gewisser Regelmäßigkeit auftretenden mehrjährigen Auf- und Abwärtsbewegungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten einer Volkswirtschaft werden als Konjunktur bezeichnet.
Aufgabe
5.1, S. 185
Als Messgrößen für die gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten einer Volkswirtschaft dienen häufig entweder
das reale Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen und seine Veränderung (Wachstumsraten) oder der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials2.
Obwohl in der Realität keine strenge Abfolge der konjunkturellen Schwankungen feststellbar ist, wird in der
Konjunkturtheorie häufig von einem idealtypischen Konjunkturzyklus (von Punkt A bis E in der Abb. auf
S. 171) ausgegangen, der aus folgenden vier Konjunkturphasen besteht:
y (1) Boom (Hochkonjunktur)
Das Produktionspotenzial wird über das normale Maß hinaus ausgelastet (Überbeschäftigung mit Überstunden, Sonderschichten u. Ä.). In einigen Wirtschaftsbereichen kommt es zu Produktionsengpässen.
Die Zuwachsraten des BIP werden geringer. Die zu Beginn noch optimistischen Zukunftserwartungen verschlechtern sich zunehmend.
y (2) Abschwung (Abschwächung/Entspannung)
Nach Überschreiten des Hochpunktes sinken der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials und die Investitionstätigkeit. Der Auslastungsgrad des Produktionspotenzials liegt aber immer noch über dem Durchschnitt. Das BIP wächst nicht mehr. Die Zukunftsaussichten werden pessimistisch beurteilt.
y (3) Rezession3 (Depression)
Die Produktionskapazitäten sind nur unterdurchschnittlich ausgelastet (Unterbeschäftigung). Die Investitionstätigkeit nimmt weiter ab. Üblicherweise wird von Rezession gesprochen, wenn das reale BIP in
mindestens zwei aufeinander folgenden Quartalen im Vergleich zum Vorquartal sinkt.
y (4) Aufschwung (Erholung)
Diese Phase folgt nach der Überwindung einer vorangegangenen Krise (Tiefpunkt). Der Auslastungsgrad
des Produktionspotenzials und die Investitionstätigkeit nehmen zu, liegen aber noch unter dem Durchschnitt. Die Wachstumsraten des BIP steigen. Die Zukunftsaussichten werden optimistisch beurteilt.
1 Altes Testament, Buch Genesis, Der Traum des Pharao und seine Deutung, Kapitel 41, Vers 17–36.
2 Dieser Maßstab wird u. a. vom Sachverständigenrat verwendet. Vgl. SVR, Jahresgutachten 1998/99, S. 66.
3 Zuweilen wird auch die Abschwungphase bereits als Rezession bezeichnet.
170
6303170
Konjunkturelle Schwankungen
5
power
point
Idealtypischer Konjunkturzyklus
reales BIP,
Produktionspotenzial
C
po
ktions
Produ
l
tenzia
D
B
Trend
des
stung
Ausla nzials
le
a
norm ionspote
kt
Produ
reales
BIP
E
A
Aufschwung
Boom
(Hochkonjunktur)
Abschwung
(Entspannung)
Konjunkturzyklus
Rezession
(Depression)
Zeit
Die Dauer eines Konjunkturzyklus in der Bundesrepublik Deutschland schwankt erheblich. Auffallend ist,
dass in allen Konjunkturzyklen seit 1950 die Höhe der Wachstumsraten des Inlandsprodukt jeweils niedriger
ist als in den vorhergehenden Zyklen.
6303171
171
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Konjunkturzyklen in Deutschland
von
bis
Konjunkturphase
von
bis
Konjunkturphase
1963
1965
Boom
Anfang 1988
Ende 1991
Boom
1965
1967
Rezession
1992
1993
Rezession
Mitte 1967
1970
Aufschwung
Anfang 1994
Ende 1994
Aufschwung
1970
Ende 1971
Mini-Rezession
Anfang 1995
Anfang 1997
Mini-Rezession
Anfang 1972
Mitte 1973
Boom
Anfang 1997
Anfang 1998
Aufschwung
Mitte 1973
Mitte 1975
Rezession
Anfang 1998
Mitte 1999
Mini-Rezession
Mitte 1975
Ende 1976
Aufschwung
Mitte 1999
2002
Aufschwung
Ende 1976
Anfang 1978
Mini-Rezession
2002
2004
Rezession
Anfang 1978
Ende 1979
Boom
2005
Mitte 2008
Aufschwung
Anfang 1980
Ende 1982
Rezession
2009
Ende 2009
starke Rezession
Ende 1982
Ende 1985
Aufschwung
2010
2011
Aufschwung
Anfang 1986
Mitte 1987
Mini-Rezession
2011
?
Abschwächung
5.1.2
Aufgabe
5.2, S. 185
Konjunkturindikatoren
Konjunkturforscher und Wirtschaftspolitiker sind daran interessiert, die jeweils aktuelle Phase des Konjunkturverlaufs zu bestimmen und Voraussagen über die erwartete Entwicklung machen zu können. Da sich
die einzelnen Konjunkturphasen nicht nur in den Wachstumsraten des BIP und dem Auslastungsgrad des
Produktionspotenzials widerspiegeln, werden solche Konjunkturdiagnosen und Konjunkturprognosen auf der
Grundlage eines Systems verschiedener Konjunkturindikatoren vorgenommen.
Konjunkturindikatoren sind Messgrößen, die die gegenwärtige Konjunkturphase anzeigen (Konjunkturdiagnose) und Voraussagen über die voraussichtliche Entwicklung zulassen (Konjunkturprognose).
Internet
www.
Aktuelle Zahlen:
www.bundesbank.de
Es werden drei Gruppen von Konjunkturindikatoren unterschieden, die sich in den vier Konjunkturphasen
unterschiedlich entwickeln.
y Frühindikatoren: dienen als Grundlage für die Prognose des weiteren Konjunkturverlaufs, z. B. Auftragseingang, Lagerhaltung, Geschäftserwartung (Geschäftsklimaindex), Baugenehmigungen, Konsumbereitschaft,
Geldmenge, Einzelhandelsumsätze, Zinsstruktur (= Differenz zwischen kurz- und langfristigen Zinsen), Börsenkurse
y Gegenwartsindikatoren: reagieren ohne zeitliche Verzögerung auf Konjunkturänderungen, z. B. reales BIP
(insbesondere die Produktion von Konsum- und Investitionsgütern), Kapazitätsauslastung, Produktivität,
Kreditnachfrage
y Spätindikatoren: reagieren mit zeitlicher Verzögerung auf Konjunkturänderungen, z. B. Preise, Beschäftigung (Arbeitslosenquote, offene Stellen), Löhne, Zahl der Insolvenzen
Indikatoren
Frühindikatoren
(z. B. Auftragseingang)
Gegenwartsindikatoren
(z. B. Produktion)
Boom
schnell steigend
steigend
schnell steigend
Abschwung
schnell fallend
fallend
langsam fallend
langsam fallend
langsam fallend
langsam fallend, konstant
steigend
langsam steigend
konstant, langsam steigend
Konjunkturphasen
Rezession
Aufschwung
172
Spätindikatoren
(z. B. Preise)
6303172
Konjunkturelle Schwankungen
5.1.3
5
Ursachen der Konjunkturzyklen
Es gibt keine einheitliche Konjunkturtheorie, mit der die zyklische Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen
Aktivität erklärt werden könnte. Vielmehr werden konjunkturelle Schwankungen durch das Zusammenwirken
unterschiedlicher Verursachungsfaktoren ausgelöst. Bei der Vielzahl der sich teilweise gegenseitig widersprechenden Erklärungsansätze lassen sich u. A. folgende Gruppen unterscheiden:
y Monetäre Theorien:
Die Konjunkturzyklen werden in erster Linie auf monetäre Faktoren (Geldmengen- und Zinsveränderungen)
zurückgeführt. Demnach führt eine Ausdehnung der Geldmenge und die sich daraus ergebende Erhöhung
des Kreditvolumens zu einem Aufschwung. Dieser Prozess hält so lange an, bis die steigende Nachfrage
aufgrund der ausgelasteten Kapazitäten nicht mehr befriedigt werden kann. Wenn die Zentralbank die sich
dann ergebende Preisniveausteigerung durch eine Begrenzung des Geldmengenwachstums stoppen will,
wird ein Konjunkturabschwung eingeleitet.
y Überinvestitionstheorien:
Die Rezession wird mit der übermäßigen Ausdehnung des Investitionsgütersektors im Konjunkturaufschwung erklärt. Die Produktionskapazitäten werden demnach möglicherweise über das zur Befriedigung
der steigenden Konsumgüternachfrage nötige Maß hinaus vergrößert. Der Abbau der Überkapazitäten leitet nach dieser Auffassung den Konjunkturabschwung ein.
y Unterkonsumtionstheorien:
Die Rezession wird als Folge einer ungleichgewichtigen Entwicklung zwischen Konsum- und
Investitionsgüterindustrie im Aufschwung erklärt.
Die Ausdehnung der Produktionskapazitäten ermöglicht eine Erhöhung der Konsumgüterproduktion. Im Boom bleibt aber die Konsumgüternachfrage hinter den Produktionsmöglichkeiten zurück,
da Löhne und Gehälter nicht in gleichem Ausmaß
steigen wie die Güterpreise und Gewinne. Es fehlt
den privaten Haushalten an Kaufkraft, sodass die zu
geringe Nachfrage den Abschwung einleitet. Diese
Situation wird durch eine ungleiche Einkommensverteilung verschärft, indem die Bezieher hoher (Kapital-)Einkommen wegen ihrer hohen Sparquote zu
wenig Konsumgüter nachfragen. Dadurch wird der
Abschwung verstärkt.
y Exogene (außerwirtschaftliche) Theorien:
Diese Theorien sehen die Ursachen der konjunkturellen Schwankungen in Faktoren, die nicht direkt
durch das Wirtschaftsgeschehen beeinflusst werden.
Dazu gehören beispielsweise Naturkatastrophen,
Kriege, Erfindungen, Entdeckungen neuer Rohstoffquellen und optimistische bzw. pessimistische
Zukunftserwartungen (psychologische Konjunkturtheorien). Daneben wird auch versucht, einen
Zusammenhang zwischen Wahl- und Konjunkturzyklen herzuleiten (politische Konjunkturtheorien). Demnach sind die von demokratischen Regierungen in
Zusammenhang mit ihren Bemühungen um eine Wiederwahl ergriffenen Maßnahmen (Wahlversprechen
und Wahlgeschenke) Ursache für Konjunkturschwankungen.
Neben diesen verbalen Erklärungsansätzen gibt es auch zahlreiche Versuche zu modelltheoretischen Konjunkturerklärungen, indem konjunkturelle Schwankungen im Rahmen mathematischer Modelle nachempfunden werden.
6303173
173
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
5.2
Kapitel
1.4.3
Kapitel
2.4.2
Strukturwandel1
In jeder entwickelten Volkswirtschaft lassen sich die Wirtschaftsbereiche Landwirtschaft (primärer Sektor), industrielle Produktion (sekundärer Sektor) und Dienstleistungen (tertiärer Sektor) unterscheiden. Im Laufe der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unterliegen diese drei Sektoren erheblichen Wandlungen. Dies wird u.a.
an der Veränderung der Wertschöpfung der einzelnen Sektoren und ihrem sich daraus ergebenden Beitrag
zum Inlandsprodukt sowie an der Zahl der Beschäftigten deutlich.
Mit Strukturwandel wird die Veränderung der Bedeutung einzelner Wirtschaftssektoren während des
wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses bezeichnet (= Änderung der sektoralen Wirtschaftsstruktur).
Aufgabe
5.3, S. 186
Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung nahm auch in Deutschland zunächst die Bedeutung der Landwirtschaft zugunsten des Industriesektors mehr und mehr ab (Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft im
19. Jahrhundert). Seit ca. 1980 bleibt wiederum der Industriesektor im Hinblick auf Wertschöpfung und Beschäftigtenzahlen hinter dem Dienstleistungssektor zurück (Dienstleistungsgesellschaft). Dieses für nahezu
alle Volkswirtschaften typische Muster wird als Dreisektorenhypothese2 bezeichnet.
Diese auch als „Weg in die Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnete Entwicklung hat insbesondere zwei
Ursachen:
y Mit zunehmendem Einkommen steigt die Nachfrage nach Dienstleistungen (z. B. Gesundheitswesen, Freizeitsektor, Beratung bei Geldanlagen) stärker als die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und industriellen
Produkten. Anders formuliert: Die Einkommenselastizität der Nachfrage steigt erfahrungsgemäß mit zunehmendem Einkommen. Eine Einkommenserhöhung um 1 % führt dann zu einer Nachfrageerhöhung nach
Dienstleistungen um weit mehr als 1 %. Bei Dienstleistungen ist dies besonders stark ausgeprägt.
y Die Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung durch technischen Fortschritt sind im Dienstleistungsbereich
geringer als in den anderen Sektoren. Dienstleistungen sind arbeits- und personalintensiv. Rationalisierung ist
nur bedingt möglich. Dies hat einen vergleichsweise stärkeren Arbeitskräfteanteil dieses Sektors zur Folge.
Eine weitere Aufgliederung der Sektoren in einzelne Branchen und Regionen zeigt, dass Strukturverschiebungen auch innerhalb der Branchen und Regionen auftreten.
Außerdem ist der Strukturwandel nicht auf die zunehmende Dienstleistungsorientierung beschränkt. Auch
in anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen vollziehen sich weitreichende strukturelle Änderungen, die sich teilweise gegenseitig bedingen. Dabei sind u. A. folgende weitere Trends feststellbar:
y Informatisierung, d. h. Durchdringung nahezu aller Arbeitsbereiche durch die Anwendung EDV-gestützter
Techniken. Wenn zusätzlich zu den drei traditionellen Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen ein vierter Sektor „Information“ (Kommunikationsmittel, Nachrichten, Medien u. Ä.) berücksichtigt
wird, zeigen die Prognosen für das Jahr 2010, dass in Deutschland in diesem vierten Sektor ca. 55 % der
Beschäftigten tätig sein werden. Die „Informatisierung“ der Arbeitswelt stellt zugleich höhere Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte.
Kapitel
9.6
Kapitel
8.3.5
y Internationale Arbeitsteilung: Die als Globalisierung bezeichneten zunehmenden internationalen Handels- und Kapitalverflechtungen führen u. a. zu Produktionsverlagerung bestimmter Branchen in sogenannte „Billiglohnländer“. Andererseits werden aber auch Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften (z. B.
aus den neuen EU-Ländern nach Deutschland) ausgelöst. Auch aus diesen Entwicklungen ergeben sich
zunehmend höhere Qualifikationsanforderungen für die in Deutschland beschäftigten Arbeitskräfte.
y Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung: Die Bevölkerungsstruktur wird durch Zuwanderung sowie
Geburten- und Sterberate beeinflusst. Der sich in dieser Hinsicht abzeichnende Strukturwandel führt voraussichtlich dazu, dass die Wohnbevölkerung in Deutschland innerhalb der nächsten 50 Jahre von derzeit
ca. 82 Mio. auf ca. 75 Mio. schrumpfen wird. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass sich das
1 Siehe dazu auch die Kapitel 1.4.3 Arbeitsteilung und 2.4.2 Entstehung und Verwendung des Inlandsprodukts, Verteilung des Volkseinkommens
2 Diese Bezeichnung stammt von dem französischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Jean Fourastié (1907–1990), der Untersuchungen über die langfristige Entwicklung moderner Volkswirtschaften vorgenommen hat.
174
6303174
Strukturwandel
5
zahlenmäßige
Verhältnis
zwischen alten und jungen
Menschen drastisch zulasten
der Jüngeren verschiebt. Dies
hat schwerwiegende Konsequenzen für die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung und insbesondere
für die gesetzliche Rentenversicherung, die auf dem
sogenannten Generationenvertrag beruht. Dieses Muster
der Bevölkerungsentwicklung
ist in nahezu allen fortgeschrittenen Industriestaaten
zu beobachten und beruht
auf folgender typischen Entwicklung: Die Zahl der Geburten je Frau sinkt und die
Lebenserwartung der Bevölkerung steigt mit zunehmendem materiellen Wohlstand eines Landes.
Auf dem Arbeitsmarkt gehen diese Entwicklungen und Anpassungsprozesse mit einem Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit einher. Je mehr sich der Strukturwandel der Wirtschaft beschleunigt, desto geringer
werden die Chancen von Arbeitskräften mit geringer Qualifikation, eine Beschäftigung zu finden. Der Trend
zu wachsender struktureller Arbeitslosigkeit zeigt sich in einer hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen und
einem hohen Anteil von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung unter den Arbeitsuchenden.
Sturkturwandel in Nordrhein-Westfalen
In Nordrhein-Westfalen waren
Kohleförderung und Stahlproduktion lange die wichtigsten
Wirtschaftszweige.
Noch
1970 trug das produzierende
Gewerbe (Energie, Bergbau,
Industrie, Bau) ca. 56 % zur
Bruttowertschöpfung
des
Landes bei. Die Folgen der
Kohle- und Stahlkrise und
deren negative Auswirkungen
auf den Arbeitsmarkt leiteten
einen Umstrukturierungsprozess ein, der dazu führte, dass
im Jahre 2002 lediglich noch
27 % der Bruttowertschöpfung auf das produzierende
Gewerbe entfielen. Andererseits hat sich der Anteil des Dienstleistungssektors im gleichen Zeitraum von 42 % auf fast 72 % erhöht. Dies
schlug sich auch in einer entsprechenden Änderung der Beschäftigungsstruktur nieder. Nordrhein-Westfalen
trägt mit mehr als 20 % zur gesamten Wirtschaftsleistung in Deutschland bei. Es ist damit das wirtschaftlich
stärkste Bundesland.
6303175
175
Kapitel
8.2.3
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Erwerbstätige in NRW 1970–2010 in Mio.
Jahr
Produzierendes Gewerbe
Dienstleistungssektor
1970
3,8
2,9
1980
3,4
3,8
1990
3,0
4,5
2000
2,3
5,8
2005
2,4
5,2
2010
2,0
6,6
Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik, NRW
Bevölkerungsentwicklung in NRW
Bis zum Jahr 2025 wird die Bevölkerung in NRW landesweit von 18,075 Millionen auf rund 17,608 Millionen zurückgehen (– 2,6 Prozent). Der Grund für diese Entwicklung liegt zum einen in der Abnahme
der Geburtenzahlen; sie werden sich bis zum Jahr 2025 um 4 Prozent verringern. Zum anderen wird es
gleichzeitig eine Zunahme der Sterbefälle geben; sie steigen bis 2025 um 11 Prozent. Nordrhein-Westfalen liegt damit im Bundestrend. Erfreulich ist, dass in immerhin sechs kreisfreien Städten und zwölf
Kreisen ein Zuwachs prognostiziert ist. Bei den kreisfreien Städten liegt Aachen vorn (+ 9,6 Prozent
bis 2025), gefolgt von Bonn (+ 9,5 Prozent), Köln (+ 8,4 Prozent), Düsseldorf (+ 2,7 Prozent), Bielefeld
(+ 2,5 Prozent) und Münster (+ 2,4 Prozent).
Neben dem sich abzeichnenden leichten Einwohnerrückgang in NRW weist die Vorausschätzung auf
eine deutliche Verschiebung der Altersstruktur der Bevölkerung hin. Die bereits in den letzten Jahren
zu beobachtende Tendenz, dass der Anteil der 65-Jährigen und Älteren stetig steigt, wird sich auch
in Zukunft fortsetzen. Die rund 3,8 Millionen unter 20-Jährigen hatten 2005 noch einen Anteil von
21,1 Prozent an der NRW-Bevölkerung, der bis 2025 auf 17,5 Prozent fällt.
Quelle: Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen; www.nrw.de/presse/neue-vorausberechnung-der-bevoelkerungsentwicklung-in-nrw-bevoelkerung-schrumpft-bis-2025-auf-17-6-millionen-einwohner-aber-zuwachs-in-sechs-staedtenund-zwoelf-kreisen-1218/ (Abruf: 25.08.2011)
Der Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen wird auch künftig dazu führen, dass die Bedeutung des sekundären Sektors zugunsten des tertiären Sektors weiter abnimmt. Seit ca. 1980 wird die staatliche Subventionierung der im Vergleich zu anderen Energieträgern teuren Steinkohle mehr und mehr zugunsten von
Umstrukturierungsmaßnahmen abgebaut.
176
6303176
Ziele der Wirtschaftspolitik
5
5.3
Ziele der Wirtschaftspolitik
5.3.1
Ziele des Stabilitätsgesetzes
In der Grundkonzeption der sozialen Marktwirtschaft wird Wirtschaftspolitik vor allem als Ordnungspolitik
verstanden. Kernstück ist die Verwirklichung und Sicherung der Wettbewerbsordnung, ergänzt um eine
vornehmlich auf der Geldpolitik der Zentralbank beruhende Konjunkturpolitik und eine auf die Korrektur der
Marktergebnisse gerichtete Sozialpolitik. Daran orientierte sich die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik
Deutschland bis Mitte der 60er-Jahre weitgehend.
Mit dem 1967 erlassenen „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (Stabilitätsgesetz) vollzog sich ein deutlicher Wandel von der bis dahin vorherrschenden Ordnungspolitik zur
Prozesspolitik. Der Einfluss des Staates nahm zu, was sich u. a. in einer aktiven staatlichen Konjunkturpolitik
(Fiskalpolitik) äußerte. Im Stabilitätsgesetz sind neben den folgenden Zielen auch die Instrumente der
Fiskalpolitik1 umrissen.
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht
Stabilität des Preisniveaus
Hoher Beschäftigungsstand
Außenwirtschaftliches
Gleichgewicht
Stetiges und angemessenes
Wirtschaftswachstum
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft
vom 8. Juni 1967 (Stabilitätsgesetz)
§ 1 [Erfordernisse der Wirtschaftspolitik] Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die
Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur
Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.
1967 wurde das Grundgesetz wie folgt ergänzt:
Art. 109 (2) Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen.
Um überprüfen zu können, ob die Ziele erreicht wurden, muss jedes Ziel operationalisiert, d. h. in folgender
Hinsicht präzisiert werden:
y Zuordnung von Indikatoren (messbare Ereignisse), die den Zielerreichungsgrad anzeigen
y Formulierung des Ziels in zahlenmäßiger Form
y Festlegung des Zeitraums, innerhalb dessen das Ziel erreicht werden soll
Finanzminister Strauß (CSU) und Wirtschaftsminister Schiller (SPD) setzen zur
Wiederankurbelung der Wirtschaft das
„Stabilitätsgesetz“ ein.
1 Fiskus (lat.): Staatskasse, Staat; Fiskalpolitik: finanzpolitische Maßnahmen (Einnahmen- und Ausgabenpolitik) des Staates im Rahmen der Konjunktur- und
Wachstumspolitik
6303177
177
Kapitel
7.2.2
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Ziel
Indikator
(Messgröße)
Ziel gilt als erreicht,
wenn …
Zielvorgaben der EZB
bzw. der Regierung für
2007 – 20111
Zielerreichung
im Jahr
2007–20112
Stabilität des
Preisniveaus
Verbraucherpreisindex (vgl. 6.3.2)
am Verbraucherpreisindex
gemessene Preisniveausteigerung (Inflationsrate)
unter, aber nahe bei 2 %
< 2 % (2007)
< 2 % (2008)
< 2 % (2009)
< 2 % (2010)
< 2 % (2011)
2,3 % (2007)
2,6 % (2008)
0,4 % (2009)
1,1 % (2010)
2,3 % (2011)
Hoher
Beschäftigungsstand
Arbeitslosenquote
(vgl. 9.1)
Arbeitslosenquote ≤ 3 %
9,6 % (2007)
8,2 % (2008)
8,4 % (2009)
8,9 % (2010)
7,0 % (2011)
9,0 % (2007)
7,8 % (2008)
8,1 % (2009)
7,7 % (2010)
7,1 % (2011)
Außenwirtschaftliches Gleichgewicht
Anteil des Außenbeitrags am BIP
in %
positiver Außenbeitrag
1,5 % bis 2 % des
nominalen BIP (siehe
Erläuterung)
5,0 % (2007)
7,0 % (2008)
5,0 % (2009)
4,6 % (2010)
5,0 % (2011)
7,1 % (2007)
6,2 % (2008)
5,0 % (2009)
5,5 % (2010)
5,1 % (2011)
Stetiges und
angemessenes
Wirtschaftswachstum
Zuwachsrate des
realen BIP
gleichmäßiges Wachstum
in angemessener Höhe
(für deutliche Beschäftigungseffekte gelten 3 %
als nötig)
1,7 % (2007)
1,7 % (2008)
– 6,0 % (2009)
1,4 % (2010)
2,3 % (2011)
2,5 % (2007)
1,3 % (2008)
– 5,1 % (2009)
3,7 % (2010)
3,0 % (2011)
Internet
www.
Aktuelle Zahlen:
www.destatis.de
Erläuterung zum Ziel „Außenwirtschaftliches Gleichgewicht“: Das Ziel und der Maßstab (Anteil des Außenbeitrags am BIP) stammen aus der Zeit fester Wechselkurse. Durch erhebliche Ausfuhrüberschüsse wurde
nämlich in den 50er- und 60er-Jahren die Konjunktur zeitweise überhitzt. Seit der Aufhebung der festen
Wechselkursbindung an den Dollar (1973) besteht für feste Zielvorgaben keine Notwendigkeit mehr. Maßstab und Definition des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts im Sinne eines wirtschaftspolitischen Ziels
sind seitdem unklar. Das Ziel gilt allgemein dann als erreicht, wenn von außenwirtschaftlichen Beziehungen
keine nachteiligen Wirkungen auf die Binnenwirtschaft (Hoher Beschäftigungsstand, Preisniveaustabilität
und angemessenes Wirtschaftswachstum) ausgehen.
Erläuterung zum Ziel „Stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum“: Ein stetiges Wirtschaftswachstum ist u. a. wegen der andernfalls eintretenden Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotenzials und damit zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Inflation sinnvoll. Was unter „angemessenem“
Wirtschaftswachstum zu verstehen ist, ist schwer zu definieren. In den 70er-Jahren galten jährliche Wachstumsraten von 4 % als angemessen. Heute erscheinen schon allein aus beschäftigungspolitischen Gründen
mindestens 2 % als nötig, aber nur in Ausnahmejahren (wie beispielsweise 2006 und 2007) erreichbar. Zu
berücksichtigen ist, dass sich bei einem jährlichen Wachstum von 4 % die Produktionsmenge in 17 Jahren
und bei 2 % in 35 Jahren verdoppeln würde.
Lösung zu Fallbeispiel 5 (vgl. S. 169)
Wirtschaftspolitische Ziele des Stabilitätsgesetzes
Stabilität des Preisniveaus: Ende der 60er-Jahre stieg die Inflationsrate stark an. Aufgrund der Ölkrisen
1973/74 und 1979 erreichte sie danach jeweils mit 7 % bzw. 6,3 % den höchsten Stand der Nachkriegszeit.
Danach sank sie und bewegte sich zwischen 1983 und 1989 unter 2,5 %. Im Zusammenhang mit der deutschen
Wiedervereinigung kam es zu einem erneuten Anstieg. Seit 1995 bewegt sie sich auf einem unbedenklichen
Niveau unter 2 %.
1 Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Jahreswirtschaftsbericht 2011;
2 Quelle: Stat. Bundesamt, März 2012.
178
6303178
Ziele der Wirtschaftspolitik
5
Hoher Beschäftigungsstand: Sprunghafter Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Wirtschaftskrisen 1974/75 und
1980–1982. In den nachfolgenden Phasen ist es nicht gelungen, die Arbeitslosenquote nachhaltig zu senken.
Stattdessen hat sie sich auf einem hohen Niveau (2005: 11,7 %) stabilisiert (Sockelarbeitslosigkeit) und und
nahm 1997 und 2003 besonders hohe Ausmaße an. Die Zielgröße von ≤ 3 % wurde seit 1974 nicht mehr
erreicht.
Außenwirtschaftliches Gleichgewicht: Der Anteil des Außenbeitrags am nominalen BIP schwankt zwischen
– 0,5 % (1980) und 7,1 % (2007). Der enorme Rückgang ab 1991 war vor allem auf die deutsche Wiedervereinigung zurückzuführen. Ein Teil der früher als Exporte ausgewiesenen Güterströme floss jetzt im Rahmen des
Binnenhandels in die neuen Bundesländer. Gleichzeitig entstand durch die Erweiterung des Binnenmarktes ein
erheblicher Importsog. In den meisten Jahren vor 1991 lag der Anteil des Außenbeitrags am BIP sogar über
der Zielgröße von 1,5 % bis 2 % und trug damit positiv zu Wachstum und Beschäftigung bei. Dies war auch ab
2002 der Fall. Darin kommt die starke Exportorientierung der deutschen Wirtschaft zum Ausdruck.
Stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum: Das Ziel wurde in den Jahren zwischen 1966/67 (erste
starke Rezession der Nachkriegszeit) und 1974 (erste Ölkrise) mit Wachstumsraten zwischen 3,1 % (1971) und
7,5 % (1969) weitgehend erfüllt. Nach der zweiten Ölkrise 1979 folgte bis 1982 eine Phase mit stagnierenden
oder sogar rückläufigen Wachstumsraten. Nach 1983 begann eine längere Phase mit gemäßigten Wachstumsraten, die zwischen 1,5 % (1987) und 3,7 % (1989) lagen. Nach dem „Wiedervereinigungsboom“ 1990 mit
Wachstumsraten von über 5 % ging das Wirtschaftswachstum stark zurück. Seitdem bewegen sich die Wachstumsraten im Durchschnitt unter 2 %, 1993 und 2003 waren sie sogar negativ. 2006 stieg die Wachstumsrate
überraschend stark auf 2,7 % an und sank 2007 nur leicht auf 2,5 %. 2009 kam es aufgrund der weltweiten
Wirtschaftskrise zu einem dramatischen Rückgang um 5 %, was gleichzeitig den stärksten Einbruch seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland bedeutete. Das Ziel des stetigen Wirtschaftswachstums konnte nicht
erreicht werden, da die Wachstumsraten zwischen – 5,0 % (2009) und 7,5 % (1969) schwankten.
Das Stabilitätsgesetz von 1967 nennt vier wirtschaftspolitische Ziele: Stabilität des Preisniveaus,
hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum.
Neben den vier im Stabilitätsgesetz enthaltenen
quantitativen Zielen, die sich zahlenmäßig formulieren und überprüfen lassen, sind an anderer
Stelle auch die qualitativen Ziele „Gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung“ und „Erhalt
einer lebenswerten Umwelt (Umweltschutz)“ genannt. Für diese Ziele kann lediglich die Zielrichtung, nicht aber eine messbare Beschreibung des
derzeitigen und des angestrebten Zustands angegeben werden.
power
point
Magisches Sechseck
Stabilität
des
Preisniveaus
außenwirtschaftliches
Gleichgewicht
gerechte
Einkommens- und
Vermögensverteilung
hoher
Beschäftigungsstand
Kapitel
8.3
stetiges
und angemessenes
Wirtschaftswachstum
8.4
Aufgabe
5.4, S. 186
Erhalt
einer lebenswerten
Umwelt
Weitere wirtschaftspolitische Ziele sind: gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung sowie
Erhalt einer lebenswerten Umwelt (Umweltschutz).
6303179
Kapitel
179
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
5.3.2
Beziehungen zwischen wirtschaftspolitischen Zielen
Zielbeziehungen
Zielharmonie
(Kompatibilität, Komplementarität)
Maßnahmen zur Erreichung eines Ziels begünstigen gleichzeitig auch die Erreichung
eines anderen Ziels.
Zielkonflikt
(Inkompatibilität, Konkurrenz)
Zielindifferenz
(Neutralität)
Maßnahmen zur Erreichung eines
Ziels behindern gleichzeitig die
Erreichung eines anderen Ziels.
Maßnahmen zur Erreichung eines
Ziels beeinflussen die Erreichung eines
anderen Ziels nicht.
Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Wirtschaftswachstum
Die Beziehung zwischen den Zielen Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung gilt grundsätzlich als harmonisch. Mit der Ausweitung der Produktion und der dadurch bedingten Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigt tendenziell auch die Beschäftigung und umgekehrt.
Es besteht jedoch kein direkter Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in dem
Sinne, dass z. B. 1 % Wachstum zu 1 % mehr Beschäftigung führt. Für die USA wurde vielmehr empirisch von
A. OKUN nachgewiesen, dass im Durchschnitt das reale BIP um 3,2 % steigt, wenn die Arbeitslosenquote
um einen Prozentpunkt abnimmt (OKUN’sches Gesetz). Dies ist u. a. dadurch bedingt, dass die Produktionssteigerung nach einer Phase der Unterbeschäftigung zunächst durch Abbau von Kurzarbeit, Erhöhung der
Arbeitsproduktivität und Einführung von Überstunden bewältigt wird.
Je nach Art und Ursache der Arbeitslosigkeit kann aber trotz eines stetigen Wirtschaftswachstums eine hohe
„Sockelarbeitslosigkeit“ bestehen bleiben (jobless growth).
Konjunktur gewinnt an Fahrt
Frühjahrsprognose der OECD für 2010 und 2011
Durchschnitt
USA
2008 ’09
’10
3,2
3,0
1,9
1,0
0
-1,2
0,4
’11
2008 ’09
3,2 10
-5,2
Quelle: OECD, Mai 2010
180
2008 ’09
’11
8,9
2,0
7,2
7,4
7,6
8,0
4,9
’11
0
6,0
2008 ’09
0,0
2,8
3,3
’10
’11
7,2 -2,1
-3,3
5,0
3,3
5,1
’10
Haushaltsdefizit
in % des BIP
8
6,7
3,5
-5,4
-6,5
4,7 0
-7,2
-7,6
4,0
-4,5
-8,3
-2,9
-4,9
-4,9
-6
’10
9,7
2,1
5,8
-2,4
9,3
Deutschland
Leistungsbilanz
Überschuss (+) bzw.
Defizit (-) in % des BIP
Arbeitslose
in % aller
Erwerbspersonen
Bruttoinlandsprodukt
Veränderung gegenüber Vorjahr in %
4
Japan
0
-6
-8,9
-3,8
-4,0
-12
-11,0
-10,7
© Globus
3550
6303180
Ziele der Wirtschaftspolitik
5
In Deutschland muss das Wirtschaftswachstum mehr als 2 % betragen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Ursache wird in den „strukturellen“ Arbeitsmarkthemmnissen gesehen. Damit ist u. a. der Kündigungsschutz gemeint: Trotz verbesserter Auftragslage stellen die Unternehmen keine neuen Mitarbeiter ein, weil
sie befürchten, diese bei schlechterer Auftragslage nicht mehr entlassen zu können. Andererseits werden
auch die unflexiblen Tarifverträge kritisiert: Es besteht bei den Lohnverhandlungen wenig Spielraum, um auf
regionale und branchenspezifische Unterschiede mit niedrigeren Lohnabschlüssen zu reagieren.
Kapitel
8.2
Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Preisniveaustabilität
In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird manchmal ein Zielkonflikt zwischen Beschäftigung und Preisniveaustabilität behauptet.
Modifizierte Phillips-Kurve
Inflationsrate
(wp) in %
Lohnsteigerungsrate
(wl) in %
6%
9%
3%
6%
0%
3%
Arbeitslosenquote
(ALQ) in %
0%
Diese Auffassung geht auf die 1958 veröffentlichten empirischen Untersuchungen des englischen Statistikers A. W. PHILLIPS zurück. Grafisch lässt sich dieser Zusammenhang in Form der sogenannten modifizierten
PHILLIPS-Kurve darstellen. Bei hohem Beschäftigungsstand können die Arbeitnehmer Lohnsteigerungen
leichter durchsetzen als bei Unterbeschäftigung. Aufgrund der Annahme, dass Lohnsteigerungen, die über
den Produktivitätsfortschritt hinausgehen, zu Preissteigerungen führen, kann demnach ein höherer Beschäftigungsstand (d. h. eine geringere Arbeitslosenquote) nur durch eine höhere Inflationsrate erkauft werden.
Ein anderer Erklärungsansatz besagt, dass ein hoher Beschäftigungsstand mit einer hohen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage einhergeht, die wiederum eine Sogwirkung auf die Preise entfaltet.
Der behauptete Konflikt zwischen Beschäftigung und Preisniveaustabilität ist kurzfristig für den Fall konjunktureller Arbeitslosigkeit und nachfragebedingter Inflation durchaus plausibel und empirisch nachweisbar.
Auf Dauer besteht für die Wirtschaftspolitik aber keine Wahlmöglichkeit zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, da eine Verbesserung der Beschäftigungssituation nicht durch eine höhere Inflationsrate erkauft werden
kann. Vielmehr lassen sich theoretisch und empirisch auch als Stagflation bezeichnete gesamtwirtschaftliche
Zustände nachweisen, in denen weder Preisniveaustabilität noch Vollbeschäftigung herrscht.
Magisches Vieleck als Problem der Wirtschaftspolitik
Die vielfältigen Zielbeziehungen lassen es nicht zu, dass alle Ziele – wie im Stabilitätsgesetz gefordert –
gleichzeitig erreicht werden. Bezogen auf mögliche Konflikte zwischen den vier Zielen des Stabilitätsgesetzes
wird das Zielbündel daher auch als magisches Viereck bezeichnet. Die Berücksichtigung weiterer Ziele führt
zu einem magischen Vieleck. Zielkonflikte machen es nötig, dass die Wirtschaftspolitik Prioritäten setzt. Die
Entscheidung der Politiker über die Gewichtung und Rangfolge der anzustrebenden Ziele ist von Interessenstandpunkten abhängig und damit ein politisches Werturteil. In der Praxis wird meistens das Ziel am nachdrücklichsten verfolgt, das in der jeweiligen wirtschaftlichen Situation und der vermuteten künftigen Entwicklung am stärksten gefährdet ist. Das ist gegenwärtig in den meisten Ländern das Beschäftigungsziel.
Zwischen verschiedenen Zielen kann Harmonie, Konflikt oder Indifferenz bestehen. Werden miteinander in Konflikt stehende Ziele verfolgt, wird von einem magischen Vieleck gesprochen.
6303181
181
Kapitel
6.4.3
Kapitel
8.2.3
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Zusammenfassende Übersicht Kapitel 5: Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft
Indikatoren
Konjunktur
Frühindikatoren
z. B. Auftragseingang
Überinvestition und
Unterkonsumtion
Gegenwartsindikatoren
z. B. Produktion
Spätindikatoren
z. B. Preise, Beschäftigung
Ursachen
Konjunkturzyklus
BIPr , Prod.-Potenzial
monetäre Ursachen
(Geld und Kredit)
psychologische und
politische Ursachen
zials
spoten
uktion
d
o
r
P
BIPr
g des
lastun
Ø Aus
Boom
Abschwung Rezession Aufschwung
Strukturwandel
(Anteil an Wertschöpfung und Beschäftigtenzahl der einzelnen Wirtschaftssektoren ändert sich)
sekundärer Sektor
tertiärer Sektor

Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü

Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü

primärer Sektor
Ursachen
hohe Einkommenselastizität
und geringer Produktivitätsfortschritt im Dienstleistungsbereich
182
Weg in die
Dienstleistungsgesellschaft
Folgen
strukturelle
Arbeitslosigkeit
6303182
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Zusammenfassende Übersicht Kapitel 5: Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft
Ziele der Wirtschaftspolitik
gesellschaftspolitische Ziele
Freiheit
Gerechtigkeit
Sicherheit
Fortschritt
wirtschaftspolitische Ziele
qualitatives Ziel
qualitatives Ziel
vier quantitative Ziele (Stabilitätsgesetz von 1967)
= magisches Viereck
Stabilität des
Preisniveaus
gerechte
Einkommens- und
Vermögensverteilung
außenwirtschaftliches
Gleichgewicht
Zielharmonie
hoher
Beschäftigungsstand
Erhalt einer
lebenswerten
Umwelt
stetiges und
angemessenes Wirtschaftswachstum
Beziehungen zwischen den
Einzelzielen
Zielkonflikt
magisches Vieleck als Problem der
Wirtschaftspolitik
Ordnungspolitik
wirtschaftspolitische Maßnahmen
Ablaufpolitik
Träger der Wirtschaftpolitik
Bund, Länder, Gemeinden,
andere nationale und internationale Institutionen, Interessenverbände
6303183
183
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Fragen zur Kontrolle des Grundwissens
Fragen
Kapitel 5.1:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Konjunkturelle Schwankungen
Was sind konjunkturelle Schwankungen?
In welche Phasen lässt sich ein idealtypischer Konjunkturzyklus einteilen?
Wodurch sind die einzelnen Phasen des Konjunkturzyklus gekennzeichnet?
Welche Ursachen können konjunkturelle Schwankungen haben?
Anhand welcher Indikatoren lässt sich eine konjunkturelle Situation beschreiben?
Unterscheiden Sie Konjunkturindikatoren nach ihrer zeitlichen Reihenfolge im Konjunkturverlauf.
Kapitel 5.2:
Strukturwandel
1. Was ist mit dem Begriff Strukturwandel gemeint?
2. Was ist unter der Drei-Sektoren-Hypothese zu verstehen?
3. Worauf ist der „Weg in die Dienstleistungsgesellschaft“ zurückzuführen?
Kapitel 5.3:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Ziele der Wirtschaftspolitik
Welche wirtschaftspolitischen Ziele sind im Stabilitätsgesetz von 1967 formuliert?
Nennen Sie zwei wirtschaftspolitische Ziele, die nicht im Stabilitätsgesetz enthalten sind.
Warum werden die Ziele des Stabilitätsgesetzes als „Magisches Viereck“ bezeichnet?
Nennen Sie Beispiele für mögliche Konflikte zwischen wirtschaftspolitischen Zielen.
Nennen Sie Beispiele für Harmonie (Kompatibilität) zwischen wirtschaftspolitischen Zielen.
Was besagt das OKUN’sche Gesetz?
Was besagt die PHILLIPS-Kurve?
Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Zielen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz?
184
6303184
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Aufgaben und Probleme zur Erarbeitung und Anwendung von Wissen
5.1
Konjunkturindikatoren
1. Wodurch zeichnen sich die folgenden Konjunkturindikatoren in den einzelnen Phasen eines idealtypischen
Konjunkturverlaufs aus?
Verwenden Sie zur Charakterisierung folgende Begriffe: niedrig, hoch, steigend, stark steigend, sinkend, stark
sinkend, (etwas oder sehr) optimistisch, (etwas oder sehr) pessimistisch.
Konjunkturindikatoren: Auftragseingang, Lagerbestände, Kapazitätsauslastung, Produktion, Gewinne, Investitionen, Konsumneigung, Sparneigung, Preisniveau, Lohn- und Gehaltszuwächse, Arbeitslosenquote, offene
Stellen, Zinsen, Aktienkurse, Steueraufkommen, Zukunftserwartungen
Konjunkturindikatoren
Aufschwung
Boom
Abschwächung
Vorlagen
Rezession
Auftragseingang
usw.
2. Ordnen Sie folgende Konjunkturindikatoren jeweils einer der drei Gruppen Früh-, Gegenwarts- und Spätindikatoren zu. Zeigen und erläutern Sie anhand eines Vernetzungsdiagramms (vgl. Aufg. 1.2, Nr. 5 auf S. 43) die
Abhängigkeiten zwischen diesen Indikatoren.
Konjunkturindikatoren: Geschäftsklima, Arbeitslosenzahl, volkswirtschaftliche Lohnsumme, Kapazitätsauslastung, Gewinnerwartungen, Geldmenge, Konsumklima, Lagerbestand, Auftragseingang, Produktion, Produktivität, Preise, Investitionen, Konsum, Auftragsbestand
5.2
Konjunkturdiagnose – Konjunkturprognose
Für die Bundesrepublik Deutschland liegen für die Jahre 2005 bis 2011 für einige wichtige Konjunkturindikatoren folgende Indizes vor:
Indikatoren
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Auftragseingang (Industrie) 2005 = 100
100,0
110,7
123,0
115,5
87,5
109,0
120,3
Einzelhandelsumsätze 2005 = 100
100,0
101,0
99,4
101,5
98,1
100,4
103,0
reales BIP
Index 2005 = 100
100,0
103,7
107,1
108,3
102,7
106,5
109,7
Bruttoanlageinvestitionen
Index 2005 = 100
Wachstumsrate in %
Wachstumsrate in %
0,8
3,0
2,5
1,3
– 5,1
3,7
3,0
100,0
108,2
113,4
115,2
102,1
107,7
114,6
0,8
8,2
4,7
1,7
– 11,4
5,5
6,4
Produktion (Produzierendes Gewerbe)
2005 = 100
100,0
105,4
111,6
111,5
94,3
103,9
112,1
Produktivität (je Erwerbstätigenstunde)
2005 = 100
100,0
103,6
105,4
105,3
102,6
104,0
105,4
Tariflohn-und Gehaltsniveau
(Stundenbasis) 2005 = 100
100,0
100,9
102,1
104,9
107,0
108,7
110,5
Lohnstückkosten 2005 = 100
100,0
97,6
96,7
98,9
104,8
103,3
104,6
Verbraucherpreise (2005 = 100)
100,0
101,6
103,9
106,6
107,0
108,2
110,7
Arbeitsmarkt
Arbeitslose in Mio.
4,861
4,487
3,760
3,258
3,415
3,238
2,976
Arbeitslosenquote %
11,7
10,8
9,0
7,8
8,1
7,7
7,1
offene Stellen in Tsd.
413
564
423
389
301
359
466
Quellen: Deutsche Bundesbank, Monatsberichte; Stat. Bundesamt, VGR, März 2012
1. Erstellen Sie aus den Quartalswerten des BIP-Wachstums der letzten Jahre ein Säulendiagramm. Stellen Sie fest,
wann eine Rezession vorlag und prüfen Sie, ob im grafischen Konjunkturverlauf zeitweise eines der folgenden
Buchstabenmuster erkennbar ist: V = Abschwung mit erneutem steilem Aufschwung; U = längeres Verharren in
der Talsohle; L = schneller Abschwung mit anhaltender Stagnation; W = Abschwung mit kurzfristiger Erholung
und erneutem Abschwung (= double dip: zweimaliges Eintauchen).
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185
Vorlagen
power
point
e
x cel
Stabilitäts- und Strukturprobleme einer Marktwirtschaft – Wirtschaftspolitische Ziele
5
Internet
www.
e
x cel
Datenquelle: Deutsche Bundesbank, Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen (erscheint monatlich) bzw.
www.bundesbank.de/stat Zeitreihendatenbank, saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, Konjunkturindikatoren.
2. Analysieren Sie den Konjunkturverlauf in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 2004 und 2011 anhand
geeigneter Indikatoren. Stellen Sie dazu auch die Entwicklung einzelner Indikatoren grafisch dar. Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen der Entwicklung der einzelnen Größen feststellen?
3. Machen Sie auf der Basis der vorliegenden Daten eine begründete Konjunkturprognose für die Jahre 2012/13
und überprüfen Sie Ihre Prognose anhand der tatsächlichen Werte bzw. der Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute.
5.3
Strukturwandel
Stellen Sie anhand der folgenden Tabelle für die Sektoren Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (= primärer Sektor),
produzierendes Gewerbe (= sekundärer Sektor) und Dienstleistungen (= tertiärer Sektor) die Entwicklung des prozentualen Anteils an der Bruttowertschöpfung und an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in je einem Koordinatensystem grafisch dar. Welche Veränderungen lassen sich aus der von Ihnen erstellten Grafik ablesen?
Anteil der Wirtschaftssektoren an der Bruttowertschöpfung und der Gesamtzahl der Erwerbstätigen in der
Bundesrepublik Deutschland von 1950–2010 (in %)
1950
Anteil in %
an der
1960
Anteil in %
an der
1970
Anteil in %
an der
1980
Anteil in %
an der
1990
Anteil in %
an der
20001
Anteil in %
an der
2010
Anteil in %
an der
Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der Brutto- Zahl der
wertErwerbswertErwerbswertErwerbswertErwerbswertErwerbswertErwerbswertErwerbsschöpfung tätigen schöpfung tätigen schöpfung tätigen schöpfung tätigen schöpfung tätigen schöpfung tätigen schöpfung tätigen
Land-, Forst- und
Fischereiwirtschaft
10,2
24,6
5,7
13,8
3,4
8,4
2,2
5,2
1,6
3,5
1,2
2,6
0,8
1,6
Produzierendes
Gewerbe2
49,6
42,6
54,4
47,7
52,8
48,8
44,1
42,8
40,1
39,8
29,8
30,0
24,7
24,5
Dienstleistungen
(insgesamt)
40,2
32,8
39,9
38,5
43,8
42,8
53,7
51,9
58,3
56,7
69,0
67,5
74,5
73,9
Handel, Verkehr,
Nachrichtenübermittlung
20,4
14,3
19,6
17,2
15,9
17,5
15,6
18,8
14,8
19,1
17,8
16,6
19,2
26,1
Sonstige Dienstleistungen (z. B.
Banken, Versicherungen, usw.)
10,2
12,3
11,4
12,7
17,6
15,5
23,7
21,6
30,2
25,7
29,7
29,7
28,6
16,7
Staat, private
Haushalte
9,6
6,2
8,9
8,6
10,6
9,8
14,4
11,5
13,3
11,9
21,5
21,5
23,0
31,3
Summe (%)
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
Bruttowertschöpfung3 (Mrd. EUR
in jeweiligen
Preisen)
50,2
154,7
337,6
723,9
1.197,7
1.894,2
2.216,8
Gesamtzahl der
Erwerbstätigen
(in Mio.)
20,4
26,5
26,67
27,06
28,5
38,7
40,6
1 ab 2000 einschließlich der neuen Bundesländer
2 Energiewirtschaft, Bergbau, verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe
3 Die Bruttowertschöpfung gibt den Wert an, der im Produktionsprozess den Vorleistungen hinzugefügt wurde. Sie entspricht annähernd dem Bruttoinlandsprodukt (vgl. Kap. 2.4),
Quelle: Stat. Bundesamt
5.4
Beziehungen zwischen wirtschaftspolitischen Zielen – Magisches Viereck
1. Magisches Viereck
a) Untersuchen Sie anhand der statistischen Daten der Tabelle auf S. 254 und der Abb. auf S. 169, in welchen
Jahren seit 1967 mindestens zwei der Ziele des magischen Vierecks gleichzeitig erreicht waren.
b) Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Ergebnis von a) ziehen?
186
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