Aus: Das Gesundheitswesen 2004, 66 Suppl. 1, 56 – 60. Psychosoziale Aspekte des Risikoverhaltens Jugendlicher im Umgang mit Suchtmitteln Michael Klein Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Forschungsschwerpunkt Sucht, Köln Anschrift des Autors: Prof. Dr. Michael Klein Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen Forschungsschwerpunkt Sucht Wörthstraße 10 50668 Köln Email: [email protected] Zusammenfassung Kinder und Jugendliche zeigen in Deutschland einen hohen Konsum von psychoaktiven Substanzen und haben in Bezug auf Tabak und Alkohol einen frühen Einstieg. Der Konsum dieser und weiterer Drogen kann als jugendliches Risikoverhalten verstanden werden, welches mit einer Reihe unerwünschter Konsequenzen (z.B. Gewaltverhalten, ungeschützte Sexualität, frühe Schwangerschaft, schulisches Leistungsversagen) assoziiert ist. Präventions- und Hilfemaßnahmen müssen frühzeitig und umfassend einsetzen, um entscheidende und dauerhafte Veränderungen zu erreichen. Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien und mit selbst stark konsumierenden Peers müssen als besonders gefährdet für erhöhten Substanzkonsum und die assoziierten Verhaltensweisen angesehen werden. Eine der wichtigsten präventiven Aufgaben ist der Erwerb affektiver Selbstkontrolle und –steuerungsfähigkeit. Schlüsselwörter Kinder, Jugendliche, Substanzmissbrauch, Risikoverhalten, Prävention. Summary Children and adolescents in Germany show a high rate of substance use, esp. concerning tobacco and alcohol. Taking these and other drugs can be seen as a juvenile risk behavior associated with adverse effects, e.g. violence, unsafe sexuality, early pregnancy, underachievement in school. Prevention and interventive measures should begin early and be designed comprehensively, in order to gain decisive and long lasting effects. Children and adolescents of addicted parents and those with substance abusing peers have to be viewed as especially in danger for increased substance abuse and associated risk behaviors. One of the main preventive tasks is the acquisition of affective self-control and self-management competences. Key words Children, adolescents, substance abuse, risk behavior, prevention. Einleitung Jugendliche konsumieren heutzutage in weit höherem Umfang als früher psychotrope Substanzen, insbesondere Tabak und Alkohol. Diese Drogen beeinflussen und verändern nicht nur die Funktionsweise des Gehirns und damit 2 psychologische Funktionen wie etwa Denken, Affekte, Erwartungen, Bewusstsein und Motivation, sondern haben auch vielfältige Auswirkungen auf das Sozialverhalten, z.B. in den Bereichen Kommunikation, Interaktion, Sexualität und Aggression. Da der Konsum der Substanzen meist mit einem gesundheitlichen oder sozialen Risiko (Abhängigkeit, Unfälle, Gewalt, ungeschützte Sexualität) für die Benutzer oder deren Umfeld einhergeht, ist die Prävention problematischen Verhaltens in diesem Bereich gesundheitspolitisch und gesamtgesellschaftlich sehr wichtig. Als besonders problematische Verhaltensweise kann der riskante, missbräuchliche oder abhängige Konsum einzelner oder mehrerer Substanzen angesehen werden. Im Einzelnen gilt es zu berücksichtigen, dass Tabak die häufigste Einstiegsdroge im späten Kindes und frühen Jugendalter darstellt, gefolgt von Alkohol und später Cannabis gerade beim Tabakkonsum ein klarer sozialer Schichteffekt zu Lasten der Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten zu beobachten ist alle psychotropen Substanzen insbesondere als Stressregulatoren dienen die Abhängigkeitsgefahr bei frühem Konsumeinstieg deutlich erhöht ist. Besonderes Augenmerk für Prävention und Intervention ist der Kombination aus psychosozialen Belastungsfaktoren im familiären und sozialen Umfeld und eigenen Problemverhaltensweisen der Jugendlichen zu widmen. So wachsen ca. 2.6 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahren mit einem Elternteil auf, der eine Lebenszeitdiagnose für eine alkoholbezogene Störung aufweist. Diese Kinder und Jugendlichen haben ein bis zu 6-fach gesteigertes Risiko, selbst suchtkrank zu werden, und entwickeln darüber hinaus oft zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten. So sind die Risiken für Angststörungen bei diesen Kindern und Jugendlichen um bis zum 4-fachen, für depressive Störungen um bis zum 3,2-fachen erhöht [1]. Erschwerend kommt hinzu, dass Kinder und Jugendliche, die frühzeitig mit dem regelmäßigen Konsum einer Substanz beginnen, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, auch andere Substanzen regelmäßig einzunehmen [2]. Dies wiederum gilt im Sinne des Gateway-Modells [3] als einer der wichtigsten Gefährdungswege für lebensgeschichtlich frühe Suchterkrankungen und andere psychische Störungen. Konsumquoten und Prävalenzen der wichtigsten Substanzen Die Konsumquoten in Bezug auf Alkohol sind in den letzten 20 Jahren für die Gesamtgruppe aller Kinder und Jugendlichen [4] zwar kontinuierlich gesunken. Diese Verringerung geht aber von einem im internationalen Vergleich sehr hohen Niveau aus [5]. Mehr als 120g Alkohol in der Woche (das entspricht einer Menge von 3.75 Liter Pils) konsumieren 7% der 14- bis 15-Jährigen. Bei den 16- bis 17-Jährigen sind es dann schon 15%. Einen Alkoholrausch im letzten Jahr berichten 8% der 12- bis 13-Jährigen, 31% der 14- bis 15-Jährigen und 56% der 16- bis 17-Jährigen [6]. Beim Alkoholkonsum weisen die Jungen deutlich höhere Quoten als die Mädchen auf und zeigen damit das riskantere Verhalten. Der Tabak als weitere legale Droge hat den Alkohol in fast allen Gegenden Deutschlands als Einstiegssubstanz abgelöst: 30.4% der Jugendlichen bezeichnen sich als Raucher, während 5.0% schon als Exraucher gelten. 11.4% der 3 Jugendlichen rauchen mehr als 20 Zigaretten täglich. Nach den Fagerstöm-Kriterien sind 26.2% der Personen zwischen 15 und 17 Jahren nikotinabhängig, nach dem DSM-IV sind es 15.1% [7]. In der Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [6] ist die Zahl der Nieraucher zwar von 38% im Jahre 1993 auf 49% im Jahre 2001 angestiegen. Besorgniserregend erscheint jedoch, dass sich bei den 12- bis 17-Jährigen der Anteil der Raucher von 20% im Jahre 1993 auf 28% im Jahre 2001 erhöht hat. Bei den 18- bis 25-Jährigen ist der Anteil im selben Zeitraum von 47% auf 45% gefallen. Das durchschnittliche Alter des ersten Zigarettenrauchens beläuft sich ohne Geschlechtsunterschied auf 13.7 Jahre. Der Anteil der starken Raucher mit 20 und mehr Zigaretten täglich ist jedoch bei allen Befragten im Alter zwischen 12 und 25 Jahren von 34% im Jahre 1993 auf 19% im Jahre 2001 gefallen. Besonders Kinder und Jugendliche niedrigerer sozialer Schichten zeigen einen frühen Einstieg und einen starken Konsum in Bezug auf Tabakprodukte [2; 8]. Diese soziale Polarisierung gilt auch für Erwachsene: Personen mit geringer Schulbildung, niedrigem beruflichen Status, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose sind häufiger Raucher als andere Menschen [9]. Im Rahmen der Bremer Jugendstudie, einer Längsschnittstudie an 1035 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren [10], zeigte sich, dass 9.3% eine nach den Kriterien des DSM-IV diagnostizierte alkoholbezogene Störung (Alkoholmissbrauch oder –abhängigkeit) aufwiesen. 6.4% der Schülerinnen und Schüler wurden als Cannabismissbraucher oder Abhängige von Cannabis klassifiziert. Leider wurde der Tabakkonsum der Schüler nicht mit erhoben. In der NRW-Studie zum initialen Substanzkonsum [2] von 4431 Schülerinnen und Schülern zeigte sich, dass 36.4% der Achtklässler häufige und 36.8% regelmäßige Tabakkonsumenten sind. Von denjenigen Schülern der Studie, die eine psychotrope Substanz regelmäßig (d.h. täglich oder fast täglich) konsumieren, erhöht sich kontinuierlich der Anteil derjenigen, die auch eine zweite Substanz regelmäßig konsumieren. Im Alter von 15 Jahren sind 60% der regelmäßigen frühen Konsumenten von Tabak oder Alkohol auch regelhafte Konsumenten der jeweils anderen Substanz. Dies könnte ein Indiz für den Beginn einer Kumulierung problematischen Substanzkonsums darstellen. Obwohl sich der regelmäßige Alkoholkonsum der 12- bis 25- Jährigen In Deutschland zwischen 1993 und 2001 rückläufig entwickelte, haben riskante Konsummuster bei dieser Gruppe zugenommen. So hat sich etwa der Anteil der Jugendlichen und Jungerwachsenen, die in ihrem Leben sechsmal oder häufiger einen Alkoholrausch hatten, von 1997 bis 2001 von 14% auf 21% gesteigert [6]. Diese Entwicklung wird im Wesentlichen durch veränderte Trinkgewohnheiten bei Risikogruppen zurückgeführt. So zeigen sich bei Kindern alkoholkranker Eltern einerseits zwar mehr Totalabstinente, andererseits aber auch deutlich mehr riskante Alkoholkonsumenten [11]. Problematische und gesundheitsschädliche Verhaltensweisen sind in zunehmendem Maße bei Sub- und Randgruppen zu finden. Auf diese sollte sich daher auch in der Zukunft das besondere Augenmerk der Suchtprävention richten. Gerade die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen birgt ein verstärktes Risiko für Problemverhaltensweisen der jeweiligen Kinder und Jugendlichen in sich. Zu nennen sind insbesondere die Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern, Kinder von Migranten (insbesondere aus Ost- und SüdostEuropa) [12], arbeitslose Jugendliche [13] und die Kinder allein erziehender Mütter. 4 Risikoverhalten im Kindes- und Jugendalter Unter Risiko wird im Allgemeinen eine bewusst oder kalkuliert eingegangene Gefahr verstanden. Viele riskante Verhaltensweisen entwickeln sich im späten Kindes- und frühen Jugendalter, da in dieser Zeit im Sinne einer Entwicklungsaufgabe die eigenen Grenzen entdeckt und justiert werden müssen. Unter riskanten Verhaltensweisen werden solche mit einer herabgesetzten Wahrscheinlichkeit eines nicht schädlichen Verhaltensergebnisses verstanden. Diese wirken auf die Risikopersonen meist stimulierend und anziehend. Gerade die Ergebnisunsicherheit dieser Verhaltensweisen übt auf viele, insbesondere männliche, Jugendliche einen stark anziehenden Reiz aus. Die häufigsten Formen riskanten Verhaltens sind im Umgang mit psychotropen Substanzen, Sexualität und potenziellen Unfallsituationen (z.B. im Straßenverkehr) zu finden. Gemeinsames Thema dieser Situationen ist die Erfahrung von Grenzerlebnissen und Grenzüberschreitungen. Risikoverhalten und Risikosuche gelten insofern als jugendtypisches Verhalten, da in dieser Lebensspanne diese Verhaltensweisen erstmalig in nennenswertem Umfang und hoher Prävalenz auftreten, wobei ein starker Geschlechtseffekt hinsichtlich der Jungen festzustellen ist. Substanzkonsum dient dabei zum einen der Modulation der eigenen Befindlichkeit im Umfeld von Risikoverhaltensweisen: Angstreduktion im Angesicht gefährlicher Situationen, Dämpfung moralischer und sozialer Hemmungen zur Ausführung riskanter Handlungen, Einschränkung der kognitiven Beurteilungskompetenz in Risikosituationen, Stimulation und Antrieb in Richtung Hyperaktivität. Substanzkonsum kann aber auch als Risikoverhalten an sich betrachtet werden. Dies trifft etwa im Falle übermäßigen Konsums mit Vergiftungsfolgen und des Konsums unbekannter (illegaler) Substanzen bzw. Substanzmischungen zu. Dennoch sollte das meist jugendtypische Streben nach Genuss und Rausch nicht vorschnell verdammt, sondern in vielen Fällen als Durchgangsstadium verstanden werden, in dem im Sinne einer Risikoreduktion die Integration in relativ risikoarme Lebensstile und Entwicklungsverläufe anzustreben ist, um größere Schädigungen zu vermeiden. Für Männer sind Suchtstörungen in der Folge der höheren Risikobereitschaft die häufigste Diagnose von allen psychischen Störungen. Während die Lebenszeitprävalenz für Alkoholabhängigkeit und -missbrauch bei Männern in den USA 23.8% (Jahresprävalenz: 11.7%) beträgt, beläuft sich die Lebenszeitprävalenz für jegliche psychische Störung bei Männern auf 36% [14]. Diese Zahlen zeigen auch, dass Suchtstörungen häufig in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen (z.B. Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen) als komorbide Störungen auftreten. Im Einzelnen sind es vor allem die Alkohol- und Opiatabhängigkeit, bei der Männer zwei- bis dreimal häufiger als Frauen betroffen sind. Beim schädlichen Alkoholgebrauch zeigen sich höhere Prävalenzraten für Männer, obwohl diese eine höhere Schwellendosis aufweisen als Frauen. Üblicherweise wird für Frauen eine Dosis von 20g reinen Alkohols täglich, für Männer von 30g als riskanter Konsum gewertet. Affektive Selbstkontrolle und gefahrloser Umgang mit psychotropen Substanzen als Entwicklungsaufgaben für Kinder und Jugendliche 5 Der Einstieg in den Konsum psychotroper Substanzen stellt eine entscheidende Phase im Erwerb sowohl kontrollierter Konsumgewohnheiten als auch missbräuchlicher und süchtiger Verhaltensweisen dar. Diese Phase ist als eine Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche zu verstehen. Das Lebensalter, in dem diese Entwicklungsaufgabe zu lösen ist, hat sich in den letzen Jahrzehnten deutlich erniedrigt. Derzeit ist es eine Entwicklungsaufgabe der späten Kindheit. In dieser Phase sind auch andere Entwicklungsaufgaben anzusiedeln, wie z.B. die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsrolle, die sich entwickelnde Sexualität, der Aufbau eines gemischgeschlechtlichen Netzwerks und die langsame Distanzierung von den Eltern. Heutige Kinder und Jugendliche müssen nicht nur den kontrollierten Umgang mit einer Vielzahl psychotroper Substanzen im Sinne einer Verhaltenskompetenz lernen, sondern sind zusätzlich mit der komplexen Entwicklungsaufgabe des Erwerbs von Kompetenzen zur affektiven Selbstregulation mit Substanzen konfrontiert. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, Substanzen so einzunehmen, dass sie dem Individuum in seinem Verhaltensrepertoire nützlich sind (z.B. bei Stressbewältigung, Interaktionserfahrungen, Partnersuchverhalten und Sexualität), und ohne dass sie ihm schaden oder gar eine Abhängigkeit erzeugen. Von den Kindern und Jugendlichen wird implizit der Erwerb selbstkontrollierter oder abstinenter Konsumgewohnheiten erwartet. Damit dies gelingt, müssen Kinder und Jugendliche, insbesondere solche, die als Risikopersonen gelten können, Informationen über die Wirkungen, Chancen und Risiken einzelner Substanzen erhalten. Dies sollte nach Möglichkeit vor dem Zeitpunkt ihres Einstiegs in den Konsum, also vor dem 12. bis 14. Lebensjahr, erfolgen. Zum anderen sollten ihre individuelle Widerstandskraft, ihre Ablehnungsfähigkeiten und ihre Resilienzen soweit gestärkt sein, dass sie auf exzessiven Substanzkonsum verzichten können und dieser bestenfalls ein entwicklungspsychologisches Durchgangsstadium darstellt. Besonders wichtig für den Erwerb sozial integrierten, unschädlichen Substanzkonsumstils sind positives Selbstwertgefühl, affektive Selbststeuerungsfähigkeit und ein insgesamt hohes Ausmaß an Lebenskompetenz. Kinder sind heute in starkem Maße gefordert, ihre emotionale Befindlichkeit und ihre Stimmung gezielt und schnell modulieren zu können. Dies ist zum einen der Fall, weil sie immer weniger Zeit mit ihren Eltern verbringen können, die somit als Orientierung und Modell entfallen. Andererseits sind sie in Schule und Peergruppen in viel höherem Maße unter Druck, emotionale Beständigkeit („Coolness“), kontinuierliche Leistungsfähigkeit und Verhaltensstabilität zu zeigen und sehen sich insgesamt häufiger nicht altersentsprechenden Anforderungen gegenüber gestellt. Insofern müssen sie zu einem früheren Zeitpunkt typische Erwachsenenverhaltensweisen entwickeln, als dies früher der Fall war. Der hierzu gehörige Umgang mit psychotropen Substanzen ist heutzutage ein pädagogisches Lern- und Erfahrungsfeld, in dem sich viele Kinder und Jugendliche sicher bewegen. Für diejenigen, die diese Sicherheit nicht besitzen oder entwickeln können, bedarf es früher, zielgerichteter und effektiver Hilfen. Für die gelingende Bewältigung der Entwicklungsaufgabe „Erwerb ungefährlichen Substanzkonsumstils“ sind Einstiegsalter und psychische Situation von Kindern und Jugendlichen entscheidend. Ein Zustand guter seelischer Gesundheit wirkt protektiv. Ein sehr großer Anteil der späteren Süchtigen war zum Zeitpunkt ihres Einstiegs bereits auffällig oder bedürftig, wie epidemiologische Studien zur Komorbidität zeigen [1]. 6 Ambivalenz des Drogenkonsums In unserer Gesellschaft ist der Konsum psychotroper Substanz sozial erlaubt, in vielen Fällen sogar erwünscht. Die Grenzlinie zwischen legalen und illegalen Substanzen verläuft nach wenig rationalen Kriterien und ist oft eher von historischen Zufälligkeiten als von wissenschaftlicher Präzision geprägt. Dementsprechend herrscht in weiten Kreisen der Bevölkerung eine starke Ambivalenz zum Drogenkonsum vor, der eine kritische und rationale Auseinandersetzung mit den Risiken deutlich erschwert. Eine derartige wünschenswerte Auseinandersetzung müsste insbesondere eine Stärkung der Prävention und Erziehung zur Risikoreduktion umfassen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang etwa die wenig beachtete Vorgeschichte des Konsums illegaler Drogen: "Die Aufnahme des Konsums von illegalen Drogen wird auffällig häufig von denjenigen Jugendlichen vorgenommen, die starke Tabak- und/oder Alkoholkonsumenten sind" [15]. Alle Drogen haben eine zweigesichtige Wirkung: In geringen Mengen können sie nützen und helfen, in großen Mengen schaden und vergiften. Sie dienen dem Genuss und der Euphorie genauso, wie sie Zustände von Depression und tiefster Verzweifelung bereiten können. Darin besteht genau die Ambivalenz der Verführung, die Kinder und Jugendliche erleben. Dabei liegen die positiven Konsequenzen zunächst deutlich näher, weil die meisten Kinder und Jugendlichen noch kein adäquates Gesundheits- und Risikobewusstsein entwickelt haben und ihre Kontrollfähigkeiten unrealistisch überschätzen. So ist das Experimentieren mit Drogen eine Entwicklungsaufgabe für alle Kinder und Jugendlichen, bei der diejenigen besonders gefährdet sind, die entweder ihre Fähigkeiten im Umgang mit den Substanzen überschätzen oder aufgrund ihrer Biographie und psychosozialen Umstände schon geschädigt oder zumindest benachteiligt sind. Notwendig ist es, die Grenzlinie im Verhalten dort zu ziehen, wo sie wirklich haltbar und vernünftig ist. Dies gelingt in der Regel nicht ausschließlich mit Modelllernen, sondern muss auch erfahrungsbasiert erfolgen. Prävention und Frühintervention bei riskanten Konsummustern Gerade Kinder und Jugendliche mit riskanten Konsummustern oder aus Familien, in denen diese Konsummuster vorherrschen, sind für die Suchtprävention eine der wichtigsten Zielgruppen, die bisher jedoch auffällig stark vernachlässigt wurde. Da sie auch eine der nachweislich größten Subgruppen für spätere Suchtstörungen [16] darstellen, können präventive und insbesondere frühinterventive Bemühungen um diese Personengruppe besonders effizient, auch im sozialökonomischen Sinne, sein. Dass Kinder anders in Bezug auf Alkohol denken und lernen, wenn sie selbst früh mit einem eigenen Konsum beginnen, zeigen z.B. die Untersuchungen aus einer finnischen Notfallambulanz für betrunkene und alkoholvergiftete Kinder [17]. Insbesondere setzen in diesem Fall die positiven Wirkungserwartungen in Bezug auf Alkohol wesentlich früher als sonst üblich ein. Ähnliche Auffälligkeiten in der Konzept- und Erwartungsbildung in Bezug auf Alkohol finden sich bei Kindern suchtkranker Eltern [16; 18]. Als Leitlinien für die Prävention bei riskant konsumierenden Kindern und Jugendlichen können folgende Punkte dienen: 7 den Einstieg in den Konsum von Substanzen so lange wie möglich herauszuschieben insbesondere nicht in Konflikt- und Stresssituationen konsumieren (oder so wenig/selten wie möglich) die Substanzen nicht (bzw. so wenig wie möglich) zur affektiven Selbstregulation einsetzen die Fähigkeit zum Genuss und zum Glücksempfinden so weit wie möglich fördern die Bewältigungskompetenz für familiäre und psychosoziale Stress- und Spannungssituationen gezielt erhöhen. Programme zur Reduktion riskanten Substanzkonsums sollten gleichzeitig auf die Reduktion assoziierter riskanter Verhaltensweisen fokussieren. Den besonders gefährdeten Kindern und Jugendlichen sind neben Grenzen und realistischen Vorbildern auch seelische Sicherheit und Beständigkeit, Anerkennung und Selbstwertbestätigung, Freiräume und Experimentierfelder, ein tragfähiges soziales Netzwerk sowie sinnstiftende Angebote zu machen. Damit dies gelingt, sind verbesserte Präventionsangebote zu entwickeln, insbesondere im Bereich der Sekundärprävention. Hierzu gehören intensivierte Bemühungen zur Früherkennung und Frühintervention genauso wie familienorientierte Maßnahmen. Suchtprävention muss dabei wesentlich stärker als bisher auf früh konsumierende Jungen abzielen, die an der Entwicklungsaufgabe des risikoarmen, selbstbestimmten Umgangs mit Substanzen und Grenzen zu scheitern drohen. Literatur: 1 Lachner G, Wittchen HU. Familiär übertragene Vulnerabilitätsmerkmale für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. In: Watzl H, Rockstroh B. (Hrsg.). Abhängigkeit und Missbrauch von Alkohol und Drogen. (S. 43 – 89). Göttingen: Hogrefe, 1997 2 Klein M. Der Einstieg in den Konsum psychotroper Substanzen am Beispiel von Tabak und Alkohol: Ergebnisse einer epidemiologischen kinder- und jugendpsychologischen Studie. In: Richter G, Rommelspacher H, Spies C. (Hrsg.). „Alkohol, Nikotin, Kokain... und kein Ende?“ Suchtforschung, Suchtmedizin und Suchttherapie am Beginn des neuen Jahrzehnts. (S. 283 – 289). Lengerich: Pabst, 2002 3 Kandel DB. (Ed.). Stages and pathways of drug involvement. Cambridge: Cambridge University Press, 2002 4 Kolip P. Tabak- und Alkoholkonsum bei Jugendlichen: Entwicklungstrends, Prävalenzen und Konsummuster in den alten Bundesländern. In: Leppin A, Hurrelmann K, Petermann H. (Hrsg.). Jugendliche und Alltagsdrogen. Konsum und Perspektiven der Prävention. (S. 24 –44). Neuwied: Luchterhand, 2000 8 5 Breitenacher M. Alkohol – Zahlen und Fakten zum Konsum. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.). Jahrbuch Sucht 2000. (S. 7 – 21). Geesthacht: Neuland, 1999 6 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BzgA. Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2001. Eine Wiederholungsbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Endbericht. Köln: BzgA, 2001 7 Kraus L, Augustin R, Müller-Kalthoff T. Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen in Rheinland-Pfalz. Mainz: Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz, 2001 8 Helmert U, Borgers D, Bammann K. Soziale Polarisierung des Rauchens: Ergebnisse und Schlussfolgerungen für Beratungen und Gesundheitspolitik. Zeitschrift für Allgemeinmedizin 2000; 76: 397 – 400 9 Bornhäuser A. Gesundheit fördern – Tabakkonsum verringern: Handlungsempfehlungen für eine wirksame Tabakkontrolle in Deutschland. Heidelberg: Deutsches Krebsforschungszentrum, 2002 10 Essau CA, Baschta M, Koglin U, Meyer L, Petermann F. Substanzmissbrauch und –abhängigkeit bei Jugendlichen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1998; 47: 754 – 766 11 Zobel M. Kinder aus alkoholbelasteten Familien. Entwicklungsrisiken und –chancen. Göttingen: Hogrefe.(= Klinische Kinderpsychologie, Bd. 2), 2000 12 Dill H, Frick U, Höfer R, Klöver B, Straus F. Risikoverhalten junger Migrantinnen und Migranten. Baden-Baden: Nomos [= Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit; Bd. 141/I], 2002 13 Remschmidt H. Alkoholabhängigkeit bei jungen Menschen. Dtsch Arztebl 2002; 99: A 787 – 792 [Heft 12] 14 Zucker RA, Fitzgerald HE, Moses HD. Emergence of Alcohol Problems and the Several Alcoholisms: A Developmental Perspective on Etiologic Theory and Life Course Trajectory. In: Cicchetti D, Cohen DJ. (Eds.). Developmental Psychopathology. Volume 2: Risk, Disorder, and Adaptation. (p. 677 - 711). New York: Wiley, 1995 15 Hurrelmann K, Hesse S. Drogenkonsum als problematische Lebensbewältigung im Jugendalter. Sucht 1991; 37: 240 - 252 Form der 16 Klein M. Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven. Suchttherapie 2001; 2:118 – 124 17 Lamminpää A. Alcohol intoxication in childhood and adolescence. Alcohol & Alcoholism 1995; 30: 5 - 12 18 Sher KJ. Children of alcoholics. A critical appraisal of theory and research. Chicago: University of Chicago Press, 1991 9