e&m| praxis Diabetes mellitus Orthomolekulare Aspekte, Ernährung und eine Kasuistik Volker Schmiedel Welche Rolle spielen Ernährung und Nährstoffe bei Diabetes mellitus Typ 2? In der orthomolekularen Fachliteratur werden hierzu bewährte Empfehlungen aus der ärztlichen Praxis gegeben. Orthomolekulare Medizin Bestimmte Vitamine und Mineralstoffe helfen, die Blutzuckereinstellung (in Grenzen) zu verbessern oder wirken vorbeugend gegen die typischen Spätschäden des Diabetes (1): ●● Verbesserung der Blutzucker­ einstellung: Zink 20–40 mg, Chrom 100–200 µg, Vit. E 400 IE, Magnesium 300–600 mg, Vit. B-Komplex ●● Vorbeugung und Behandlung diabetischer Nervenschädigungen: Vit. B1, B6, B12, Niacin, Lezithin, Alpha-Liponsäure ●● Vorbeugung diabetischer Netzhaut­ schäden: Zink 10–40 mg, Selen 50 µg, Magnesium 300–600 mg, Vit. A, C, E ●● Diabetische Wundheilungsstörung: Zink 20–40 mg, Vit. C mind. 2 × 500 mg. Ernährung Zucker und alle zuckerhaltigen Lebensmittel, Fertiggerichte und Getränke sollten weitestgehend gemieden werden. Ebenso Honig, Ahorn-, Rübensirup, Birnen- oder Apfeldicksaft. Fruchtzucker und damit hergestellte Nahrungsmittel werden zwar insulin­ unabhängig verstoffwechselt, stellen jedoch „leere Kalorien“ dar (nur Energie, keine Vitamine oder Mineralstoffe) und sollten daher ebenfalls eher gemieden werden. Sog. „Diabetiker-Produkte“ wie Diabetiker-Marmelade, -Pralinen, -Schokolade werden heute in der Ernährung des Diabetikers als überflüssig angesehen. E&M – Ernährung und Medizin 2013; 28: xx – xx Zucker- und fettarm, ballaststoff- und rohkostreich: Gut für Diabetiker und alle, die es nicht werden wollen. © PhotoDisc Ebenso sollte auf Süßstoffe und damit hergestellte Nahrungsmittel verzichtet werden, da sie zwar scheinbar eine Kalorieneinsparung bedeuten, doch die Gesamtkalorienaufnahme scheint bei süßstoffhaltiger Nahrung sogar erhöht zu sein! Dies ist für den meist über­ gewichtigen Diabetiker natürlich ungünstig. Vollwerternährung ist der Schlüssel Die Nahrung sollte möglichst eine Vollwerternährung darstellen, wobei besonders auf Zuckerfreiheit, Fettarmut und einen hohen Ballaststoff- und Rohkostanteil geachtet werden sollte. Bei Typ1-Diabetes und beim insulinpflichtigen Typ-2-Diabetiker sollten 3 Haupt- und mehrere Zwischenmahlzeiten eingehal- Schmiedel V. Diabetes mellitus ten und die Nahrungsmenge nach Broteinheiten berechnet werden (Schulung durch Diätassistentin oder in einer ­Diabetes-Klinik unbedingt erforderlich). Beim tablettenpflichtigen Typ-2-Diabetiker ist eine Berechnung nach Brot­ einheiten nicht erforderlich. Bis zur Gewichtsnormalisierung sollte die Nahrung jedoch hypokalorisch sein. Auf Zwischenmahlzeiten kann bei guter ­ Blutzuckereinstellung und Gewichtsnormalisierung verzichtet werden. Broteinheiten mit Hintergrundwissen Die herkömmliche Zählung nach Broteinheiten berücksichtigt zwar die Kohlenhydrate, unterscheidet jedoch nicht zwischen einfachen oder komplexen Kohlenhydraten, auch der Ballaststoff­ 1 e&m| praxis gehalt, der die Geschwindigkeit des Blutzuckeranstieges nach einer Mahlzeit ­wesentlich beeinflusst, geht in die Brot­ einheiten nicht mit ein. So führt beispielsweise ein Frischkornbrei praktisch zu keinem Blutzuckeranstieg, während derselbe Frischkornbrei nach Kochen des Getreideanteils den Blutzucker signifikant ansteigen lässt. Ein Vollkornbrot hat einen deutlich geringeren Anstieg des Blutzuckers als dieselbe Menge Weißbrot zur Folge. Weitere Maßnahmen Heilfasten Bei übergewichtigen Diabetikern sind sehr gute Erfolge möglich, da bereits geringe Gewichtsabnahmen die Insulin­ resistenz deutlich verringern und damit die Blutzuckereinstellung verbessern können. Ein dauerhafter Erfolg ist jedoch nur dann möglich, wenn die Ernährung anschließend wie oben angegeben ge­ ändert wird. Achtung: Diabetes-Tabletten und Insulin müssen bei Fastenbeginn abgesetzt werden, da sonst eine gefähr­ liche Unterzuckerung droht! Nur durch Diät eingestellte Diabetiker können da­ her zuhause fasten, medikamentös eingestellte Diabetiker sollten dies in einer Fastenklinik (oder unter Anleitung eines erfahrenen Fastenarztes tun). Bei Typ1-Diabetikern und bei Typ-2-Diabetikern mit absolutem Insulinmangel ist das Heilfasten ist nicht jedermanns Sache, verbessert aber deutlich die Insulinresistenz – ärzt­ liche Aufsicht ist bei medikamentös eingestellten Diabetikern erforderlich! © Thieme Verlagsgruppe/Meike Bergmann 2 ­asten relativ kontraindiziert (Gefahr F des ketoazidotischen Komas)! Patienten unter Insulintherapie (bei nachgewiesener Erschöpfung der Bauchspeicheldrüse ist eine Basalinsulingabe notwendig) dürfen nur in einer Klinik fasten, die sich mit Fasten und Diabetes sehr gut auskennt. Neben körperlicher Bewegung ist das Fasten die schnellste und sicherste Möglichkeit, eine vorhandene Insulin­ resistenz abzubauen. Nährstoffe, die bei Diabetes günstig sein können (1) Zink 20–40 mg Chrom 100–200 µg Vit. E ca. 400 IE Magnesium 300–600 mg Vit. B-Komplex Vit. C ca. 1 g Kombinationspräparate wie Orthoexpert® diabet, Orthomol Diabet® Bewegung Vermehrte Alltagsbewegung (Treppensteigen) und Ausdauersportarten verbrauchen Zucker, helfen beim Abbau des Übergewichtes und wirken der Insulinresistenz entgegen. Kurzfristig kann man damit einer Überzuckerung „weglaufen“. Langfristig gibt es neben dem Fasten nichts Besseres, um der Insulinresistenz entgegenzuwirken. Eventuell vorhandenes Übergewicht sollte unbedingt abgebaut werden. Medikamente, die die Insulinresistenz fördern (Diuretika, Betablocker) sollten möglichst durch stoffwechselneutrale Arzneimittel ersetzt werden. Kasuistik Das Dogma „Einmal Insulin = immer Insulin“ ist falsch! Frau G. ist 79 Jahre alt. Sie hat eine rheumatische Erkrankung, die mit Kortison eingestellt ist. Trotzdem hat sie weiter Schmerzen, die ihre Mobilität einschränken, was schlecht für den Zucker ist. Sie ist übergewichtig (87,4 kg bei 170 cm Größe; BMI = 30,2). Die Großmutter war ebenfalls Diabetikerin. Vor 2 Jahren diagnostizierten Ärzte den Diabetes und stellten ihn mit hohen Dosen Insulin ein. Unter Kortison und Insulin nahm sie zu. Bei stationärer Aufnahme in unsere Klinik spritzte sie 28–28–22 Einheiten Actrapid® und abends zusätzlich 32 Einheiten Protaphane®, ein lang wirksames Insulin. Insgesamt spritzte sie also über 100 Einheiten Insulin, was auch aus diabetologischer Sicht nicht mehr als sinnvoll anzusehen ist. Zusätzlich nahm sie noch 3 mg Amaryl®, um die verbliebene Bauchspeicheldrüsenfunktion zu stimulieren. Trotz dieser maximalen Medika­ tion lag ihr HbA1c-Wert bei 8,4 %, (normal ist bis 6,1 %), was auf eine schlechte Einstellung hindeutet. Der C-Peptid-Wert lag allerdings bei 1,7 nmol/l (normal bis 1,2 nmol/l). Das Dilemma Sie sah keine Chance, jemals die Zuckerwerte verbessern oder ihre Medikamente reduzieren zu können. Das Insulin, das häufige Heißhungerattacken auslöste, die Kortisontherapie und die schmerz­ bedingte Bewegungsarmut sprachen einfach dagegen. Was mir Hoffnung machte, war das erhöhte C-Peptid. Die Bauchspeicheldrüse produzierte trotz des Alters und der massiven Insulingabe von außen immer noch weit mehr Insulin, als ein Gesunder benötigt. Es lag also eine massive Insulinresistenz vor. Die galt es abzubauen. Aber wie? Gewichtsabnahme war fast unmöglich, vermehrte Bewegung wegen der Schmerzen ebenso. Sinnvoller Ausweg: Heilfasten In dieser Situation schlug ich das Heil­ fasten vor. Davon war Frau G. jedoch gar nicht begeistert. Es ging ihr schon so schlecht und nun sollte sie nicht mal mehr etwas essen! Da ich wirklich keine andere Alternative sah, übte ich sanften Druck auf sie aus, es dennoch einmal zu probieren. Das tue ich sonst nie, da das Heilfasten stets freiwillig erfolgen sollte. Erst gegen Ende des 4-wöchigen Aufenthaltes ließ sich Frau G. schließlich auf ein 5-tägiges Heilfasten ein. Das ist die kürzeste, mögliche Fastenzeit überhaupt, 3 Tage benötigt unser Organismus allein für die Umstellung und bei übergewichtigen Diabetikern sind 5 Tage eher zu Schmiedel V. Diabetes mellitus E&M – Ernährung und Medizin 2013; 28: xx – xx e&m| praxis auf 1 Tabl. Metformin verringert. Sie sollte nach 3 Monaten das HbA1c erneut kontrollieren lassen. War der Wert weiterhin gut, durfte sie auch die letzte Tablette weglassen. Dann hatte sie gar kein Antidiabetikum mehr. Inzwischen geht Frau G. stark auf die 90 zu, hat das eine oder andere gesundheitliche Problem und wurde auch mehrfach operiert – die Blutzucker- und HbA1c-Werte sind aber ohne jegliche Diabetespräparate im Normbereich für Gesunde geblieben. Und das nach mehreren Jahren Insulintherapie mit über 100 Einheiten in fortgeschrittenem Lebensalter (2). Online http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1345459 Für immer auf die Insulinspritze angewiesen? Bei manchen Typ-2-Diabetikern gibt es auch nach Jahren noch andere Therapieoptionen. © Fotolia/antpkr kurz. Aber aus meiner Sicht ist das besser als nichts. Die Resultate Gewichtsabnahme von 87,4 auf 82,5 kg, BMI von 30,2 auf 28,5, Blutdruck von 200/100 auf 150/85 mmHg, das Kortison konnte von 8,75 auf 7,5 mg gesenkt werden, ohne dass die Schmerzen zunahmen, Amaryl® wurde durch Metformin 3 × 850 mg ersetzt, Insulin von 104 auf 0 (!) Einheiten reduziert, trotzdem sank das HbA1c von 8,4 auf 7,5 %. Die Kontrollmessung kam eigentlich zu früh, da das HbA1c einen längeren Messzeitraum als nur die letzten 4 Wochen abdeckt. Diskussion Diese Ergebnisse sind so verblüffend, dass ich mich nicht trauen würde, sie auf einem Diabetologenkongress vorzustellen. Ich würde vermutlich ausgebuht, weil man mir nicht glauben würde, dass man Insulin nach mehrjähriger Gabe im hohen Alter noch deutlich reduzieren E&M – Ernährung und Medizin 2013; 28: xx – xx oder gar absetzen kann. Ich behaupte: Man kann es nicht nur, man muss es sogar, wenn die Eigenproduktion noch gut ist! Und wenn der Patient bereit ist, aktiv an seiner „Heilung“ mitzuwirken. Diese Patientin ist natürlich nicht geheilt, hat aber in 4 Wochen unglaublich viel erreicht. Bei ihrer Entlassung nahm sie u. a. Metformin, Vitamin D und E, eine Antioxidanzienkombination aus Mineralstoffen und Vitaminen zur besseren Blutzuckereinstellung. Drei Monate später war ihr Blutzucker weiterhin gut bei Werten zwischen 90 und 130 mg/dl, die Rheumabeschwerden hatten weiter nachgelassen trotz nochmaliger Reduktion des Kortisons auf 5 mg – und ihr ­Gewicht konnte sie sogar auf 80 kg reduzieren! Ein Jahr später war sie nochmals zur stationären Therapie in der Habichtswald-Klinik. Sie hatte zu Hause ihr Metformin von 3 auf 2 Tabletten reduziert. Bei uns hatte sie einen fantastisch guten HbA1c-Wert von 6,2 %, daraufhin habe ich Schmiedel V. Diabetes mellitus Literatur 1 Schmiedel V. QuickStart Nährstofftherapie. Stuttgart: Hippokrates; 2010 2 Schmiedel V. Typ-2-Diabetes – Heilung ist doch möglich. 2. Aufl. Stuttgart: TRIAS; 2011 Dr. Volker Schmiedel, MA Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Naturheilverfahren, Homöopathie Chefarzt der Inneren Abteilung Habichtswald-Klinik Wigandstr. 1, 34131 Kassel Volker Schmiedel ist seit 1996 Chefarzt der Inneren Abteilung der HabichtswaldKlinik, Fortbildungsleiter für Naturheil­ verfahren, Mitherausgeber des „Leitfaden Naturheilkunde“ und der Fachzeitschrift „Erfahrungsheilkunde“ sowie Autor zahlreicher weiterer Bücher und Zeitschriftenartikel für Therapeuten und Laien. [email protected] 3