„IST“ Integrative Sucht –und Traumatherapie in einer Suchtrehabilitationsklinik Referent: Günter K. Mainusch AHG Klinik Dormagen Die Traumatische Erfahrung verletzt Grundbedürfnisse Grundbedürfnisse Trauma Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle Lustgewinn/ Unlustvermeidung Bindungsbedürfnis Selbstwertschutz Motivationale Ziele/ Schemata Annäherungsziele Vermeidungsziele Erleben und Verhalten Hohe Inkongruenz 2 Inkonsistenz Inkonsistenz Wenn sich Annäherungs- und Vermeidungstendenzen behindern kommt es zu Inkongruenz und zu Inkonsistenzspannung. Annäherungsziele Konflikt Vermeidungsziele Inkongruenz Reduktion der Inkonsistenz Verstärkt die an dem Verhalten Beteiligten neuronalen Erregungsmuster . 3 Inkongruenz = Motor für psychische Aktivität Bei aktueller Inkongruenz ist die psychischer Aktivität darauf ausgerichtet, die Inkongruenz zu verringern > Psychische Störungen als Versuch, Inkonsistenzspannung zu reduzieren (z.B. Selbstverletzung bei Borderline-Störung, Kontrollieren bei Zwangsstrg., Vermeidung bei Agoraphobie, Konsum bei Suchterkrankungen) Es bilden sich neue Ordnungsmuster heraus: > Adaptive Ordnungsmuster die Inkongruenz reduzieren = neue Ressourcen, neue Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung Maladaptive Ordnungsmuster > reduzieren kurzfristig Inkongruenz bewirken aber langfristig keine bessere Bedürfnisbefriedigung und erhöhen Inkongruenzniveau Psychotherapie nutzt den gleichen Mechanismus: Verstärkerpotential: Positive Erfahrungen im Sinne der motivationalen Ziel des Patienten 4 Die Behandlung von Traumafolgen aus „neuropsychotherapeutischer“ Perspektive Häufige Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung: – – – – – – – – • vegetativ übererregt (Zittern, Herzrasen, Schweissausbrüche, körperliche Unruhe, Atemnot), hypervigilant (erhöhte Schreckreaktion, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen) emotionale „Stumpfheit“ (Numbing), Interessenverlust wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Intrusionen, flashbacks) Gefühle starker, überwältigender Angst Rückzug, Vermeidungsverhalten Aggressives Verhalten Suizidgedanken Komorbidität zu Substanzmissbrauch: 50% Männer 50% Frauen (meist sekundär) 5 TRAUMA "Potentielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit, oder Schrecken reagiert wird" (DSM-IV: American psychiatric Association) 6 11 September 2001 7 ICE-Katastrophe Eschede 1998 8 Klassifikation von Traumen Menschlich verursachte Traumen ("man made disasters") •Sexuelle und körperliche Misshandlungen in der Kindheit •Kriminelle und familiäre Gewalt •Vergewaltigungen •Kriegserlebnisse •Zivile Gewalterlebnisse (z.B. Geiselnahme) •Folter und politischer Inhaftierung •Massenvernichtung (KZ, Vernichtungslagerhaft) 9 Klassifikation von Traumen Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumen •Naturkatastrophen •Technische Katastrophen (z.B. Giftgaskatastrophen) •Berufsbedingte Traumen (z.B. Militär, Polizei, Feuerwehr) •Arbeitsunfälle •Verkehrsunfälle 10 Klassifikation von Traumen Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ I-Traumen) •Naturkatastrophen •Unfälle •Technische Katastrophen •Kriminelle Gewalttaten wie Überfälle, Schusswechsel Längerdauernde, wiederholte Traumen (Typ II-Traumen) •Geiselhaft •Folter •Kriegsgefangenschaft •Wiederholte sexuelle oder körperliche Gewalt, Kindesmissbrauch, Kindesmisshandlung sowie wiederholte Vergewaltigungen 11 Posttraumatische Belastungsstörung Definition "Vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbstund Weltverständnisses bewirkt." (Gottfried Fischer) 12 DIAGNOSTISCHE KRITERIEN (1) ICD-10/DSM-IV A. Die Betroffenen waren einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, Bilder, Gedanken, Wahrnehmungen (sog. Intrusionen), Wiederkehrende belastenden Träume oder Albträume, Handeln oder Fühlen, als ob das Ereignis wiederkehrt 13 DIAGNOSTISCHE KRITERIEN (2) C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. D. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern und / oder Anhaltende Symptome erhöhter Erregung wie: a. Ein- und Durchschlafstörungen b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche c. Konzentrationsschwierigkeiten d. Hypervigilanz e. erhöhte Schreckhaftigkeit 14 WICHTIG!! Es fehlt eine Zeitperspektive Die traumatischen Ereignisse werden so erlebt, als ob sie im HIER UND JETZT geschehen würden! 15 Was heißt das? Das charakteristischste Symptom der PTBS ist das ungewollte Wiedererleben von Aspekten des Traumas. Die Betroffenen haben die gleichen sensorischen Eindrücke (z.B. Bilder, Geräusche,Geschmack,Körperempfindungen) und gefühlsmäßigen und körperlichen Reaktionen wie während des Traumas! 16 Häufigkeiten von verschieden Traumen und von PTBS Art Traumahäufigkeit PTBS Vergewaltigung 5,5 55,5 Sexuelle Belästigung 7,5 19,3 Krieg 3,2 38,8 Waffengewaltandrohung 12,9 17,2 Körperliche Gewalt 9,0 11,5 Unfälle 19,4 7,6 Zeuge (Unfälle, Gewalt) 25,0 7,0 Feuer / Naturkatastrophe 17,1 4,5 Misshandlung in der Kindheit Vernachlässigung in der Kindheit 4,0 35,4 2,7 21,8 Andere Lebensbedrohliche Situationen Andere Traumen 11,9 7,4 2,5 23,5 Irgendein Trauma 60,0 14,2 (Nach Kessler et al. 1995, in einer repräsentativen amerikanischen Stichprobe, Frauen und Männer 17 gemittelt) KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG DESNOS = Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ I) Störungen der Regulation von Affekten und Impulsen - Stimmungsschwankungen mit Unfähigkeit sich selbst zu beruhigen - Verminderte Steuerungsfähigkeit von aggressiven Impulsen - Autodestruktive Handlungen und Selbstverletzen - Suizidalität -Störungen der Sexualität - Exzessives Risikoverhalten 18 KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG II) Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins - Amnesien, Dissoziative Episoden und Depersonalisation III) Störungen der Selbstwahrnehmung - Unzureichende Selbstfürsorge - Gefühl, dauerhaft zerstört zu sein - Schuld- und Schamgefühle - Gefühl, isoliert und abgeschnitten von der Umwelt zu sein - Bagatellisieren von gefährlichen Situationen 19 KOMPLEXE TRAUMATISIERUNG IV) Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen - Unfähigkeit, zu vertrauen - Reviktimisierungen - Viktimisierung anderer Menschen V) Somatisierung - Somatoforme Beschwerden - Hypochondrische Ängste VI) Veränderungen von Lebenseinstellungen - Fehlende Zukunftsperspektive - Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen und Werten 20 PTBS und Komorbidität ca. 80 % aller Fälle 1. Depression 2. Angsterkrankungen 3. Suchterkrankungen 4. Somatisierungsstörung 5. Sexuelle Störungen 21 PTBS und Sucht (1) Komorbidität von PTBS und Sucht bei Vietnam-Veteranen: 64-84 % für alkoholbedingte Störungen (nach Escobar, 1983) Alkoholabusus (und Abhängigkeit) ist die häufigste komorbide Störung bei „traumatisierten“ Männern (sowohl Kriegsals auch Ziviltraumatisierte) Jacobsen, 2001 22 PTBS und Sucht (4) Traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend erhöhen das Risiko einer späteren Abhängigkeitserkrankung um das Dreifache bei schwerer sexueller Traumatisierung sogar um den Faktor 5,7 S. Kendler 2000 23 Alkoholpatienten in Behandlung N=155 modifiziert nach Ingo Schäfer Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg (Langeland et al. 2004) 24 PTBS und Sucht (4) Nach einer epidemiologischen Studie von Perkonigg (2000) lag der Beginn einer Alkoholabhängigkeit (oder Missbrauch) in 55 % der Fälle nach dem Beginn der PTBS Die Suchterkrankung scheint in hohem Maße sekundär zu sein. 25 Traumatisierte Suchtpatienten Mehr gravierende Symptome in jeder der beiden Störungen Meist komplex traumatisiert Sehr häufig bindungstraumatisiert, häufig dysfunktionale Beziehungen. Deshalb auch die therapeutische Beziehungsgestaltung oft schwierig und zerbrechlich Mehr somatische und psychische Komorbidität Mehr soziale Instabilität, Arbeitslosigkeit, Schulden, familiäre Konflikte, etc. Mangel an Selbstfürsorge, Stabilisierung schwieriger Längere Therapiedauer 26 Welches Behandlungsmodell ist sinnvoll? Traditionell/Sequentiell: Entweder Suchtbehandlung oder Traumatherapie (bzw. damit keine von beiden). Problem: Ansätze jeweils alleine nicht ausreichend, Klienten/-innen „fallen durchs Netz“. Parallel: Behandlung beider Problembereiche gemeinsam durch Therapeuten, die auf jeweils einen der Bereiche spezialisiert sind. Problem: Aufwändige Koordination, Integration der unterschiedlichen Ansätze muss von den Patienten oft selbst geleistet werden,... Integrativ: Sucht- und Traumabehandlung durch dieselben Therapeuten/-innen. Problem: Erfordert „doppelte“ fachliche Kompetenz und Erweiterung der jeweiligen therapeutischen Paradigmen nach Ingo Schäfer 27 Integrative Trauma und Suchtbehandlung in der AHG Klinik Dormagen • 42 Behandlungsplätze • Die Behandlung findet in der Bezugsgruppe statt • Alle Therapeutinnen verfügen sowohl über Erfahrungen in der Behandlung von Suchtpatienten als auch über eine qualifizierte traumaspezifische Ausbildung. • Neben der Einzel- und Gruppenpsychotherapie werden auch arbeitstherapeutische Maßnahmen, Ergotherapie, Sport-und Bewegungstherapie sowie spezielle Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Reintegration optimiert. 28 Die Ziele der IST Äußere und innere Sicherheit schaffen 29 Die Ziele der IST Äußere Sicherheit herstellen: • stabile Umgebungsfaktoren schaffen • Täterkontakt berücksichtigen! • berufliche Perspektive • finanzielle Schwierigkeiten • medizinische Probleme • juristische Schwierigkeiten … 30 Die Ziele der IST Innere Sicherheit schaffen: • Wissen über die Krankheitsbilder und das Zustandekommen der Beschwerden erlangen • Aufklärung über traumaassoziierte Symptome und ihre Entstehung • Ableitung des Störungsmodells, Charakteristika des Traumagedächtnisses, Gefühl der an dauernden Bedrohung, dysfunktionales Selbst- und Weltbild, Vermeidungsverhalten 31 • Den Pat. Sicherheit und Kontrolle während der Die Ziele der IST Innere Sicherheit schaffen: durch traumaspezifische Stabilisierung: • Distanzierung – Abstand zu den belastenden Erlebnissen gewinnen • Selbstberuhigung • Selbstfürsorge zeigen • Entdeckung eigener Ressourcen – Stärken nutzen • Suchtspezifische Skills Festigung der Rückfallprophylaxe 32 Die Ziele der IST bei ausreichender Stabilisierung: Behutsame Traumabearbeitung mit Integration und Neubewertung der traumatischen Inhalte Abschließend: Einleitung weiterer Hilfsmaßnahmen 33 Übersicht therapeutischer Strategien bei PTBS Diagnostik PTBS Abklärung Psychose Akute Suizidalität Psychiatrische Akutversorgung ja nein Stabilisierungsmaßnahmen Supportive Therapie Psychosoziale Intervention Psychopharmakotherapie Adjuvante Verfahren (z.B. stabilisierende Körpertherapie, künstlerische Therapien) Abklärung Stabilität Stabile Affektregulation und Selbstmanagement ja nein ja Traumabearbeitung Psychosoziale Reintegration Traumaadaptierte Psychotherapie Neuorientierung 34 Modifiziert nach Peter Umgang mit traumatisierten Suchtpatienten Müssen wir/Sie diese Patienten wie „rohe Eier“ behandeln? … teils ja …da die Patienten eine hohe Sensibilität gegenüber Alltagsreizen aufweisen und diese „Trigger“ für traumatische Erinnerungen darstellen können. …teils nein …da die Patienten meist dankbar dafür sind, wenn Traumainhalte erkannt und vorsichtig thematisiert werden. 35 Umgang mit traumatisierten Suchtpatienten • Kein „Voyeurismus“! Nicht aktiv nach Details der belastenden Erlebnisse fragen! • Die Pat. sollen auch nicht untereinander, z. B. in Gruppentherapien über traumatische Erlebnisse sprechen Gefahr der Retraumatisierung, des Behandlungsabbruches und des Rückfalls mit Suchtmitteln! Risiko der Dissoziation 36 Wie können Sie Traumapatienten erkennen? 37 Primary Care PTSD Screen (modifiziert) Pat. _______________________ Datum_________________ Gab es in Ihrem Leben jemals ein oder mehr Ereignisse die so beängstigend, schrecklich oder erschütternd waren, dass Sie im letzten Monat (ohne Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenkonsum)... 1. Alpträume davon hatten oder daran gedacht haben, obwohl Sie es nicht wollten? Ja Nein 2. Sich sehr bemüht haben nicht daran zu denken oder sich große Mühe gegeben haben, um Situationen zu vermeiden, die Sie an diese Erlebnissen erinnerten? Ja Nein 3. Ständig auf der Hut, wachsam oder leicht zu erschrecken waren? Ja Nein 4. Sich wie abgestumpft oder taub gefühlt haben oder entfremdet von anderen Menschen, Aktivitäten oder Ihrer Umgebung? © Copyright: National Center for Post-traumatic Stress Ja Nein Disorder, USA 38 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! www.ahg.de/dormagen 39