Behandlung der Depression: Bei wem sitzen Sie richtig? Dr. Ernst-Jürgen Borgart AHG Psychosomatische Klinik Bad Pyrmont Bio-psycho-soziales Modell der Depression  Genetische Veranlagung  Veränderungen im Neurotransmitter-Haushalt des Gehirns  Kritische Lebensereignisse und Stressbedingungen  Verhaltensdefizite  Dysfunktionale Einstellungen 2 Berufliche Problemkonstellationen  Stressbelastungen am Arbeitsplatz  Konflikte am Arbeitsplatz („Mobbing“)  Drohende Kündigung  Arbeitslosigkeit  Auslaufen des Arbeitslosengeldes  Wegfall von Arbeitslosengeld II 3 Geänderte Arbeitswelt:  ständig steigendes Arbeitsvolumen, Arbeitsüberlastung  Abnahme von „Fairness“  weniger „Gemeinschaft“ und „Vertrauen“  teilweise widersprüchliche Erfordernisse  rasches Veränderungstempo  immer höhere Komplexität  Dienstleistungsarbeit (kognitive statt manuelle Tätigkeiten)  z.T. unzureichende Belohnung der erbrachten Arbeit  Absinken der Arbeitsplatzsicherheit  Globalisierung ... 4 Krankheitsursachen für Frühberentungen (Daten der DRV Bund für 2007) Bei Männern:  Psychische Erkrankungen 36% (Rangplatz 1) Bei Frauen:  Psychische Erkrankungen 5 43% (Rangplatz 1) Erklärungsmodelle zur Entstehung / Aufrechterhaltung depressiver Syndrome 1. Verstärkerverlustmodell nach LEWINSOHN 2. Kognitive Modelle: 1. Kognitive Triade nach BECK 2. Irrationale Überzeugungen nach ELLIS 3. Gelernte Hilflosigkeit nach SELIGMAN 3. Interaktionstheoretische Modelle: 1. Interpersonelle Psychotherapie nach KLERMAN & WEISSMAN 2. Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) nach McCullough 6 Verstärkerverlustmodell nach LEWINSOHN potenziell verstärkende Ereignisse Erreichbarkeit von positiver Verstärkung in der Umgebung niedrige Rate positiver Verstärkung soziale, berufliche Fertigkeiten der Person soziale Vermeidung 7 Depression soziale Verstärkung (Sympathie, Interesse, Anteilnahme) Kognitives Modell nach BECK Dysfunktionale Grundannahmen Ereignisse 8 (negative) automatische Gedanken Depression Die kognitive Triade der Depression 9 negative Sicht der eigenen Person („Ich bin ein Versager, minderwertig“) negative Sicht der Umwelt („Keiner mag mich, alles richtet sich gegen mich“) negative Sicht der Zukunft („Es ist hoffnungslos, es wird nie besser werden, Schreckliches wird geschehen.“) Vier Grundkategorien irrationaler Überzeugungen nach ELLIS 1. Absolute Forderungen (Muss-Gedanken) 2. Globale negative Selbst- und Fremdbewertungen 3. Katastrophendenken 4. Niedrige Frustrationstoleranz 10 Modell der erlernten Hilflosigkeit nach SELIGMAN Negative Ereignisse als unkontrollierbar wahrgenommen Ursachenerklärung kognitiver Stil Globalität Stabilität Internalität Erwartungshaltung: kein Verhalten ermöglicht Kontrolle Hilflosigkeit welche Bereiche, wie lange? Zukünftige Lage, Ausgangserwartung Symptome: Passivität kognitive Defizite Trauer, Angst, Feindseligkeit Aggression È Appetit È Neurochemie È Krankheit Ç Selbstwert 11 Seligmans Attributionsschema der Depression: Weshalb ich mein Mathematikexamen nicht bestanden habe intern 12 extern Grad stabil unstabil stabil unstabil umfassend Mir fehlt es an Intelligenz Ich bin erschöpft Diese Es ist ein Prüfungen sind Unglückstag, alle unfair Freitag, der Dreizehnte spezifisch Mit fehlt es an mathematischer Begabung Ich habe Mathematik satt Die Mathematikprüfungen sind unfair Ich hatte bei der Mathematikprüfung die Nummer „13“ Kognitionen Realitätsfremde, verzerrte negative Strukturen; unrealistische Selbstbewertungen etc. Soziales Verhalten Situative Bedingungen, Auslöser Verhaltensdefizite, geringe Bewältigungsstrategien etc. Aktivitätsrate Mangel an reaktionskontingenten Verstärkern, potenziell verstärkenden Ereignissen und Aktivitäten Hintergrund- und Umweltbedingungen (sozial, materiell etc.) 13 Depression Veränderungsstrategien 1. Aktivitätsaufbau 2. Aufbau sozialer Fertigkeiten 3. Negative Kognitionen verändern 14 Aktivitätenplanung  10-12 positive Aktivitäten aus der Liste angenehmer Aktivitäten heraussuchen  einige positive Aktivitäten für den Tag planen und durchführen  jeden Abend protokollieren: - Anzahl der durchgeführten Aktivitäten - Durchschnittlicher Stimmungspunktwert (1 = miserabel, 10 = wunderbar) 15 Typische Probleme im Umgang mit anderen Menschen - weniger Aktivität in sozialen Situationen, z.B. weniger reden, Freunde nicht mehr anrufen - Schwierigkeiten, neue Kontakte zu knüpfen - empfindlichere Reaktionen auf Nichtbeachtung oder Zurückweisung - weniger Durchsetzungsfähigkeit: - sich nicht für eigene Wünsche einsetzen - die eigene Meinung nicht äußern ⇒ Insgesamt weniger Selbstsicherheit im Kontakt Selbstbeobachtungsprotokoll I Datum: SITUATION Was ist passiert? Ein Mitpatient geht an mir vorbei, ohne zu grüßen GEDANKEN Was habe ich gedacht? „Ich habe etwas falsch gemacht, der Mitpatient ist deshalb ärgerlich auf mich.“ GEFÜHLE Wie habe ich mich verhalten? Wie habe ich mich gefühlt? traurig unsicher „Der mag mich nicht.“ „Der findet mich langweilig.“ „Mich mag sowieso keiner.“ „Der hat mich nicht gesehen.“ 17 gelassen Selbstbeobachtungsprotokoll II Datum: Situation Ein Mitpatient geht an mir vorbei, ohne zu grüßen unangemessene Gefühle automatische negative Gedanken traurig unsicher „Ich habe etwas falsch gemacht, deshalb ist er ärgerlich auf mich.“ „Er mag mich nicht.“ 18 alternative hilfreichere Gedanken veränderte Gefühle „Vielleicht ist er in Gedanken ausgeglichen. und hat mich nicht gesehen.“ „Ist mir auch schon passiert, dass ich jemanden, den ich mag, nicht gesehen habe.“ Typische depressive „Gedankenfallen“  selektive Wahrnehmung  Schwarz-Weiß-Denken  Generalisierung (Verallgemeinerung)  Personalisierung  vorzeitige Schlussfolgerungen (Gedankenlesen, falsche Vorhersagen) 19 Techniken zur Verminderung negativer Gedanken  Realitätsprüfung, Wahrscheinlichkeit einschätzen  Reattribuierung  Perspektivenwechsel  Gedankenunterbrechung („STOP“)  Grübelstuhl, Grübelstunde  Aufblasetechnik (übertreiben, bis negativer Gedanke lächerlich wirkt)  Zeitverschiebung („Wie denke ich in 10 Jahren darüber?“) 20 Fünf Kriterien für einen "rationalen" Gedanken 1. Ist er wahr, d.h. basiert er auf der objektiven Realität oder auf bekannten Tatsachen? 2. Hilft mir dieser Gedanke, mein Leben zu (be)schützen? 3. Hilft mir dieser Gedanke, kurz- und längerfristige Ziele zu erreichen? 4. Hilft mir dieser Gedanke, bedeutsame Konflikte mit anderen zu vermeiden oder zu verhindern? 5. Hilft mir dieser Gedanke, mich so zu fühlen, wie ich mich fühlen möchte? 21 Depressionen (nach ICD-10) Depressive Episode F 32 Rezidivierende depressive Störung F 33 Schweregrade: leicht, mittel, schwer Symptomatik: 22 mit/ohne somatischem Syndrom Dysthymia F 34.1 kurze depressive Reaktion F 43.20 längere depressive Reaktion F 43.21 Diagnose depressiver Episoden (1) (s. Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression) Diagnose depressiver Episoden (2) Schweregrad mittelgradige leichte schwere psychotische Symptome? somatische Symptome? weitere Symptome nein ja ja nein Depressive Episode Verlaufsaspekte monophasisch Rezidivierend/ chronisch Im Rahmen eines bipolaren Verlaufs ICD-10 F32.xx F33.xx F31.xx (s. 24 Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression) Therapie depressiver Störungen (1) (s. 25 Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression) Therapie depressiver Störungen (2) (s. 26 Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression) Ungünstige Variante: Parallelbehandlungen  Psychotherapeut „führt Gespräche“  Nervenarzt verordnet Medikamente  Hausarzt „schreibt krank“  Patient bespricht mit Hausarzt, einen „Kurantrag“ zu stellen 27 Ablauf bei längerer Arbeitsunfähigkeit  Längere Arbeitsunfähigkeit  Medizinischer Dienst der Krankenkasse veranlasst stationäre medizinische Rehabilitation  Aussteuerung (nach 18 Monaten)  Rentenantrag  Gutachterliche Untersuchungen, ggf. „Reha vor Rente“  Entwicklung sekundärer Motive 28 Indikationen für stationäre Verhaltenstherapie a) Sozialmedizinische Problemstellungen, z.B. länger als 6 Monate arbeitsunfähig b) Aufrechterhaltende Faktoren im sozialen Umfeld c) Komorbidität der psychischen Erkrankung mit körperlichen Erkrankungen oder Suchtproblematik d) Ausgeprägter sozialer Rückzug des Patienten 29 Behandlungsbausteine  Einzelpsychotherapie beim Bezugstherapeuten  Co-Therapeutische Einzelbetreuung  Problemlösegruppen  Training sozialer Fertigkeiten  Entspannungstraining  Spezielle indikative Gruppen, z.B. Depressionsgruppe  Weitergehende themenorientierte Gruppen, z.B. Genussgruppe 30 Psychopharmakotherapie  Kombinationsbehandlung von Psychotherapie und antidepressiver Medikation ab einem mittelschweren Grad der Depression sinnvoll  Häufig bereits bei leichterem Ausprägungsgrad wirksam  Wirkeintritt der Antidepressiva in der Regel nach 3 bis 4 Wochen  Erhaltungstherapie über mehrere Monate nach Abklingen der Symptomatik  Bei rezidivierenden depressiven Störungen auch als längerfristige Erhaltungstherapie im Sinne der Phasenprophylaxe  Vorrangige Gabe der „neuen“ Antidepressiva 31 Weitere Bausteine  Soziotherapie / Belastungserprobung  Ergo- und Kreativtherapie  Sport- und Bewegungstherapie  Physiotherapie und Krankengymnastik  Musiktherapie  Medizinische Zentrale  Testpsychologie und Biofeedback 32 Langzeitveränderungen stationärer Verhaltenstherapie  Ergebnisse des Bad Pyrmonter Katamneseprojektes (DAK-AHG-Studie) (2-Jahres-Katamnese) 33 Beck Depressionsinventar (BDI) bei F 32 / F 33 (N = 37) 25 Mittelwert (Summenscore 0 - 63) 20,15 Score <= 10: Keine Depression 20 12,36 15 11,08 10 5 0 t1 = Aufnahme t2 = Entlassung t3 = 2-Jahreskatamnese t1 vs t2: *** t2 vs t3: n.s. t1 vs t3: *** (n.s.: nicht signifikant; ***: p <= 0,001) 34 Score <=17: Mäßige Depression Beck Depressionsinventar (BDI) bei F 34 (N = 22) 25 Mittelwert (Summenscore 0 - 63) 23,93 20 16,05 13,09 15 Score <=17: Mäßige Depression 10 5 0 t1 = Aufnahme t2 = Entlassung t3 = 2-Jahreskatamnese t1 vs t2: *** t2 vs t3: n.s. t1 vs t3: *** (n.s.: nicht signifikant; ***: p <= 0,001) 35 Score <= 10: Keine Depression Zusammenfassend: Im Zeitraum von 2 Jahren nach der stationären Behandlung reduzieren sich  Krankheitszeiten  stationäre Akutbehandlungen  ambulante Arztkontakte  Medikamentenkonsum 36 Vergleich der Krankheitskosten je Fall in 2 Jahren vor Beginn und nach Abschluss stationärer verhaltensmedizinischer Behandlung bei Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen 14,6 16 Gesamt vor Beginn (25.123 €) 39.769 € in Tausend Euro 14 12 10 6,9 8 5,4 6 4 2,8 2,3 2,6 5,4 3,1 1,5 1,4 2 4,1 4,1 Gesamt nach Entlassung (14.041 €) 18.215 € 1,7 1,4 0 amb. Vers. amb. Vers stat. Krh KG LF 37 stat. Krh KG = ambulante Versorgung = stationär Krankenhaus = Krankengeld = Lohnfortzahlung LF PV < 42 PV ü. 42 Medik. PV < 42 = Produktivitätsverluste bis 42. AU Tag PV ü. 42 = Produktivitätsverluste üb. 42 AU Tage Medik. = Medikamentenkosten Vergleich der anteiligen Krankheitskosten je Fall in 2 Jahren vor Beginn und nach Abschluss stationärer verhaltensmedizinischer Behandlung bei Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen 40 39,8 35 27,1 in Tausend Euro 30 25 18,2 20 12,7 11,4 15 6,7 10 5 0 Krankenkasse 38 Arbeitgeber Gesamtkosten Zusammenfassend:  Die Krankheitskosten reduzieren sich um 54 Prozent  Für stationäre Behandlung ergibt sich ein Investitions-Nutzen-Verhältnis von 1 : 3,79 39