Geschichtlicher Überblick Mathematische Logik Vorlesung 4 Alexander Bors 16. März 2017 1 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Überblick 1 Geschichtlicher Überblick (Quelle: Hoffmann, pp. 13–66) Zu Matiyasevichs Werk Gödels und Cohens Werk zu relativer Widerspruchsfreiheit 2 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Rückkehr zu Hilberts zehntem Problem Erinnerung Hilberts zehntes Problem bestand darin, einen Algorithmus zu finden, der für eine gegebene diophantische Gleichung P = 0, P ∈ Z[X1 , . . . , Xn ], entscheidet, ob diese (in Zn ) lösbar ist. In den Jahren nach Turings bedeutender Publikation (1936) entwickelte sich die sog. Rekursionstheorie, die sich mit algorithmischen Entscheidbarkeitsfragen beschäftigt, prächtig weiter. 1944 wies der polnisch-US-amerikanische Mathematiker Emil Post (1897-1954) darauf hin, dass angesichts der hochentwickelten Rekursionstheorie die Zeit für einen Beweis der Unentscheidbarkeit des zehnten Hilbertschen Problems reif sei. 3 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Rückkehr zu Hilberts zehntem Problem cont. Man beachte diesen Perspektivenwechsel: 1900 war Hilbert noch fest davon überzeugt, dass es möglich sei, so einen Algorithmus zu finden. Posts Schüler Davis nahm sich als erster der Herausforderung an. 1961 publizierte er zusammen mit Hilary Putnam und Julia Robinson einen fast vollständigen Beweis für die Unentscheidbarkeit. Genauer zeigten sie, dass es keinen Entscheidungsalgorithmus für exponentielle diophantische Gleichungen geben kann. Das sind diophantische Gleichungen, bei denen die Variablen auch im Exponenten stehen dürfen (also z.B. so etwas wie 4x y = z 3 ). Der endgültige Beweis sollte dann 1970 vom jungen russischen Mathematiker Yuri Matiyasevich erbracht werden. 4 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Zu Matiyasevich Yuri Matiyasevich, geb. 1947, russischer Mathematiker und Informatiker. Als Schüler gewann er die Internationale Mathematik-Olympiade, wodurch er das letzte Schuljahr vor Beginn des Studiums überspringen durfte. Den Beweis der Unentscheidbarkeit von Hilberts zehntem Problem veröffentlichte er noch 1970 in seiner Dissertation. Der Beweis bestand darin, das Entscheidungsproblem für exponentielle diophantische Gleichungen auf jenes für “gewöhnliche” (polynomielle) diophantische Gleichungen zu reduzieren. 5 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Zu Matiyasevich cont. 1984 publizierte er zusammen mit James Jones einen zweiten Beweis für dieses Unentscheidbarkeitsresultat. Die Idee dabei ist, Registermaschinen (ein anderes, zu Turing-Maschinen äquivalentes Berechenbarkeitsmodell) so in diophantische Gleichungen umzuschreiben, dass terminierende Maschinen lösbaren Gleichungen entsprechen. Diesen Beweis hat Matiyasevich 1993 auch direkt für Turing-Maschinen in seinem Buch “Hilbert’s 10th Problem” publiziert. 6 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Zu relativen Widerspruchfreiheitsbeweisen Ein relativer Widerspruchfreiheitsbeweis besteht darin, die Widerspruchsfreiheit eines bestimmten formalen Systems F2 auf jene eines anderen Systems F1 zurückzuführen, also eine (metatheoretische) Implikation der Form Con(F1 ) ⇒ Con(F2 ) zu zeigen. Erinnerung: Hilbert hatte bereits einen solchen Beweis geführt, indem er zeigte, dass die Axiome der euklidischen Geometrie widerspruchsfrei sind, sofern die Peano-Axiome es sind. Gödel begann Ende der 1930er-Jahre, sich intensiv mit solchen Beweisen auseinanderzusetzen. 7 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Relative Widerspruchsfreiheit: Gödels Resultat Gödel konnte folgendes interessante Resultat ableiten: Con(ZF) ⇒ Con(ZFC ∪ {GCH}). Hierbei bezeichnet GCH die verallgemeinerte Kontinuumshypothese, welche besagt, dass für jede unendliche Menge X gilt: Die Mächtigkeit von P(X ) ist die nächstgrößere Mächtigkeit nach jener von X (d.h., es gibt keine Menge Y mit |X | < |Y | < |P(X )|). D.h., die Konjunktion aus Auswahlaxiom und GCH ist eine “gutartige” Annahme in dem Sinne, dass ihre Hinzunahme zu ZF keine Widersprüche erzeugt, wenn nicht schon vorher welche da waren. Wir skizzieren im Folgenden Gödels Vorgehensweise. 8 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Konstruktible Mengen Gödel arbeitete mit dem Begriff von konstruktiblen Mengen. Das sind Mengen, welche sich aus der leeren Menge durch wiederholte Anwendung einer bestimmten Konstruktionsvorschrift ergeben. Es ist a priori nicht klar, wie sich die Annahme, dass jede Menge konstruktibel sei (das so genannte Konstruktibilitätsaxiom, V = L) zu den ZF-Axiomen verhält (folgt V = L vielleicht sogar aus ZF, oder folgt gar seine Negation daraus?). Allerdings konnte Gödel zeigen: Das Axiomensystem ZF ∪ {V = L} ist stark genug, um sowohl das Auswahlaxiom AC als auch die verallgemeinerte Kontinuumshypothese GCH daraus abzuleiten. Insbesondere: Con(ZF ∪ {V = L}) ⇒ Con(ZFC ∪ {GCH}). 9 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Konstruktible Mengen cont. Hieraus folgt: Wenn man (in der Metatheorie) zeigen kann, dass die Hinzunahme von V = L zu ZF (dessen Konsistenz die Annahme in diesem relativen Konsistenzbeweis ist) keinen Widerspruch erzeugt, d.h., wenn man Con(ZF) ⇒ Con(ZF ∪ {V = L}) zeigen kann, dann folgt insbesondere Con(ZF) ⇒ Con(ZFC ∪ {GCH}), ein sensationelles Resultat. Und Gödel konnte tatsächlich Con(ZF) ⇒ Con(ZF ∪ {V = L}) zeigen. Obwohl seine Vorgehensweise, streng technisch gesehen, beweistheoretisch ist, ist die grundlegende Idee dahinter eine modelltheoretische. Genauer hat Gödel, im Axiomensystem ZF arbeitend, gezeigt, dass es ein klassengroßes Modell für ZF ∪ {V = L} gibt. Was heißt das genau? 10 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Klassen Es sei ϕ0 (x) eine mengentheoretische Formel in einer freien Variable, die die Eigenschaft “x ist konstruktibel” ausdrückt. Man kann relativ leicht in ZF zeigen, dass es keine Menge gibt, welche gerade aus den konstruktiblen Mengen besteht, aber das hält uns nicht davon ab, inoffiziell die Kollektion L all dieser Mengen zu betrachten. Solche Kollektionen von Mengen, die selbst keine Mengen sind, heißen echte Klassen. Offiziell ist eine Klasse eine Formel in einer freien Variable, so wie ϕ0 (x) oben, inoffiziell denken wir dabei an die Kollektion aller Mengen, die die durch die Formel ausgedrückte Eigenschaft besitzen. 11 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Relativierung von Formeln auf Klassen Das Tolle: (Fast) alle Behauptungen über Klassen im inoffiziellen Sinn lassen sich in exakte mengentheoretische Formeln übersetzen. Sind z.B. ϕ(x) und ψ(x) Klassen im offiziellen Sinn, so drückt die Formel ∀x : (ϕ(x) → ψ(x)) aus, dass ϕ(x) eine Teilklasse von ψ(x) ist. Ist nun ϕ(x) eine Klasse, und ist ψ eine beliebige mengentheoretische Formel, so lässt sich eine andere mengentheoretische Formel, ψ ϕ(x) , die Relativierung von ψ auf die Klasse ϕ(x), definieren, welche, im inoffiziellen Sinne interpretiert, gerade besagt, dass “ψ innerhalb der Klasse ϕ(x)” gilt. Die Vorstellung dahinter ist, dass Klassen, zusammen mit der entsprechenden Einschränkung der Elementrelation, selbst “Mengenuniversen” sind, in denen es Sinn ergibt, nach der Gültigkeit von mengentheoretischen Sätzen zu fragen. 12 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen L als (klassengroßes) Modell Der nächste Schritt in Gödels Beweis war folgender: Die Klasse L (bzw. “offiziell” ϕ0 (x)) aller konstruktiblen Mengen ist ein Modell für alle Axiome von ZF sowie für das Konstruktibilitätsaxiom. Offiziell heißt das, man kann aus den ZF-Axiomen alle Relativierungen αL , α ein ZF-Axiom, sowie zusätzlich die Relativierung (V = L)L ableiten. Zumindest Letzteres wirkt auf den ersten Blick sehr einleuchtend: Wenn ich mich in einem Mengenuniversum befinde, das nur aus konstruktiblen Mengen besteht, werde ich wohl auch daran glauben, dass alle Mengen konstruktibel sind. Tatsächlich muss man vorsichtiger sein, denn es ist a priori nicht klar, ob Mengen x, die im umgebenden Universum V konstruktibel sind, d.h., die Formel ϕ0 (x) erfüllen, es auch aus der Sicht von L sind (d.h., aus der Sicht von V, die Formel ϕ0 (x)L erfüllen). 13 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Ein Korrektheitssatz für Klassen Nachdem Gödel gezeigt hatte, dass alle Relativierungen ZF-Axiomen auf L sich aus den unrelativierten ZF-Axiomen ableiten lassen, musste er nur noch ein einfaches Lemma beweisen. Es lautet wie folgt: Metatheoretisches Lemma 1.9.1 Es sei ϕ(x) eine mengentheoretische Formel in einer freien Variable, d.h., eine Klasse. Weiter sei T eine Menge von mengentheoretischen Formeln, sodass sich, für jedes ψ ∈ T , die Relativierung ψ ϕ(x) in ZF ableiten lässt (d.h., sodass jede Formel aus T in der Klasse ϕ(x) gilt). Ist dann χ irgendeine mengentheoretische Formel, die sich aus T ableiten lässt, so lässt sich die Relativierung χϕ(x) in ZF ableiten. 14 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Gödels relativer Konsistenzbeweis Nun kann man Con(ZF) ⇒ Con(ZF ∪ {V = L}) wie folgt in der Metatheorie beweisen: Wir zeigen die Kontraposition Incon(ZF ∪ {V = L}) ⇒ Incon(ZF). Angenommen also, das Axiomensystem ZF ∪ {V = L} sei inkonsistent. Das heißt gerade, es gibt eine mengentheoretische Formel ψ, sodass sich ψ ∧ ¬ψ aus ZF ∪ {V = L} ableiten lässt. Unter Verwendung von Lemma 1.9.1 erhält man nun, dass sich, in ZF, die Relativierung (ψ ∧ ¬ψ)L ableiten lässt. Das ist aber, nach Definition von Relativierung, gerade die Formel ψ L ∧ ¬ψ L . Damit ist also auch in ZF ein Widerspruch ableitbar, was zu zeigen war. 15 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen ZFC und die Kontinuumshypothese Aus Gödels Resultat ergibt sich insbesondere, dass die Cantorsche Kontinuumshypothese CH verträglich mit den ZFC-Axiomen ist in dem Sinne, dass sich, falls Con(ZFC) gilt, die Negation ¬ CH nicht in ZFC ableiten lässt. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass sich CH selbst auch in ZFC beweisen lässt, und tatsächlich vermutete bereits Gödel, dass auch ¬ CH im gleichen Sinne mit ZFC verträglich ist, d.h., dass CH über ZFC unentscheidbar ist. Es sollte ihm jedoch verwehrt bleiben, dies zu beweisen. Erst 1963 konnte der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen (1934–2007) sowohl die Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese CH über ZFC als auch die Unentscheidbarkeit des Auswahlaxioms AC über ZF beweisen. 16 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Cohens Methode: Forcing Cohen verwendete eine andere Grundidee als Gödel: Während Gödel Modelle wie z.B. L innerhalb eines gegebenen Universums V konstruierte (sog. innere Modelle), trat Cohen für seine Konstruktionsmethode, die als Forcing bekannt geworden ist, aus einem gegebenen Modell heraus, um ein noch größeres zu konstruieren. Die formalen Details dieser Methode sind sehr aufwändig zu behandeln (nicht umsonst kommt Kunen in seinem Buch erst nach über 300 Seiten Vorbereitung zum Abschluss der Diskussion von Cohens Resultaten), und wir werden in dieser Vorlesung nicht näher darauf eingehen können. Für Interessierte sei aber auf den Abschnitt 7.4 in Hoffmann, zu Booleschen Modellen, verwiesen. Das ist eine verwandte, intuitiv recht zugängliche Methode. 17 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Weitere Anwendungen der Forcing-Methode Cohens Forcing-Methode wurde und wird von anderen MengentheoretikerInnen weiterentwickelt, um weitere interessante Unentscheidbarkeitsresultate zu zeigen. Beispiele: Die Kontinuumshypothese kann als eine Aussage über die Mächtigkeit der Potenzmenge von N gesehen werden. Man kann allgemeiner zeigen, dass das “Mächtigkeits-Verhalten” von Potenzmengen unendlicher Mengen unter ZFC kaum kontrollierbar ist (Satz von Easton). Eine der grundlegenden Beobachtungen in der ZFC-Maßtheorie ist es, dass nicht alle Teilmengen von R Lebesgue-messbar sind. Die üblichen Konstruktionen von solchen “bösartigen” Teilmengen von R verwenden alle das Auswahlaxiom. Und tatsächlich hat Solovay hat mit seinem Random Forcing gezeigt, dass die Aussage “Alle Teilmengen von R sind Lebesgue-messbar.” mit ZF verträglich ist. 18 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Und heute? Man sieht, dass die Grundlagenkrise der Mathematik die Entwicklung der mathematischen Mengenlehre stark vorangetrieben hat. Heute ist die Mengenlehre ein gewaltiges Forschungsgebiet mit diversen Teildisziplinen. Diese beinhalten: weitere Anwendungen der Forcing-Methode, kombinatorische Mengenlehre, auch “unendliche Kombinatorik” genannt, da es dabei darum geht, Konstruktionen und Konzepte, die in der klassischen Kombinatorik nur für endliche Mengen Sinn ergeben, auf unendliche Mengen zu verallgemeinern, mengentheoretische Topologie; viele Probleme aus der Topologie (welche topologische Räume, eine bestimmte Verallgemeinerung von metrischen Räumen, studiert) lassen sich mit fortgeschrittenen Methoden aus der Mengenlehre lösen. Dazu gehört z.B. die Konstruktion von Beispielen topologischer Räume mit “ungewöhnlichen” Eigenschaften. 19 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Große Kardinalzahlen Auch aus philosophischer Sicht interessant sind die Axiome über so genannte “große Kardinalzahlen”, ein weiteres recht aktives Forschungsfeld in der modernen Mengenlehre. Zur Erinnerung: Nach Gödels zweitem Unvollständigkeitssatz ist es (sofern ZFC konsistent ist) nicht möglich, die Konsistenz von ZFC innerhalb von ZFC zu beweisen. Es hat sich aber im Laufe der Geschichte herausgestellt, dass man die Konsistenz von ZFC in stärkeren Axiomensystemen beweisen kann, die entstehen, indem man zu ZFC eines aus einer Reihe von Axiomen hinzufügt, die die Existenz von bestimmten, sehr großen Mengen, behaupten. Aber diese Axiome haben nicht nur die Konsistenz von ZFC zur Folge, sondern noch viele weitere, interessante Aussagen, und die Untersuchung dieser Konsequenzen ist Gegenstand aktueller Forschung. 20 A. Bors Logik Geschichtlicher Überblick Matiyasevich Gödel und Cohen Große Kardinalzahlen cont. Man beachte aber den Unterschied zwischen diesen “neuen Axiomen” und den ursprünglichen ZFC-Axiomen: Die ZFC-Axiome können (eventuell mit Ausnahme des Auswahlaxioms) als “grundlegende Wahrheiten” gesehen werden, und waren bei ihrer Einführung durch Zermelo und Fraenkel ja auch als solche gedacht. Die Axiome über große Kardinalzahlen behaupten die Existenz von “unheimlich großen” Mengen und sind weit davon entfernt, intuitiv einleuchtende Wahrheiten zu sein. Sie werden aber wegen ihrer interessanten Konsequenzen studiert. Das ist ein bedeutender Paradigmenwechsel: Axiome erhalten ihre Legitimation durch die resultierenden Konsequenzen. Man vergleiche dies mit dem Vorgehen in der modernen Physik, wo Theorien auch nicht an einer a priori gegebenen Plausibilität, sondern an der Verträglichkeit ihrer Konsequenzen mit realen Experimenten gemessen werden. 21 A. Bors Logik