WISSEN 30 Tages-Anzeiger · Mittwoch, 11. Februar 2009 BILD RAINER DRECHSLER/FOTEX Panorama im Gotthardmassiv: Die Zentralalpen wachsen immer noch bis zu einem Millimeter pro Jahr, obschon sie eigentlich geologisch tot sind. Warum die Alpen ohne afrikanischen Druck wachsen Von Martin Läubli Wie einfach doch die Alpen im Geografieunterricht gewachsen sind. Der Lehrer schob die Enden eines Stücks Papier zusammen. Schon stieg eine Falte mit steilen Flanken empor. Anschaulicher kann man die Plattentektonik nicht zeigen. Und die Erklärung leuchtete ein. Die europäische Kontinentalplatte kollidierte mit der afrikanischen. Unter dem gewaltigen Druck zersplitterten Teile der europäischen Erdkruste in Späne, die wie bei einem Ziegeldach übereinandergeschoben wurden (sieh Grafik). Das war vor 20 bis 30 Millionen Jahren. Heute erinnert das Herz des europäischen Alpenbogens, das Aar- und Gotthardmassiv an diese Zeit. Oder die Glarner Hauptüberschiebung im Grenzgebiet der Kantone St. Gallen, Graubünden und Glarus – seit dem letzten Jahr UnescoWeltnaturerbe. Doch mit der Plattenkollision allein scheint die Gebirgsbildung generell nicht erklärbar. Vor allem nicht in den letzten 10 000 Jahren. Die Erdkruste ist heute noch in Bewegung. Sie hebt sich um 0,2 Millimeter pro Jahr im Mittelland, bis zu 1 Millimeter in den Alpen. Das überrascht manche Geologen. «Eigentlich sind die Zentralalpen ein totes Gebirge», sagt Fritz Schlunegger, Geologe an der Universität Bern. Ein abgespaltener Teil Afrikas, die Apulische Mikroplatte, würde zwar noch immer auf Europa zusteuern, doch diesmal nicht geradlinig. Sie drehe sich, und das Rotationszentrum liege etwa bei Hebung ist Antwort auf Erosion Also suchen Geologen, darunter auch Fritz Schlunegger, seit einiger Zeit nicht allein in der Stauchung der Erdkruste Gründe der Gebirgshebung, sondern auch in den Prozessen an der Erdoberfläche. Kalt- und Warmzeiten sind während Hunderttausenden von Jahren ins Land gezogen, einmal war es kalt und trocken, einmal warm und feucht. Gletscher sind vorgestossen, formten Täler und schmolzen wieder ab. Bäche und Flüsse gruben sich ins Gestein, Bergflanken lösten sich, Murgänge ergossen sich ins Tal. Gigantische Mengen an Felsmaterial wurden dabei abgetragen und in glazial vorgeformte Becken wie den Bodensee und in die Schwemmebenen im Mittelland transportiert. «Die Hebung ist eine Antwort darauf», postuliert Schlunegger. Es gibt zahlreiche Indizien, die bei der Hebung der Erdkruste quer durch Europa auf Prozesse an der Erdoberfläche hindeuten. «Warum sollte dies nicht auch für die Alpen zutreffen?», fragt der Brite Rob Westaway in einer Veröffentlichung der Geological Society of America rhetorisch. Forscher der Universität Hannover stüt- nach einer Vergletscherung in einem topografischen UnQuerschnitt vom Jura bis zur Po-Ebene gleichgewicht ist. Die Eismassen bera reiten das Terrain u J n für eine stärkere ke c e Erosion vor: So eb werden Talflanken und das Gefälle der Flüsse steiler. Steigt die Erosionsrate, so nimmt Po-Ebene die isostatische Kraft der Alpen zu. Adria Es ist wie bei einem Eisklotz im Meer. Schmilzt die Mittelmeer Spitze, erhöht sich der Auftrieb des Verschiedene Sedimentschichten (z. B. Meeresablagerungen wie Kalk, Sand, Ton) Eisberges. Analog zu den Alpen ist Po- Ebene Jura der viskose obere Aar-Massiv Gotthard-Massiv Südliche Alpen Erdmantel das Molassebecken N S Meer, auf der 0 km die Erdkruste Europäische obere Kruste ere Kr. «schwimmt». Nur Adriatische ob Europäische untere Kru ste uste Kr re te un e ch ist der GebirgskörAdriatis per schlechter aus50 km Verk Erdmantel Erdmantel eilun balanciert als die g Eisscholle. Geolo50 km gen der ETH Zürich TA-Grafik mt / Quelle: Tectonics 1996, vereinfacht haben die Schwerzen die These mithilfe von Beryllium-Un- kraft des Alpenkörpers gemessen. Der tersuchungen im Gestein der Alpentäler. Schluss: Die Wurzel der Alpen liegt zu tief. Sie fanden heraus, dass die Bewegung der Bei einer Dicke der Erdkruste von 40 bis Alpen für die Zeit nach der letzten grossen 60 Kilometern müsste die AusgleichsheVergletscherung ähnlich stark war wie die bung nach starken erosiven Prozessen Erosionsrate an der Oberfläche. Beryllium stärker sein. «Die Spitzen der Zentral- und ist ein Radionuklid und entsteht aus Sauer- Westalpen müssten 500 bis 1000 Meter stoffisotopen, wenn kosmische Strahlung höher liegen», sagt Schlunegger. aus dem Weltall auf Quarz im Gestein Eine mögliche Begründung sehen die trifft. Je grösser die Erosion, umso kürzer Geologen an der Grenze der Erdkruste die Exposition und umso geringer die Be- zum Mantel. Der untere Teil der Alpenrylliumkonzentration im Fels. Sind die kruste ist im Mantel verkeilt. «Hier könnte Hannover-Studien nur Zufall? Fritz Schlu- die Kraft sein, welche eine stärkere Henegger ist überzeugt, dass die Landschaft bung bremst», sagt Schlunegger. Diese as s Die Alpenfaltung ol Turin. «Es gibt deshalb nahezu keinen Zusammenstoss in den Schweizer Alpen», sagt Schlunegger. Die Bewegungsdaten, erhoben mit GPS-Satellitenmessungen, sind zwar umstritten, weil der Messfehler gross ist und die Untersuchungsdauer kurz war. Trotzdem hält der Berner Geologe die These für realistisch: Die Alpen wachsen ohne den Druck kontinentaler Platten. «Es gibt im Zentralgebirge praktisch keine aktiven tektonischen Störungen, die auf grössere Hebung hindeuten», sagt Schlunegger. Für die seismisch unruhigen Zonen im Wallis seien Spannungsfelder im Gebirgskörper verantwortlich, die aber durch eine Druckentlastung entstehen – durch die Simplonabschiebung. M Die Zentralalpen müssten ein totes Gebirge sein, weil Afrika zu wenig auf Europa drückt. Doch sie wachsen. Geologen sehen einen Grund in der Erosion der Erdoberfläche. WISSEN IM ALLTAG Wie Herr Holle die erste Schneefabrik in Europa erfand In der Schweiz gibt es immer mehr Schneekanonen. Gut ein Viertel der Pisten werden technisch beschneit. Doch wie entsteht Kunstschnee? Von Barbara Reye Als sich der deutsche Ingenieur Fritz Jakob in den 60er-Jahren eine Technik für Schneekanonen ausdachte, war von globaler Erwärmung und Gletscherschmelze noch nicht gross die Rede. Die Idee für eine solche Pistenmaschine hatte Jakob damals in Amerika abgeguckt. Aufgrund einer anderen Luftfeuchtigkeit funktionierte der Beschneiungsapparat mit Propellerantrieb in den europäischen Alpen jedoch nicht und spuckte vor allem Wasser statt Schnee aus. Mit grosser Leidenschaft tüftelte Fritz Jakob noch lang in seiner Werkstatt in der Nähe von München herum, bis er endlich die optimalen Druckverhältnisse fand. Tatsächlich rieselte irgendwann genug künstlicher Schnee, und er erhielt den Spitz- namen Herr Holle. Zur damaligen Zeit war es nicht absehbar, dass Fritz Jakob mit seiner Niederdruck-PropellerSchneekanone in Europa eines Tages geradezu eine Investitionslawine für den Wintertourismus auslösen würde. Heute arbeiten immer noch viele Anlagen nach seinem NiederdruckPrinzip. So zerstäuben Düsen mithilfe eines Luftstroms unter einem bestimmten Druck Wasser. Zusätzlich wird durch weitere, sehr kleine Düsen ein Gemisch von Wasser und Luft gepresst. Durch einen Druckverlust beim Austritt aus diesen Düsen bilden sich in der kalten Umgebungsluft kleine Eiskristalle. Sie treffen in der Luft auf die Tropfen aus den anderen Düsen, lassen diese gefrieren und als Schnee zu Boden fallen. In der Schweiz steht inzwischen ein gan- zes Arsenal an gelben, blauen oder silberfarbenen Geräten an den Pistenrändern. Um den Mangel an Naturschnee zu kompensieren und die Pisten belastbarer zu machen, wird hierzulande mehr als ein Viertel der Skipistenfläche technisch beschneit. Neben den lauten und monströsen Propeller-Schneeerzeugern gibt es den leiseren, filigraneren Typ einer mehrerer Meter langen Lanze. Er verbraucht weniger Energie, erzeugt aber etwa ein Drittel weniger Schnee pro Stunde. Damit Propellermaschinen auch bei wärmeren Temperaturen und ungenügender Luftfeuchte noch Kunstschnee herstellen, werden in der Schweiz – im Gegensatz zu Deutschland und Österreich – oft abgetötete Bakterien zur Eiskristallbildung eingesetzt. Keine solchen biologischen Zu- sätze benötigt die vor kurzem im Wallis eingeführte, aber sehr teure und energiefressende «All-Wetter-Schneemaschine» aus Israel, bei der unter Vakuum mit einer ganz eigenen Technik in einer grossen Anlage stationär Schnee fabriziert wird. Auch herkömmliche Schneelanzen kommen ohne die umstrittenen Bakterien aus. Vor kurzem ist es Experten des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos zusammen mit der Fachhochschule Nordwestschweiz gelungen, die Düsentechnik weiter zu verbessern. Sie benötigt jetzt deutlich weniger Energie und ist auch bei einer etwas höheren Temperatur noch einsetzbar. «Generell sind die Wasserressourcen bei der Beschneiung weiterhin ein zentrales Thema», sagt Hansueli Rhyner vom SLF. «Deshalb muss man auf die Restwassermengen Rücksicht nehmen.» Der Energieverbrauch der Anlagen sei entgegen der öffentlichen Meinung jedoch nicht so hoch. In Davos brauche man beispielsweise für die Beschneiung eines Skigebietes nicht mehr Energie als für das Hallenbad. www.wissenimalltag.tagesanzeiger.ch Bremswirkung liesse also nach, wenn diese Verbindung allmählich abreissen würde. Manche Forscher glauben, dass dies in einem längeren Zeitraum gesehen bereits der Fall ist. Zum Beispiel beim Rheinfall. Dort beträgt der Reliefunterschied 40 bis 50 Meter. Der Untergrund hob sich an. Geschieht dies weiterhin, wird sich die Erosionsrate des Rheins erhöhen. Die Konsequenz: Die Kante des Rheinfalls verschiebt sich in den nächsten Jahrtausenden nach hinten. Modelle bestätigen These Die These der abreissenden Erdkruste könnte auch eine andere Beobachtung erklären. Jean-Daniel Champagnac von der Universität Hannover hat in einer noch unveröffentlichten Arbeit quantitativ mit einem Computermodell aufgezeigt, dass starke Erosion durchaus eine Gebirgshebung auslösen kann. Für die Alpennordseite stimmten die Modellergebnisse gut mit den Beobachtungen überein. Auf der Südseite hingegen, im Tessin und im Wallis, konnte nur etwa 70 Prozent der Alpenhebung mit der Erosionsrate erklärt werden. Das heisst: Die Aufwärtsbewegung des Gebirges ist stärker als die Abtragung der Oberfläche. Für seine Schätzungen verwendete Champagnac unter anderem GPSund Nivellierdaten, die Auskunft über Oberflächenbewegungen gaben. Hinzu kamen Messungen von Radionukliden für die Bestimmung vergangener Erosionsraten. Weiter fütterte der Geologe den Computer mit Informationen zur Ablagerungsmenge in den grössten Schweizer Flüssen und mit Berechnungen, wie stark Täler und Seen nach der letzten Eiszeit mit Schutt und Geröll aufgefüllt wurden. Bei all diesen Thesen bleibt schliesslich die Frage. Was war zuerst, das Ei oder das Huhn beziehungsweise die Alpenhebung oder die Erosion? Beide Kräfte sind voneinander abhängig. Cern-Beschleuniger startet erst im September Genf. – Die Reparatur des beschädigten Beschleunigers im Teilchenphysiklabor bei Genf wird fast zwei Monate länger dauern, als bisher projektiert. Ursache der Panne im letzten September war eine defekte elektrische Verbindung. Bei Tests entdeckten die Ingenieure zwei weitere kritische Stellen, die nun repariert werden. Weiter verzögert wird der Neustart durch den Einbau eines Frühwarnsystems und zusätzlicher Ventile. Der LHC-Beschleuniger soll im September wieder in Betrieb gehen. Erste Physik-Resultate erwartet das Cern aber erst im Jahr 2010. (bva) Der schnellste Computer Europas Jülich. – Das deutsche Forschungszentrum Jülich erhält den ersten Petaflops-Rechner Europas, es ist erst der dritte weltweit. Der IBM-Supercomputer schafft mehr als eine Billiarde Rechenoperationen pro Sekunde. Die Einheit Flops bedeutet Operationen pro Sekunde, der Vorsatz Peta steht für 1015, 1 Billiarde oder (etwas) anschaulicher 1 Million Milliarden. Der Petaflops-Rechner ist 50 000 Mal schneller als ein moderner PC. Er wird benötigt zum Beispiel für Berechnungen von Proteinfaltungen und Klimaveränderungen. (SDA/DPA)