Erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei depressiven Patienten

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M E D I Z I N
Michael Deuschle1
Florian Lederbogen1
Martin Borggrefe2
Karl-Heinz Ladwig3
Zusammenfassung
Depressive Syndrome und kardiovaskuläre Erkrankungen führen zu erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung und Verlust an gesundheitlich unbeeinträchtigter Lebenszeit. Daher
sind epidemiologische Untersuchungen bedeutsam, die zeigen, dass depressive Syndrome
prospektiv mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko vergesellschaftet sind. Als gesicherte Faktoren dieser Wechselbeziehung sind
Änderungen des Gesundheitsverhaltens sowie
eine Dysbalance des sympathikoadrenalen-vagalen Systems bei depressiven Patienten anzunehmen. Die Häufigkeit depressiver Syndrome
bei Patienten mit Myokardinfarkt verdient erhöhte Aufmerksamkeit und damit insbesondere Verbesserungen der Diagnostik und antidepressiven Therapie dieser Patienten. Ob eine
antidepressive Therapie zu einer Verbesserung
des kardialen Risikos führt, lässt sich derzeit
nicht abschließend beurteilen.
Schlüsselwörter: Depression, Myokardinfarkt,
koronare Herzerkrankung, Epidemiologie, Pathophysiologie
Summary
Increased Cardiovascular Risks
in Depressed Patients
Depressive syndromes and cardiovascular diseases lead to considerable impairment of health
and loss of healthy lifetime. This emphasizes the
significance of epidemiological studies that confirm depressive syndromes to be prospectively
associated with an increased cardiovascular risk.
Changes of health-related behavior as well as
dysbalance of the sympathoadrenergic-vagal
system may be considered to be significant
factors within this mutual interrelationship. The
frequency of depressive syndromes in patients
with myocardial infarction deserves increased attention and, especially, improvement of
diagnostic and antidepressant therapy. So far, a
final conclusion may not be drawn whether
antidepressant treatment improves the risk for
cardiovascular disease.
Key words: depression, myocardial infarction,
coronary heart disease, epidemiology, pathophysiology
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Erhöhtes
kardiovaskuläres Risiko bei
depressiven Patienten
S
eit den 70er-Jahren wurden prospektive Studien eingeleitet, die
zufällig ausgewählte, herzgesunde
Stichproben der Bevölkerung einbezogen und initial psychische Symptome einer negativen Affektivität erfassten und im Verlauf deren Einfluss auf
„harte“ kardiale Ereignisse (kardialer
Tod, Myokardinfarkt) untersucht haben. Allen diesen Studien ist eigen,
dass sie große Kollektive über mehrere Jahre beobachteten und fast durchweg soziodemographische Faktoren
und vaskuläre Risikofaktoren (vor allem Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie) kontrollierten. Bemerkenswert ist die Einhelligkeit, mit der fast
ausnahmslos (154) alle Studien eine
Erhöhung des kardialen Risikos bei
Probanden zeigten, die primär depressive Symptome aufwiesen (4, 7, 11, 46,
47, 61, 62, 72, 77, 83, 158). Die Studien
schlossen eine hohe Zahl von Probanden ein (alle n > 730), dabei lag die
Schätzung des relativen Risikos bei 1,2
bis 5,4.
Darüber hinaus wurde in bislang
sechs weiteren Studien prospektiv der
Einfluss einer zu Studienbeginn vorliegenden, eng definierten depressiven
Episode auf das Auftreten späterer
kardialer Ereignisse untersucht (12,
34, 49, 112, 123, 127). Die Schätzung
des relativen Risikos in diesen Studien
lag mit 2,1 bis 4,5 etwas höher als bei
den eingangs angeführten Studien, bei
denen einzelne depressive Symptome
1 Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie (Direktor: Prof. Dr. med.
Dr. sc. hum. Fritz A. Henn), Mannheim
2 Medizinische Klinik I, Universitätsklinikum Mannheim,
Fakultät für Klinische Medizin Mannheim (Direktor: Prof.
Dr. med. Martin Borggrefe), Ruprecht-Karls-Universität,
Heidelberg
3 Institut für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie
und Medizinische Psychologie der Medizinischen Fakultät (Direktor: Prof. Dr. med. Michael von Rad) der Technischen Universität, München
erhoben wurden. Das bedeutet, dass
Depressivität prospektiv mit erhöhtem kardialem Risiko verbunden ist.
Dies gilt offenbar bereits für Depressivität unter der Schwelle einer klinischen Diagnose, ausgeprägter jedoch
für Patienten mit initial vorliegender
depressiver Episode.
Depressive Syndrome und
Prognose des Myokardinfarktes
Nach Eintritt eines koronaren Ereignisses ist eine depressive Komorbidität mit einem ungünstigen Verlauf
der körperlichen Erkrankung assoziiert. Dieser Zusammenhang ist bedeutsam, da Depression eine überzufällig häufige Komorbidität mit Herzerkrankungen zeigt. Etwa 15 bis 23
Prozent aller Patienten mit akutem
Myokardinfarkt erleiden eine Depression (25, 26, 50, 59, 108, 144). Das
klinische Bild ist dabei weniger von
Suizidalität oder depressiven Kognitionen, etwa negativem Selbstbild oder
Schuldgefühlen, als von Erschöpfung
und Energieverlust geprägt – einem
Zustandsbild, das gelegentlich als „vitale Erschöpfung“ beschrieben wird
(5–7). Die psychische Störung ist dabei
weitgehend unabhängig vom Schweregrad der kardiologischen Erkrankung
und beginnt häufig bereits vor dem
kardialen Ereignis (84, 95).
Mehrere größere Studien berichten
übereinstimmend, dass depressive Patienten nach überstandenem Myokardinfarkt ein erhöhtes Risiko für
neuerliche Angina pectoris (odds-ratio, OR: 3,1 [85]) oder kardialen Tod
(OR: 6,6 [50]; OR: 2,3 [76]) aufweisen
(2, 23, 79, 95 aber: 87). Studien, die unterschiedliche Schweregrade von Depressivität berücksichtigen, weisen auf
einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Schwere der depressiven
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Symptomatik und dem Mortalitätsrisi- faktoren Wechselwirkung mit depresZum Zusammenhang zwischen arteko hin (20). Analog dazu erhöht De- siven Zuständen.
rieller Hypertonie und Depression ist
pressivität auch das Risiko anderer
Rauchen ist eindeutig mit depres- die Datenlage eher inkonsistent. Belakardiovaskulärer Erkrankungen (1, 12, siven Syndromen assoziiert (16–18, stende Lebensumstände und Stress
13, 38) wie der Herzinsuffizienz (71).
63, 74, 78). Entsprechend gelingt es scheinen zwar einen späteren HyperDaher kann als gesichert angesehen Denjenigen, die früher an Depressio- tonus zu prädizieren (149), jedoch wird
werden, dass depressive Syndrome mit nen litten, wesentlich seltener mit eine Assoziation von Depression mit
einem deutlich erhöhten kardiovas- dem Rauchen aufzuhören als psychia- Hypertonus in vergleichbar vielen Stukulären Risiko assoziiert sind, wenn- trisch Gesunden (3). Für den Zeit- dien gezeigt wie zurückgewiesen
gleich die epidemiologischen Daten raum des Nikotinentzuges ist ein er- (35). Depressive Patienten mit einer
natürlich keine zwingende Aussage höhtes Rückfallrisiko für Depressio- Aktivierung des Hypothalamus-Hypozur Kausalität zulassen können. Das Ausmaß, mit dem
Grafik
depressive Syndrome den
Verlauf einer kardialen Erkrankung beeinflussen, ist allerdings erheblich und liegt
im Bereich handfester kardiologischer Variablen, beispielsweise dem Auftreten
der Linksherzinsuffizienz in
der Akutphase des Myokardinfarktes. Es wurde geschätzt, dass in den Vereinigten Staaten etwa 75 000 Todesfälle pro Jahr bei Patienten nach Myokardinfarkt dem
ungünstigen Einfluss depressiver Syndrome zugeschrieben werden müssen (29).
Affektive Syndrome prädisponieren also nicht nur zu
Herzerkrankungen, sondern
erhöhen möglicherweise auch Pathophysiologisches Modell zum Zusammenhang zwischen Stress, Depression und kardiovaskulären Erkrankungen
die Mortalitätsrate manifester kardialer Störungen. Dabei ist die empirische Evidenz für den nen bekannt (57, 150). Diese enge As- physen-Nebennierenrinden- (HHN-)SyZusammenhang zwischen Depression soziation zwischen Rauchen und De- stems weisen naheliegenderweise erund KHK mittlerweile wesentlich pression ist wichtig, insofern man Pati- höhte Blutdruckwerte auf (124, 129).
konsistenter als für andere psycholo- enten mit einer affektiven Störung in
Der Zusammenhang von affektiven
gische Dimensionen, etwa die so ge- der Vorgeschichte einen besonderen Syndromen und Störungen des Fettnannte Typ-A-Persönlichkeit (Textka- Rückfallschutz während des Nikoti- stoffwechsels ist nicht hinreichend genentzuges anbieten sollten.
sten 2) (15).
klärt. Jedenfalls zeigen epidemiologiDie Prävalenz depressiver Syndro- sche (119) und klinische Untersuchunme ist bei Diabetes mellitus deutlich gen (118), dass bei depressiven Patienerhöht (54, 99), und depressive Patien- ten eher niedrige Cholesterinwerte
Depressive Syndrome und
ten zeigen prospektiv ein erhöhtes Ri- vorliegen. Es gibt auch Hinweise dar„klassische“ Risikofaktoren
siko an einem Typ-2-Diabetes zu er- auf, dass Omega-3-Fettsäuren bei deDie genannten Studien kontrollierten kranken (43). Bei Patienten mit mani- pressiven Patienten erniedrigt sind
zumeist die „klassischen“ Risikofakto- festem Diabetes sind depressive Sym- (68). Da der Einnahme von Omega-3ren, wie arterielle Hypertonie, Hyper- ptome mit einer schlechten metaboli- Fettsäuren günstige Effekte auf das
cholesterinämie, Nikotingebrauch und schen Kontrolle (153) und erhöhter kardiovaskuläre Risiko zugeschrieben
Diabetes mellitus. Daher wird eine Rate diabetischer Komplikationen as- werden (19), ist es eine attraktive HyHäufung dieser Erkrankungen bei de- soziiert (37, 92). Dies mag teilweise pothese, dass polyungesättigte Fettsäupressiven Patienten den Zusammen- daran liegen, dass depressive diabeti- ren eine gemeinsame Hintergrundvahang zwischen Depression und koro- sche Patienten eine eingeschränkte riable für das Auftreten affektiver und
narer Herzerkrankung nicht erklären Compliance in ihrer antidiabetischen kardiovaskulärer Erkrankung darstelkönnen. Dennoch haben diese Risiko- Therapie zeigen (104, 139).
len (122).
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Thrombozytenfunktion und
plasmatische Gerinnung
Akuter und chronischer Stress führen
bei Probanden zu einer Aktivierung
der Gerinnungskaskade sowie zu einer eingeschränkten fibrinolytischen
Aktivität (81, 155). In ähnlicher Weise
finden sich bei depressiven Patienten
subtile Hinweise auf einen thrombophilen Zustand (154). Bereits sehr milder Stress, etwa bei Rechenaufgaben,
führt zu einer messbaren Zunahme der
Thrombozytenaktivierung (21, 121).
Auch in vitro konnten Katecholamine
einen solchen Effekt auslösen (8). Depressive Patienten zeigen im Vergleich
zu gesunden Kontrollen eine erhöhte Aktivierbarkeit der Thrombozyten
durch verschiedene Stimuli (91, 113).
Dies lässt sich sowohl in flow-zytometrischen Untersuchungen aktivierungsabhängiger membranständiger Glykoproteine als auch in funktionellen
Tests, etwa im Aggregometer, nachweisen (90). Besonders bedeutsam erscheint, dass Blutplättchen von Patienten mit koronarer Herzerkrankung, die
zugleich an Depressionen litten, deutlich stärkere Zeichen einer thrombozytären Aktivierung aufweisen als nichtdepressive Vergleichspatienten (86).
Herzfrequenzvariabilität und
Baroflex-Empfindlichkeit
Vagale und sympathikoadrenale Aktivität sind Faktoren, die die kurzfristigen Schwankungen der Herzfrequenz
beeinflussen. Die Herzfrequenzvariabilität (HFV) kann daher als wichtige
Kenngröße des autonomen Nervensystems verstanden werden (141). Eine
Minderung der vagalen Aktivität geht
sowohl mit einer geminderten HFV als
auch mit einem erhöhten Risiko für gefährliche Arrhythmien einher. Bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung
ist eine niedrige HFV mit einem hohen
Risiko für plötzlichen Herztod verknüpft (152).
Bei depressiven Patienten wurde die
HFV wiederholt als reduziert gegenüber gesunden Kontrollen beschrieben.
Dies gilt sowohl für depressive Patienten mit als auch ohne Herzerkrankung
(24, 28, 82). Insbesondere nach einem
Myokardinfarkt scheint Depressivität
mit einem Vorliegen autonomer Funktionsstörungen des Herzens assoziiert
(30, 125). Daher ist es nicht verwunderlich, dass bei Patienten mit koronarer
Herzkrankheit mit zusätzlich vorliegender Depression oder anderen Stressoren, die Häufigkeit arrhythmischer
Ereignisse erhöht ist (26, 48). Eine Minderung der HFV ist vermutlich vor allem bei kardial vorgeschädigten depressiven Patienten von Bedeutung.
Nicht nur die HFV, sondern auch das
Ausmaß der Baroflex-vermittelten vagalen Kontrolle des Herzens ist mit der
Arrhythmieneigung des Herzens verknüpft. Analog zur HFV zeigt sich bei
Patienten mit Depressivität aber auch
Angst eine deutliche Beeinträchtigung
der Regulation des Baroflexbogens
(159, 160).
Viszerale Adipositas
Eine Vermehrung des intraabdominalen Fettanteiles gilt als wichtiger Indikator eines erhöhten kardiovaskulären
Risikos. Mehrere Studien konnten nun
eine Assoziation von viszeraler Adipositas, gemessen am Hüfte-Taille-Verhältnis, mit depressiver Symptomatik
zeigen (88, 133). Untersuchungen an
depressiven Patienten bestätigten mittlerweile computertomographisch, dass
die Menge viszeralen Fettes bei hypercortisolämischen, depressiven Patienten – ähnlich wie beim Cushing-Syndrom – erhöht ist (64, 148). Damit
kann man bei depressiven Patienten
mit Hypercortisolämie eine erhöhte
Neigung zu einem Cluster metabolischer Risikovariablen annehmen. Dies
scheint sich durch den Nachweis einer
eingeschränkten Glucosetoleranz bei
depressiven Patienten zu bestätigen
(161).
Stress als Bindeglied zwischen
Depression und Herzerkrankung
Akuter mentaler Stress führt bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung zu myokardialen Ischämien (69,
93, 137). Dabei ist gut gesichert, dass
Patienten bei denen sich durch experimentelle Stressoren im Labor eine
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myokardiale Ischämie auslösen lässt,
auch im Alltag häufiger ischämische
Ereignisse erleben (60, 70). Weiterhin
prädisponiert akuter Stress zu kardialen Arrhythmien und damit zu plötzlichem Herztod (98). Eine Zunahme
kardialer Ereignisse in Belastungssituationen (75, 94, 109) und zu Zeiten
erhöhter Aktivität der Stresssysteme
(110, 111) ist durch epidemiologische
Untersuchungen bestätigt.
Depression kann als eine chronische
Stresserkrankung konzeptualisiert werden. Möglicherweise könnten Stress-responsive Systeme auch eine pathophysiologische Bedeutung für das erhöhte
kardiovaskuläre Risiko depressiver Patienten haben.
Die Aktivierung des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HHN-)Systems ist die am besten
charakterisierte biologische Auffälligkeit depressiver Patienten. Dabei kann
man bei depressiven Patienten erhöhte Konzentrationen von Corticotropin-Releasing Hormon (CRH) im
Liquor cerebrospinalis (116), NonSuppression im Dexamethason-Hemmtest (33) und im kombinierten
Dexamethason/CRH-Test (67) sowie
Hypercortisolämie unter Ruhebedingungen nachweisen (39). Hypercortisolämie ist mit einer Vielzahl von
kardiovaskulären Risiken wie viszeraler Adipositas (106), Insulinresistenz (117) und arterieller Hypertonie
(103) assoziiert. Zudem ist Hypercortisolämie eine Determinante für Parameter wie LDL-Cholesterin oder
Blutzucker (134, 157) und kann Zustände erhöhter Gerinnbarkeit auslösen (73, 120).
Parallel dazu findet sich bei vielen
depressiven Patienten eine Aktivierung des sympathoadrenalen Systems,
also des Nebennierenmarkes und des
sympathischen Nervensystems. Hinweise darauf geben erhöhte Konzentrationen von Katecholaminen und
ihren Metaboliten in Plasma und Urin
(135). Auf zusätzliche Belastungen
reagiert das sympathoadrenale System depressiver Patienten mit einer
überschießenden Antwort.
Besonders ausgeprägt findet sich
die Aktivierung des sympathoadrenalen Systems bei depressiven Patienten,
die zugleich eine erhöhte Aktivität des
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HHN-Systems aufweisen (136). Erhöhter Sympathikotonus ist wiederum
mit autonomen Funktionsstörungen
der Blutdruckregulation sowie erhöhter Neigung zu kardialen Rhythmusstörungen verbunden. Zudem stimulieren Katecholamine die Gerinnung
(156). Den Autoren erscheint daher
die Hypothese plausibel, dass eine Aktivierung der Stress-responsiven Systeme bei depressiven Patienten ganz
wesentlich zu einer ungünstigen Modulation des kardiovaskulären Risikos
beiträgt (Grafik).
Depressive Syndrome und
Adhärenz zur Behandlung
Depression geht mit einer Minderung
des Antriebes und der Motivationslage einher, sodass der Patient seinen
sozialen Rollen nicht mehr voll gerecht werden kann – auch nicht mehr
der Rolle des Kranken. Daher sind
Probleme im Bereich von Motivation
und Compliance Gesichtspunkte, die
Ärzte bei depressiven Patienten beachten müssen. Die zusätzliche Diagnose einer Depression ist assoziiert
mit schlechteren Einstellungen des
Blutzuckers bei Diabetikern (36) oder
niedriger Rate an Sekundärprophylaxe mit Acetylsalicylsäure (14, 27). Besonders offenbar wird dies bei Patienten nach Myokardinfarkt: Hier ist das
Vorliegen depressiver Symptomatik
mit schlechterer Adhärenz zu Diät,
körperlicher Aktivität und Einnahme
der verordneten Medikation assoziiert
(163).
Allerdings mag nicht nur das Einhalten ärztlicher Verordnungen bei
depressiven Patienten eingeschränkt
sein, sondern wahrscheinlich auch die
Neigung von Ärzten psychisch Kranken eine adäquate Behandlung zukommen zu lassen. So gibt es Hinweise, dass Myokardinfarktpatienten
mit seelischer Erkrankung seltener
in den Genuss revaskularisierender
Maßnahmen oder sekundärpräventiver Medikation kommen (41). Ein verbessertes ärztliches Verständnis um
die Zusammenhänge zwischen seelischen und kardialen Erkrankungen
könnte daher nicht nur auf der Patientenseite, sondern auch auf der
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Textkasten 1
Kriterien für eine depressive Episode
(nach ICD-10)
Kernsymptome (mindestens 2 erfüllt)
> Gedrückte Stimmung
> Interessenverlust und Freudlosigkeit
> Verminderung von Antrieb und Energie/
erhöhte Ermüdbarkeit
Weitere Symptome (mindestens 2 erfüllt)
> Verminderte Konzentration und
Aufmerksamkeit
> Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
> Pessimistische Zukunftsperspektiven
> Suizidgedanken oder -handlungen
> Schlafstörungen
sowie ein eindeutiger Unterschied zu
einem früheren Zustand. Die Diagnostik wird bei kardiologischen Patienten
natürlich dadurch erschwert, dass verschiedene Körpersymptome teilweise
unspezifisch sind und nur schwer von
unmittelbaren Manifestationen der
Herzerkrankung abgegrenzt werden
können. Hilfreich sind die mittlerweile
zur Verfügung stehenden zeitökonomischen Screeninginstrumente (Textkasten 2). Auffälligkeiten in diesen
Skalen sollten Anlass zu einer psychiatrisch-psychosomatischen Interviewdiagnostik geben, sodass gegebenenfalls rasch eine Behandlung initiiert
werden kann.
> Verminderter Appetit
Reduktion des kardialen Risikos
durch antidepressive Therapie
Obligate Kriterien
> Durchgängigkeit:
– gedrückte Stimmung ändert sich wenig
von Tag zu Tag
> Dauer:
– mindestens zwei Wochen
> Beeinträchtigung:
– normale Berufstätigkeit/soziale Aktivitäten
können nur mit Schwierigkeiten fortgesetzt
werden oder werden eingestellt.
„Versorgerseite“ zu einer Optimierung der Behandlung kardialer Störungen bei dieser Patientengruppe führen (42).
Diagnostische Möglichkeiten
Depressive Syndrome werden häufig
nicht erkannt. Sowohl der niedergelassene Arzt als auch der Krankenhausarzt sollte deshalb routinemäßig das
Vorliegen depressiver Syndrome bei
herzkranken Patienten prüfen. Für die
Diagnose einer depressiven Episode
müssen bestimmte Leitsymptome, wie
durchgehend niedergedrückte Stimmung oder Verlust an Interesse oder
Freude, vorliegen. Zusätzlich müssen
einige charakteristische Nebenkriterien erfüllt sein (Textkasten 1). Entscheidend sind durchgängiges Vorliegen der
Beschwerden über mindestens zwei
Wochen, Einschränkungen im Funktionsniveau durch die Beschwerden
Der spontane Verlauf depressiver Syndrome bei Herzpatienten ist von
Chronizität gekennzeichnet (66). In
doppel-blinden (115) placebokontrollierten Studien (131, 147) und größeren Fallserien (145) erweisen sich sowohl selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) als auch trizyklische Antidepressiva, etwa Nortriptylin, bei depressiven Patienten mit
koronarer Herzkrankheit, beispielsweise nach Myokardinfarkt, als wirksam. Fall-Kontroll-Studien geben Hinweise auf einen günstigen Einfluss von
SSRI hinsichtlich der Verhinderung
des ersten Auftretens eines Myokardinfarktes (140).
Antidepressiva beeinflussen eine
Vielzahl der aufgeführten Variablen,
die mit einem erhöhten kardialen Risiko in Verbindung gebracht werden. So
führt antidepressive Therapie mit trizyklischen Antidepressiva oder SSRI
in unterschiedlichem Ausmaß zu einer Dämpfung der aktivierten Stresssysteme (40). SSRI reduzieren die
Thrombozytenaktivierbarkeit sowohl
in vitro (142) als auch bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung
(143) und bei depressiven Patienten
(105, 114). Für Antidepressiva, die bevorzugt noradrenerg wirken, ist ein
entsprechender Effekt bislang nicht
bestätigt (126). Möglicherweise ist eine erfolgreiche Behandlung depressiver Episoden mit einer Normalisie-
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rung der HFV verbunden (10), sofern
nicht mit anticholinergen, also vagolytischen Substanzen behandelt wird
(89). Es gibt Hinweise, dass die Behandlung der PostmyokardinfarktDepression mit SSRI zu einer Verbesserung der HFV führt (107). Die Besserung depressiver Symptome ist mit
einer optimierten Einstellung des
Blutzuckers diabetischer Patienten
verbunden (100, 101).
Allgemein sind trizyklische Antidepressiva mit einem höheren Nebenwirkungsrisiko behaftet (55, 56). Gerade bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen kommt es häufiger zur orthostatischen Hypotension
(128). Anstieg der Herzfrequenz oder
kardiale Überleitungsstörungen –
beim Herzgesunden meist harmlos –
können den herzkranken Patienten
gefährden (130). Ähnlich wie bei anderen Typ-IC- oder -IA-Antiarrhythmika muss man annehmen, dass trizyklische Antidepressiva bei linksventrikulären Funktionseinschränkungen
proarrhythmogen wirken können
(22). Diese unerwünschten Arzneimittelwirkungen schränken die Anwendung von trizyklischen Antidepressiva
bei Komplikationen der koronaren
Herzerkrankung, wie etwa instabiler
Angina, Überleitungsstörung oder
Herzinsuffizienz, ein. SSRI weisen eine bessere kardiale Verträglichkeit auf
(131, 132, 145). Allerdings kommt es
bei einigen SSRI (Paroxetin, Fluoxetin, Fluvoxamin) zu Wechselwirkungen durch Hemmung von Zytochrom
P450 Enzymen, sodass der Metabolismus gleichzeitig verabreichter internistischer Medikation (vor allem βBlocker, Cumarine, Antiarrhythmika,
Statine) verändert werden kann. Daher sind bei Patienten mit Polypharmazie interaktionsarme SSRI (beispielsweise Sertralin, Citalopram) vorzuziehen. Zu anderen Antidepressiva, etwa
Venlafaxin, Nefazodon oder Mirtazapin, liegen bislang nur unzureichend
Daten zur Anwendung bei Patienten
mit koronarer Herzkrankheit vor. Unter Berücksichtigung von Sicherheit
und Wirksamkeit ist daher zum jetzigen
Zeitpunkt interaktionsarmen SSRI bei
der Behandlung depressiver Patienten
mit koronarer Herzerkrankung der
Vorzug zu geben.
Die entscheidende Frage allerdings,
ob bei Patienten nach überstandenem
Myokardinfarkt eine antidepressive
Therapie die kardiale Prognose bessert, ist derzeit Gegenstand mehrerer,
teils laufender, Studien; sie kann zum
jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beantwortet werden. Die
Ergebnisse der SADHART-Studie, bei
der placebokontrolliert die Wirkung
von Sertralin auf depressive Symptomatik und kardiales Risiko nach Myokardinfarkt untersucht wurde, geben
keine eindeutige Antworten. Die antidepressive Therapie mit Sertralin war
bei den untersuchten Patienten mit
pressive Symptomatik als auch die autonome Steuerung des Herzens günstig
beeinflusst (32), während der Einfluss
auf harte kardiale Endpunkte unzureichend belegt ist.
Konsequenzen für die Praxis
Man muss annehmen, dass ein Kardiologe, der auf einer 25-Betten-Station Visite
macht, vier Patienten mit einer schweren
Depression und fünf weitere mit einem
milden depressiven Syndrom sieht (96).
Dabei werden depressive Syndrome in
Allgemeinkrankenhäusern und Praxen
Textkasten 2
Depression – koronare Herzerkrankung: Was spricht für kausalen Zusammenhang ?*1
>
>
>
>
>
>
>
Stärke des Zusammenhangs: hoher Risikofaktor
Risiko abhängig vom Schweregrad/„Dosis-Risiko“-Beziehung
Stimmige zeitliche Reihenfolge des Auftretens
Befunde sind – unabhängig von Methoden und Populationen konsistent
Der Zusammenhang ist biologisch plausibel
Das Modell steht nicht im Widerspruch zu anderen Konzepten
Therapie der kausalen Bedingung mindert das Risiko?
!
!
!
!
!
!
?
*1 Modifiziert nach Nawacki I, Sparow P, Vokonas Ps, Weiss ST: Symptoms of anxiety and risk of coronary heart disease. The Normative Aging Study. Circulation 1994; 90: 2225–2229.
akutem Myokardinfarkt und instabiler
Angina pectoris sicher und effektiv.
Hinsichtlich den Endpunkten Tod,
Myokardinfarkt und Herzinsuffizienz
während der 24-wöchigen Behandlung
waren die Vorteile zugunsten Sertralin
allerdings nicht statistisch signifikant
(58). Jedoch ist zu bedenken, dass
die begrenzte Fallzahl (n=369) nur eine
geringere statistische Aussagekraft zuließ als vergleichbare Interventionsstudien mit kardiologischer Pharmakotherapie oder Cholesterinsenkern. Es ist
zu erwarten, dass die MIND-IT-Studie
(Myocardial Infarction and Depression
Intervention Trial, 151), bei der 320 depressive Patienten mit Myokardinfarkt
auf Mirtazapin und übliche Behandlung randomisiert werden, an ähnliche
Grenzen stößt. Gleiches gilt für die
Wirkung psychotherapeutischer Interventionen, die spezifisch auf depressive
Symptomatik abzielen (44, 45). Erste
Ergebnisse deuten darauf hin, dass kognitive Verhaltenstherapie sowohl de-
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häufig diagnostisch nicht ausreichend erkannt und nicht adäquat behandelt (52).
Es wird oft angenommen, dass depressive Stimmung und Erschöpfung ein normales Erleben bei schweren kardiovaskulären Erkrankungen darstellt.
Diese Annahmen berücksichtigen
nicht ausreichend die prognostische Bedeutung der affektiven Störung für die
Herzerkrankung. Um dem gesamten Risikoprofil des Patienten gerecht zu werden, ist daher ein systematisches Screening auf depressive Syndrome bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit von
ähnlicher Bedeutung wie Kontrollen
von Blutdruck, Blutzucker oder Cholesterin (65). Geeignet sind hierfür Selbstfragebögen, die in wenigen Minuten
ausgefüllt und ausgewertet sind. Bewährt hat sich dabei die hospital anxiety
and depression scale, die speziell für internistische Patienten konzipiert wurde
(Textkasten 2). Die standardisierte Auswertung von vierzehn Fragen erlaubt –
auch ohne psychiatrische Vorkenntnisse
A 3337
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– ein zuverlässiges Screening auf Depression und Angst. Bei positivem Screeningbefund sollte eine psychiatrisch-psychosomatische Untersuchung zur Diagnostik erfolgen und gegebenenfalls eine Therapie eingeleitet werden. Zudem
ist die vermehrte Ausbildung und Schulung von Internisten und Fachpflegepersonal genauso wichtig wie die Stärkung
konsiliarpsychiatrischer Dienste.
Vor allem sind Depressionen auch eine eigenständige Erkrankung, die gerade bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung zu erheblichem Leiden und
schwerwiegenden Funktionseinschränkungen führen (146). Daher benötigen
depressive Syndrome – völlig unabhängig von der Frage einer Verbesserung
des kardialen Risikos – eine konsequente Behandlung. Es gibt mittlerweile gute
Hinweise darauf, dass eine geeignete
antidepressive Therapie von Patienten
mit koronarer Herzerkrankung nebenwirkungsarm vertragen wird.
Folgende Punkte sind zu beachten,
wenn ein depressives Syndrom bei kardiologischen Patienten behandelt wird:
> Depression ist eine chronische Erkrankung und erfordert ein langfristig
angelegtes Behandlungskonzept.
> Therapie mit Antidepressiva bedarf fachkundiger Betreuung zur Sicherung der Compliance.
> Zumindest bei schwierigen Konstellationen muss ein Psychiater zu Rate gezogen werden.
> Zur Vermeidung von Nebenwirkungen ist mit niedrigen Dosen von
Antidepressiva zu beginnen; jedoch sollen Antidepressiva im Weiteren nicht
unterdosiert bleiben.
> Gleichzeitige Änderungen internistischer und antidepressiver Therapie
sind zu vermeiden.
> Antidepressiva mit anticholinergen
Nebenwirkungen (Trizyklika) und mit
pharmakokinetischen Wechselwirkungen über das Zytochrom-P450-System
sind erst nach Abwägung des NutzenRisiko-Profils einzusetzen.
> Nikotinentzug sollte unter Umständen erst nach Einsetzen der antidepressiven Wirkung begonnen werden.
> Psychotherapie ist bei milden Syndromen eine gleichwertige Alternative
zu Antidepressiva. Die besten Ergebnisse werden häufig durch eine Kombination beider Verfahren erzielt.
A 3338
Zusammenfassung
Der epidemiologische Zusammenhang
zwischen Depression und KHK ist gut
belegt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die
Datenlage hinsichtlich der pathophysiologischen Bindeglieder allerdings
noch unbefriedigend. Es ist allerdings
gut belegt, dass kardiovaskuläre Erkrankungen durch sympathoadrenale
und hyperkatabole Aktivität ungünstig, durch vagale Aktivität hingegen
günstig beeinflusst werden. Daher
scheint den Autoren die Modellvorstellung aktivierter Stresssysteme geeignet,
den Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Zuständen besser zu verstehen. Die Einbeziehung psychiatrischer Screeninguntersuchungen
in das Procedere kardiologischer Diagnostik scheint unabdingbar. Das psychiatrisch-diagnostische Interview und
gegebenenfalls die Einleitung therapeutischer Maßnahmen obliegt idea-
Referiert
lerweise einem psychiatrisch-psychosomatischen Konsiliardienst. Auf lange
Sicht scheint es sinnvoll, die Kluft zwischen dem psychiatrisch-psychosomatischen und dem kardiologischen Fachgebiet besser zu überbrücken, damit
Patienten, die an den beiden häufigen
Erkrankungen Depression und koronare Herzkrankheit leiden, besser behandelt werden können.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 3332–3338 [Heft 49]
Manuskript eingereicht am: 8. 3. 2002 revidierte Fassung
angenommen: 19. 9. 2002
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit4902 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. Michael Deuschle
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5
68159 Mannheim
E-Mail: [email protected]
Rauchen entscheidend für chronisch
entzündliche Darmerkrankungen
Etwa zehn Prozent aller chronisch entzündlichen Darmerkrankungen treten
familiär gehäuft auf, wobei das NOD-2Gen für einen Morbus Crohn prädisponiert. Die Autoren führten eine umfangreiche Analyse über die Rauchgewohnheiten bei Nachkommen von
242 Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen durch. In der
Studie wurden 658 Patienten erfasst.
Dabei zeigte sich, dass Rauchen zur
Entwicklung eines Morbus Crohn
(odds ratio: 3,55) führt, wohingegen
Raucher vor einer Colitis ulcerosa geschützt waren (odds ratio 0,28). Bei
Geschwisterpaaren, die sich hinsichtlich Rauchgewohnheiten und Art der
chronisch entzündlichen Darmerkrankung unterschieden, wiesen die Raucher fast immer einen Morbus Crohn
und die Nichtraucher eine Colitis ulcerosa auf. Die Autoren kommen zu
dem Schluss, dass der Tabakkonsum bei
genetischer Prädisposition dazu führt,
dass sich der Phänotyp von einer Colitis
ulcerosa in Richtung Morbus Crohn ändert, wie umgekehrt das Rauchen einen
protektiven Effekt bei sporadischer Cow
litis ulcerosa ausübt.
Bridger S, Lee JCW, Bjarnoson I, Lennard Jones JE,Macpherson AJ: In siblings with similar genetic susceptibility
for inflammatory bowel disease, smokers tend to develop Crohn’s disease and non-smokers develop ulcerative
colitis. Gut 2002; 51: 21–25.
Dr. A. J. Macpherson, Institut für experimentelle Immunologie, Universitätshospital Zürich, Schmelzbergstraße
12, CH-8091 Zürich. E-Mail: [email protected]
 Jg. 99
 Heft 49
 6. Dezember 2002
Deutsches Ärzteblatt
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