Gentechnologie und Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) von Margareta Burgard Die Auseinandersetzungen über die Verfassungsmäßigkeit biomedizinischer Technologien nehmen zumeist Art. 1 GG (Menschenwürdegebot) in den Blick.1 Weitgehend unberücksichtigt lässt die Literatur allerdings die Frage, inwieweit verschiedene gentechnische Verfahren auch einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden") enthalten.2 Entsprechende Problemstellungen sollen deshalb im Folgenden in Bezug auf die aktuellen Diskussionen über die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Stammzellenforschung (exemplarisch) skizziert werden. Die Ausführungen sind bewusst fragmentarisch angelegt; Problembereiche können lediglich angerissen und Lösungen nur angedeutet werden. A. Präimplantationsdiagnostik Bei der PID werden einem in vitro gezeugten Embryo Zellen entnommen, um diese auf genetische Anlagen, die z. B. zu Behinderungen führen können, zu untersuchen.3 Diejenigen Embryonen, bei denen solche Dispositionen bestehen, können dann "verworfen", also nicht mehr übertragen werden. 4 Hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG drängen sich zwei Überlegungen auf: Zum einen könnte diese "Verwerfung" eine Benachteiligung der betroffenen Embryonen wegen einer Behinderung darstellen. Zum anderen könnte die Zulassung der PID auch eine Benachteiligung derjenigen Menschen bewirken, die mit den betreffenden Merkmalen bereits leben. Grundrechtsdogmatisch ist der zweite Bereich ein Problem der Unmittelbarkeit der Benachteiligung. Durch die Zulassung der PID würden bereits lebende Menschen mit Behinderung nicht direkt benachteiligt. Allerdings könnte die Zulassung ein negatives Werturteil über diese Menschen implizieren und langfristig gesehen zu gesellschaftlichen Diskriminierungen führen.5 Ob aber solche gesellschaftlichen Reaktionen und Bewertungen noch vom Schutzbereich des Art. 3 GG umfasst sind, erscheint fraglich. Man könnte nur sehr schwer festmachen, welche konkrete Benachteiligung gerade durch die Zulassung der PID bewirkt wird. Eine präzise Beschreibung der Schutzwirkung wäre nicht mehr möglich. Auch der Kreis der Betroffenen wäre kaum noch abgrenzbar. Jede einzelne Benachteiligung eines Menschen mit Behinderung kann zwar zu einer Verstärkung von Vorurteilen führen. Solche juristisch kaum fassbaren Auswirkungen in den Schutzbereich mit einzubeziehen würde diesen aber wohl zu weit ausdehnen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf die mögliche Benachteiligung der betroffenen Embryonen. I. Grundrechtsträger 1 Vgl. z. B. Jörn Ipsen, Der "verfassungsrechtliche Status" des Embryos in vitro, JZ 2001, 989-996; Horst Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, 377-383. 2 Im Ergebnis kritisch: Michael Wagner-Kern, Gentechnik, Verfassungsrecht und Menschenwürdeschutz, Ve rbandsdienst der Lebenshilfe 2002, 30, Fn. 11. 3 Details bei Barbara Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, Tübingen 2002, S. 14; Michael Wagner-Kern, Präimplantationsdiagnostik und (Verfassungs-) Recht, RdLH 2001, 183 f. 4 Böckenförde-Wunderlich (Fn. 3), 14. 5 Vgl. zu diesem Problem aus gesellschaftspolitischer Sicht: Sibylle Volz, Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Kontext von Präimplantations- und Pränataldiagnostik, Behinderte 2003, 30-39. 2 Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG setzt zunächst voraus, dass der Embryo in vitro überhaupt Grundrechtsträger sein kann. Die Grundrechtsträgerschaft des Embryos in vitro wird bereits im Rahmen eines möglichen Verstoßes der PID gegen Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kontrovers diskutiert.6 Während einige die Grundrechtsträgerschaft aufgrund mangelnder Personalität bzw. Individualität des Embryos verneinen7, billigen ihm andere unter Berufung auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zum Schwangerschaftsabbruch8 diesen Status zu.9 Daneben gibt es noch die Konzepte eines je nach Entwicklungsstand des Embryos gestuften Schutzes.10 Die nachfolgende Prüfung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot macht von vornherein jedoch nur Sinn, wenn man dem Ansatz folgt, dass der Embryo in vitro bereits individuelles menschliches Leben darstellt und grundsätzlich Träger von Grundrechten sein kann. Ob unter dieser Voraussetzung der Embryo auch vom Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erfasst wird, soll anhand der klassischen Auslegungsmethoden (grammatische, systematische und historische Auslegung sowie Auslegung nach Sinn und Zweck der Vorschrift) näher beleuchtet werden. Wörtlich heißt es: "Niemand" darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Nach Brockhaus/Wahrig11 bedeutet dies soviel wie "keiner" oder "kein Mensch", der Gegensatz zu "jeder". Ob damit im allgemeinen Sprachgebrauch auch ungeborenes Leben gemeint ist, ist fraglich. Dies wurde bislang nicht näher problematisiert. Man könnte aber eine Parallele ziehen zur Diskussion im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG über die Bedeutung des darin verwendeten Begriffes "jeder" im allgemeinen Sprachgebrauch. Nach Weiß12 ist der Wortlaut "jeder" eindeutig und keiner Auslegung zugänglich. Er umfasse alle Angehörigen der menschlichen Gattung "homo sapiens", vor wie nach der Geburt, wenn die Geburt keine Voraussetzung des Menschseins sei. Dagegen lässt der Begriff für Hoerster13 zwei Auslegungsmöglichkeiten zu, nämlich "jedes menschliche Wesen" oder "jeder geborene Mensch". Übertragen auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG bedeutet dies, dass der Begriff "niemand" verstanden werden kann entweder als "kein geborener Mensch" oder aber als "kein menschliches Wesen". Der Wortsinn im allgemeinen Sprachgebrauch ist also nicht eindeutig bestimmbar. Es ist aber vom möglichen Wortsinn noch umfasst, hierunter jegliches menschliche Wesen zu verstehen, somit auch den Embryo in vitro, sofern man davon ausgeht, dass menschliches Leben mit der Befruchtung beginnt. Durch den Wortlaut wird eine solche Auslegung jedenfalls nicht begrenzt. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei maßgeblichen Entscheidungen über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches ausgeführt, dass in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG mit "Mensch" und in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit "jeder" auch das ungeborene Leben gemeint ist.14 Im Rahmen einer einheitlichen Auslegung der verwendeten Begriffe innerhalb der Verfassung müsste folgerichtig der Embryo dann auch als "niemand" im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG anzusehen sein.15 Anhand der historischen Auslegung lässt sich eine nähere Bestimmung des personellen Schutzbereiches nicht treffen. In der Gesetzesbegründung findet weder die moderne Gentechnik noch das unge6 Vgl. z.B. Ipsen, (Fn. 1), 989; Udo Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz, Jura 2000, 210; Dreier, (Fn. 1), 377; Matthias Herdegen, Die Menschenwürde im Fluss des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773. 7 Horst Dreier, in ders.: GG-Kommentar, Art. 1 Rn. 50. 8 BVerfGE 39, 1; BVerfGE 88, 203. 9 Udo Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz, Jura 2000, 210 (215). 10 Matthias Herdegen, Die Menschenwürde im Fluss des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (774f). 11 Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 4. Bd., Wiesbaden 1982. 12 Axel Weiß, Das Lebensrecht des Embryos - Ein Menschenrecht, JR 92, 182 (183). 13 Norbert Hoerster, Das angebliche Menschenrecht des Embryos auf Leben, JR 95, 51f. 14 BVerfGE 39, 1; BVerfGE 88, 203. 15 Böckenförde-Wunderlich, (Fn. 3), 208. 3 borene Leben Erwähnung.16 Das Fehlen derartiger Überlegungen kann bedeuten, dass selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass auch der Embryo erfasst ist; es kann das genaue Gegenteil bedeuten oder auch, dass dies einfach nicht bedacht wurde. Ziel des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist es, die Stellung behinderter Menschen in der Gesellschaft zu stärken.17 Hieraus wird zum Teil der Schluss gezogen, dass die Personalität Voraussetzung der Grundrechtsträgerschaft sei. 18 Es wäre dem Ziel jedoch nicht dienlich, wollte man einen Embryo mit der genetischen Anlage zu einer möglichen Behinderung nicht in den Schutzbereich mit einbeziehen. Schon jetzt zeichnet sich eine veränderte Einstellung der Gesellschaft dahingehend ab, dass Eltern verstärkt für die Geburt eines behinderten Kindes verantwortlich gemacht werden; der Druck auf die Frauen wächst, jede Möglichkeit wahrzunehmen, um kein behindertes Kind zu bekommen.19 Durch die Zulassung der PID würde dieser Druck noch weiter zunehmen. Dies könnte zur Folge haben, dass Behinderungen in der Gesellschaft immer weniger akzeptiert würden. Die Zulassung der PID würde somit die gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderungen abschwächen und damit dem Ziel des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zuwider laufen. Es erscheint außerdem widersprüchlich, die Stellung behinderter Menschen in der Gesellschaft stärken zu wollen, gleichzeitig aber zuzulassen, dass ihnen quasi der "Zugang" zur Gesellschaft, nämlich die Geburt, verwehrt wird. Es spricht daher einiges dafür, den Embryo in vitro in den Schutzbereich mit einzubeziehen. Insgesamt ist es aufgrund des Schutzzweckes des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG eher geboten, den Embryo in vitro als Grundrechtsträger anzusehen. Weitere Voraussetzung für die Eröffnung des Schutzbereiches ist das Vorliegen einer Behinderung. Es ist daher näher zu beleuchten, ob von dem Begriff der Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch bestimmte genetische Dispositionen eines Embryos erfasst sind. Zur Klärung dieser Frage ist eine Präzisierung des Begriffes der Behinderung erforderlich. Das Grundgesetz selbst enthält keine solche Definition. Ein allgemein anerkanntes Verständnis des Begriffes existiert nicht.20 Im Gesetzgebungsverfahren wurde ebenfalls keine Begriffsbestimmung getroffen. Man ging allerdings davon aus, dass die Gruppe der behinderten Menschen klar erkennbar und eindeutig bestimmbar sei. 21 Dies lässt den Schluss zu, dass der Gesetzgeber von dem zurzeit des Gesetzgebungsverfahrens gebräuchlichen Begriffsverständnis ausgegangen ist.22 Für das Bundesverfassungsgericht23 und die überwiegende Meinung in der Literatur24 ist dies der Behindertenbegriff des damaligen § 3 SchwbG. Eine Behinderung wurde danach definiert als die Auswirkung einer "Funktionsbeeinträchtigung", die auf einem "regelwidrigen" körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Zum Teil wird als dritte Voraussetzung eine dadurch veranlasste soziale Beeinträchtigung verlangt.25 Bei Zugrundelegung dieser Definition wäre beim Embryo, der die genetische Anlage zu einer potenziellen Behinderung 16 Vgl. BT-Dr. 12/8165, 29. BT-Dr. 12/8165, 29. 18 Friedhelm Hufen, Präimplantationsdiagnostik aus verfassungsrechtlicher Sicht, MedR 2001, 440 (448). 19 Regine Kollek , Präimplantationsdiagnostik: Juristische und gesellschaftliche Aspekte, Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht 2000, 47; Rainer Beckmann, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, MedR 2001, 169 (173). 20 Michael Buch, Das Grundrecht der Behinderten, Bonn 2001, S. 28. 21 BT-Dr. 12/8165, S. 29. 22 So das BVerfGE 96, 288 (301). 23 BVerfGE 96, 288 (301). 24 Wolfgang Rüfner, in Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Abs. 2 und 3, Rn. 870; Hans D. Jarass, in Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 3, Rn. 127. 25 Lerke Osterloh, in Sachs, GG-Kommentar, Art. 3, Rn. 310. 17 4 hat, zwar insofern ein "regelwidriger" Zustand zu bejahen, als die Wahrscheinlichkeit einer späteren Behinderung besteht. Eine "Funktionsbeeinträchtigung" des Embryos zu diesem Zeitpunkt läge aber noch nicht vor.26 Es wäre jedoch eine zukünftige Behinderung möglich bzw. zu erwarten. Wenn bei der Grundgesetzänderung an das bisherige einfachgesetzliche Begriffsverständnis angeknüpft wurde, so muss man auch die künftige Behinderung mit einbeziehen. Auch im damals geltenden Recht wurden Menschen mit Behinderung und Menschen, denen eine Behinderung droht, weitgehend gleichgestellt, zumindest jedoch auch geschützt (vgl. § 10 SGB I, § 39 Abs. 2 BSHG).27 Unter Hinweis auf den Schutzzweck der Vorschrift befürworten auch Schneider28 und Eckertz-Höfer29 eine weite Interpretation des Behindertenbegriffes, wonach drohende Behinderungen eingeschlossen sind. Insgesamt spricht somit mehr für eine weite Auslegung. Unzulässiges Differenzierungskriterium ist die Behinderung. Wenn eine Benachteiligung wegen dieses Merkmals erfolgt, kann es keinen Unterschied machen, ob die Behinderung bereits vorliegt oder erst zu erwarten ist. II. Grundrechtsverpflichtete Das Grundgesetz bindet nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung, also alle Träger öffentlicher Gewalt. Die PID würde jedoch nicht durch den Staat erfolgen, sondern durch den Arzt und die Eltern, so dass sich die Frage nach der Reichweite des Benachteiligungsverbotes stellt. Weitgehend anerkannt ist, dass Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch eine Wertentscheidung enthält, die auf die Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Normen ausstrahlt.30 So können über die Generalklauseln der §§ 138, 826 BGB Formen gezielter Schlechterbehandlung erfasst werden.31 Ein umfassender und effektiver Schutz ist allein dadurch jedoch nicht gewährleistet. Ob sich aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darüber hinaus eine Schutzpflicht des Staates ableiten lässt, behinderte Menschen vor Benachteiligungen durch Private zu schützen, ist fraglich. Von einigen32 wird dies mit der Begründung verneint, Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthalte keine Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG entsprechende Formulierung ("Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin"). Dagegen leiten andere aus dem Diskriminierungsverbot eine solche Schutzpflicht des Staates ab,33 wobei das Ausmaß dieser Pflicht jedoch unterschiedlich beurteilt wird. Daher ist die Reichweite des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG im Folgenden genauer zu betrachten. 26 Nähere Ausführungen hierzu finden sich bei Susanne Schneider, Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik, Frankfurt a. M. 2002, S. 193. 27 Rüfner (Fn. 24), Art. 3 Abs. 2 und 3, Rn. 878. 28 Schneider (Fn. 26), 195 f. 29 Marion Eckertz-Höfer, in AK-GG, Art. 3 Abs. 2,3, Rn. 135. Dagegen argumentiert Osterloh (Fn. 25), Art. 3, Fn. 663, dass sich weder die Gleichheitsperspektive noch der besondere Schutzzweck der Integrationsförderung Behinderter ohne Zynismus auf die schwierige Situation schwerer vorgeburtlicher Schäden beziehen ließen. Mangels näherer Begründung überzeugt diese Ansicht jedoch nicht. 30 Jarass (Fn. 24), Art. 3, Rn. 132; Osterloh (Fn. 25), Art. 3, Rn. 307. 31 Michael Sachs, Das Grundrecht der Behinderten aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, RdJB 96, 154 (171). 32 Christian Starck , in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 3 Abs. 3, Rn. 383: Osterloh (Fn. 25), Art. 3, Rn. 307. 33 Eckertz-Höfer (Fn. 29), Art. 3 Abs. 2,3, Rn. 132; Sachs, (Fn. 31), 171; Schneider (Fn. 25), 189 ff.; Buch (Fn. 20), 202ff. 5 Eine ausdrückliche Schutzpflicht lässt sich dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht entnehmen. Die grammatische Auslegung führt daher zu keinem genauen Ergebnis. Die systematische Auslegung spricht eher gegen das Bestehen einer Schutzpflicht. Wie bereits erwähnt enthält Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG hinsichtlich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen eine ausdrückliche Förderungspflicht bzw. Pflicht zur Beseitigung bestehender Nachteile. Dagegen findet sich in Abs. 3 keine entsprechende Formulierung. Im Rahmen der historischen Auslegung sind die parlamentarischen Beratungen zu berücksichtigen. Art. 3 Abs. 3 S. 2 wurde durch das 42. Gesetz zur Änderung des GG vom 27.10.1994 in das Grundgesetz aufgenommen. In der Begründung der SPD-Fraktion zum Gesetzesentwurf heißt es: Das Benachteiligungsverbot verstärkt "den sozialstaatlichen Auftrag, die Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheit und eines menschenwürdigen Daseins zu sichern und auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen in der Gesellschaft hinzuwirken."34 Obwohl der Antrag auf Aufnahme des Benachteiligungsverbotes behinderter Menschen im Ergebnis fast einstimmig angenommen wurde, haben sich die Mitglieder der Mehrheitskoalition CDU/CSU und FDP die Begründung der SPD-Fraktion nicht im Ganzen zu Eigen gemacht.35 Sie sahen den Wert der Gesetzesänderung eher in einer appellativen Funktion. Die ausdrückliche Anerkennung eines Diskriminierungsschutzes werde das Bewusstsein für die Anliegen Behinderter in der Gesellschaft schärfen. Funktion und Reichweite der Vorschrift wurden also uneinheitlich gesehen und gerade hinsichtlich des Bestehens einer Schutzpflicht ist der Wille des Gesetzgebers nicht klar geworden. Allerdings gab es im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Vorschläge und Forderungen der Behindertenorganisationen, eine ausdrückliche Schutz- und Förderungspflicht für behinderte Menschen in das Gesetz aufzunehmen.36 Diese Vorschläge wurden jedoch nicht übernommen, was eher gegen eine aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG unmittelbar abzuleitende Schutzpflicht spricht. Auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Vorschrift ist Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG keine unmittelbare staatliche Schutzpflicht zu entnehmen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass überhaupt keine Handlungspflichten des Staates begründet werden können. Sollen die Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht leerlaufen, muss man zumindest bei schwerwiegenden Fehlentwicklungen eine allgemeine Schutzpflicht anerkennen.37 Die Rechtsordnung muss einen gewissen Mindeststandard gewährleisten. Wenn menschliches Leben wegen seiner Behinderung bzw. zu erwartenden Behinderung "verworfen" wird, ist der Menschenwürdekern des Grundrechts betroffen. Im Übrigen kommt den Gleichheitsrechten generell eine flankierende Schutzfunktion zu; „wo Freiheit geschützt werden muss, muss sie gleichheitsgerecht geschützt werden."38 Gesteht man dem Embryo Lebensschutz zu, so muss dies auch für den von einer Behinderung bedrohten Embryo gelten. In Verbindung mit den Schutzpflichten der Art. 1 und 2 Abs. 2 GG kann daher hinsichtlich der PID eine Pflicht des Staates zum Schutz des von einer Behinderung bedrohten ungeborenen Lebens angenommen werden. III. Rechtfertigung 34 BT-Dr. 12/8165, 29. BT-Dr. 12/8165, 29. 36 Vgl. die Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens bei Buch (Fn. 20), 14 f.; BT-Dr. 12/6000, 53. 37 Vgl. auch Eckertz-Höfer (Fn. 29), Art. 3 Abs. 2,3, Rn. 132. 38 Osterloh (Fn. 25), 3, Rn. 67. 35 6 Nach dem bisher Gesagten liegt mithin ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vor. Ob dies auch eine Verletzung des Grundrechts und damit eine nicht gestatte Benachteiligung behinderter Menschen impliziert, ist im nächsten Schritt zu überprüfen. Eine Benachteiligung kann nach den anerkannten Prinzipien der Grundrechtsdogmatik gerechtfertigt sein. Nach überwiegender Ansicht sind Benachteiligungen behinderter Menschen dann zulässig, wenn dies unerlässlich ist, um behinderungsbedingten Besonderheiten Rechnung zu tragen,39 wobei zwingende Gründe für die Benachteiligung vorliegen müssen.40 In Betracht kommen hier insbesondere die möglicherweise entgegenstehenden Grundrechte der Mutter, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die allgemeine Handlungsfreiheit sowie die Menschenwürde. Es wird diskutiert, ob in der Vorstellung, ein schwer behindertes Kind zur Welt zu bringen und mit der Angst vor den damit verbundenen Belastungen eine Gesundheitsbeeinträchtigung der Frau gesehen werden kann.41 Bei einer Abwägung muss berücksichtigt werden, dass die Benachteiligung hier darin bestünde, dem Embryo jede weitere Lebenschance zu nehmen. Dies wird in der Regel schwerer wiegen als die psychische Belastung der Mutter. Eine Rechtfertigung erscheint nur bei schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen der Mutter möglich, wie sie im Rahmen des § 218 a Abs. 2 StGB vorliegen müssen. Als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit ist zudem die Fortpflanzungsfreiheit anerkannt.42 Sie umfasst die Freiheit, sich für die Zeugung von Kindern zu entscheiden und hierbei auch medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.43 Dieses Recht wird aber nicht schrankenlos gewährt, sondern steht unter dem Vorbehalt, dass Rechte anderer nicht verletzt werden. Die "Verwerfung" eines Embryos kann damit nicht gerechtfertigt werden. Fraglich ist, ob die Menschenwürde der Frau betroffen ist. Schwierigkeiten bereitet hier zunächst eine nähere Bestimmung des Begriffes der Menschenwürde. Angesichts seiner Abstraktheit und Offenheit wurden vielfältige Versuche einer Eingrenzung unternommen. Am gebräuchlichsten ist die so genannte Objektformel nach Dürig,44 die auch vom Bundesverfassungsgericht verwendet wird.45 Sie besagt, dass die Menschenwürde dann verletzt ist, wenn der Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht wird. Diese Definition wird auch im Folgenden zugrunde gelegt. Bei einer Verpflichtung der Frau zur Begründung einer Mutterschaft würde der Staat über ihren Körper und ihre Lebensgestaltung verfügen. Hierdurch würde die Frau zum Mittel zur Hervorbringung von Nachwuchs degradiert, was nach der genannten Objektformel nicht mit dem Menschenwürdegebot vereinbar wäre.46 Bei der PID ist die Sachlage jedoch eine andere. Die Entscheidung für eine Mutterschaft wird von der Frau bereits vor der Inanspruchnahme der PID getroffen. Im Vordergrund steht der Wunsch nach einem „gesunden Kind“. Durch ein Verbot der PID würden ihr lediglich bestimmte 39 BVerfGE 99, 341 (357); Dieter C. Umbach, in Umbach/Clemens, GG-Mitarbeiterkommentar, Art. 3 III 2, Rn. 411; Eckertz-Höfer (Fn. 29), Art. 3 Abs. 2,3, Rn. 140. 40 Osterloh (Fn. 25), Art. 3, Rn. 314. 41 Schneider (Fn. 26), 162f; Böckenförde-Wunderlich (Fn. 3), 216. 42 Beckmann (Fn. 19), S. 172; Böckenförde-Wunderlich (Fn. 3), 213. Vgl. dazu auch: Wagner-Kern, Nationaler Ethikrat für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, in Rechtsdienst 2003, 41. 43 Beckmann (Fn. 19), S. 172. 44 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127). 45 BVerfGE 56, 37 (43); 72, 105 (116); 74, 102 (122). 46 Böckenförde-Wunderlich (Fn.3), 216. 7 Methoden verwehrt, dies zu erreichen. Dass sie hierdurch zum bloßen Objekt degradiert würde, ist nicht zu erkennen.47 Die Menschenwürde der Frau ist daher nicht tangiert. IV. Ergebnis Es spricht vieles dafür, dass das "Verwerfen" von in vitro gezeugten Embryonen wegen einer drohenden Behinderung gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstößt. Zumindest zeigen die aufgeworfenen Probleme, dass dem Diskriminierungsverbot in der verfassungsrechtlichen Diskussion über die Zulässigkeit der PID ein stärkeres Gewicht zukommen sollte. B. Stammzellenforschung Fraglich ist, ob man in den Methoden der embryonalen Stammzellenforschung eine Benachteiligung für behinderte bzw. von einer Behinderung bedrohte Menschen sehen kann. Embryonale Stammzellen können aus abgetriebenen Embryonen oder aus Embryonen aus künstlicher Befruchtung gewonnen werden, wobei die Embryonen "verbraucht" werden.48 Bei der Gewinnung dieser Stammzellen spielen bestimmte genetische Dispositionen der Embryonen keine Rolle, die "verwendeten" Embryonen würden insoweit gleich behandelt. Eine Benachteiligung im Rahmen der Stammzellenforschung ist somit nicht ersichtlich. 47 Böckenförde-Wunderlich (Fn. 3), 217. Jeanne Nicklas-Faust, Risiken und Chancen diverser gentechnischer Verfahren, in Verbandsdienst der Lebenshilfe, 2002, 7 (9). 48