Geistige Behinderung und psychische Störung

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LWL-Klinik Bochum
Psychiatrie . Psychotherapie . Psychosomatik . Präventivmedizin
Klinik der Ruhr-Universität Bochum
Zusammenfassung des
Symposium
„Geistige Behinderung
und psychische
Störung“
Bochum 20. Oktober 2007
In Zusammenarbeit mit
Anforderungen an die psychiatrische und
psychotherapeutischen Versorgung von
erwachsenen Menschen mit geistiger
Behinderung und
zusätzlichen psychischen Störungen
Michael Seidel
v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel
Universität Bielefeld, Universität Münster
Ziele der Präsentation
• Verständnis wecken für die Bedeutung
psychischer Störungen bei Menschen mit
geistiger Behinderung
• Darlegung der Anforderungen an die
psychiatrische und psychotherapeutische
Versorgung von Menschen mit geistiger
Behinderung und zusätzlichen psychischen
Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten
Prämissen 1
• Psychische Gesundheit ist eine wichtige
Komponente von Lebensqualität und
Wohlbefinden
• Das Menschenrecht auf Gesundheit schließt
das Recht auf seelische Gesundheit ein und gilt
auch für Menschen mit geistiger Behinderung
• Psychische Gesundheit ist eine wichtige
Voraussetzung für Teilhabe und Inklusion
• Die aktuellen strukturellen und
organisatorischen sowie fachlichen
Bedingungen sind unzulänglich
Prämissen 2
1. Geistige Behinderung ist keine Krankheit,
sondern als Behinderung die Folge einer
Gesundheitsstörung, Krankheit oder eines
in medizinischer Terminologie
beschreibbaren Ereignisses.
2. Psychische Störungen können bei
Menschen mit geistiger Behinderung
zusätzlich zur geistigen Behinderung – als
„zweite Diagnose“ – auftreten:
„Doppeldiagnose“.
Anmerkung Begriff „Doppeldiagnose“ verweist auf ein
versorgungsstrukturelles Defizit
Inhalt der Präsentation
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Ziele
Prämissen
Multimorbidität
Psychische Störungen
Probleme der Diagnostik
Komponenten der Diagnostik
Organisatorisch-strukturelle Anforderungen
Fachliche Anforderungen
Versorgungspolitischer Vorschlag
Internationale fachliche Positionsbestimmung
Menschrechtsdokumente
Multimorbidität
Geistige Behinderung ist überzufällig häufig
assoziiert mit:
• Psychischen Störungen und
Verhaltensauffälligkeiten
• Körperbehinderungen
• Sinnesbehinderungen
• Epilepsie
• Inneren Krankheiten
• Krankheiten des Bewegungsapparates usw.
Definition Psychische Störung
Der Begriff psychische Störung (mental disorder,
psychiatric disorder)
-Terminus für diejenigen Erscheinungen, die man auch
als psychische Krankheiten (mental diseases, psychiatric
diseases) bezeichnet.
Aus bestimmten Gründen (u. a. Nichteignung des
traditionellen Krankheitsbegriffs für psychische
Krankheiten) wird in den heutigen psychiatrischen
diagnostisch-klassifikatorischen Systemen (z. B. ICD-10,
DSM-IV) der Begriff Krankheit durch den Begriff Störung
(disorder) ersetzt.
Der Begriff psychische Störung (mental disorder,
psychiatric disorder) meint also nicht gestörtes Verhalten
oder Erleben (i. S. von disturbance).
Definition Psychische Störung
Im DSM-IV wird “... jede psychische Störung als ein klinisch
bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster
aufgefasst, das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden
(z. B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z. B.
Einschränkung in einem oder mehreren wichtigen Funktionsbereichen)
oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz,
Beeinträchtigung oder einen tief greifenden Verlust an Freiheit zu
erleiden. Zusätzlich darf dieses Syndrom oder Muster nicht nur eine
verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes
Ereignis sein , wie z. B. den Tod eines geliebten Menschen. Unabhängig
von dem ursprünglichen Auslöser muss gegenwärtig eine
verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung bei der
Person zu beobachten sein. Weder normabweichendes Verhalten... noch
Konflikte des einzelnen mit der Gesellschaft sind psychische Störungen,
solange die Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer oben
beschriebenen Funktionsstörung bei der betroffenen Person darstellt.“
Häufigkeit psychischer Störungen
Prävalenz - Besonderheiten bei geistiger
Behinderung:
• Einige psychische Störungen sollen bei geistiger
Behinderung häufiger sein
(z. B. Schizophrenien, Depressionen)
• einige psychische Störungen sollen besonders
selten sein
(z. B. Abhängigkeitserkrankungen)
• Insgesamt gelten psychische Störungen bei
Menschen mit geistiger Behinderung als häufiger
als in der Durchschnittsbevölkerung (3 -5 mal
häufiger)
Ursachen der besonderen Häufigkeit
psychischer Störungen
• Hirnschädigung als Ursache
• Umfangreiches Spektrum von Komorbidität:
Beeinträchtigungen der psychosozialen
Entwicklung
• Problematische biografische bzw.
Sozialisationserfahrungen
• Stigmatisierung im äußeren Erscheinungsbild
• Verminderte Kompetenz für adäquates Coping
• Genetische Bedingtheit des Risikos
(Verhaltensphänotyp)
• Negative psychotrope Pharmakoeffekte usw.
Zusammenhang von geistiger Behinderung und psychischer
Störung
1) GB und PS zufällig koinzident
2) GB und PS gemeinsame Folge nachteiliger
psychosozialer Entwicklungsbedingungen
3) GB als Vulnerabilitätsfaktor
4) GB als Folge frühkindlicher Psychose
5) PS als Folge der durch die GB beeinträchtigten
psychosozialen Entwicklung
6) GB und PS als unspezifische gemeinsame Folge einer
Hirnschädigung
7) GB und PS als gemeinsame Folge einer angeborenen
Schädigung (Syndrom)
8) GB und PS als Folge eines genetischen Defektes
Probleme der Diagnostik
1. Eingeschränkte Kooperationsfähigkeit
2. Methodische Besonderheiten der psychiatrischen
Untersuchung
3. Eingeschränkte Anwendbarkeit psychiatrischer
diagnostischer Regeln
4. Methodische Besonderheiten des Interviews von
Bezugspersonen
5. Einfluss nichtpsychiatrischer Interpretationsmodelle
6. Spezielle Assessment-Instrumente
7. Stellenwert des Setting-Bezugs
8. Verfahren zur Analyse von Verhaltensproblemen
(Funktionale Analyse, ABC-Analyse)
9. Methodische Risiken und Probleme der psychiatrischen
Diagnostik
Probleme der Diagnostik
Psychiatrisch-diagnostische Probleme:
auf der Seite des Patienten:
• vermindertes Sprachverständnis
• beeinträchtigte Introspektionsfähigkeit
• vermindertes Ausdrucksvermögen
• „normale“ Abwandlung üblicherweise
diagnostisch relevanter Merkmale
• erhöhte Basisrate auffälligen Verhaltens
• Modifikationen der Ausdrucksgestalt „üblicher“
psychiatrischer Symptomatik
Probleme der Diagnostik
Psychiatrisch-diagnostische Probleme:
auf der Seite des Beurteilers:
•
•
Zuschreibung des psychopathologischen
Verhaltens zur geistigen Behinderung
(diagnostic overshadowing)
eingeschränkte Anwendbarkeit der üblichen
diagnostischen Regeln,
z. B. bei operationalisierter Diagnostik (ICD-10,
DSM-IV)
Probleme der Diagnostik
Eingeschränkte Anwendbarkeit der ICD-10- und
DSM-IV-Kategorien bei schwerer und
schwerster Intelligenzminderung :
• Einschränkungen der Explorierbarkeit
• Ausfall sprachlich vermittelter Symptome
• Komplexität von Verhaltensbesonderheiten
macht Differenzierung der Symptome
definierter psychischer Störungen schwierig
Probleme der Diagnostik
Informationsgewinnung
•
Befragung des Probanden - nur begrenzt
möglich
•
Verhaltens-Beobachtung des Probanden begrenzt, u. U. von konkretem Setting
überlagert, verfälscht
•
Informationsgewinnung von Bezugspersonen nicht ohne professionellen oder individuellen
Bias
Probleme der Diagnostik
•
•
•
Oft unzulängliche anamnestische Datenlage
Oft unvollständige oder fehlende Vorbefunde
Oft mangelhafter Grad der medizinischen
Abklärung, insbesondre der genetischen
Aspekte
Probleme der Diagnostik
Dritten (Angehörige, professionelle Betreuer, gesetzliche
Betreuer) obliegen
• Problemidentifikation,
• Problemanzeige,
• Vermittlung der anamnestischen Informationen,
• Beobachtung und Schilderung der Beschwerden und
Symptome sowie
• Case-Management
Bedeutung subjektiver Interpretationen
Bedeutung spezieller professioneller
Sichtweisen
Bedeutung gruppendynamischer
Mechanismen in Betreuungsteams usw.
Komponenten der Diagnostik
•
•
•
•
•
•
Anamnese einschl. Familienanamnese
Gründliche und umfassende psychopathologisches
Assessment
Gründliche und umfassende neurologische
Untersuchung
Gründliche und umfassende körperliche
Untersuchung
Laboruntersuchungen, evtl. sogar genetische
Untersuchungen
Bildgebende Untersuchungen nach Indikation
Anforderungen
• Organisatorisch-strukturelle
Anforderungen
• Fachliche Anforderungen
Strukturelle und organisatorische Anforderungen
Gute Zugänglichkeit (accessibility)
• Gleichmäßige regionale Verteilung der Angebote im
stationären und ambulanten Bereich
• Verkehrstechnisch einfache Zugänglichkeit von Praxen
und Kliniken
• Angemessene Ausstattung (Räume, Personal) vor
allem im Krankenhausbereich)
• Geeignete Konzepte und „Werkzeuge“
• Aufwandsdeckende Finanzierungsregelungen
einschließlich erweiterte Beratungs- und
Hausbesuchstätigkeiten)
Fachliche Anforderungen
• Vertiefte Kenntnisse über die Lebenswelt von
Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung
• Sozialrechtliche Kenntnisse (SGB XII, SGB V und
einschlägige untergesetzliche Regelungen)
• Motivation zur interprofessionellen Arbeit
• Kommunikative Kompetenzen im Hinblick auf
– Menschen mit Behinderungen
– Professionelle Begleiter mit pädagogischem,
heilpädagogischem, sozialarbeiterischem oder
anderem professionellem Hintergrund
– Angehörigen
Fachliche Anforderungen
• Neuropsychiatrische Kompetenz
• Methodenvielfalt im Bereich von Diagnostik
und Therapie:
z. B. Verhaltensanalyse, ABC-Analyse,
Videoanalyse
• Differentialdiagnostische Fähigkeiten im
Hinblick auf kontextsensitive oder
kontextbedingte Verhaltensweisen:
Practice Guidelines and Principles
Fachliche Anforderungen
A. Dosen, W. Gardner, D. M. Griffith, R. King,
A. Lapointe:
Practice Guidelines and Principles:
Assessment, Diagnosis, Treatment, and
related Support Services for Persons with
Intellectual Disabilities and Problem
Behaviour. European Edition.
(deutsche Version in Vorbereitung)
Practice Guidelines and Principles
Bio-psychosoziales Modell ist explizit um den
Aspekt Entwicklung/Entwicklungsniveau
ergänzt worden.
Versorgungspolitischer Vorschlag
Regelversorgungssystem
• Fachliche Qualifizierung
• Schaffung geeigneter Bedingungen (insbesondere
aufwandsadäquate Vergütungen der Leistungen)
Ergänzende Spezialangebote
• Angemessene Ausstattung im räumlichen, personellen
und fachlich-konzeptionellen Bereich
• Enge Kooperation im Bereich der praktischen
Versorgung und der strategischen Netzwerkarbeit
• Mitwirkung an Ausbildung, Fortbildung und
Weiterbildung
• Mitwirkung an Versorgungsforschung.
Stationäre Abteilungen
Psychiatrische Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern
nur begrenzt in der Lage, schwierigere
differentialdiagnostische Fragen zu lösen und
komplexere Interventionen anzubieten
Psychiatrische Fachkrankenhäuser sollten
Spezialabteilungen vorhalten, verbunden mit
spezialisierter Institutsambulanz
PIA:
Aufsuchende interdisziplinäre Arbeitsweise
Beratung, Anleitung, Supervision
Netzwerkarbeit (Regionalkonferenzen)
Systematische Kooperation mit ambulanten
Regelversorgern
Ambulante Spezialangebote
Die wenigen noch vorhandenen
Gesundheitsdienste bei Trägern der
Behindertenhilfe sollten sich öffnen dürfen für
Teilnahme an der vertragsärztlichen und
vertragspsychotherapeutischen Versorgung der
Region
Probleme: Unzulängliche Vergütung nach EBM
Willkür der Zulassungsausschüsse im
Zulassungsverfahren
Ambulante Psychotherapie
Lockerung der für die zielgruppenspezifischen
Probleme ungeeigneten Rahmenbedingungen
der Richtlinienpsychotherapie
• Methodenkombination
• Verlängerung der Therapieserien
Verkürzung der Sitzungsdauer
• Angemessene Vergütung der Zusatzleistung
(Beratung des Umfelds, „Hausbesuche“)
Forschung
Einbeziehung der Thematik in öffentliche
Forschungsförderung:
Grundlagenforschung
Versorgungsforschung
Klinische Forschung
Interventionsforschung
Interdisziplinäre Schnittstelle!
Es werden dringend evidenzbasierte Aussagen
benötigt
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Einbeziehung des Themas Geistige
Behinderung/psychische Störungen in Aus-,
Fort- und Weiterbildung aller einschlägigen
Berufsgruppen
1) Haltung und Einstellung
2) Grundwissen
3) Handlungsorientiertes Wissen und
Kompetenzen
Hinweis: Musterweiterbildungsordnung
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Berufspolitik und Gesundheitspolitik
Verankerung des Themas in Kammern
(z. B. Landespsychotherapeutenkammern)
Verankerung des Themas in Fachgesellschaften
(z. B. Referat Psychische Störungen bei
Menschen mit geistiger Behinderung in
DGPPN)
Spezifische Fachgesellschaften
(z. B. DGSGB)
Interdisziplinäre Kooperationen
Internationale fachliche Positionsbestimmungen
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation” (1996)
„Proper mental health care for this population should be
directed to:
• stimulation of a healthy development and protection of
mental health
• prevention of mental illness and behavioural disorders
• combating of mental illness and behavioural disorders.“
Internationale fachliche Positionsbestimmungen
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation” (1996)
„For the realisation of these the following goals are
needed:
• development of specialised professional knowledge
• organisation of specialised services for mental health in
mental retardation
• adaptation of cultural attitude in the community to the
mental health needs of persons with mental
retardation.”
Internationale fachliche Positionsbestimmungen
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation” (1996)
„The following actions are recommended:
• ...
• Specialist services should be established to serve the
mental health need of persons with mental retardation.
• ...”
Internationale fachliche Positionsbestimmungen
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation” (1996)
„The following actions are recommended:
• ...
• Professional mental health education and training
should encompass specific aspects of mental retardation
and specialists in mental health and mental retardation
should undertake joint education and training in their
basic professional education programmes.
• ...”
Menschenrechtsdokumente
United Nations - Standard Rules
on the Equalization of Opportunities for Persons with
Disabilities
General Assembly resolution 48/96 of 20 December 1993
Rule 2. Medical care
...
4. States should ensure that all medical and paramedical
personnel are adequately trained and equipped to give
medical care to persons with disabilities and that they
have access to relevant treatment methods and
technology.
5. …
Menschenrechtsdokumente
United Nations - Standard Rules
on the Equalization of Opportunities for Persons with
Disabilities
Rule 2. Medical care
....
6. States should ensure that persons with disabilities are
provided with any regular treatment and medicines they
may need to preserve or improve their level of
functioning.
Menschenrechtsdokumente
UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities
(2006), Art. 25
States Parties recognize that persons with disabilities have
the right to the enjoyment of the highest attainable
standard of health without discrimination on the basis of
disability. States Parties shall take all appropriate
measures to ensure access for persons with disabilities
to health services that are gender-sensitive, including
health-related rehabilitation.
Menschenrechtsdokumente
UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities
(2006), Art. 25
In particular, States Parties shall:
(a) Provide persons with disabilities with the same
range, quality and standard of free or affordable health
care and programmes as provided to other persons,
including in the area of sexual and reproductive health
and population-based public health programmes;
Menschenrechtsdokumente
UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities
(2006), Art. 25
…
(b) Provide those health services needed by persons with
disabilities specifically because of their disabilities,
including early identification and intervention as
appropriate, and services designed to minimize and
prevent further disabilities, including among children
and older persons;
(c) Provide these health services as close as possible to
people’s own communities, including in rural areas;
…
Medizinische Möglichkeiten in der
Behandlung und ihre Grenzen
bei Menschen mit
Intelligenzminderung
Dr. med. Manfred Koniarczyk
Abteilung Psychiatrische Therapie für
Menschen mit geistiger Behinderung
im Fachbereich für Spezialstationen
Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost
(Ärztliche Direktorin: Prof. Dr. Dr. M. Albus, M.Sc.)
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und ihre Grenzen bei Menschen mit
Intelligenzminderung
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und ihre Grenzen bei Menschen mit
Intelligenzminderung
Geistige Behinderung ist keine Krankheit, ihre
Ursachen ihre Schwere und ihr Erscheinungsbild
sind vielfältig. Geistige Behinderung führt jedoch
zu einer Beeinträchtigung der selbständigen
Lebensbewältigung, die alle Lebensbereiche, unter
Anderem auch die Sorge für die eigene Gesundheit
mehr oder minder betrifft. Über die üblichen
Gesundheitsrisiken der Durchschnittsbevölkerung
hinaus
ist geistige Behinderung häufig mit spezifischen
Erkrankungen und zusätzlichen Krankheiten und
Behinderungen (Multimorbidität) verbunden.
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und ihre Grenzen bei Menschen mit
Intelligenzminderung
Zudem weisen Menschen mit
geistiger Behinderung oft Besonderheiten in
Krankheitssymptomatik, Krankheitsverlauf sowie
Diagnostik und Therapie auf, ebenso in ihrem
krankheitsbezogenen Kommunikations- und
Kooperationsverhalten. Daher benötigen sie
spezifische fachliche Kompetenzen und besondere
Rahmenbedingungen für ihre angemessene
gesundheitliche Versorgung.
(aus: Gesundheit und Behinderung - Expertise zu bedarfsgerechten
gesundheitsbezogenen Leistungen für Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderung als notwendiger Beitrag zur Verbesserung
ihrer Lebensqualität und zur Förderung ihrer Partizipationschancen,
Diakonie-Verlag, Stuttgart-Reutlingen, 2001)
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und
ihre Grenzen bei Menschen mit Intelligenzminderung
Spezialbereiche für Menschen mit geistiger Behinderung und
psychischen Störungen in Deutschland
bundesweit: 31
Bayern:
•
•
•
•
•
•
•
Bezirkskrankenhaus Lohr, Am Sommerberg, 97816 Lohr am Main,
09352/503-594
Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Abteilung Psychiatrische Heilpädagogik,
Nordring 2, 95445 Bayreuth , 0921/283-0
Bezirksklinikum Regensburg Psychiatrische Klinik und Poliklinik der
Universität, Universitätsstr.84, 93053 Regensburg, 0941/941-0
Bezirksklinikum Mainkofen, Station D2, 94469 Deggendorf, 09931/87-307
Isar–Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost, Abteilung Psychiatrische
Therapie für Menschen mit geistiger Behinderung, Vockestr.72,
85540 Haar, 089/ 4562-3510 oder -3943
Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren Medizinisch-Heilpädagogisches
Zentrum, Kemnater Str.16, 87600 Kaufbeuren, 08341/ 72-1271
Krankenhaus St. Camillus gGmbH Hilfe für Menschen mit Behinderungen
Dominikus-Ringeisen-Str.20, 86513 Ursberg, 08281/92-2405
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und ihre Grenzen bei Menschen mit
Intelligenzminderung
• seit Januar 1998: Akutstation mit 18 Betten,
gemischtgeschlechtlich, geschlossen,
Verweildauer variabel, meist 4-8 Wochen,
Abteilungspflegesatz derzeit 213,64 .-€
• seit August 1994: Ergotherapeutische
Einheit
(„Fördergruppe“)
• seit August 1994: Spezialambulanz mit „Geh“
-Struktur, seit 1996 Einzelleistungsvergütung,
ca. 750 Patienten/Quartal, ca. 138,00.€/Quartal
Medizinische Möglichkeiten in der Behandlung und ihre Grenzen bei Menschen mit
Intelligenzminderung
• Grundsätze der
Fachabteilung
in Haus 67:
• Außenorientierung
• Ganzheitlicher
Hilfeansatz
• Normalisierungs- und
Integrationsprinzip
• Multiprofessionalität
Geistigbehindertenambulanz
700
600
500
400
300
200
100
0
Ambulanz-Patienten pro
Quartal
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
Frau Gottschling
Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft
Bochum
(PSAG)- AK Menschen mit geistiger
Behinderung
„Alles in Butter! Oder?“ - Erfahrungen mit und
Erwartungen an stationäre und ambulante
Versorgung von Menschen mit geistiger
Behinderung in Bochum
Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft Bochum
(PSAG)- AK Menschen mit geistiger Behinderung
-ein Zusammenschluss von MitarbeiterInnen aus
verschiedenen Einrichtungen und Diensten, Betroffenen
und anderen Bürgerinnen und BürgernTeilnehmer:
•
•
•
•
•
Wohnheime
Werkstätten für Menschen mit geistigen Behinderungen
Förderschulen
Fachdienste verschiedener Träger
Sozialpsychiatrischer Dienst /Gesundheitsamt Bochum
Treffen:
• monatlich
Sprecherin des AK:
• Heidrun Lenke, Sozialpsychiatrischer Dienst
Kontakt und Beratungsstelle, Westring 26, Bochum
Tel. 0234 910-3239 eMail: [email protected]
PSAG Bochum - AK Menschen mit geistiger Behinderung
Befragung aller Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe in Bochum zur Bedarfsplanung
(von Dunkelziffern muss ausgegangen werden, da es nicht von allen Einrichtungen Rückmeldungen gab)
Basisjahr der Befragung: 2006
Stationäre Aufnahmen
Akutaufnahmen und vorbereitete
Aufnahmen (Gesamtzahl)
davon Akutbehandlung/Krisenintervention
davon zur Feststellung einer
Diagnose/neurologische Untersuchung
davon zur Medikamenteneinstellung
Alter und Demenzerkrankungen
Erwachsene
225
Kinder u. Jugendliche (Information
aus den Schulen und von
Therapeuten)
28
60
111
15
5
46
8
8
0
Pflegebedürftigkeit besteht: in ca. 25 % der Fälle
Spezielle Hilfsmittel sind notwendig: in ca. 10 % der Fälle
Inanspruchnahme von psychiatrischer Institutsambulanz in 2006
Gesamtzahl
Vorsorge, fachliche Beratung
Nachsorge/Vernetzung
Psychopharmakologische Beratung,
Medikamentenberatung
Fallbezogene Beratung ggf. vor Ort
Alter und Demenz
Diagnosestellung
Erwachsene
196
55
47
21
Kinder und Jugendliche
62
18
7
21
52
16
5
5
0
11
PSAG Bochum - AK Menschen mit geistiger Behinderung
Visionen psychiatrischer Hilfen in Bochum
LWL-Klinik
Station
Akutversorgung
Weiterbehandlung
Ambulanz
Präventive Hilfen
Nachsorge
Einrichtungen der
Behindertenhilfe in
Bochum (Wohnen, Arbeit,
Schule, u.a.)
Begleitung
Information
Diagnostik
Medikament. Behandlung
Therapie
Beratung
Assistenz (gemeinsame Kostenträgerschaft und gemeinsame Leistung)
PSAG Bochum - AK Menschen mit geistiger Behinderung
Basisbedingungen:
LWL-Klinik
Assistenz
•fallbezogen feste
Ansprechpartner
•Kooperationsbereitschaft
•Fachpersonal (Fortbildungen, Hospitationen)
•Austausch in Gremien/
Netzwerke)
•Arzt (spezifisches
Fachwissen und
Erfahrung
•Gemeinsame
Veranstaltungen
Einrichtungen der
Behindertenhilfe
•fallbezogene feste
Ansprechpartner
in größeren
Einrichtungen regelm.
Kontaktperson für die
Klinik
•Fallkonferenzen
Die Nachhaltigkeit der Hilfen wird durch nachsorgende Beratung und
die Einbeziehung des Familien- und/oder Betreuungssystems gewährleistet!
Psychisch gestörte Menschen Wohnheimen der
Behindertenhilfe
Ist die Behandlung mit Psychopharmaka wirklich
eine Therapie?
Prof. Dr. Klaus Hennicke, Bochum
Gliederung
ƒ
Psychopharmaka-Prävalenzen: Eigene
Untersuchung und empirische Ergebnisse
ƒ
Standards einer psychiatrischen Therapie mit
Medikamenten
ƒ
Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung
ƒ
Werden die Standards eingehalten - Erfahrungen
von Einrichtungs-Mitarbeitern?
ƒ
Hinweise auf Gründe für die Unzulänglichkeiten
ƒ
Ist die Behandlung mit Psychopharmaka in der
Behindertenhilfe wirklich eine Therapie?
ƒ
Schlussfolgerungen
Zweiteilige explorative Studie
1. Teil: Häufigkeit der Vergabe von Psychopharmaka in der stationären
Behindertenhilfe (Pharmakaprävalenz)
Methode: Fragebogenuntersuchung Bewohner in vollstationären
Einrichtungen der Behindertenhilfe in Berlin
(N= 547; 16 Wohnstätten, 4 Träger)
Ziele: Nationaler und internationaler Vergleich
2. Teil: Praxis der Psychopharmakotherapie in vollstationären
Einrichtungen der Behindertenhilfe aus Sicht der Gruppenmitarbeiter
und Heimleitungen
Methode: Halbstrukturierte Interviews
(N= 46 Gruppenmitarbeiter + 9 Leitungspersonen aus 7 Einrichtungen von 3
Trägen)
Ziele: Beschreibung eines hochkomplexen sozialen Prozesses aus subjektiver
Sicht der Mitarbeiter, Hypothesenbildung zur Erklärung; Ansatzpunkte für
Veränderungen
Häufigkeiten von Medikamenten
in vollstationären Einrichtungen
der Behindertenhilfe
(16 vollstationäre Einrichtungen von 4 Trägern im Stadtgebiet von Berlin)
N= 547
%
Range
• Psychopharmaka
188
34,4
7,1-62,5
• Antiepileptika
115
21,1
9,1-47,4
• Andere
Medikamente
267
48,8
28,2-66,7
Prävalenz
Range
HENNICKE 2007
34,4
7,1 – 62,5
GREMERICH 2007
35,0
21,1 – 62,5
CHAPMAN et al. 2006
23,0
HÄßLER et al. 2005
27,0 – 44,8
SPREAT et al. 2004
50,5
SPREAT et al. 2004
25,4
STOLKER et al. 2002
22,8
HÄßLER 1998
40,3
SPREAT et al. 1997
33,4
SINGH et al. 1997
AMAN et al. 1995
44 – 60 stat.
35 – 45 amb.
27,0
DEB & FRASER 1994
MEINS et al. 1993
20 - 50
23,6
AMAN & SINGH 1988
GAEDT 1986
bis 62,6
11,2 – 74,6
30 - 50
19,0
Prävalenz
Psychopharmaka
im nationalen und
internationalen
Vergleich
(Bewohner stationärer
Einrichtungen der
Behindertenhilfe)
Zur Häufigkeit der Behandlung mit
Psychopharmaka
(Bewohner von Einrichtungen der Altenhilfe)
WEYERER et al. (1996)
56% der Altersheimbewohner
STELZNER et al. (2001)
Prävalenz zwischen 34-75%
PANTEL et al. (2005)
PANTEL, J., WEBER, B., BOCKENHEIMER-LUCIUS, G., EBSEN, I. (2005):
Abschlussbericht: Psychopharmaka im Altenpflegeheim. Eine
interdisziplinäre Untersuchung unter Berücksichtigung
gerontopsychiatrischer, ethischer und juristischer Aspekte.
http://www.gesetzeskunde.de/Rechtsalmanach/Heimrecht/
PsychopharmakaimAltenheimBericht05.pdf (14.11.2005)
Prävalenz 55,6%
Die wichtigsten Grundprinzipien der Behandlung mit
Psychopharmaka (1)
1.
Vorliegen einer klaren psychiatrischen Indikation
als Ergebnis einer differenzierten Diagnostik
– Psychiatrisches Störungsbild,
– definierte Verhaltensauffälligkeit
2.
Vorliegen der allgemeinen
Indikationsvoraussetzungen
– Schweregrad der Symptomatik
– Beeinträchtigung im Erleben und Empfinden
– Beeinträchtigung der Lebensqualität
– Einschränkungen der sozial-adaptiven Fähigkeiten
und der sozialen Integration
Die wichtigsten Grundprinzipien der Behandlung mit
Psychopharmaka (2)
3.
4.
5.
6.
7.
Psychopharmaka sind selten die primäre Therapieform
und niemals eine kausale Therapie
Psychopharmaka nicht die alleinige Therapie, sondern
müssen eingebettet sein in ein multimodales
Behandlungskonzept (Gesamtbehandlungsplan)
Psychopharmaka sind immer eine individualisierte
Therapieform (Austitrieren der optimalen effektiven
Dosis; „Start slow, go slow“)
Notwendigkeit regelmäßiger medizinisch-psychiatrischer
Kontrollen
Notwendigkeit der Evaluation des Therapieeffektes
Standards und Leitlinien der psychiatrischen
Pharmakotherapie
nach OBRA Omnibus Budget Reconciliation Act
(Health Care Financing Administration HCFA, 1987; zit. n. PANTEL et al. 2005, 133) (1)
Eine Psychopharmakotherapie unnötig (unnecessary)
• die mit exzessiver Dauer oder Dosis verschrieben wird
• ohne klare (medizinisch-psychiatrische) Indikation zum
Einsatz kommt
• mit schwerwiegenden Nebenwirkungen behaftet ist
• unzureichendem Monitoring (= kontinuierliche
Beobachtung und Kontrolle) unterliegt oder
• polypharmazeutisch (= mehr als ein Medikament mit
ähnlicher Wirkung) zum Einsatz kommt.“ (136)
Standards und Leitlinien der psychiatrischen
Pharmakotherapie
nach OBRA Omnibus Budget Reconciliation Act
(Health Care Financing Administration HCFA, 1987; zit. n. PANTEL et al. 2005, 136) (2)
Die Leitlinien fordern zudem:
• Ausschluss medizinischer, psychosozialer und
umweltbezogener Ursachen eines definierten
„problematischen Verhaltens"
• Scheitern einer nicht-pharmakologischen Intervention
• Umfassende Dokumentation
–
–
–
–
der (psychiatrischen) Diagnose(n)
des spezifischen Zielverhaltens/-symptom
der möglichen Nebenwirkungen
der Wirkung des Medikaments auf das Zielsymptom
• Durchführung regelmäßiger Ausschleich-/Absetzversuche
• Festlegung von Höchstdosen
Empirische Ergebnisse
Werden die Standards eingehalten?
Hinweise aus der Perspektive der
Gruppenmitarbeiter und Leitungen in der
stationären Behindertenhilfe
Methode: Halbstrukturierte Interviews
(N= 46 Gruppenmitarbeiter + 9 Wohnstättenleiterinnen
aus 7 Einrichtungen von 3 Trägern)
1. Standard
Vorliegen einer psychiatrischen Indikation
Nachvollziehbare Dokumentation eines psychiatrischen
Störungsbildes oder einer Verhaltensauffälligkeit (Syndrom,
Symptom)
Ausschluss medizinischer, psychosozialer
und umweltbezogener Ursachen eines
definierten „problematischen Verhaltens"
Scheitern einer nicht-pharmakologischen
Intervention
Psychiatrische Diagnosen als Indikationen für Psychopharmaka
Keine psychiatrische Diagnose bekannt
52%
Diagnosen bekannt:
(Mehrfachnennungen)
48%
davon
Prozent der Fälle
Schizophrene Psychose, „Psychose“
72,7%
Psychogene Anfälle
9,1%
Manisch-depressive Psychose
9,1%
Borderline-Persönlichkeitsstörung
13,6%
Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
4,5%
Syndrom des Fragiles-X-Chromosom
4,5%
Angststörung
4,5%
Gesamt
118,2%
Verhaltensauffälligkeiten als Indikationen für Psychopharmaka
(Mehrfachnennungen)
Prozent der Fälle
(N= 44; 96%)
Fremdaggressive Verhaltensweisen
63,6%
Unruhe
47,7%
Autoaggressives Verhalten
38,6%
Störungen der Impuls-/Affektkontrolle
34,1%
Depressive Verhaltensweisen
15,9%
Stereotype Verhaltensweisen
15,9%
Psychotische Verhaltensweisen
15,9%
Ängste, Panikzustände
6,8%
Sonstige Verhaltensweisen
11,4%
Gesamt
250,0%
Expansiv-aggressive (200%) Vs. Introversive (22,7%) Vs. Gemischt (27,3%)
Werden die Standards eingehalten? (1)
Vorliegen einer psychiatrischen Indikation …
In der Hälfte der Fälle ist eine explizite psychiatrische
Diagnose bekannt, häufiger sind syndromspezifische
Indikationen
Wesentlich häufiger werden insbes. expansivaggressive Verhaltensauffälligkeiten als Indikation
genannt
Nicht bekannt sind vorangegangene Differenzialdiagnosen und Behandlungsversuche mit alternativen
Therapie
Hinweise (N= 26): Medikamente werden viel zu schnell eingesetzt
(47%); Diagnostik mangelhaft (18%), Ärzte wissen zu wenig von
der Klientel (31%)
Weiterer Problemhinweis: Bedarfsmedikation
Werden die Standards eingehalten? (1)
Vorliegen einer psychiatrischen Indikation …
Problemhinweis: Häufigkeit der Bedarfsmedikation
•
Prävalenz: 24,1% (Range 0 – 71,4%) der Bewohner, die
Psychopharmaka bekommen
•
Hohes Missbrauchsrisiko: Nur 50% schließen
Missbrauch auf ihrer Wohngruppe aus
Extremposition: Bedarfsmedikation in die Hände der
Pädagogen (als Ersatz für Dauermedikation)
•
2. Standard
2 . Vorliegen der allgemeinen
Indikationsvoraussetzungen
– Schweregrad der Symptomatik
– Beeinträchtigung im Erleben und Empfinden
– Beeinträchtigung der Lebensqualität
– Einschränkungen der sozial-adaptiven
Fähigkeiten und der sozialen Integration
Werden die Standards eingehalten? (2)
Vorliegen der allgemeinen
Indikationsvoraussetzungen …
Kann hier nicht beantwortet werden
Hinweise: 75% der Mitarbeiter sehen positive
Wirkungen auf die o.g. Indikationsaspekte
3. Standard
Psychopharmaka sind selten die primäre
Therapieform und niemals eine kausale
Therapie
Psychopharmaka sind nicht die alleinige
Therapie, sondern müssen eingebettet sein in
ein multimodales Behandlungskonzept
(Gesamtbehandlungsplan)
Therapien zusätzlich zur
Psychopharmakotherapie
(in % der Befragten)
54,5
60
50
40
25
30
20
9,1
11,4
10
0
ja,
Ja, aber eher
m eistens/in
w eniger
der Regel
Nein, eher
seltener
Nein, nie
Aktuelle ergänzende
Therapie-Maßnahmen
N
Antworten
Prozent der Fälle
(N= 18; 39%)
Musiktherapie
7
38,9%
Psychotherapie durch internen psychol. Dienst
7
38,9%
Spez.heilpäd.Maßnahme (incl. Snoezelen,
basale Stimulation, Entspannung)
4
22,2%
Ergotherapie
3
16,7%
Therapeutisches Reiten
2
11,1%
Körpertherapie
1
5,6%
24
133,4%
Externe Psychotherapie
4
22,2%
Mal-/Kunsttherapie (extern & intern)
2
11,1%
Sexualberatung
1
5,6%
7
38,9%
31
172,2%
Heiminterne Angebote
Zwischen-Summe
Externe Angebote
Zwischen-Summe
Gesamt
Gründe für Nichteinsatz
alternativer Therapien
(Mehrfachnennungen; N=21; 46% der Fälle)
•
Technische Gründe (Wege- und Wartezeiten)
42,9%
•
Ablehnung und Unwissenheit/Uninformiertheit
bei den Mitarbeitern
28,6%
Keine Verordnung durch den behandelnden Arzt (Keine
Empfehlungen, keine Indikation)
28,6%
•
Mangel an geeigneten Therapeuten
23,8%
•
Einfachheit und Bequemlichkeit einer
medikamentösen Therapie
14,3%
•
•
Bewohner und/oder Angehörige lehnen ab
9,5%
Gesamt
148%
N= 11 (34%) konnten/wollten keine Angabe machen
Werden die Standards eingehalten? (3)
Psychopharmaka als primäre Therapieform und nur im Rahmen
eines multimodales Behandlungskonzept
(Gesamtbehandlungsplan) …
•
Bei höchstens 10-20% der mit Psychopharmaka
behandelten Heimbewohner findet eine zusätzliche
therapeutische Versorgung i.S. des multimodalen
Therapiekonzeptes statt.
•
Heiminterne Angebote werden eindeutig favorisiert
•
Unsichere/Unklare Verantwortlichkeiten: Wer überlegt
und leitet zusätzliche multimodale
Behandlungsmöglichkeiten ein?
4. Standard
Psychopharmaka sind immer eine
individualisierte Therapieform (Austitrieren der
optimalen effektiven Dosis; „Start slow, go
slow“)
Wäre nur in Einzelfallanalysen zu klären !
5. Standard
Notwendigkeit regelmäßiger medizinischpsychiatrischer Kontrollen
Monitoring
Dokumentation der Wirkungen und
Nebenwirkungen
Festlegung von Höchstdosen
Kontrolluntersuchungen bei
Psychopharmakotherapie
Ich weiß, dass regelmäßige Kontrolluntersuchungen
notwendig sind:
81%
Ich weiß davon nichts
19% (Leitung 22%)
Haben diese Kontrollen bei Ihren Bewohnern
stattgefunden innerhalb des letzten halben Jahres ?
• Ja
35% (aber nicht bei allen
Betroffenen)
• Weiß nicht
9% (Leitung ca. 50%)
• Nein
56%
Praxis der Dokumentation
• Dokumentation von Wirkungen und Nebenwirkungen der
Psychopharmaka (wenn überhaupt) fast ausschließlich in der
allgemeinen, üblichen Tagesdokumentation;
• von den Ärzten werden keine speziellen
Dokumentationsbögen (mit präzisen Aufträgen) angeordnet;
• vereinzelt entwickeln Gruppen in eigener Initiative spezielle
Beobachtungsbögen (z.B. bei Ein- und Umdosierungen)
• Die Beobachtungen der Mitarbeiter werden fast ausschließlich
mündlich mitgeteilt, zwar im direkten, prinzipiell
umfassenden Dialog (Visite, Fallkonferenz, Praxisbesuch,
telefonisch), aber auf Basis einer nicht nachvollziehbaren
Dokumentation (persönliche Meinung)
Werden die Standards eingehalten? (5)
Notwendigkeit regelmäßiger medizinischpsychiatrischer Kontrollen …
•
•
•
•
Kontrollen finden bei min. der Hälfte der
Bewohner wahrscheinlich nicht statt
Verbreitete Unwissenheit, erhebliche
Informationslücken auf allen Ebenen
Unsicherheit/Unklarheit, wer für die Kontrollen
verantwortlich ist
Keine verbindlichen und verwertbaren
Dokumentationen !
6. Standard
Notwendigkeit der Evaluation des
Therapieeffektes
Umfassende Dokumentation der Wirkung des
Medikaments auf das Zielsymptom
Durchführung regelmäßiger Ausschleich/Absetzversuche
"Haben die Mitarbeiter den/die Bewohner jemals
ohne Medikamente erlebt?" (in %)
60
60
50
40
30
17,8
22,2
20
10
0
Ja, alle
Ja, einige
Nein, keinen
Werden die Standards eingehalten? (6)
•
•
•
Evaluation und Dokumentation des
Therapieeffektes …
Hinweis auf langdauernde Behandlungszeiten
(mittlere Beschäftigungsdauer eines
Mitarbeiters in einer WG ca. 5 Jahre)
Regelmäßige Ausschleich-/Absetzversuche
finden nicht/selten statt.
Es finden sich keine nachvollziehbare und
begründbare Dokumentation der Wirkungen
der Behandlung (fast ausschließlich nur
mündliche Mitteilungen) Æ offensichtlich keine
Evaluationen der Behandlungen
Hinweise auf Gründe für die Unzulänglichkeiten (1)
1. Die Beteiligten gehen ohne klare Regelungen,
Absprachen oder verbindliche Vereinbarungen
miteinander um:
je nach Einrichtung (Träger), je nach
Wohnstätte, je nach einzelner Wohngruppe
(sogar u.U. je nach Einzelfall) wird der Prozess
der Psychopharmakotherapie nach eigenen
Regeln gestaltet
Hinweise auf Gründe für die Unzulänglichkeiten (2)
Rechtliche Unklarheiten der Beziehungen der
Beteiligten untereinander
Æ Behandlungspflege
Æ mangelhafte Koordination der
verschiedenen Rechtsbereiche
Hinweise auf Gründe für die Unzulänglichkeiten (3)
Mitarbeiter (und Leitungsverantwortliche)
übernehmen Verantwortung für Bereiche, für
die sie weder legitimiert noch qualifiziert sind
z.B. Aufklärung und Information der Beteiligten
über die Therapie, Indikationsstellungen für
Medikamente und alternative Therapien,
Kontrolluntersuchungen, Evaluationen
Wer wird von wem über die Behandlung
informiert? (in %)
Betroffene
Mitarbeiter
92
Ärzte
80
Angehörige
90
36
Gesetzl. Betreuer
93
25
Einfluß auf Entscheidung, ob
Psychopharmakotherapie
70%
65,0%
60%
50%
32,5%
40%
30%
20%
2,5%
10%
0%
Mitarbeiter
Arzt
Angehörige
Letztlich entscheiden die Gruppenmitarbeiter über den
Einsatz von Psychopharmaka.
Hinweise auf Gründe für die Unzulänglichkeiten (3)
•
Seltene/fehlende gleichrangige
Entscheidung aller Beteiligten über die
Behandlung mit Klärung der Zuständigkeiten
und Verantwortlichkeiten („informed
consent“-Prozess, „shared-decisionmaking“)
•
Häufig fehlende oder unklare oder wenig
transparente Regeln über die formelle
Legitimation der Behandlung (und damit
über die Verantwortlichkeiten für die
Risiken)
Einbeziehung der Beteiligten „irgendwie“ und formell
in die Psychopharmakotherapie
Bewohner
Angehörige
Gesetzl.
Betreuer
0
0
5,7
überwiegend ja
55,6
62,2
65,7
überwiegend nein
44,4
37,8
28,6
Ja
0
29
34,8
Weiß nicht!
0
29
30,4
Weiß nicht
Schriftliche Einwilligung
Zusammenfassung
Ist die Behandlung mit Psychopharmaka in
der stationären Behindertenhilfe wirklich
eine Therapie?
Die Untersuchungsergebnisse legen nahe:
• Häufig nicht (geschätzt min. 50%)
• Sehr häufig unter Nicht-Einhaltung der psychiatrischen
Mindeststandards (d.h. mit hohen Risiken verbunden)
(geschätzt ca. 80%)
• Ernste Hinweise auf gravierende strukturelle und
organisatorische Mängel, die eine rationale
Psychopharmakotherapie verhindern
• Æ
Æ Psychopharmaka sind Teil der Alltagsbetreuung
• Psychopharmaka sind ein fest eingebauter, (ge)wichtiger
und offenbar unverzichtbarer Teil der Alltagsbetreuung in
der Behindertenhilfe (geworden)
+ aus ethischen Gründen: notwendige und fachlich
legitimierte Therapie
+ aus pädagogischen Gründen: der Umgang mit dem
Bewohner müsste sonst anders gestaltet werden
(z.B. umfassende Alltagsgestaltung; Schutzmaßnahmen wg. Eigen- und Fremdgefährdung)
+ aus sozialen Gründen: ein Wohnen unter den
üblichen Bedingungen der Behindertenhilfe wäre
sonst nicht möglich
Schlussfolgerungen
1.
Dringende Klärung der formellen, strukturellen und
organisatorischen Voraussetzungen und Bedingungen
der Psychopharmakotherapie in stationären
Betreuungskontexten der Behindertenhilfe auf allen
Ebenen und mit allen Beteiligten
2.
Wahrnehmung und Anerkennung der Psychopharmakotherapie von allen Beteiligten als spezielle psychiatrische
Behandlungsmodalität = stets befristete Veranstaltung
mit einem definierten Anfang (Indikation), evaluiertem
Verlauf (Effektivität) und einem definierten Ende (Ziel der
Behandlung)
3.
Einsatz von Psychopharmaka nur im Rahmen eines
multimodalen Behandlungskonzeptes als Ergebnis
umfassender interdisziplinärer Diagnostik
Allgemeine Grundregeln
aus psychiatrischer Sicht
• Transparente, medizinisch-psychiatrisch-psychologisch
begründete, hochschwellige Indikationsstellung nach den
Regeln des „informed consent“/„shared decision making“ im
Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzeptes
• Strikte Einhaltung aller anerkannten fachlichen Standards
• Fortbildung: Erweiterung der Kenntnisse und Erfahrungen
mit den psychologischen und psychiatrischen
Besonderheiten von Menschen mit geistiger Behinderung
zur Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen
Möglichkeiten
Allgemeine Grundregeln aus pädagogischer
Sicht
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Psychopharmakotherapie kommt erst dann zum
Einsatz, wenn umfassende pädagogischpsychologische und psychiatrische Diagnostik
durchgeführt wurde (Indikationsstellung) und/oder
wenn alternative Interventionen für aussichtslos
eingeschätzt wurden oder bereits erfolglos waren
Zwingende Voraussetzung: Vorliegen eines
pädagogischen Rahmenkonzepts, innerhalb dessen
die Behandlung stattfindet. D.h.:
Einsatz fundierter alltagspädagogischer, heilpädagogischpsychologischer Umgangsstrategien zur Unterstützung der
primären pharmakologischen Therapie
Nutzung der Medikamentenwirkungen zur Verbesserung der
pädagogischen Umgangsstrategien im Alltag und der
heilpädagogisch-psychologischen Primärtherapien
Handlungsstufen der
Psychopharmaka-verordnung im
Altenpflegeheim
(PANTEL et al. 2005, 138)
Anmeldung unter: www.dgsgb.de
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