Belastung des Patienten vermeiden

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> Notfallmedizinische Versorgung bei akuter Aortendissektion – eine Kasuistik:
Belastung des Patienten vermeiden
M ario Hohenegger
In der zentralen Notaufnahme (ZNA) eines Krankenhauses der Regelversorgung stellt sich der 63-jährige, übergewichtige Karl M. vor.
Er klagt seit etwa zwei Stunden über einen drückenden Schmerz im
Brustkorb, der in seinen Rücken ausstrahlt. Herr M. wollte deshalb am
nächsten Morgen seinen Hausarzt aufsuchen. Nachdem seine Ehefrau
aber umgehend den Rettungsdienst verständigen wollte, was er wiederum ablehnte, erklärte sich Herr M. zum Kompromiss bereit, sich
von seiner Frau ins Krankenhaus fahren zu lassen.
Es ist ein häufiges Problem in der Versorgung akut lebensbedrohlich erkrankter Patienten, dass der Rettungsdienst zu
spät oder aber überhaupt nicht alarmiert
wird. Stattdessen wird der Hausarzt angerufen bzw. aufgesucht oder die ärztliche
Bereitschaftsdienstzentrale verständigt.
Dadurch geht oft entscheidende Zeit
verloren, bis mit der Therapie begonnen
werden kann. Erschwert wird die Situation, wenn der Hausarzt nicht den Rettungsdienst verständigt, sondern selbst
mit völlig unzureichendem Equipment
Maßnahmen einleitet. Es bedarf hier
einer gezielten Aufklärung der Bevölkerung und auch mancher Hausärzte.
Erstuntersuchung
Da Herr M. seit zwei Stunden über einen
bestehenden thorakalen Druckschmerz
mit Ausstrahlung in den Rücken klagt,
lautet die Arbeitsdiagnose zunächst
„akutes Koronarsyndrom“. Auch das
12-Kanal-EKG, ein Elektrokardiogramm,
das zwölf Ableitungen gleichzeitig registrieren kann, zeigt keine ST-Veränderung
und auch sonst keine infarktspezifischen
Zeichen. Die Auskultation des Herzens
und der Lunge ergibt keinen pathologischen Befund. Der Röntgen-Thorax zeigt
ebenfalls einen Normalbefund.
Jedoch lässt sich echokardiografisch
eine hypertensive Herzkrankheit erkennen. Auffällig ist die unterschiedliche
Pulsqualität zwischen Arteria carotis
und Arteria femoralis. Eine mögliche
Differenz zwischen Carotis- und Femoralispuls wird standardmäßig bei einem
akuten Thoraxschmerz untersucht. Bei
der Anamnese stellt man bei Herrn M.
eine arterielle Hypertonie, eine Hyperli-
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Pflegezeitschrift 2009, Jg. 62, Heft 8
pidämie, Nikotinabusus und Adipositas
fest. Zudem nimmt er Metoprolol, Ramipril und Simvastatin ein.
Vitalzeichen
Blutdruck (RR)
240/120 mm HG (Millimeter Quecksilbersäule)
Herzfrequenz
88 Schläge pro Minute
Sauerstoffsättigung
93 Prozent
Blutzucker
107 mg/dl (Milligramm
pro Deziliter)
EKG
Sinusrhythmus
keine Schockzeichen
Verdachtsdiagnose
Aufgrund der thorakalen Schmerzsymptomatik und dem Qualitätsunterschied
zwischen Carotis- und Femoralispuls
geht die internistische Aufnahmeärztin
nun von einer akuten Aortendissektion
aus. Diese Verdachtsdiagnose kann bei
Herrn M. zeitnah aortografisch gesichert
werden. Er leidet unter einer Dissektion
des Typs I, das heißt die Stelle, an der die
Intima eingerissen ist (Entry), liegt im
Bereich der Aorta ascendens und dehnt
sich in die gesamte thorakale Aorta aus
(beim Typ II liegt das Entry ebenfalls im
Bereich der Aorta ascendens und beim
Typ III findet sich das Entry im Bereich
der proximalen Aorta descendens).
Basismaßnahmen
Die akute Aortendissektion ist eine lebensbedrohliche Erkrankung, die einer
raschen operativen Intervention bedarf.
Bei der Dissektion reißt die Gefäßintima
der Aorta ein (meist verursacht durch
hohen Blutdruck), sodass Blut in die
Gefäßmedia eintreten kann. Lebensbedrohlich wird die Situation für den Patienten, wenn die Aorta perforiert, da dies
zu einem massiven Blutverlust führt.
Eine Aortendissektion kann bei degenerativen Erkrankungen der Gefäßmedia (wie dem Marfan-Syndrom), einer
fortgeschrittenen Arteriosklerose oder
bei einer arteriellen Hypertonie vorkommen. Bei bereits bestehendem Aneurysma verum der Aorta steht die Gefäßintima unter einer hohen Wandspannung,
dies kann ebenfalls zu einem Einriss mit
konsekutiver Dissektion führen. In diesem Fall spricht man auch vom dissezierenden Aortenaneurysma.
Herr M. wird während der Erstversorgung mit erhöhtem Oberkörper gelagert
und erhält 15 Liter Sauerstoff pro Minute
per Maske mit Reservoir. Eine ungewollte Hypothermie kann vermieden werden, indem der Patient zugedeckt wird.
Um eine weitere Belastung des Patienten zu vermeiden bzw. seine Angst zu
minimieren, muss er behutsam über die
erforderlichen Maßnahmen informiert
und individuell begleitet werden.
Das apparative Monitoring (EKG, RR,
Sauerstoffsättigung SpO2) und die klinische Überwachung komplettieren
schließlich die notfallmedizinischen Basismaßnahmen.
Erweiterte Maßnahmen
Auf die unverzichtbaren Basismaßnahmen aufbauend, beginnt zeitgleich das
erweiterte Notfallmanagement durch
die Aufnahmeärztin und die hinzugezogenen Oberärzte der Kardiologie und
Gefäßchirurgie. Es werden mehrere periphervenöse Zugänge gelegt (vorsorglich bei drohendem hämorrhagischem
Schock im Falle einer Aortenperforation)
und langsam eine Vollelektrolytlösung
infundiert. Der massiv erhöhte Blutdruck
wird mit 25 Milligramm (mg) Urapidil
auf zunächst hochnormale Werte korrigiert. Es können auch Beta-Blocker, Calcium-Antagonisten und Nitro verwendet
werden. Clonidin, ein Arzneistoff aus
der chemischen Gruppe der Imidazoli-
seien aber aufgrund der Morphingabe
geringer als zuvor.
Verlauf
Der Patient wird von der Notärztin und
der Rettungsassistentin des Rettungshubschraubers in die Thoraxchirurgie
gebracht. Dort wird er umgehend operiert. Bei diesem Eingriff wird der Teil der
Aorta, in dem der Intimaschlauch eingerissen ist, reseziert und ersetzt. Eine Perforation des betroffenen Teils der Aorta
und damit der fast sichere Tod des Patienten kann somit verhindert werden.
Diskussion
Foto: Pflegezeitschrift/Archiv
ne, ist kontraindiziert. Der Grund liegt
darin, dass es hierbei zunächst zu einem
Blutdruckanstieg kommt, ehe er abfällt.
Dadurch würde die Gefahr enorm steigen, dass die Aorta perforiert.
Zur weiteren Stressreduktion wird
der Patient mit 2,5 Milligramm Midazolam sediert und mit fünf Milligramm
Morphin analgesiert. Dadurch kann bei
dem Patienten Schmerzfreiheit erreicht
werden. Zur Prophylaxe einer opiatinduzierten Übelkeit erhält Herr M. zehn
Milligramm Metoclopramid (MCP).
Die aufgrund der primären Verdachtsdiagnose zu Beginn bereitgestellten Antikoagulantien Acetylsalicylsäure (ASS)
und Heparin dürfen Herrn M. nicht verabreicht werden. Sie sind absolut kontraindiziert, weil sie zum Verbluten des
Patienten führen können.
Vitalzeichen
Blutdruck (RR)
170/90 mm HG (Millimeter Quecksilbersäule)
Herzfrequenz
90 Schläge pro Minute
Sauerstoffsättigung
99 Prozent
EKG
Sinusrhythmus
Weiteres Vorgehen
Umgehend wird eine thoraxchirurgische
Klinik des nächsten Hauses der Maximalversorgung kontaktiert, die Herrn M. zur
operativen Intervention übernimmt.
Um den Blutdruck weiter zu senken,
erhält der Patient erneut 25 Milligramm
Urapidil (fraktioniert). Dann wird über
die Rettungsleitstelle ein Rettungshubschrauber zur schnellen und schonenden Verlegung angefordert. Stünde kein
Rettungshubschrauber zur Verfügung,
zum Beispiel in der Nacht, müsste der
Patient mit einem Notarztwagen mit
Sondersignal verlegt werden.
Vitalzeichen
Blutdruck (RR)
140/80 mm HG (Millimeter Quecksilbersäule)
Herzfrequenz
92 Schläge pro Minute
Sauerstoffsättigung
99 Prozent
EKG
Sinusrhythmus
Herr M. zeigt weiterhin keine Schockzeichen. Er gibt jedoch an, dass die Thoraxschmerzen wieder aufgetreten sind. Sie
Akute Thoraxschmerzen treten relativ
häufig auf und können Ausdruck von Erkrankungen des Herzens oder der großen
Gefäße sein. Dazu zählen aktues Koronarsyndrom (Myokardinfarkt und instabile Angina pectoris), Aortendissektion,
Herzbeuteltamponade, Lungenembolie
oder der Spannungspneumothorax. Bei
etwa der Hälfte der stationär versorgten
Patienten, die an akutem Thoraxschmerz
leiden, liegt jedoch keine kardiale Ursache vor, denn nicht immer steckt hinter
einem akuten Thoraxschmerz das zunächst Offensichtliche. Daher muss ein
akuter Thoraxschmerz zunächst immer
als lebensbedrohlich eingestuft werden.
In seltenen Fällen kann eine akute
Aortendissektion vorliegen, die ein völlig
anderes therapeutisches Vorgehen erfordert. So sind hier Antikoagulantien wie
ASS, Heparin oder Clopidogrel aufgrund
der erhöhten Blutungsneigung absolut
kontraindiziert. Deshalb muss bei einem
akuten Thoraxschmerz vor der Gabe von
Gerinnungshemmern immer eine Aortendissektion ausgeschlossen werden.
Für die Prognose und den Verlauf einer
Aortendissektion sind unverzügliche adäquate diagnostische und therapeutische Maßnahmen notwendig. Trotzdem
bleibt die Gefahr einer erneut auftretenden Dissektion grundsätzlich gegeben.
Deshalb müssen betroffene Patienten
in regelmäßigen Abständen nachuntersucht werden. <<
Autorenkontakt:
Mario Hohenegger ist Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivpflege
sowie Rettungsassistent.
Kontakt: Am Hofgraben 19, 67373 Dudenhofen, E-Mail: mario.hohenegger@
web.de bzw. www.notfall-atemnot.de.
Pflegezeitschrift 2009, Jg. 62, Heft 8
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