Windpocken – keine harmlose Erkrankung

Werbung
SERIE PÄDIATRIE
Windpocken –
keine harmlose Erkrankung
Epidemiologie, Immunität und Komplikationen der Primärinfektion mit
Varizella-zoster-Virus.
VARIZELLA-ZOSTER-VIRUS (VZV) ist ein Herpesvirus, das als
Primärinfektion Varizellen (Windpocken) verursacht und nach endogener Reaktivierung zu Herpes zoster führen kann. Windpocken sind
typischerweise als eine Kinderkrankheit bekannt. VZV verursachen
ein vesikuläres Exanthem, das üblicherweise von Fieber begleitet ist.
Obwohl Windpocken normalerweise in einer milden Erkrankung im
immunkompetenten Patienten resultieren, können sie zu schweren
Komplikationen führen. Diese manifestieren sich als Beteiligung des
zentralen Nervensystems, Pneumonie, bakterielle Superinfektionen
bis hin zum Tod durch disseminierte Organbeteiligung.
VZV ist hochinfektiös mit Infektionsraten in empfänglichen Personen zwischen 61 und 100%. Die Erkrankung tritt weltweit auf und
ist in fast allen Populationen endemisch. Nach der Primärinfektion
persistiert das Virus in den sensorischen Nervenganglien der Dorsalwurzel und etabliert eine latente Infektion. Das Virus kann Jahre
später reaktivieren und erscheint unilateral entlang eines Dermatoms
als Herpes zoster in Form von schmerzhaften Bläschen mit der Gefahr der postherpetischen Neuralgie.
EPIDEMIOLOGIE
VZV gehört zur Familie der Herpesviridae und führt zu Erkrankungen im Menschen und in Primaten. Es handelt sich dabei um ein
DNA-alpha-Herpesvirus mit einem Genom von ca. 12.500 bp (Basenpaare) Länge, das für 70 Gene kodiert. Bei der sequenziellen Expression kommt es zur Produktion von frühen nicht-strukturbildenden Proteinen, frühen strukturbildenden Enzymen und späten Strukturproteinen. Diese formen ein Kapsid, das die DNA umschließt.
Die Hülle des Virus besteht aus Glykoproteinen, die in der Pathogenese eine bedeutende Rolle spielen. VZV besitzt eine geringe molekulare Variabilität. Bis jetzt sind drei große Genotypen des WildtypVZV beschrieben. Der Europäische Dumas-Stamm und die beiden
Japanischen Oka-Vakzinstämme sind bereits sequenziert.
Die Verbreitung von VZV ist abhängig von klimatischen Gegebenheiten, wobei in tropischen Gebieten die Erkrankung später erworben wird als in temperierten Gebieten, wo vor allem Kinder erstmals
erkranken. 90% der Bevölkerung erkranken in Europa bis zur Adoleszenz. Die epidemiologischen Unterschiede hängen vermutlich
mit der Bevölkerungsdichte, dem Risiko der Exposition, von Umwelt- und Sozialfaktoren und dem Risiko der Transmission des hitzelabilen Virus zusammen, das im Winter und Frühling eher übertragen wird.
Die Krankheitsinzidenz beträgt zwischen 13 und 16 Fällen auf 1.000
Personen pro Jahr. Epidemien werden alle 3 bis 5 Jahre beschrieben.
Der Altersgipfel liegt zwischen 1 und 9 Jahren, wobei sich das Alter
bei Primärinfektion zu jüngeren Jahren hin verschiebt, vermutlich
aufgrund des gehäuften Besuchs der Kinder von Krabbelstuben und
Kindergärten.
8 ÄRZTE KRONE 1/09
Höheres Alter und ein komprimiertes Immunsystem stellen die
wichtigsten Risikofaktoren für den Schweregrad der Erkrankung
und die Mortalität dar. In den Industrieländern beträgt die VZV-assoziierte Mortalität 0,3 bis 0,5 pro 1 Million Personen. In Erwachsenen ist das Risiko, an VZV zu versterben, 23- bis 29-mal und bei
Säuglingen 4-mal höher als bei Kindern. Die Hospitalisierungsrate
beträgt 2 bis 6 pro 100.000 Personen.
PATHOGENESE UND IMMUNITÄT
Die Inkubationsperiode beträgt durchschnittlich 14–15 Tage (10 bis
21 Tage). VZV wird über Tröpfchen und Aerosole vom Nasopharynx 1–2 Tage vor Beginn des Ausschlages übertragen und von den
Hautläsionen 5–7 Tage lang nach dem Auftreten der ersten Bläschen. Diese kontagiöse Periode kann in immunkomprimierten Patienten mehrere Wochen anhalten.
Das Virus dringt über die Mukosa des Respirationstraktes in den
Wirt ein. Verschiedene virale Glykoproteine spielen bei der Adhärenz an das Epithel und beim Zell-Zell-Kontakt von infizierten Zellen eine entscheidende Rolle. VZV multipliziert sich in den regionalen Lymphknoten, bevor die erste subklinisch verlaufende Virämie nach ca. 4 bis 6 Tagen auftritt (Abb. 1). Während dieser Virämie disseminiert das Virus zu den verschiedenen Geweben, wie
beim fetalen Varizellensyndrom gezeigt werden konnte. Das Virus
repliziert sich dann im retikuloendothelialen Gewebe. Die zweite
Virämie tritt 14 Tage nach Infektion auf und verursacht die Streuung zum Nasopharynx und zur Haut, wo der typische makulopapuläre, vesikuläre Ausschlag auftritt (Abb. 2 und 3). Diese Bläschen
enthalten große Mengen an Virus und stellen die wichtigste Route
der Virustransmission dar. Die Kontagiosität endet, wenn alle Bläschen zu Krusten geworden sind.
Bei der Abwehr einer Reinfektion bzw. einer Reaktivierung einer
latenten Infektion spielt die humorale und zelluläre Abwehr eine
bedeutende Rolle, wobei die zelluläre Immunität die wesentlich potentere Abwehrfunktion innehat. Wahrscheinlich ist dies auch vor
Abb. 1: SCHEMATISCHE DARSTELLUNG DER PATHOGENESE
DER PRIMÄREN VZV-INFEKTION.
Infektion
1. Virämie
2. Virämie
Anti-VZV-lgM
Exanthem
Tröpfchen
Aerosole
Anti-VZV-lgG
T-Zell-Antwort
0
5
10
20 Tage
allem dadurch bedingt, dass VZV im Körper ausschließlich die intrazelluläre Route der Ausbreitung nützt.
Antikörper gegen Glykoproteine und andere virale Strukturen können mittels serologischer Methoden ermittelt werden. Die Bestimmung der zellmediierten Immunität gegen VZV ist mittels In-vitroStimulation der spezifischen T-Zellen mit VZV-Antigen im ELISPOT möglich. Weiters spielt die antikörperabhängige Zytotoxizität
und die Zytotoxizität durch natürliche Killer-Zellen eine Rolle bei
der Fähigkeit des Organismus, mit der Virusinfektion fertig zu werden. Die Bedeutung der zellmediierten Immunität spielt vor allem
bei der Abwehr der Primärinfektion, der Prävention vor wiederkehrenden Infektionen und bei der Reaktivierung von VZV eine entscheidende Rolle. Dies wird deutlich durch:
l1. schwere Verläufe der Erkrankung bei Kindern mit zellulären
Immundefizienzen und unter immunsuppressiver Therapie,
l2. das Fehlen einer schweren Erkrankung bei Patienten mit Hypogammaglobulinämie,
l3. das erhöhte Risiko für das Auftreten von Herpes zoster bei zellulärer Immundysfunktion und bei Abnahme der zellulären Immunität im höheren Lebensalter und
l4. erhöhte Risikoraten von Herpes zoster bei Kindern nach Infektion mit VZV in utero oder kurz danach.
Jedoch scheint die humorale Immunität den Schutz durch die zellmediierte Immunität zu ergänzen, wie durch den Erfolg der passiven
VZV-spezifischen Immunglobulingabe gezeigt wurde. Bei immunologisch gesunden Personen verläuft eine wiederkehrende VZV Infektion normalerweise subklinisch oder sehr milde, ebenso in Personen, die gegen VZV geimpft wurden.
Diese Kinder bleiben meist entwicklungsretardiert und zeigen
eine schlechte Prognose. Das
größte Risiko für eine schwere
disseminierte VZV-Erkrankung
5 bis 10 Tage nach der Geburt
besteht für Neugeborene von
Müttern, bei denen die primäre
VZV-Infektion 5 Tage vor bis 2
Tage nach der Geburt des Kindes
auftritt. Auch diese Kinder haben
eine sehr schlechte Prognose.
Abb. 2: VZV-PRIMÄRINFEKTION
MIT TYPISCHEM EXANTHEM.
AUSBLICK
Die Zusammenstellung zeigt,
dass Windpocken keine harmlose Kinderkrankheit darstellen,
Abb. 3: VZV-PRIMÄRINFEKTION MIT TYPISCHEM EXANTHEM
Windpocken stellen keine harmlose Kinderkrankheit dar. Komplikationen (Häufigkeit 7%) einer akuten VZV-Infektion können einerseits durch das Virus selbst oder durch bakterielle Superinfektionen
verursacht sein. Bakterielle Superinfektionen sind wesentlich häufiger und werden vor allem durch beta-hämolysierende Gruppe-AStreptokokken und Staphylococcus aureus verursacht. Dabei sind
vor allem die Haut und die Weichgewebe betroffen.
Invasive Infektionen (Pneumonie, Arthritis, Osteomyelitis, nekrotisierende Fasziitis, Sepsis) können lebensbedrohlich sein. Komplikationen des zentralen Nervensystems betreffen die benigne cerebelläre Ataxie (1 auf 4.000 Fälle), die Meningoenzephalitis, die Meningitis und Vaskulitis der kleinen oder großen Gefäße. Eine intrakranielle Vaskulitis kann vor allem bei Kindern zu Schlaganfällen führen, die oft erst Monate nach der VZV-Erkrankung auftreten.
Die VZV-Pneumonie und Hämorrhagien mit disseminierter intravasaler Koagulation sind mit einer hohen Letalität verbunden. Dehydratation und Fütterungsprobleme durch orale Bläschen führen oft
zum Krankenhausaufenthalt. Bei immunsupprimierten Patienten ist
das Risiko einer disseminierten Erkrankung mit Organbeteiligung
erhöht. Neue Hautläsionen können über viele Wochen auftreten,
groß und hämorrhagisch werden.
Die Seroprävalenz bei Frauen im gebärfähigen Alter beträgt 97%,
das heißt, 3% aller gebärfähigen Frauen sind nicht gegen VZV geschützt. Gefürchtet ist das kongenitale Varizellensyndrom, das bei
0,4 bis 2% der Kinder auftritt, bei denen die Mütter eine primäre
VZV-Infektion in den ersten 20 Wochen der Schwangerschaft durchgemacht hatten. Dabei treten typischerweise verschiedene Anomalien mit Narbenbildung, hypoplastischen Extremitäten, Chorioretinitis, Katarakt, Augenmalformationen und Gehirnfehlbildungen auf.
© Johann Wüstner (2)
KOMPLIKATIONEN
sondern zu schweren Komplikationen führen können. Der einzig
wirksame Schutz, um Komplikationen vermeiden zu helfen, ist eine
aktive Immunisierung mit Lebendimpfstoff bestehend aus dem OkaStamm des VZV, insbesondere in Risikopopulationen und seronegativen gebärfähigen Frauen durchzuführen. Die frühzeitige Gabe von
VZV-spezifischem Immunglobulin und die Acyclovirgabe bei aufgetretenen Komplikationen können hilfreich sein. Allerdings ist die
Wirksamkeit dieser Maßnahmen vor allem bei immunsupprimierten
Personen unsicher. Deshalb sollte unbedingt vor Transplantation
oder einer geplanten Immunsuppression eine zweimalige Impfung
gegen VZV durchgeführt werden. Insbesondere die Impfung der
Umgebung, z.B. Geschwister, stellt eine wichtige Maßnahme zur
Vermeidung einer Exposition dieser Patientengruppe dar.
Dr. MARTINA PRELOG
[email protected]
Univ.-Prof. Dr. LOTHAR
BERND ZIMMERHACKL
[email protected]
Department für Pädiatrie, Pädiatrie I, Medizinische Universität
Innsbruck, Mitglieder der Österreichischen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendheilkunde
ÄRZTE KRONE 1/09 9
Herunterladen