D E R B E S O N D E R E FA L L Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. Januar 2002 768 Die Bedeutung einer gründlichen klinischen Untersuchung beim pulsierenden Tumor im Abdomen F. F. Immer, M. Vorpahl, P. A. Berdat, L. Englberger, U. Then-Schlagau, T. P. Carrel Fallbeschreibung Aufgrund seit 24 Stunden persistierender Rückenschmerzen am thorako-lumbalen Übergang meldet sich eine bis anhin gesunde 45jährige Frau bei ihrem Hausarzt. In der klinischen Untersuchung findet sich epigastrisch ein pulsierender Tumor im Abdomen mit sonographisch deutlicher Erweiterung der Aorta abdominalis. Mit der Verdachtsdiagnose eines rupturierten Bauchaortenaneurysma erfolgt die notfallmässige Zuweisung. Im klinischen Status findet sich eine Patientin in schmerzbedingt reduziertem Allgemeinzustand. Der Puls ist regelmässig mit 82/min und die Blutdruckamplitude mit 95/27 mm Hg deutlich verbreitert. Das Hillsche Phänomen – definiert als systolische Blutdruckdifferenz der unteren zur oberen Extremität >60 mm Hg – ist positiv und es findet sich palpatorisch ein deutlicher Pulsus celer et altus bei allseits palpablen Abbildung 1. Klinik für Herzund Gefässchirurgie, Inselspital, Bern Korrespondenz: Dr. Franz F. Immer Klinik für Herz- und Gefässchirurgie Inselspital CH-3010 Bern [email protected] Pulsstationen. Es imponiert zudem andeutungsweise eine pulssynchrone Kopfbewegung (positives Musset-Zeichen). In der kardialen Auskultation findet sich ein früdiastolisches 3/6 Decrescendo-Geräusch bei deutlich lateralisiertem und hyperdynamem Herzspitzenstoss. Das 12-Ableitungs-EKG zeigt deutliche Zeichen der linksventrikulären Hypertrophie. Im Habitus der Patientin imponiert ein offener Biss, ein hoher gotischer Gaumen und andeutungsweise eine Arachnodaktylie («Spinnenfingrigkeit»). Die Gelenke sind überdehnbar. Das in der Folge durchgeführte Angio-CT des Thorax und Abdomen (Abb. 1) ergibt den Nachweis einer anulo-aortalen Ektasie mit einem maximalen Durchmesser der Aortenwurzel von 6,7 cm, sowie einer Aortendissektion Typ B nach Stanford mit Nachweis einer Dissektionsmembran (intimaler Einriss) ab Abgang der A. subclavia links bis in die Aa. iliacae communes bds. D E R B E S O N D E R E FA L L Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. Januar 2002 769 Tabelle 1. Diagnostische Kriterien des Marfan-Syndroms (nach de Paepe [4]) Hauptkriterien Kardiovaskulär Anulo-aortale Ektasie Dissektion der Aorta ascendens (Typ A) Skelett Trichterbrust (schwere Form) Hühnerbrust Handgelenk- und Daumenzeichen Skoliose (>20°) oder Spondylolisthesis Reduzierte Extension des Ellenbogens (<170°) Plattfuss mit Abweichung des Malleolus medialis Acetabulumprotrusion Armspannweite in Verhältnis zur Grösse >1,05 Reduziertes Ober-/Unterkörperverhältnis >1,05 Dura Durale Ektasie lumbosacral (im CT oder MRI) Augen Linsenektopie Familiär Elter, Kind oder Geschwister, das diese Kriterien erfüllt Mutation in FBN1 (führt zu Marfan-Syndrom) Haplotyp von FBN1 Nebenkriterien Kardiovaskulär Mitralklappenprolaps Dilatation der Pulmonalarterie (<40 Jahre) Verkalkung des Mitralklappenanulus Dilatation oder Dissektion (Typ B) der deszendierenden thorakalen oder abdominalen Aorta Skelett Überdehnbarkeit der Gelenke Trichterbrust (milde Form) Gotischer Gaumen und offener Biss Gesichtsschädel: Dolichozephalie, Enophthalmus, Retrognathie, palpierbare Fissuren Pulmonal Spontanpneumothorax Haut Striae Rezidivierende Hernien oder Narbenbrüche Augen Flache Cornea (Keratometrie) Verlängerte axiale Bulbuslänge (Ultraschall) Hypoplastische Iris oder Ziliarmuskel mit konsekutiver Miose Aufgrund dieser Befunde wurde als initiale Therapie ein konservatives Vorgehen eingeschlagen und der Blutdruck mit i.v.-Betablocker um 100 mm Hg systolisch gehalten. Im Hinblick auf eine operative Sanierung der anulo-aortalen Ektasie wurde ambulant 4 Wochen nach dem initialen Schmerzereignis eine Koronarangiographie durchgeführt, welche die Diagnose einer schweren Aortenklappeninsuffizienz bei unauffälligen Koronarien und einer erhaltenen linksventrikulären Funktion bestätigte. 6 Wochen nach diesem Schmerzereignis wurde elektiv die Aortenwurzel und die Aorta ascendens mit einem Composite-Graft ersetzt. Der postoperative Verlauf war problemlos. Bei Vorliegen einer Typ-B-Dissektion mit einem maximalen Durchmesser der Aorta descendens von 3,8 cm thorakal und 3,5 cm abdominal wird die Patientin in regelmässigen Abständen in unserer Aortensprechstunde nachkontrolliert. Zur Prävention einer sekundären Dilatation der dissezierten Aorta descendens wird die antihypertensive Therapie mit Betablocker fortgeführt. Kommentar Die Wahrscheinlichkeit eines rupturierten Bauchaortenaneurysmas bei einer Patientin unter 50 Jahren ist sehr gering [1], weil vorwiegend das männliche Geschlecht im Verhält- D E R B E S O N D E R E FA L L Schweiz Med Forum Nr. 32/33 14. Januar 2002 nis 4,3 zu 1,0 betroffen ist [2] und in ScreeningStudien nur 1⁄4 der Bauchaortenaneurysmen bei Patienten unter 66 Jahren gefunden wurden [3]. Bei jüngeren Patienten stehen ätiologisch neben der infektiösen Genese (z.B. im Rahmen einer Salmonellose oder einer Infektion mit Staphylokokken oder Streptokokken) vor allem Erkrankungen des Bindegewebes, insbesondere das Marfan-Syndrom, im Vordergrund. Aufgrund der grossen Variabilität in der klinischen Penetranz des Marfan-Syndroms haben sich die diagnostischen Kriterien von de Paepe als sehr hilfreich erwiesen [4]. Liegen 2 sogenannte Haupt-Kriterien und 1 Neben-Kriterium oder 1 Haupt-Kriterium und mindestens 3 Neben-Kriterien vor, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Marfan-Syndrom ausgegangen werden (Tab. 1). Bei unserer Patientin findet sich 1 Haupt-Kriterium mit der anuloaortalen Ektasie und im Rahmen der klinischen Untersuchung 3 Neben-Kriterien (hoher gotischer Gaumen, offener Biss und eine Überstreckbarkeit der Gelenke). Die B-Dissektion unter 50 Jahren gilt ebenfalls als Neben-Kriterium, so dass mit grösster Wahrscheinlichkeit ein Marfan-Syndrom vorliegt. Die in weiteren Lehrbüchern erwähnten Kriterien der Arachnodaktylie («Spinnenfingrigkeit») sowie das Linsenschlottern [5] sind in den Kriterien von de Paepe nicht enthalten, finden sich jedoch unserer Meinung nach gehäuft bei Marfan-Patienten. Die möglichst frühzeitige Erfassung und spezialärztliche Abklärung von Patienten mit Marfan-Syndrom ist prognostisch von grösster Wichtigkeit. Der elektive Ersatz einer Aortenwurzel und der Aorta ascendens im Rah- 770 men einer anulo-aortalen Ektasie hat eine viel bessere Langzeitprognose als ein notfallmässiger Eingriff bei Vorliegen einer Aortendissektion Typ A (unter Einbezug der Aorta ascendens). Im Rahmen unserer Aortensprechstunde haben wir in den letzten 6 Jahren rund 50 Marfan-Patienten nachbetreut und zum Teil schrittweise die ganze Aorta thorakal und abdominal ersetzt. Die Nachbetreuung beinhaltet eine radiologische (Angio-CT Thorax und Abdomen) und eine klinische Untersuchung, anlässlich welcher die Befunde, die Medikation, allfällige Fragen zur Arbeitsfähigkeit, Schwangerschaft und Restriktionen im Alltag sowie das weitere Vorgehen besprochen werden. Je nach Befunde erfolgen die Nachkontrollen in 6monatigen oder jährlichen Abständen. Ein operatives Vorgehen wird bei Marfan-Patienten bei Aortendurchmesser thorakal wie auch abdominal ab 4,5 cm empfohlen. Dieser Fall zeigt die Wichtigkeit einer kompletten klinischen Untersuchung, wodurch die Verdachtsdiagnose eines Marfan-Syndroms gestellt werden kann (Tab. 1). Das Fokussieren auf den pulsierenden Tumor im Abdomen der bei normalem Aortendurchmesser auf die schwere Aortenklappeninsuffizienz zurückzuführen ist und die Fehleranfälligkeit sonographischer Messungen des Aortendurchmessers bei elongierter Aorta haben zweifellos die differentialdiagnostischen Überlegungen fehlgeleitet. Dennoch ist die Assoziation von thorakolumbalen Rückenschmerzen mit Pathologien der Aorta wichtig und, wie in diesem Fall, ist die geklagte Schmerzsymptomatik erklärbar durch die akute Dissektion Typ B. Literatur 1 Singh K, Bonaa KH, Jacobsen BK, Bjork L, Solberg S. Prevalence of and risk factors for abdominal aortic aneurysms in a population based study: The Tromso Study. Am J Epidemiol 2001;154:236–44. 2 Lederle FA, Johnson GR, Wilson SE. Abdominal aortic aneurysm in women. J Vasc Surg 2001;34:122–6. 3 Ohara N, Miyata T, Sato O, Oshiro H, Shigematsu H. Aortic aneurysm in patients with autoimmune diseases treated with corticosteroids. Int Angiol 2000;19:270–5. 4 De Paepe A, Devereux RB, Dietz HC, Hennekam RC, Pyeritz RE. Revised diagnostic criteria for the Marfan syndrome. Am J Med Genet 1996; 62:417–26. 5 Siegenthaler W. Differentialdiagnose innerer Krankheiten. Stuttgart, New York: Georg Thieme; 2000.