20.04.2016 Begutachtung von Traumafolgestörungen Dr. med. Andreas Linde Zu meiner Person • Leitender Oberarzt, Psychiatrische Dienste Aargau • Schwerpunkt Affektive Erkrankungen incl. Traumafolgestörungen • Bis März 2016: Mitarbeit im Vorstand der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) • Bis 2014 Mitarbeit in der AG Begutachtung der DeGPT • 2010 bis 2013 Tätigkeit beim Versicherungspsychiatrischen Dienst der Suva in Luzern, SIM-Zertifikat • Bis 2010: Oberarzt der Psychosomatik am Universitätsspital Basel • Seit 1999 mit dem Thema Psychotraumatologie v.a. therapeutisch befasst. 20.04.2016 2 1 20.04.2016 Was heute Abend auf Sie wartet • Störungsmodell belastungsabhängiger Störungen • Neufassungen der Diagnosen PTBS und kPTBS in ICD-11 und DSM-5 • Begutachtungsmethodik • Fallbeispiel eines Gutachtens 20.04.2016 3 11. September 2001 Wo waren Sie damals? Was haben Sie gerade gemacht? 20.04.2016 4 2 20.04.2016 Häufige Fehler bei der Begutachtung • Mangelndes Störungswissen: ICD-10 ersetzt kein Lehrbuch und klinische Erfahrung • Schwierigkeit das diagnostische Konstrukt zu akzeptieren • Unbeholfenes u./o. oberflächliches Vorgehen bei der Untersuchung • Unzureichende Anamneseerhebung • Fehlinterpretationen der erhobenen Befunde: Der Expl. sagt nichts, darum hat er auch nichts • Traumapatienten teilen sich oft ungerne mit • Fehlender Mut Unangenehmes zu erfragen 20.04.2016 5 Häufige Fehler bei der Begutachtung • Angaben des Exploranden werden ungeprüft übernommen • Mangelnde Berücksichtigung der beobachtbaren Psychopathologie • Unzureichende psychopathologische Befunde • Fehlerhafte oder unzureichende Testpsychologie • Nicht schlüssige Herleitungen und Beurteilungen 20.04.2016 6 3 20.04.2016 Was ist ein psychisches Trauma? Ein psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit den Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnis bewirkt. (Fischer, Riedesser) 20.04.2016 7 Störungshäufigkeit bei einzelnen Arten von Traumata Art des Traumas Traumahäufigkeit (%) Störungshäufigkeit nach Lebenszeitprävalenz (%) Vergewaltigung 5.5 55.5 Sexuelle Belästigung 7.5 19.3 Krieg 3.2 38.8 Waffengewaltandrohung 12.9 17.2 Körperliche Gewalt 9.0 11.5 Unfälle 19.4 7.6 Zeuge von Gewalt/Unfälle 25.0 7.0 Feuer/Naturkatastrophen 17.1 4.5 Misshandlung in der Kindheit 4.0 35.4 Vernachlässigung Kindheit 2.7 21.8 Andere lebensbedrohliche Situationen 11.9 7.4 Andere Traumen 2.5 23.5 Irgendein Trauma 60.0 14.2 20.04.2016 Lebenszeitprävalenzen von verschiedenen Traumen und von PTBS bei amerikanischen Männern u. Frauen (repräsentative Stichprobe, Kessler et al., 1995) 8 4 20.04.2016 ‚Building Block‘-Effekt 51 Je mehr erlebte Traumaarten, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Mensch „bricht“ und eine PTBS entwickelt. Schauer et al 2003 Neuner et al 2004 20.04.2016 9 Schweregrad des Traumas und Störungswahrscheinlichkeit (Terr 1993) Akzidentelle Tr aumen Man-made Tr aumen (Zwischenmenschliche Tr aumen) Typ-ITr aumen kur zdauer nde Typ-IITr aumen langdauer nde/ wieder holt 20.04.2016 • Verkehrsunfälle • berufsbedingte (z.B. Polizei, Feuerwehr) • Arbeitsunfälle • kurzdauernde Naturkatastrophen (z.B. Wirbel-sturm, Blitzeinschlag) • kriminelle und körperliche Gewalt • Vergewaltigungen • zivile Gewalterlebnisse (z.B. Banküberfall) • langdauernde Naturkatastrophen (Flut, Erdbeben) • technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen) • sexuelle und körperliche Mißhandlungen in der Kindheit • Geiselhaft • Kriegserlebnisse • Folter und politische Inhaftierung • Massenvernichtung (KZ-/Vernichtungslagerhaft) 10 5 20.04.2016 Schweregrad des Traumas und Störungswahrscheinlichkeit (Terr 1993) Akzidentelle Tr aumen Man-made Tr aumen (Zwischenmenschliche Tr aumen) Typ-ITr aumen kur zdauer nde Typ-IITr aumen langdauer nde/ wieder holt • Verkehrsunfälle • berufsbedingte (z.B. Polizei, Feuerwehr) • Arbeitsunfälle • kurzdauernde Naturkatastrophen (z.B. Wirbel-sturm, Blitzeinschlag) • kriminelle und körperliche Gewalt • Vergewaltigungen • zivile Gewalterlebnisse (z.B. Banküberfall) • langdauernde Naturkatastrophen (Flut, Erdbeben) • technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen) • sexuelle und körperliche Mißhandlungen in der Kindheit • Geiselhaft • Kriegserlebnisse • Folter und politische Inhaftierung • Massenvernichtung (KZ-/Vernichtungslagerhaft) 20.04.2016 11 Effekte von (traumatischem) Stress auf relevante Hirnstrukturen 20.04.2016 12 6 20.04.2016 Zwei wichtige Gedächtnissysteme und ihre charakterisierende Hirnstruktur…. © Claudia Catani 20.04.2016 13 Zwei Gedächtnissysteme die unter Stress unterschiedlich funktionieren Pitman et al. 2001; Vyas et al. 2002 20.04.2016 14 7 20.04.2016 Sensuell perzeptives Netzwerk vs. Furchtnetzwerk Assoziative Gedächtnisanteile entkoppeln sich im Furchtnetzwerk vom deklarativen Gedächtnis und haben die Tendenz zeit- und ortsungebunden zu übergeneralisieren 20.04.2016 15 Explosion Tremor Wahrnehumung Feuer Wut Bombensplitter zu schnell Emotion Herzrasen schwere Atmng Ich werde sterben Motor -rad Spannnung Angst Hemmung Kognition Interozeption Ich kann nichts tun Vergewal -tigung Blut Verzweiflung Übelkeit Nachbar Ekel erregende Verbindungen Alkoholatem Schläge Scham Schmerz 20.04.2016 Stiefvater © Thomas Elbert 16 8 20.04.2016 Explosion Tremor Wahrnehumung Feuer Wut Bombensplitter zu schnell Emotion Herzrasen schwere Atmng Ich werde sterben Kognition Motor -rad Spannnung Angst Angst Interozeption Ich kann nichts tun Vergewal -tigung Blut Verzweiflung Übelkeit Nachbar erregende Verbindungen Ekel Alkoholatem Schläge Scham Schmerz © Thomas Elbert 17 Probability for PTSD depressive symptoms 20.04.2016 Stiefvater Maladaptation durch Stress 20.04.2016 physical complaints functional impairment traumatic event load Schauer & Elbert, 2009 18 9 20.04.2016 Traumareaktive Entwicklungen TRAUMA Anpassungsstörung Bewältigung Akute Belastungsreaktion Depression Angst Somatisierung Sucht Dissoziation Integration Kompensation Reifung ◄ Salutogenese ► 20.04.2016 PTBS komplexe PTBS Persönlichkeitsstörung ◄ Pathogenese ► 19 Traumabegriff bei PTBS nach ICD-10 Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. 20.04.2016 20 10 20.04.2016 Wechselwirkung Trauma - Persönlichkeit In der ICD-10 heisst es, dass „prädisponierende Faktoren“ zwar die Schwelle für die Entwicklung einer PTBS senken oder deren Verlauf erschweren können, aber „weder notwendig noch hinreichend (seien), um das Auftreten der Störung zu erklären.“ Aus dieser Formulierung wird von manchen Gutachtern geschlossen, dass eine gesicherte PTBS prämorbide Persönlichkeitsauffälligkeiten ausschliessen würde. Dieser Umkehrschluss ist jedoch falsch.“ „Ferner gilt, dass eine Traumatisierung immer das Resultat einer Auseinandersetzung von Ereignis- und Persönlichkeitsqualitäten ist.“ (Leonhardt M, Foerster K, Med. Sach. 2003) 20.04.2016 21 Basissymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung 20.04.2016 22 11 20.04.2016 Komplexe PTBS in der ICD-11 (β-Version) (Maercker et al. 2013) • Traumakriterium: − wie bei PTBS: Ereignis oder Ereignisse extrem bedrohlicher oder entsetzlicher Natur. Manchmal summieren sich die Ereignisse zu extremer Todesbedrohung oder schwerer Verletzung (z.B. Hunger, Nähe zu fortgesetzten Kriegshandlungen) − spezifisch: lang dauernde oder wiederholte traumatische Situation/en, aus der/denen eine Flucht nicht möglich ist, wie bspw. KZ-Haft, Folter, sexueller Kindesmissbrauch o.ä. 20.04.2016 23 Komplexe PTBS in ICD-11 (β-Version) • Symptommuster − Kernsymptome der PTBS (Wiedererleben in der Gegenwart, Vermeidung, Übererregung) plus − Anhaltende und umfassende Störungen im/in • affektiven Funktionieren: Affektive Fehlregulation, erhöhte emotionale Reagibilität, gewalttätige Ausbrüche, Tendenz zu dissoziativen Zuständen unter Belastung • Funktionen des Selbst: Überzeugung von sich selbst als schwach, zerbrochen und wertlos; generalisierte Gefühle von Scham, Schuld … • Beziehungsfunktionen: Schwierigkeiten, Beziehungen aufrecht zu erhalten oder sich anderen nahe zu fühlen 20.04.2016 24 12 20.04.2016 Fehlregulationsmuster bei komplexer PTBS (Maercker 2009) • Affekt- und Impulsregulation: Keine Feinabstufung von Gefühlsausdrücken möglich, leicht erregbar in zwischenmenschlichen Situationen. Ärger und Zorn dominiert. Selbstschädigungstendenzen, Störungen der Sexualität, exzessives Risikoverhalten • Somatisierung: Verdauungsstörungen, chronische Schmerzen, kardiopulmonale Symptome, Konversionssymptome, sexuelle Symptome • Kognitive Veränderungen von Aufmerksamkeit und Bewusstsein: Dissoziative Symptome wie anhaltende Aufmerksamkeitsstörungen, psychogene Bewusstseinstrübung, ausgeprägte u. häufige Amnesien, zeitweise Depersonalisationserleben • Interpersonelle Veränderungen: Unfähigkeit zur gleichberechtigten partnerschaftlichen Interaktion. Anfällig für überspannte Ansichten. Ausgeprägtes Misstrauen. Dysfunktionale Wahrnehmung des Täters bis hin zur Idealisierung. Exzessive Rachephantasien. Viktimisierung anderer Personen. 20.04.2016 25 Fehlregulationsmuster bei komplexer PTBS (Maercker 2009) • Selbstbildveränderungen mit beeinträchtigtem Identitätsgefühl: Ausgeprägte Überzeugung ein beschädigtes Leben zu führen, das nicht mehr zu reparieren ist bzw. ausgeprägte Überzeugung im Leben etwas falsch gemacht zu haben. Permanentes Schuld- und Schamgefühl • Soziokognitive Veränderungsmuster: Verlust früherer Orientierungen, Hoffnungen, Motivstrukturen und persönlicher Überzeugungen • Funktionelle Beeinträchtigungen auf verschiedenen Ebenen 20.04.2016 26 13 20.04.2016 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – A. Traumakriterium Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) der folgenden Arten: • Direktes Erleben eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse. • Persönliches Erleben eines oder mehrerer solcher traumatischer Ereignisse bei anderen Personen. • Erfahren, dass einem nahen Familienmitglied oder einem engen Freund ein oder mehrere traumatische Ereignisse zugestossen sind. Im Falle von tatsächlichem oder drohendem Tod des Familienmitgliedes oder Freundes muss das Ereignis bzw. müssen die Ereignisse durch Gewalt oder einen Unfall bedingt sein. 20.04.2016 27 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – A. Traumakriterium • Die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen (z.B. Ersthelfer, die menschliche Leichenteile aufsammeln, oder Polizisten, die wiederholt mit schockierenden Details von Kindesmissbrauch konfrontiert werden). • Im Ggs. zu DSM-4 kein A2-Kriterium (“Subjektives Erleben von Hilflosigkeit, Furcht, Entsetzen”) mehr 20.04.2016 28 14 20.04.2016 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – B. Wiedererleben • B1 Wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen (Intrusionen) an das oder die traumatischen Ereignisse • B2 Wiederkehrende, belastende Träume, deren Inhalte und/oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen. • B3 Dissoziative Reaktionen (z.B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob sich das oder die traumatischen Ereignisse wieder ereignen würden. • B4 Intensive oder anhaltende psychische Belastung bei der Konfrontation mit inneren oder äusseren Hinweisreizen, die einen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse symbolisieren oder an Aspekte desselben bzw. derselben erinnern 20.04.2016 29 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 - B. Wiedererleben • B5 Deutliche körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit inneren oder äusseren Hinweisreizen, die einen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse symbolisieren oder an Aspekte desselben bzw. derselben erinnern. 20.04.2016 30 15 20.04.2016 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – C. Vermeidung • C1 Versuch, belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle zu vermeiden, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem/diesen verbunden sind. • C2 Versuch, Dinge in der Umwelt (Personen, Orte, Gespräche, Aktivitäten, Gegenstände, Situationen) zu vermeiden, die belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle hervorrufen, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem bzw. diesen verbunden sind. 20.04.2016 31 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – D. Probleme der Verarbeitung • D1 Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse zu erinnern (typischerweise durch dissoziative Amnesie und nicht durch andere Faktoren wie Kopfverletzungen, Alkohol oder Drogen bedingt). • D2 Anhaltende und übertriebene negative Überzeugungen oder Erwartungen, die sich auf die eigene Person, andere Personen oder die Welt beziehen (z.B. «Ich bin schlecht», «Man kann niemandem trauen», «Die ganze Welt ist gefährlich», «Mein Nervensystem ist dauerhaft ruiniert»). • D3 Anhaltende verzerrte Kognitionen hinsichtlich der Ursache und Folgen des oder der traumatischen Ereignisse, die dazu führen, dass die Person sich oder anderen die Schuld zuschreibt. 20.04.2016 32 16 20.04.2016 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – D. Probleme der Verarbeitung • D4 Andauernder negativer emotionaler Zustand (z.B. Furcht, Entsetzen, Wut, Schuld oder Scham). • D5 Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten. • D6 Gefühle der Abgetrenntheit oder Entfremdung von anderen. • D7 Anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden (z.B. Glück, Zufriedenheit, Gefühle der Zuneigung). 20.04.2016 33 Diagnostische Kriterien nach DSM-5 – E. Übererregbarkeit • E1 Reizbarkeit und Wutausbrüche (ohne oder aus geringfügigem Anlass), welche typischerweise durch verbale oder körperliche Aggression gegenüber Personen oder Gegenständen ausgedrückt werden. • E2 Riskantes oder selbstzerstörerisches Verhalten. • E3 Übermässige Wachsamkeit (Hypervigilanz). • E4 Übertriebene Schreckreaktionen. • E5 Konzentrationsschwierigkeiten. • E6 Schlafstörungen (z.B. Ein- oder Durchschlafschwierigkeiten oder unruhiger Schlaf). 20.04.2016 34 17 20.04.2016 Multifaktorielles Rahmenmodell (A. Maercker 1997) Maercker unterscheidet 3 ätiologische Faktorengruppen: • 1. Ereignisfaktoren: Schwere des Traumas, Unerwartetheit, (Un-)Kontrollierbarkeit; Einfluss auf die Symptomausprägung • 2. Schutzfaktoren: Kohärenzsinn, soziale Unterstützung, offener Bewältigungsstil; können helfen Traumata ohne psychische Störungen zu überstehen • 3. Risikofaktoren: Alter zum Zeitpunkt des Traumas, unreife Persönlichkeit, frühere belastende Erfahrungen, frühere psychische Störungen, niedriger sozioökonomischer Status Multifaktorielles Rahmenmodell zur Ätiologie psychischer Traumafolgen (Maercker 2009) 20.04.2016 36 18 20.04.2016 Dissoziation als Endstrecke einer Abwehrreaktion Dissoziation Schauer M & Elbert T 2010 Dissoziation im Trauma • Freeze: hohe Aufmerksamkeit, gespannte Ruhe hohe Angst • Feight & Flight: Angst bleibt, Wut nimmt ab, Sinneskanäle gehen zu (via Thalamus), Motorik nicht mehr so gut kontrollierbar, • Fright: eigentliches Einfrieren. Extreme innere Gespanntheit, Anästhesie, Raptusartige Gewaltausbrüche, Flucht, Erkennung van Aktivitäten reduziert, biologische Bewegungssperre, Todstellreflex, gespannte Katatonie 19 20.04.2016 Dissoziation im Trauma • Flag: Erschlaffung, Ekel kommt ins Spiel. Kontakt mit Körperflüssigkeiten und/oder mit spitzen scharfen Gegenständen Schlaffe Immobilität, HR und BD fallen dramatisch ab. Synkope oder Präsynkope. • Faint: Ohnmacht, Kollaps, horizontale Lage zum Schutz der Hirndurchblutung, HR-Senkung bei Kontamination und Intoxikation. Kardioprotektion, Verlust jeglicher emotionaler Wahrnehmung, komplettes Herunterfahren der Wahrnehmung. Keine Erinnerung mehr vorhanden (z. B. bei Vergewaltigungen wird bis zur Penetration erinnert und dann nicht mehr) Warnzeichen: plötzliche Gähnen in der Bearbeitung einer Belastung 20.04.2016 39 Adverse Childhood Experience (ACE) and their Relationship to Adult Health, Well-being, and Disease: Turning gold into lead (Pulications: 1998-2012; Übersicht: www.cdc.gov/nccdphp/ace/) 51 weeks later „Erfolgreiche“ Teilnehmerin eines Abnehmkurses ihrer Krankenkasse + Optifast® 408 lbs 132 lbs •Noch Noch schneller wieder mehr Gewicht als vorher •Depression Depression What was the core •Hospitalisation Hospitalisation problem here? •Suizidalität Suizidalität Was obesity the solution •Flash FlashFlash-Backs for her psychological bzgl. sexuellem Missbrauch als problems? Kind 20.04.2016 40 20 20.04.2016 ACE Studie Studiendesign Survey Wave I n=13,000 71% response (9,508/13,454) Mortality National Death Index Morbidity All medical evaluations abstracted vs. Present Health Status 17,337 cases Survey Wave II n=13,000 ~60% response (7,829) Hospitalization Doctor Office Visits Emergency Room Visits Pharmacy Utilization All medical evaluations abstracted Versicherte von Kaiser Permanente in Kalifornien, die in einem allgemeinen Gesundheitsfragebogen u. a. nach 10 verschiedenen Kategorien von Kindheitsbelastungen befragt wurden 20.04.2016 41 Well-Being: Adverse Childhood Experiences Underlie Chronic Depression 0 20.04.2016 1 2 3 ≥4 42 21 20.04.2016 Health Costs: ACE-Score and Rate of Prescription rate (per 100 person-years) Antidepressant Prescription (aprox. 50 years later) 20.04.2016 43 Well-Being: Adverse Childhood Experiences Underlie Suicide Attempts 4+ 3 2 0 20.04.2016 1 44 22 20.04.2016 Health Risks: Adverse Childhood Experiences & Adult Alcoholism 4+ 2 3 1 0 20.04.2016 45 Heath Risks: ACE-Score & Injection Drug Use 20.04.2016 46 23 20.04.2016 Well Being: ACE-Score & Risk Later Being Raped 20.04.2016 47 Social Function: ACE Score & Indicators of Impaired Worker Performance 25 ACE Score 20 0 1 2 3 4 or more 15 10 5 0 Absenteeism 2 days/month SeriousFinancial Problems SeriousProblems Performing job (> 20.04.2016 48 24 20.04.2016 Kindheitsbelastungen unspezifischer und spezifischer Risikofaktor „Gewalt in der Kindheit hat denselben Stellenwert für die Psychiatrie, wie Zigarettenrauchen für die restliche Medizin.“ Steven Sharfstein APA-Präsident 2005-2006 20.04.2016 49 Chronische Depression • 60% der chronisch depressiven Patientinnen erlitten mindestens eine Art interpersoneller Traumata in der Kindheit (Heim, Nemeroff 2001) • Welche Traumata besonders? Körperlicher oder sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, Verlust eines Elternteils (Berger et al. 2012) • Besonderheiten der neuro-endokrinen Stressregulation, die als sehr bedeutend für das Auftreten von Depressionen angesehen werden, werden durch das Erleiden schwerer traumatischer Belastungen und chronischem Stress in der Kindheit nachhaltig ungünstig beeinflusst (Nemeroff, Binder, Heim 2008) 25 20.04.2016 „Persistierende depressive Störung“ nach DSM-V Chronische MDD Dysthymie Double Depression unvollständig remittierte MDE Differential responses to psychotherapy versus pharmacotherapy in patients with chronic forms of major depression and childhood trauma (Nemeroff, Heim, McCollough et al. 2002) Verbesserung der Symptomatik 20.04.2016 Remissionsraten 52 26 20.04.2016 Wesentlich bei der psychotraumatologischen Begutachtung • „Parteiische Abstinenz“ bei der Begutachtung nicht möglich • Täterübertragung: Assoziation der Begutachtungssituation mit einem Verhör • Gegenübertragungsphänomene können eine unvoreingenommene Sicht des Gutachterin auf den Exploranden verstellen • Zu grosse Distanz z.B. durch mangelnde Empathie, Sachkenntnis oder idealisiertes Weltbild oder Abwehr eigener traumatischer Erfahrungen durch den Gutachter • Zu geringe Distanz z. B. durch Überwältigtsein durch eigene Empathie, Scham- und Schuldgefühle, Furcht vor Täteridentifizierung, Überwältigung durch eigene traumatische Erlebnisse Wesentlich bei der psychotraumatologischen Begutachtung • Einige Autoren behaupten, dass in Begutachtungen nur von aussen beobachtbare bzw. objektivierbare Befunde beweiskräftig seien und nur in die Beurteilung mit einfliessen dürfen • Problematisch, da die meisten Instrumente der Befunderhebung sowohl auf Beobachterangaben, als auch auf selbst berichteten Angaben basieren (z. B. AMDP) und entsprechend validiert sind. • Alle bei der Begutachtung erhobenen Daten stehen nicht für sich. Sie müssen interpretiert werden, habe unterschiedliche Quellen und Qualitäten und sind heuristisch durch abduktive Hypothesenbildung in einen Zusammenhang zu bringen 27 20.04.2016 Wesentlich bei der psychotraumatologischen Begutachtung • Beschwerdenvalidierungstests: können eine ergänzende Rolle als Prüftests bei testpsychologischen Untersuchungen spielen. Sie messen Antwortverzerrungen oder unplausible Leistungsdefizite. Sie können jedoch keine „Simulation oder Aggravation“ messen (Positionspapier des DGPPN-Vorstandes 2011) • Verweigerung einer gutachterlichen Untersuchung wegen „Retraumatisierungsgefahr“: Oftmals vorgeschobenes Argument der Untersuchung auszuweichen, v. a. wenn bereits eine psychotraumatologische Behandlung besteht und der Explorand dort mit Traumainhalten konfrontiert ist. Wesentlich bei der psychotraumatologischen Begutachtung • Meist stellen sich traumatisierte Patienten einer gutachterlichen Untersuchung, da sie sich dadurch auch Anerkennung d. traumatischen Realität und Verarbeitung erhoffen • Wenn Probanden nicht an einer PTBS leiden, sich aber mit einer solchen identifizieren oftmals mit einer langen Vorgeschichte von Begutachtungen und Attesten, evtl. im Zusammenspiel mit einer von Heilserwartungen aufgeladenen Koalition mit Behandlern • Lehrbuchartig und ausgestaltet geschilderte Symptome und Beschwerden oder Verwendung von fachlichem Vokabular müssen sehr kritisch geprüft werden 28 20.04.2016 Hinweise auf Simulation und Aggravation (Foerster, Winckler 2009) • Besteht eine Diskrepanz zwischen der subjektiven Beschwerdenschilderung und dem Verhalten des Probanden in der Untersuchungssituation? • Besteht ein Missverhältnis zwischen der subjektiv geschilderten Beschwerdeintensität und der Vagheit der Symptombeschreibung? • Wie präzise wird der Krankheitsverlauf geschildert? • Besteht eine Diskrepanz zwischen subjektiv geschilderter Beeinträchtigung und der Inanspruchnahme von therapeutischer Hilfe? • Wie ist das psychosoziale Funktionsniveau im Alltag? • Werden die Beschwerden appellativ und theatralisch vorgebracht? • Weichen die Angaben des Probanden von fremdanamnestischen Informationen ab? • Entsteht in der Gegenübertragungssituation ein Gefühl des Unechten? Hinweise auf Aggravation und Simulation (Haenel, Wenk-Ansohn 2004) • Keine Beeinträchtigung in Alltagsaktivitäten • Keine Veränderung der Symptomatik entgegen dem zu erwartenden Verlauf • Gleichmässige Beschreibung des Traumas entgegen der zu erwartenden Veränderung von Gedächtnisfunktionen • Keine Beschämung, keine Schuldgefühle • Gleichförmige oder stets vage Alpträume 29 20.04.2016 Hinweise auf Aggravation und Simulation (Widder 2007) • Grundsätzlich sind auch immer situative Faktoren sowie Interaktionen zwischen Gutachter und Proband zu beachten, da eine zunehmende Verdeutlichungstendenz während der Begutachtung mit einem desinteressierten oder unfreundlichen Untersucher zusammenhängen kann • Unzweckmässig ist die Gestaltung der gutachterlichen Untersuchung als Verhör oder einseitiges Abfragen ohne jedes explorative Vorgehen und eine Haltung des Gutachters als Detektiv, der einen „Betrüger überführen“ will Der verstehende Zugang (Förster, Dressing 2009) „Es ist selbstverständlich, dass der Psychiater auch in seiner Tätigkeit als Sachverständiger Arzt ist, d.h. er kann seine ärztliche Identifikation nicht vernachlässigen. Aus dieser prinzipiellen ärztlichen Grundhaltung darf allerdings nicht gefolgert werden, dass es Aufgabe des Gutachters ist, zu verzeihen oder zu entschuldigen. Verständnis ist jedoch auch möglich, ohne zu entschuldigen und ohne die an der Rechtsnorm orientierte Objektivität zu gefährden. Verstehen kann nach Schmidt-Degenhard (1997) als der Versuch gesehen werden, den Probanden in seiner biografisch gewordenen Individualität zu erkennen.“ 20.04.2016 60 30 20.04.2016 Der verstehende Zugang (Förster, Dressing 2009) „Dabei schliesst die Intension des Verstehens eine reine BeobachterPosition aus. Vielmehr ist vom Verstehenden das Einbringen seiner Person mit all ihren Resonanzflächen gefordert (Schmidt-Degenhard, 2003). Hieraus folgt unmittelbar, dass der Sachverständige gefordert ist, seine eigenen emotionalen Empfindungen, Reaktionen und Gefühle zu erkennen, zu reflektieren, d.h. er muss in der Lage sein, Aspekte von Übertragung und Gegenübertragung zu erkennen und zu berücksichtigen. Die eigenen emotionalen Reaktionen können wichtige diagnostische Hinweise sein und sie können Hinweise auf das innere Erleben des Probanden geben. Erkennen und Reflektion der eigenen Gefühle verhindert, dass sich diese unkontrolliert auf das eigene Anliegen, d.h. in diesem Fall auf die gutachterliche Stellungnahme auswirken.“ 20.04.2016 61 Der verstehende Zugang (Förster, Dressing 2009) „Neutralität bedeutet gerade nicht emotionale Abstinenz, emotionale Distanz und fehlende Empathie, sondern im Gegenteil die Fähigkeit, die eigene Emotionalität zu erkennen, zu bedenken, gegebenenfalls bei diagnostischen Überlegungen zu berücksichtigen. Schmidt-Degenhard (1997) formulierte für die forensisch-psychiatrische Begutachtung, dass es sich um einen in einer zwischenmenschlichen Beziehung fundierten Akt praktischer Hermeneutik handle, indem es um die verstehende Erfassung biografischer Sinnzusammenhänge und Motivationsgefühle gehe.“ 20.04.2016 62 31 20.04.2016 20.04.2016 63 Anamnese erheben • Biografische Anamnese ausführlich machen, insbesondere sich ein plastisches Bild von Kindheit und Jugend machen • Trauma- und belastungsspezifische Anamnese erheben • Keine Angst vor dem Fragen nach traumatischen Erlebnissen. • Ressourcen und Resilienzfaktoren klären. • Fremdanamnesen erheben. 20.04.2016 64 32 20.04.2016 Klinische Untersuchung • Ausführliche Aufklärung, auch darüber, dass belastende Fragen nicht vermieden werden können • Annäherung an die Hot Spots des Traumas. Zunächst mit peripheren Themen beginnen • Klären, welche Selbstberuhigungstechniken ein Explorand in Expositionssituationen anwenden kann. • Die meisten Symptome der PTBS werden den Schilderungen des Exploranden oder Fremdanamnesen entnommen • Bestimmte Symptome lassen sich in der Untersuchung allerdings durch Beobachtung erschliessen. • Andere Symptomgruppen sind wiederum zu unspezifisch, da sie auch bei anderen Störungen vorkommen 20.04.2016 65 Gutachter-ExplorandenBeziehung • Besonders heikler Punkt: Vertrauensaufbau • Exploranden die interpersonell traumatisiert sind, haben besondere Schwierigkeiten Vertrauen aufzubauen. • Geduldiges Erklären der eigenen Rolle und der gutachterlichen Untersuchungssituation sind sehr wichtig. • Fühlt sich ein Explorand im Kontakt zum Gutachter einigermassen sicher, dann ist eine Befragung oft ergiebig. Kommt keine Vertrauensbeziehung zustande, ist meist kein Erkenntnisgewinn möglich. • Umgang mit Dissoziation: Aufmerksam sein. Mit Expl. besprechen, welche Techniken der Dissoziationsunterbrechung er kennt und zulassen kann. 20.04.2016 66 33 20.04.2016 Fragetechnik der Expositionstherapie entlehnt • Behutsam anwenden. • Filmmetapher: Geschehnisse in einzelne Sequenzen anschauen. Man kann darin mit Fragen schnell vorwärts schreiten (Zeitraffer) oder sehr detailliert fragen und die Beschäftigung einzelner Sequenzen forcieren • Peripher anfangen und sich nach und nach zum „Hot Spot“ durchfragen. • Wichtig: Immer dem Expl. die Möglichkeit lassen Pausen zu machen und nicht ohne Vorwarnung fragen. • Es muss sich nicht die Symptomatik in voller Breite abbilden, sondern der Beginn reicht. Selbstberuhigungstechniken sollten dann zur Anwendung kommen 20.04.2016 67 Schlussfolgerungen • Als Gutachter brauchen sie umfassendes Störungswissen, idealerweise klinische Behandlungserfahrung • Sie brauchen Kenntnisse des jeweiligen Rechtsgebietes • Moderne Methoden der funktionsorientierten Begutachtung sind sehr zu empfehlen (Benutzung Mini-ICF-APP) • Die Begutachtung von Traumafolgestörungen braucht ein spezielles Vorgehen: Einerseits Behutsamkeit, Aufklärung, sicheren Rahmen schaffen, verstehender Zugang (Förster 2009), Fragetechniken der traumafokussierten Psychotherapie in dosierter Form anwenden und nur wenn man sich einen Überblick über Selbstberuhigungsmöglichkeiten der Expl. verschafft hat. 20.04.2016 68 34 20.04.2016 Schlussfolgerungen • Gewisse diagnostische Aspekte einer PTBS lassen sich in der Untersuchung (wieder)erlebbar machen. Sie sollten im Untersuchungsbericht im Kontext der subjektiven Angaben des Expl. in die Berichterstattung eingewoben werden. • Mindestens Vermeidungsverhalten sollte in der Untersuchung feststellbar sein. (Förster, Dressing 2003) • Sonderfall: abdissoziierte Emotionalität. Expl. berichten so, als ob es sie alles nicht persönlich anginge, sondern als ob sie von jemandem anderen berichten. Eigentümliche Gegenübertragungen • Menschen mit PTBS berichten nicht gerne, neigen eher zur Dissimulation. Allerdings wollen sie als Opfer anerkannt werden. 20.04.2016 69 Schlussfolgerungen • Häufigstes Problem: Zu spät diagnostizierte, unzureichend oder nicht lege artis behandelte (vgl. S3-LL PTBS) Betroffene, Mangel an Therapieplätzen, überlange Wartezeiten für stationäre Behandlungen (3-4 Mal so lange wie die durchschnittliche Behandlungsdauer) • Diagnostische Entitäten im Wandel: Neufassung der PTBS-Diagnose in DSM-5 und neue Diagnose komplexe PTBS in ICD-11 • Weitere trauma- und belastungsbezogene Diagnosen : Anpassungsstörungen, chronische Depressionen, Dissoziative Störungen, komplizierte Trauer (ICD-11), Somtoforme Störungen • Kindheitstraumata und –Belastungen: sehr wichtiger spezifischer und unspezifischer Risikofaktor. Sollte bei allen psychiatrischen Begutachtungen erfasst werden. 20.04.2016 70 35