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Posttraumatische Belastungsstörungen
Annette Streeck-Fischer, Jörg M. Fegert und Harald J. Freyberger
Zusammenfassung
Ausgehend von den Definitionen einer akuten Belastungsstörung, einer posttraumatischen und einer komplexen traumatischen Belastungsstörung
werden die Spezifika der Psychopathologie in der
Zeitspanne der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters dargestellt. Dabei wird unter anderem auch auf die Folgen von Traumatisierung in
der Entwicklung hingewiesen, die in den diagnostischen Klassifikationssystemen zu kurz kommen.
Epidemiologische Studien verdeutlichen, dass die
traumatische Belastung nicht zwangläufig bei Kindern und Jugendlichen zu einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS; engl. posttraumatic
stress disorder, PTSD) führt, sondern mit vielfältigen Störungen verbunden sein kann. Dies betrifft
besonders auch Jugendliche in Heimen, bei denen
die komplexe Traumatisierung als Folge von Beziehungstraumata berücksichtigt werden sollte. Hier
sind diagnostische Instrumente hilfreich, die die
Symptomatik und Pathogenese gezielt abfragen. In
der Neurobiologie und Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters sind noch viele Fragen offen,
sodass hier lediglich erste Befunde dargestellt werden können. Abschließend werden die verschiedenen Therapieansätze erwähnt, von denen bisher
wenige evidenzbasiert sind.
Traumatische Ereignisse führen häufig zu verschiedenen psychischen und psychosozialen Problemen,
wie z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Angst, Depression oder Verhaltensauffälligkeiten (Ackerman et al. 1998; Cohen 1998;
Essau et al. 1999; Paolucci et al. 2001; Putnam
2003; Spataro et al. 2004). In der Adoleszenz kommen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Essstörungen, dissoziative, affektive, somatoforme, immunologische und sexuelle Störungen dazu.
Eine posttraumatische Belastung ohne Komorbidität mit anderen Störungsbildern tritt im Jugendalter selten auf.
6.1 Definition und Klassifikation
Die posttraumatische Belastungsstörung
(ICD-10: F43.1) ist eine verzögerte oder protrahierte psychophysiologische Reaktion auf
ein belastendes Ereignis oder mehrere traumatische Situationen (Tab. 6-1). Kurz nach
oder während eines Traumas können intensive Symptome auftreten, die als akute Belastungsstörung oder Stressreaktion anzusehen
sind. Die akute Belastungsreaktion (ICD-10:
F43.0) kann nach Stunden oder wenigen Tagen in eine posttraumatische Belastungsstörung übergehen. Es können aber auch zwischen dem Erleben traumatisierender Ereignisse und der Ausbildung einer PTBS erhebliche Latenzzeiten vorliegen. Dabei können
als bester Prädiktor für das Auftreten einer
späteren PTBS die Intensität einer akuten
Belastungsstörung und das Ausmaß des damit verbundenen dissoziativen Symptomanteils gelten. Eine andauernde Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F62.0) kann nach Extrem-
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Tab. 6-1 Traumatisierungen, die in der Kindheit und
Adoleszenz eine besondere Rolle spielen
1
Vernachlässigung
sexueller Missbrauch
familiäre Gewalt, Misshandlung
Gewalt in Schule, Umfeld, subkulturellem
Milieu
komplexe Traumatisierung1
Trennung, schwerwiegende Verlusterlebnisse
Traumatisierung durch medizinische Eingriffe,
schwere Erkrankungen mit Schmerzerfahrungen
Naturkatastrophen, Unfälle
Kriegsfolgen, Migration, Flucht
Damit ist die Typ-II-Traumatisierung nach Terr (1991)
gemeint. Es handelt sich um komplexe und chronische
Traumatisierungen in den frühen Beziehungsangeboten wie Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch.
Die Symptomatik geht mit Störungen in der Entwicklung und den Beziehungen einher, die sich heutzutage
allenfalls in verschiedenen Diagnosen fassen lassen.
belastung eintreten. Es handelt sich um eine
mögliche chronische Verlaufsform einer
PTBS (vgl. disorder of extreme stress not otherwise specified, DESNOS). Bei Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend kommt es
in der Regel nicht nur zu traumaspezifischen
Symptomen und Bewältigungen, sondern
auch zu Veränderungen in der Persönlichkeitsentwicklung und zu kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen, sodass in der
Regel von einer komplexeren Problematik
ausgegangen werden muss. Bei chronischen
Belastungen ist mit einer andauernden Persönlichkeitsveränderung zu rechnen (vgl.
Gordon u. Wraith 1993: »aus states werden
traits«).
Es ist sinnvoll, zwischen der traumatischen
Situation (dem Zusammenspiel von Innenund Außenperspektive, von traumatischen
Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung), der traumatischen Reaktion und dem traumatischen Prozess zu unterscheiden (Fischer u. Riedesser 1998). Ein psy-
Posttraumatische Belastungsstörungen
chisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit der Person, für ein minimales Gefühl
von Sicherheit und integrativer Vollständigkeit
zu sorgen, abrupt überwältigt. Das Trauma
geht mit existenzieller Angst und Hilflosigkeit
einher. Aus der traumatischen Überwältigung
können bei entsprechenden Risikofaktoren
(z. B. Alter, Geschlecht, konstitutionelle Resilienzfaktoren, prämorbide Persönlichkeitsentwicklung) und einem ungünstigen sozialen
Umfeld charakteristische Symptome entstehen, wie z. B. Wiedererleben traumatischer
Ereignisse, Vermeidung, Übererregung und
Betäubung. Traumatische Ereignisse werden
durchlebt, aber nicht unbedingt als solche erkannt. Dies hat in der Adoleszenz eine besondere Bedeutung. Bei den im Jugendalter auftretenden traumatischen Belastungserfahrungen handelt es sich nicht selten um eine Wiederherstellung bzw. die Reinszenierung
(reenactment) einer Traumatisierung, die in
der Kindheit erfahren wurde, die per blindem
Handeln wiederhergestellt wird und ggf. erst
dann zum Vollbild einer posttraumatischen
Belastungsstörung führt.
Es gibt keine lineare Verbindung zwischen
traumatischer Belastung und PTBS bei Traumatisierungen in der Entwicklung. Häufiger
liegen komplexere Störungen vor, die komorbid aus verschiedenen anderen Störungsbildern zusammengesetzt sind: »Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zeigen komorbide Symptome im Bereich der internalisierenden und externalisierenden Störungen.« (McCloskey u. Walker 2000) Wichtig ist
aus jugendpsychiatrischer Sicht auch, dass
traumatische Belastungen zu einer Exazerbation zuvor bestehender Entwicklungsprobleme oder Symptomatiken führen können. So
können oppositionell-aggressives Verhalten
oder andere Störungen des Sozialverhaltens
auch direkter Ausdruck eines erhöhten Levels
an Irritabilität sein (Resch et al. 2004).
Wird im Jugendalter die Diagnose einer
PTBS gestellt, so besteht ein erhebliches Risi-
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ko, im weiteren Lebenslauf eine depressive
Störung, eine Angststörung oder insbesondere
auch eine Suchtproblematik zu entwickeln
(Giaconia et al. 1995; Lipschitz et al. 1999).
Auch ein Drittel jugendlicher und junger erwachsener Patienten mit Borderline-Störungen erfüllen Kriterien der posttraumatischen
Belastungsstörung (Gunderson u. Sabo 1993).
Dennoch sind Resch et al. (1999) der Auffassung, dass sexuelle oder körperliche Traumata
alleine nicht als Ätiologiefaktoren für die Genese einer Borderline-Störung hinreichend
seien. Infolge der Schwierigkeit, die Komplexität der posttraumatischen Folgeerscheinungen
in Kindheit und Jugend zu erfassen, gibt es
Bestrebungen, die Diagnose einer traumatischen Entwicklungsstörung einzuführen (developmental trauma disorder, DTD) (StreeckFischer u. van der Kolk 2002; van der Kolk et
al. 2005).
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Epidemiologie
Kurzer geschichtlicher
Überblick
Sowohl die Psychiatrie als auch die Psychoanalyse haben die Bedeutung traumarelevanter
Ereignisse über eine lange Zeit hinweg verleugnet bzw. nicht zur Kenntnis genommen.
Eher nur punktuell wurde in den Nachkriegsjahren den Überlebenden des Holocaust zuerkannt, dass ihre multiplen Störungen als eine
Folge der massiven Traumatisierungen durch
Konzentrationslagerhaft, Verfolgung und
Flucht anzusehen sind. Im Vergleich zu anderen Staaten wurden in den deutschsprachigen
Ländern die Auswirkungen von Traumatisierung erheblich später wahrgenommen. So sind
auch die Folgen von kindlicher Misshandlung,
Missbrauch und Vernachlässigung aus wissenschaftlicher Perspektive nur zögernd aufgegriffen worden. In den 1980er Jahren fanden
Misshandlungen verstärkte Aufmerksamkeit,
in den 1990er Jahren zunehmend auch sexuel-
ler Missbrauch. Gewalt an Schulen, Mobbing,
Videoaufnahmen von Folterszenen werden
selbst heute noch eher selten unter dem Aspekt
traumatischer Belastungen wahrgenommen.
Auch verbreitet sich erst allmählich die Erkenntnis, dass überwältigende Schmerzerfahrungen, z. B. durch operative Eingriffe oder
anhaltende Erkrankungen, zu PTBS führen
können.
In der psychoanalytischen Literatur wurde
auf die Folgen von kumulativen Traumatisierungen bei Kindern hingewiesen (Khan 1963).
Keilson (1979) untersuchte sequenzielle Traumatisierungen im Zusammenhang mit Flucht,
Fremdunterbringung und Migration bei Kindern und Jugendlichen. Terr (1991) hat Zusammenhänge zwischen traumatischen Ereignissen erstmals systematischer an Kindern
und Jugendlichen untersucht und zwischen
Traumatisierungen vom Typ I (akutes Trauma) und Typ II (chronisches und komplexes
Trauma) unterschieden.
6.3 Epidemiologie
Bevölkerungsrepräsentative epidemiologische Studien in den USA haben zeigen können, dass deutlich mehr als 50 % aller Menschen in ihrem Leben zumindest einmal mit
einem traumatischen Ereignis konfrontiert
werden (Kessler et al. 1995), in Großstädten
wahrscheinlich sogar deutlich mehr (Breslau
et al. 1991). Die Lebenszeitprävalenz in der
Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 1–9 %,
wobei Frauen offensichtlich doppelt so häufig
wie Männer betroffen sind (Davidson u. Fairbank 1993; Kessler et al. 1995), d. h. ein doppelt so hohes Risiko tragen, im Anschluss an
ein Trauma an einer PTBS zu erkranken. Zudem weisen Frauen mit PTBS offensichtlich
längere Krankheitsverläufe auf.
In Hochrisikogruppen für PTBS werden
zum Teil erheblich höhere Prävalenzraten
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gefunden. Bei Kriminalitätsopfern liegen sie
zwischen 15 und 71 %, bei Vietnamkriegsveteranen zwischen 22 und 26 %, wobei weitere
22 % der Vietnamkriegsveteranen subsyndromale Störungsbilder entwickelten.
Bei Folteropfern werden Lebenszeitprävalenzen von 33–50 % angegeben, wobei der
Status als Flüchtling oder Asylbewerber offensichtlich prädiktiv wirkt (Basoglu et al.
1994; van Velsen et al. 1996). Vergewaltigungsopfer zeigen im Langzeitverlauf etwa
30 % chronifizierter die Symptomatik einer
PTBS (Resnick et al. 1993). Bei Unfallopfern
fand sich in einer in Deutschland durchgeführten Längsschnittstudie nach sechs Monaten eine Prävalenzrate von 8,2 % und für
subsyndromale PTBS von 10,2 % (Frommberger et al. 2004).
Generell wird heute die Traumaschwere als
Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS
angesehen, wobei mit der Traumaschwere etwa bei Unfall- und Vergewaltigungsopfern
die Häufigkeit einer PTBS anzusteigen scheint
(March u. Amaya-Jackson 1993).
Wie die größeren epidemiologischen Studien zeigen, sind die Folgen von Realtraumatisierung nicht allein mit dem Auftreten posttraumatischer Belastungsstörungen assoziiert, sondern Realtraumatisierungen gehören
auch zu den kardinalen Risikofaktoren für
andere schwere psychische Störungen. Alle
großen epidemiologischen Studien (zusammenfassend s. Breslau et al. 1997) haben zeigen können, dass Personen mit einer PTBS
zumindest an einer weiteren psychischen Störung in ihrem Leben erkrankt sind. Dabei
wurden die hohen Komorbiditätsraten mit
anderen Angststörungen zum Teil mit der
Überlappung diagnostischer Kriterien erklärt, die mit Suchterkrankungen über die
Selbstmedikationshypothese.
Nach Traumatisierungen erhöht sich das
Risiko für das Auftreten z. B. folgender behandlungsbedürftiger psychischer Störungen:
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Posttraumatische Belastungsstörungen
Bei Angststörungen (insbesondere Panikstörungen und Agoraphobien) wurden in
verschiedenen Stichproben Häufigkeitsraten zwischen 16 und 50 % vorangegangener Traumatisierungen gefunden (zusammenfassend s. Joraschky u. Pöhlmann
2005).
In mehreren Allgemeinbevölkerungsstudien wurden Traumatisierungen als ein Risikofaktor identifiziert, der das Auftreten
späterer episodenhafter oder anhaltend
depressiver Symptomatik um etwa den
Faktor 2 erhöht (zusammenfassend s. Joraschky u. Pöhlmann 2005).
Für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit zeigen sowohl klinische als auch Allgemeinbevölkerungsstudien, dass vorangehende Traumatisierung das Risiko späteren kritischen Substanzkonsums um das
2,5- bis 3,5-fache erhöht (zusammenfassend s. Krausz et. al. 2005).
In einer Untersuchung, die ausschließlich
Frauen einschloss, konnten Breslau et al.
(1997) zeigen, dass das Risiko, eine weitere
psychische Störung zur PTBS auszubilden,
um den Faktor 4,36 erhöht ist, wobei die Risiken für die generalisierte Angststörung
(Odds-Ratio [OR] 6,46), die Agoraphobie
(OR 6,40) und die Major Depression (OR
4,95) am höchsten liegen. In einem Prädiktionsmodell sagte eine vorbestehende PTBS
das nachfolgende erstmalige Auftreten einer
Major Depression und Alkoholmissbrauch
voraus, während die Traumaexposition allein
keine Risikovorhersage erlaubte. Umgekehrt
sind danach eine vorbestehende Major Depression, eine Angststörung sowie Missbrauch von Alkohol und illegalen Drogen mit
einem erhöhten Risiko einer Traumaexposition verbunden, während lediglich eine vorbestehende Major Depression das Risiko für eine spätere PTBS erhöht.
Auch die neuseeländische Langzeitkohorte
von Fergusson et al. (1996a, b) zeigt klar, dass
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