Komorbidität Traumafolgestörungen und Sucht © Ofill Echevarria, New York TRAUMA "Potentielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit, oder Schrecken reagiert wird" (DSM-IV: American psychiatric Association) 2 11 September 2001 3 ICE-Katastrophe Eschede 1998 4 Klassifikation von Traumen (1) Menschlich verursachte Traumen ("man made disasters") • Sexuelle und körperliche Misshandlungen in der Kindheit • Kriminelle und familiäre Gewalt • Vergewaltigungen • Kriegserlebnisse • Zivile Gewalterlebnisse (z.B. Geiselnahme) • Folter und politischer Inhaftierung 5 Klassifikation von Traumen (2) Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumen • Naturkatastrophen • Technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen) • Berufsbedingte Traumen (z.B. Militär, Polizei, Feuerwehr) • Arbeitsunfälle • Verkehrsunfälle 6 Klassifikation von Traumen (3) Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ I-Traumen) •Naturkatastrophen •Unfälle •Technische Katastrophen •Kriminelle Gewalttaten wie Überfälle, Schusswechsel Längerdauernde, wiederholte Traumen (Typ II-Traumen) •Geiselhaft •Folter •Kriegsgefangenschaft •Wiederholte sexuelle oder körperliche Gewalt, Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung sowie wiederholte Vergewaltigungen 7 8 Posttraumatische Belastungsstörung PTBS - Posttraumatische Belastungsstörung PTSD - Post Traumatic Stress Disorder 9 Posttraumatische Belastungsstörung "Vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt." (Gottfried Fischer) 10 11 DIAGNOSTISCHE KRITERIEN (1) ICD-10/DSM-IV A. Die Betroffenen waren einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, Bilder, Gedanken, Wahrnehmungen (sog. Intrusionen), Wiederkehrende belastenden Träume oder Albträume, Handeln oder Fühlen, als ob das Ereignis wiederkehrt 12 DIAGNOSTISCHE KRITERIEN (2) C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. D. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern und / oder Anhaltende Symptome erhöhter Erregung wie: a. Ein- und Durchschlafstörungen b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche c. Konzentrationsschwierigkeiten d. Hypervigilanz e. erhöhte Schreckhaftigkeit 13 WICHTIG!! Es fehlt eine Zeitperspektive Die traumatischen Ereignisse werden so erlebt, als ob sie im HIER UND JETZT geschehen würden! 14 Was heißt das? Das charakteristischste Symptom der PTBS ist das ungewollte Wiedererleben von Aspekten des Traumas. Die Betroffenen haben die gleichen sensorischen Eindrücke (z.B. Bilder, Geräusche, Geschmack, Körperempfindungen) und gefühlsmäßigen und körperlichen Reaktionen wie während des Traumas! 15 Häufigkeiten von verschieden Traumen und von PTBS Art Traumahäufigkeit PTBS Vergewaltigung 5,5 55,5 Sexuelle Belästigung 7,5 19,3 Krieg 3,2 38,8 12,9 17,2 9,0 11,5 Unfälle 19,4 7,6 Zeuge (Unfälle, Gewalt) 25,0 7,0 Feuer / Naturkatastrophe 17,1 4,5 Misshandlung in der Kindheit 4,0 35,4 Vernachlässigung in der Kindheit 2,7 21,8 Waffengewaltandrohung Körperliche Gewalt (Nach Kessler et al. 1995) 16 KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG (DESNOS = Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ ) I) Störungen der Regulation von Affekten und Impulsen - Stimmungsschwankungen mit Unfähigkeit sich selbst zu beruhigen - Verminderte Steuerungsfähigkeit von aggressiven Impulsen - Autodestruktive Handlungen und Selbstverletzen - Suizidalität -Störungen der Sexualität - Exzessives Risikoverhalten 17 KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG II) Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins - Amnesien, Dissoziative Episoden und Depersonalisation III) Störungen der Selbstwahrnehmung - Unzureichende Selbstfürsorge - Gefühl, dauerhaft zerstört zu sein - Schuld- und Schamgefühle - Gefühl, isoliert und abgeschnitten von der Umwelt zu sein - Bagatellisieren von gefährlichen Situationen 18 KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG IV) Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen - Unfähigkeit, zu vertrauen - Reviktimisierungen - Viktimisierung anderer Menschen V) Somatisierung - Somatoforme Beschwerden - Hypochondrische Ängste VI) Veränderungen von Lebenseinstellungen - Fehlende Zukunftsperspektive - Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen und Werten 19 PTBS und Komorbidität ca. 80 % aller Fälle 1. Depression 2. Angsterkrankungen 3. Suchterkrankungen 4. Somatisierungsstörung 5. Sexuelle Störungen 20 Und was hat Trauma mit Sucht zu tun? 21 PTBS und Sucht (1) Komorbidität von PTBS und Sucht bei VietnamVeteranen: 64-84 % für alkoholbedingte St. (nach Escobar, 1983) Alkoholabhängigkeit ist die häufigste komorbide Störung bei „traumatisierten“ Männern (sowohl Kriegs- als auch Ziviltraumatisierte) Jacobsen, 2001 22 PTBS und Sucht (2) Bei Männern mit PTBS ist die Wahrscheinlichkeit einer Alkoholabhängigkeit ungefähr 2mal höher als bei Männern ohne PTBS. (Helzer et al., 1987: 1,9 / Kessler et al., 1995: 2,1) 23 PTBS und Sucht (3) Bei Frauen mit PTBS ist die Wahrscheinlichkeit einer Alkoholabhängigkeit 2½ bis fast 3mal höher als bei Frauen ohne PTBS. (Kessler et al., 1995: 2,5 / Helzer et al., 1987: 2,8) 24 PTBS und Sucht (4) Traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend erhöhen das Risiko einer späteren Abhängigkeitserkrankung um das Dreifache bei schwerer sexueller Traumatisierung sogar um den Faktor 5,7 S. Kendler 2000 25 Alkoholpatienten in Behandlung N=155 modifiziert nach Ingo Schäfer Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg (Langeland et al. 2004) 26 PTBS und Sucht (4) Nach einer epidemiologischen Studie von Perkonigg (2000) lag der Beginn einer Alkoholabhängigkeit (oder Missbrauch) in 55 % der Fälle nach dem Beginn der PTBS Die Suchterkrankung scheint in hohem Maße sekundär zu sein. 27 PTBS und Sucht (5) Der Zusammenhang zwischen Suchtkrankheit und Traumatisierung ist evident. Selbstmedikation, um PTBS Symptome unter Kontrolle zu bringen? 28 Traumatisierte Suchtpatienten Personen mit sexuellen Gewalterfahrungen haben eine signifikant höhere Anzahl von Vorbehandlungen (u.a. Rehabilitationsbehandlungen) und im Rahmen der aktuellen Suchtbehandlung nehmen ein breites Spektrum zusätzlicher Interventionen signifikant häufiger in Anspruch. (Schäfer et al. 2009). 29 Traumatisierte Suchtpatienten Insgesamt weisen Suchtkranke mit Traumatisierungen höhere Behandlungskosten auf (Walker et al. 1999), die durch adäquate Versorgungsmodelle effektiv gesenkt werden können (Domino et al. 2005, Veysey & Clark 2004). 30 Traumatisierte Suchtpatienten ▪ Mehr gravierende Symptome in jeder der beiden Störungen ▪ Meist komplex traumatisiert ▪ Sehr häufig bindungstraumatisiert, häufig dysfunktionale Beziehungen. Deshalb auch die therapeutische Beziehungsgestaltung oft schwierig und zerbrechlich ▪ Mehr somatische und psychische Komorbidität ▪ Mehr soziale Instabilität, Arbeitslosigkeit, Schulden, familiäre Konflikte, etc. ▪ Mangel an Selbstfürsorge, Stabilisierung schwieriger ▪ Längere Therapiedauer 31 CTQ Traumateam AHG Klinik Dormagen Aktuelle Untersuchung N= 70 88,6 % moderat bis extrem 32 (in Vorbereitung) Stand: Oktober 2012 Dr. (c) Laycen Chuey-Ferrer CTQ 64,3 % moderat bis extrem 33 CTQ 71,5 % moderat bis extrem 34 CTQ 61,4 % moderat bis extrem 61,4 % moderat bis extrem 35 Welches Behandlungsmodell ist sinnvoll? Traditionell/Sequentiell: Entweder Suchtbehandlung oder Traumatherapie (bzw. damit keine von beiden). Problem: Ansätze jeweils alleine nicht ausreichend, Klienten/-innen „fallen durchs Netz“. Parallel: Behandlung beider Problembereiche gemeinsam durch Therapeuten, die auf jeweils einen der Bereiche spezialisiert sind. Problem: Aufwändige Koordination, Integration der unterschiedlichen Ansätze muss von den Patienten oft selbst geleistet werden,... Integrativ: Sucht- und Traumabehandlung durch dieselben Therapeuten/-innen. Problem: Erfordert „doppelte“ fachliche Kompetenz und Erweiterung der jeweiligen therapeutischen Paradigmen 36 nach Ingo Schäfer Behandlung Behandlungsansätze, die Traumafolgestörungen berücksichtigen, nehmen in der letzten Jahren zwar zu, allerdings werden zur Behandlung dieser Patientengruppe im Bereich der stationären Rehabilitation vorwiegend stabilisierende Verfahren eingesetzt (Schäfer et al. 2011). Nationale wie internationale Leitlinien empfehlen jedoch bei Patienten mit PTBS eine traumafokussierte Behandlung, die im Vergleich zu stabilisierenden Verfahren wesentlich höhere Effektstärken erreicht. 37 Die Ziele der IST Äußere und innere Sicherheit schaffen 38 Die Ziele der IST Äußere Sicherheit herstellen: • stabile Umgebungsfaktoren schaffen • Täterkontakt berücksichtigen! • berufliche Perspektive • finanzielle Schwierigkeiten • medizinische Probleme • juristische Schwierigkeiten … 39 Die Ziele der IST Innere Sicherheit schaffen: • Wissen über die Krankheitsbilder und das Zustandekommen der Beschwerden erlangen • Aufklärung über traumaassoziierte Symptome und ihre Entstehung • Ableitung des Störungsmodells, Charakteristika des Traumagedächtnisses, Gefühl der an dauernden Bedrohung, dysfunktionales Selbst- und Weltbild, Vermeidungsverhalten • Den Pat. Sicherheit und Kontrolle während der Therapie garantieren 40 Die Ziele der IST Innere Sicherheit schaffen: durch traumaspezifische Stabilisierung: •Distanzierung – Abstand zu den belastenden Erlebnissen gewinnen •Selbstberuhigung •Selbstfürsorge zeigen •Entdeckung eigener Ressourcen – Stärken nutzen •Suchtspezifische Skills Festigung der Rückfallprophylaxe 41 Die Ziele der IST bei ausreichender Stabilisierung: Behutsame Traumabearbeitung mit Integration und Neubewertung der traumatischen Inhalte Abschließend: Einleitung weiterer Hilfsmaßnahmen 42 Empfehlungen für die Traumatherapie während der stationäre Entwöhnungsbehandlung 1. Aufnahme- und Vorbereitungsphase: • Sucht- und ggf. Traumanamnese (nur wenn notwendig, aber noch keine tiefergehende Traumaexploration!) • Ressourceexploration • Aufbau therapeutische Beziehung, Sicherheit • Testdiagnostik • Überprüfung der Indikation für IST • Exploration (weiterer) dysfunktionaler Verhaltensweisen • Exploration Motivationale Schemata und Inkongruenzen • Psychoedukation und Information (Trauma, Sucht) • Weitere Traumaexploration (Anamnesetest), noch keine Traumalandkarte 43 2. Stabilisierungsphase: • Sicherheit (therap. Beziehung) • Ressourcenarbeit • Imaginationsübungen (z.B. Sicherer Ort, Tresorübung, Notfallkoffer) • Achtsamkeit- und Wahrnehmungsübungen (z.B. DBT-Übungen) • Elementen von PITT und Ego-State-Therapie • Sucht- und Traumaspezifische Skills, (z.B. "Sicherheit finden“-Modulen) • Individuelle Skillsliste (in der Patientenakte, bei Pflegepersonal) • Traumalandkarte, "Suchtlandkarte", Ressourcelandkarte • Rückfallprophylaxe • Indikative Gruppen (z.B. Depressionsbewältigung, Familie, TEK, EDV, etc.) • Überprüfung der Indikation für Traumabearbeitung 44 Traumabearbeitung Hohe Wirksamkeit durch RCT belegt • Kognitive Verhaltenstherapie • EMDR Evtl. wirksam • Hypno-/ Imaginative Therapie (PITT) • Hypnotherapeutische Methoden wie Ego States-Therapie • Mod. dynamische Psychotherapie (Horowitz, Butollo) Erfolgversprechend: • Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy IRRT (Smucker) 45 3. Traumabearbeitung Meta-Analysen: • Psychotherapie ist Medikamenten überlegen • Traumaspezifische Therapie ist anderen Formen der Psychotherapie überlegen • EMDR und TF-VT sind am effektivsten • Auch die Komorbidität bessert sich signifikant 46 4. Integrationsphase: • Weitere Stabilisierung • Ressourcenarbeit • Soziotherapeutische Maßnahmen, Planung der Nachsorge, Adaption • Rückfallprophylaxe 47 Umgang mit traumatisierten Suchtpatienten Müssen wir/Sie diese Patienten wie „rohe Eier“ behandeln? … teils ja …da die Patienten eine hohe Sensibilität gegenüber Alltagsreizen aufweisen und diese „Trigger“ für traumatische Erinnerungen darstellen können. …teils nein …da die Patienten meist dankbar dafür sind, wenn Traumainhalte erkannt und vorsichtig thematisiert werden. 48 Umgang mit traumatisierten Suchtpatienten • Kein „Voyeurismus“! Nicht aktiv nach Details der belastenden Erlebnisse fragen! • Die Pat. sollen auch nicht untereinander, z. B. in Gruppentherapien über traumatische Erlebnisse sprechen • Gefahr der Retraumatisierung, des Behandlungsabbruches und des Rückfalls mit Suchtmitteln! 49 Wie können Sie Traumapatienten erkennen? 50 Primary Care PTSD Screen (modifiziert) Pat. _______________________ Datum_________________ Gab es in Ihrem Leben jemals ein oder mehr Ereignisse die so beängstigend, schrecklich oder erschütternd waren, dass Sie im letzten Monat (ohne Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenkonsum)... 1. Alpträume davon hatten oder daran gedacht haben, obwohl Sie es nicht wollten? Ja Nein 2. Sich sehr bemüht haben nicht daran zu denken oder sich große Mühe gegeben haben, um Situationen zu vermeiden, die Sie an diese Erlebnissen erinnerten? Ja Nein 3. Ständig auf der Hut, wachsam oder leicht zu erschrecken waren? Ja Nein 4. Sich wie abgestumpft oder taub gefühlt haben oder entfremdet von anderen Menschen, Aktivitäten oder Ihrer Umgebung? 51 © Copyright: National Center for Post-traumatic Stress Disorder, USA Ja Nein Literatur (Eine kleine Auswahl) Boos, Anne: Traumatische Ereignisse bewältigen: Hilfen für Verhaltenstherapeuten und ihre Patienten. Verlag Hogrefe Najavits, Lisa M., Schäfer, Ingo: Posttraumatische Belastungsstörung und Substanzmissbrauch: Das Therapieprogramm «Sicherheit finden». Verlag Hogrefe Reddemann, Luise: Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Verlag Trias Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Verlag Leben Lernen Klett-Cotta. Reddemann, Luise: Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt: Seelische Kräfte entwickeln und fördern. Verlag Herder HERDER Spektrum. Sack, Martin: Schonende Traumatherapie: Ressourcenorientierte Behandlung von Traumafolgestörungen. Verlag Schattauer. Spangenberg, Ellen: Dem Leben wieder trauen: Traumaheilung nach sexueller Gewalt. Verlag Patmos. 52 Links (Eine kleine Auswahl) www.degpt.de/ Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie www.emdria.de Deutsche Fachgesellschaft für EMDR www.trauma-und-sucht.de Therapieprogramm „Sicherheit finden“ www.ahg.de/Dormagen AHG Klinik Dormagen [email protected] 53 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 54