9 Depression und chronische körperliche Krankheit

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Depression und chronische körperliche
Krankheit
Wolfgang Herzog, Nicole Lossnitzer
9.1
Chronische Krankheit als Belastungsfaktor
In der psychosomatischen Medizin sind in den letzten Jahren Einschränkungen
der Lebensqualität und psychische Komorbiditäten bei chronischen körperlichen Erkrankungen systematisch untersucht worden. Eine reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit und die Verletzung der körperlichen Integrität sind erhebliche Veränderungen, die mit einer chronischen körperlichen Erkrankung
einhergehen können und bewältigt werden müssen. Auch kann eine subjektiv
empfundene oder objektiv beschreibbare Lebensbedrohung eine erhebliche Belastung für diese Patientinnen und Patienten darstellen. Schmerzen können erheblich beeinträchtigen und aversiv erlebte therapeutische Maßnahmen können
z.T. auch wiederholt und regelmäßig erforderlich sein. Neben den unmittelbar
indizierten medizinischen Maßnahmen wird nicht selten eine Abhängigkeit vom
medizinischen System insgesamt erlebt, Hilflosigkeit kann auftreten, persönlich
bedeutsame Werte und Rollen können wegfallen und das Selbstbild insgesamt
bedroht werden.
Angesichts der Multimorbidität – insbesondere im Alter – wurden mit dem
»chronic care model« auch Behandlungsansätze entwickelt, die weniger auf spezifische Krankheiten als vielmehr auf diesen Gesamtkomplex der Belastung
durch chronische Krankheiten zielen und Möglichkeiten des Umgangs damit
suchen. Im Folgenden soll ein Teilaspekt, nämlich der Zusammenhang von
chronischer Krankheit und depressiven Störungen genauer untersucht werden.
9.2
Epidemiologie depressiver Störungen bei
körperlichen Krankheiten
Große, repräsentative Studien der letzten Jahre konnten wiederholt zeigen, dass
chronisch kranke Patienten ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer depressiven Störung haben (z. B. Wittchen u. Jacobi 2001). Prävalenzen für depressive Störungen bei muskuloskelettalen Erkrankungen, Krebs,
Diabetes oder Herzerkrankungen lagen hier bei 30 % und mehr.
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9.3
B Klinische Aspekte
Folgen depressiver Störungen bei körperlichen
Krankheiten
Depressivität geht zahlreichen Studien zufolge mit einer erhöhten Mortalität
chronisch kranker Patienten einher. Während dies zunächst auf eine größere
Krankheitsschwere zurückgeführt wurde, belegten in der Folge viele Untersuchungen, dass Depressivität bei kontrollierter Krankheitsschwere ein unabhängiger Prädiktor für Mortalität ist. In unserer Arbeitsgruppe gelang dies Zipfel et
al. für herztransplantierte Patienten sowie Jünger et al. für eine Kohorte herzinsuffizienter Patienten (Zipfel et al. 2002; Jünger et al. 2005).
Arbeitsfehltage bei Patienten mit chronischer Polyarthritis hängen in hohem
Ausmaß von einer psychischen Komorbidität – hier im Wesentlichen einer Depression – ab. Sowohl bei milden als auch bei schweren Formen der Erkrankung
kommt es beim Vorliegen einer Komorbidität zwei- bis dreifach häufiger zu Arbeitsfehltagen. Eigene Untersuchungen ergaben, dass die Krankenhausliegedauer
bei depressiver Komorbidität zunimmt. Sullivan et al. konnten z. B. in einer Untersuchung für herzinsuffiziente Patienten einer US-amerikanischen Health
Maintenance Organisation zeigen, dass die Krankheitskosten/Jahr um mindestens 30 % ansteigen, wenn eine Depression vorliegt (Sullivan et al. 2002).
9.4
Ätiologische Überlegungen
Ätiologiemodelle können von einer strengen Kausalität ausgehen (causal models, z. B. kann eine Indexerkrankung der komorbiden Störung vorausgehen –
wie beim M. Cushing) oder als »shared underlying etiology models« Risikofaktoren für beide Erkrankungen annehmen, die sich gegenseitig verstärken. So
kann modellhaft davon ausgegangen werden, dass somatische Aspekte, psychische Aspekte und verhaltensbezogene Aspekte wechselseitig durch reziproke
bio-psycho-soziale Interaktionen miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Somatische Krankheitsfolgen können z. B. ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht bewirken. Umgekehrt können psychische Aspekte
durch eine sympathikotone Hyperregulation Puls und Blutdruck beeinflussen
usw. Hierbei können in der Regel protektive und vulnerabilitätssteigernde Faktoren unterschieden werden.
Eine weitere Gruppe von Befunden zeigt, dass psychischer Stress bei vorbestehenden Läsionen, z. B. bei artherosklerotischen und normalen Koronar-Gefäßen
(Yeung et al. 1991), zu einer Reduktion der Durchblutung führt und sich damit
schädlicher auswirkt als bei Gesunden, wo er eher eine Durchblutungssteigerung
bewirkt.
Schließlich ist die Biographie und Krankheitsgeschichte von großer Bedeutung: So sind vermehrter Alkoholgenuss, die körperliche und psychische Lebensqualität im Gegensatz zum Vorliegen einer (ersten) Depression keine Korrelate suizidaler Gedanken bei Herzinsuffizienten. Wohl sind aber suizidale
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Prädisponierende Faktoren
Belastende Lebensumstände und Stress,
genetische Prädisposition,
Persönlichkeitseigenschaften
Depression
Sympathikotone Überaktivierung,
Hypercortisolismus,
Proinflammatorische Prozesse
Psychologische und
verhaltensbezogene Effekte
Rauchen↑, Bewegung↓,
Compliance↓
Risikofaktoren
Lipide↑, Blutduck↑, Blutzucker↑,
Metabolisches Syndrom↑
Neurobiologische Effekte
Herzfrequenz↑,
Herzfrequenzvariabilität↓,
Vasokonstriktion↑,
Thrombozytenaktivität↑
KHK, Myokardinfarkt,
Herzinsuffizienz
Abb. 9-1 Interaktionen bei Depression und kardiovaskulären Erkrankungen (nach Härter et al.
2007)
Gedanken bei rezidivierender Depression (odds ratio 47!) bei Herzinsuffizienten
häufig (Lossnitzer et al. 2009). So lässt sich nach Härter ein komplexes Ursachenund Beeinflussungsgefüge von prädisponierenden Faktoren, Risikofaktoren,
psychologischen und verhaltensbezogenen Effekten sowie von kardiovaskulären
Krankheiten und der Depression entwickeln (Härter et al. 2007; Abb. 9-1).
Norra et al. (2008) oder Joynt et al. (2004) wiesen auf gemeinsame biologische
Endstrecken für Entstehung und Verlauf von körperlichen Erkrankungen (hier
z. B. koronarer Herzkrankheit) und Depression hin: die sympathikotone Hyperregulation, proinflammatorische Prozesse, Hyperkortisolismus, Arrhytmien und
Thrombozytenaktivität.
Im Gegensatz zu koronarer Herzkrankheit und Diabetes gibt es für Krebserkrankungen keine Hinweise dafür, dass depressive Patienten oder solche, die jahrelangem Stress ausgesetzt waren, häufiger an Krebs erkranken. Depression wird
hier eher als Folge der Erkrankung verstanden: Gemeinsame biologische Endstrecken scheinen hier also eine geringere Rolle zu spielen.
Angesichts der ätiologisch zumindest plausibel klingenden pathophysiologischen Erklärungsansätze muss verwundern, dass die prospektive Untersuchung
der Mortalität bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit und Depression und
Patienten mit Krebs und Depression bei riesigen Patientengruppen zwar eine
insgesamt erhöhte Mortalität, aber keine nennenswerten Unterschiede zwischen
Patienten mit Krebs und KHK erbrachte. Dies spricht gegen eine gewichtige Be-
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B Klinische Aspekte
deutung des Arguments der gemeinsamen bzw. unterschiedlichen biologischen
Endstrecken.
9.5
Diagnostik von komorbiden depressiven Störungen
im klinischen Alltag
Depressive Störungen werden meist nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt. So wird z. B. bei 40 % der herzinsuffizienten depressiven Patienten die Depression nicht diagnostiziert (Koenig 2007). Auch suizidale Absichten werden
oft nicht rechtzeitig erkannt (Juurlink et al. 2004): 50 % der chronisch erkrankten
älteren Patienten, die einen Suizidversuch begehen, waren eine Woche zuvor bei
ihrem Hausarzt.
Hindernisse für eine adäquate Diagnostik komorbider depressiver Störungen
sind:
• auf Seiten der Behandler: Zeitmangel, hohe Arbeitsbelastung, selektive Aufmerksamkeit, fehlende Schnittstellenanbindung;
• auf Seiten der Patienten: Scham, Angst vor Stigmatisierung, Interpretation der
Symptome als Teil der somatischen Erkrankung;
• hinsichtlich der Symptomatik: sich überlappende Symptome wie Müdigkeit,
Erschöpfung, schlechte Schlafqualität.
Eine routinemäßiges Screening von Depression und Lebensqualität herzinsuffizienter Patienten (Holzapfel et al. 2007) wird z. B. in der Herzinsuffizienz-Ambulanz der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg oder im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen der Universitätsklinik Heidelberg (NCT) mit dem
SF-36 (Bullinger u. Kirchberger 1999) und der PHQ-9 (Löwe et al. 2002) durchgeführt. Diese kurzen Fragebögen können in der Wartezeit ausgewertet werden
und erlauben bzw. erfordern eine psychosomatische Akutintervention nach dem
Überschreiten von Schwellenwerten. Knapp 29 % der Patientinnen und Patienten erhielten wegen einer Depression ein Behandlungsangebot. Etwa ein Drittel
nahm das Behandlungsangebot an, knapp 30 % wollten später darauf zurückkommen, 20 % lehnten das Angebot ab. Nur 5 % der depressiven Patienten waren
bereits in Behandlung.
9.6
Ziele und Wirksamkeit von Therapien
Vorrangige Therapieziele bei Depressionen im Rahmen chronischer Erkrankungen sind:
• Integration der Erkrankung in die Biographie/Akzeptanz der Erkrankung
• Entwicklung neuer Perspektiven und Sinnfindung (auch Auseinandersetzung
mit Sterben und Tod)
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Stärkung von Ressourcen und Selbsthilfepotenzialen
Einbezug des Partners und der Familie
Beachtung der beruflichen Ebene und
Unterstützung bei der Alltagsbewältigung und Umgang mit Behandlungsformen.
Die Wirksamkeit psychosozialer Interventionen bei chronischen Krankheiten
wird durch viele Studien und zusammenfassende Metaanalysen bei koronarer
Herzkrankheit und Krebs belegt (z. B. Boesen u. Johansen 2008, Daniels u. Kissane 2008):
• Psychotherapeutische Interventionen zur Reduktion von Depression und
Angst zeigen mittlere Effektstärken (bei Krebs: Übelkeit 0.69, Schmerz 0.4).
• Gruppentherapien scheinen etwas wirksamer zu sein als Einzeltherapien.
• Besondere Wirksamkeit zeigen Interventionen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit.
Vermutlich haben psychotherapeutische Interventionen jedoch keinen Einfluss
auf die Überlebenszeit der Patienten.
9.7
Fazit
• Chronische Erkrankungen gehen mit hohen Prävalenzraten depressiver Störungen einher, wobei der Zusammenhang bei Frauen stärker ausgeprägt ist.
• Komorbide depressive Störungen beeinflussen den Verlauf und die Prognose
der Grunderkrankung negativ.
• Komorbide depressive Störungen werden dennoch meist nicht rechtzeitig
diagnostiziert und behandelt.
• Eine Verbesserung der Diagnostik komorbider depressiver Störungen bei
chronischen Erkrankungen ist ebenso wie die Weiterentwicklung spezifischer
Behandlungsansätze und deren Überprüfung in randomisiert klinischen Studien dringend erforderlich.
Literatur
Boesen EH, Johansen C. Impact of psychotherapy on cancer survival: time to move on? Curr
Opin Oncol 2008; 20: 372–7.
Bullinger M, Kirchberger I. SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand. Göttingen: Hogrefe 1999.
Daniels J, Kissane DW. Psychosocial interventions for cancer patients. Curr Opin Oncol
2008; 20: 367–71.
Härter M, Baumeister H, Bengel J. Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen.
Berlin: Springer 2007.
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